Kalypto 2: Die Magierin der Tausend Inseln: Fantasy - Tom Jacuba - E-Book

Kalypto 2: Die Magierin der Tausend Inseln: Fantasy E-Book

Tom Jacuba

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Beschreibung

Die Magierin Catolis ist erfolgreich gewesen! Die Großmeisterin der Zeit betrachtet zufrieden das Reich Garona, das sie fast vollständig erobert hat. Erneut hat sie sich ihrem Ziel genähert, das stärkste Volk unter allen zu finden, damit es das untergegangene Reich von Kalypto für sie neu errichtet. Ein riesiges Gebiet, das ausschließlich von Magiern regiert wird. Catolis hat jedoch keine Ahnung, dass Ayrin, die einst Königin von Garona war, fliehen konnte und mit Lasnic, dem Waldmann, ihren Thronrückeroberungsplan schmiedet …

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Tom Jacuba

Kalypto 2: Die Magierin der Tausend Inseln: Fantasy

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Inhaltsverzeichnis

Kalypto 2: Die Magierin der Tausend Inseln: Fantasy

Copyright

Prolog

Erstes Buch

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

Zweites Buch

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

Drittes Buch

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

Epilog

landmarks

Titelseite

Cover

Inhaltsverzeichnis

Buchanfang

Kalypto 2: Die Magierin der Tausend Inseln: Fantasy

von Tom Jacuba

Die Magierin Catolis ist erfolgreich gewesen! Die Großmeisterin der Zeit betrachtet zufrieden das Reich Garona, das sie fast vollständig erobert hat. Erneut hat sie sich ihrem Ziel genähert, das stärkste Volk unter allen zu finden, damit es das untergegangene Reich von Kalypto für sie neu errichtet. Ein riesiges Gebiet, das ausschließlich von Magiern regiert wird. Catolis hat jedoch keine Ahnung, dass Ayrin, die einst Königin von Garona war, fliehen konnte und mit Lasnic, dem Waldmann, ihren Thronrückeroberungsplan schmiedet …

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Bathranor Books, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

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© dieser Ausgabe 2025 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

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Alles rund um Belletristik!

Wer seinen Feind besiegt, hat Kraft.

Wer eine Stadt besiegt, hat Macht.

Wer sich selbst besiegt, ist stark.

Laotse

Prolog

Die Männer waren zu zwölft. Links und rechts des Pfades kauerten sie zwischen Ginster und schon bräunlichem Farn. Sie stemmten Jagdlanzen über die Schultern oder spannten Pfeile in ihre Jagdbogen. Alles lautlos, alles mit spärlichen Bewegungen. Der dreizehnte, unbewaffnet, hockte zwei Lanzenlängen über dem Pfad im gelben Laub einer Birke. Irgendwo im Norden krächzte ein Kolk.

Die Männer hatten braun gebrannte, bärtige Gesichter, schwarzes, graues, sandfarbenes, weißes oder lehmbraunes Haar. Sie trugen Mäntel aus schwarzem Bärenfell oder aus grauem und ockerfarbenem Eulengefieder, das mit Netzen aus Spinnenseide auf raues Hirschleder gespannt war. Sie fielen kaum auf im Herbstlaub.

Der in der Birke war ganz in braunes Hirschleder gehüllt. Sein Kindergesicht sah aus wie verwelkt. Jetzt hob er die Rechte bis zu den Lippen und seine Lider schlossen sich halb. Er lauschte und lauerte mit höchster Aufmerksamkeit. Die Männer in Farn und Ginster hielten den Atem an.

Das geschah zwei Monde, nachdem Lasnic von Strömenholz durch einen See schwamm und einen Menschen am Himmel beobachtete; zwei Monde, nachdem die neue Königin von Garona von der Nordwand des Blauphirs aus Katapultgeschosse in die belagerte Stadt Blauen einschlagen sah; zwei Monde, nachdem die Magierin der Tausend Inseln am Fenster des Burgturms stand und auf das verwüstete Garonada hinabblickte.

Der in der Birke riss die Augen auf und stieß die Rechte über den Kopf. Nur einen Wimpernschlag später sahen die Männer unter ihm kleine, dunkelhäutige Krieger auf dem Pfad zwischen den Bäumen auftauchen. Die legten die Köpfe in die Nacken und spähten in die Birke hinauf, weil ein Kolk krächzend in deren Wipfel landete. Die Jäger rechts und links des Pfades schleuderten ihre Lanzen und schossen ihre Pfeile auf sie.

Vier Fremde sanken tödlich getroffen auf den Pfad und ins Unterholz, mindestens genauso viele flüchteten in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sieben Jäger sprangen aus dem Gestrüpp und jagten ihnen nach. Die anderen betrachteten die Toten.

„Verdammte Bräunlinge, dachte ich es mir“, sagte der Eichgraf von Stommfurt, ein alter Graubart namens Uschom.

„Dass sie sobald zurückkommen, die Drecksäcke!“ Tajosch, ein hagerer, sehniger Jäger mit wilder, schwarzer Mähne, zog dem Hauptmann der Bräunlinge den schwarzen Ledermantel aus. „Der passt meinem Jüngsten.“ Der Kolk im Birkenwipfel wollte gar nicht mehr aufhören zu krähen, zu quorken, zu flöten.

„Späher sind das“, sagte der Weißschopf, ein Waldfürst. „Verfluchte Späher. Kommen aus dem Norden.“ Er hieß Birk. „Weiß der Schartan, wo das Pack von den Tausend Inseln diesmal vor Anker gegangen ist.“

„Im Mündungsdelta jedenfalls nicht.“ Ein kleiner, nahezu kugelrunder Mann schaukelte von Leiche zu Leiche, nahm jeder ab, was ihm brauchbar erschien. Er trug schwarzes Bärenfell, hieß Ulmer und war der Wettermann von Blutbuch. „Die Wolkengötter flüstern mir, dass sie sich vorher noch mit den Baldoren prügeln.“

Aus der Birke kletterte der mit dem verwelkten Kindergesicht. „Um ein Haar hätten die Drecksäcke mich entdeckt.“ Kauzer, der Wettermann von Strömenholz, lugte in den Birkenwipfel hinauf und drohte dem lärmenden Kolk dort oben mit knochigem Zeigefinger. „Hätt’st mich fast verraten, dummer Krächzer!“ Er stutzte, runzelte die Brauen. „Wieso kommt mir das Gezeter dieses Kolks so bekannt vor?“

Einer nach dem anderen spähte nun zu dem Vogel hinauf. Dessen blauschwarzes Gefieder schillerte wie flüssiger Teer. „Das ist doch Voglers Kolk“, sagte Uschom. „Das ist doch Tekla!“

„Lasnics Kolk, meinst du“, sagte Tajosch. „Vogler liegt seit neunzehn Sommern im Vorjahreslaub.“

„Seit achtzehn“, sagte Kauzer.

„Na und?“ Der runde Ulmer winkte ab. „Deswegen ist es immer noch Voglers Kolk.“

„Eulenscheiße! Lasnics Kolk!“ Tajosch streckte die Rechte aus. „Komm schon her, Tekla!“ Der Vogel flatterte aus der Birke und landete auf Tajoschs Schulter. „Hast du was zu erzählen? Dann los.“

„Tekla? Wirklich? Dann ist auch Lasnic in der Nähe.“ Birks Miene verdüsterte sich. Nach allen Seiten lauerte der Weißschopf. „Soll mir ja fortbleiben, der Hosenscheißer!“

„Hast du Angst, dass er dir deinen Rang als Großer Waldfürst streitig macht?“ Kauzer feixte dem Weißschopf ins Gesicht. Mit seinen kurzen, weißblonden und nach allen Seiten abstehenden Locken sah sein großer Kinderschädel aus wie gerupft.

„Wie denn, Wetterschwätzer!“, blaffte Birk. „Der Hosenscheißer ist auf und davon, und ihr habt mich gewählt. Wie denn, solange ich dem Wilden Axtmann nicht in die Klinge stolpere?“

Kauzer nickte nur und richtete den Blick seiner glitzernden Augen auf Tajosch und Tekla. „Bringt sie eine Botschaft?“

„Tekla ist über den Großen Ozean geflogen.“ Der schwarzhaarige Jäger lauschte dem Geschnalze und Gequorke des Vogels. „Aus irgendwelchen Sümpfen bis hier her. Lasnic warnt uns vor zehntausenden Bräunlingen. Er will zurückkommen.“

„Lasnic kommt nach Hause?“ Kauzer riss die Augen auf. „Ist das wahr?“ Ein Lächeln flog über sein verwelktes Gesicht.

„Soll bloß wegbleiben!“ Der kugelrunde Wettermann von Blutbuch zog den Rotz hoch und spuckte aus. „Werden allein fertig mit den verdammten Drecksäcken, was Birk? Brauchen keine Hosenscheißer wie den Sohn Voglers!“

„Hab’ ich’s euch nicht immer gesagt?“ Kauzer achtete nicht auf den missmutigen Ulmer. „Einer wie Lasnic bleibt nicht für immer fort! Einer wie Lasnic kann nicht leben ohne Wälder und Jagdbrüder!“

„Ein verdammter Pisser ist er!“ Dem Weißschopf Birk schwoll die Schläfenader. „Einfach abhauen! Und so einen wolltest du uns als Großen Waldfürsten aufdrücken! Bis heute schämst du dich dafür, Wetterschwätzer, gib’s doch zu!“

„Ja, ich schäm’ mich!“, giftete Kauzer. „Weil nur der Zweitbeste unser Großer Waldfürst geworden ist!“ Sein knochiger Zeigefinger stach nach Birk. „Einer, der Lasnic nicht das Wasser reichen kann!“

Birk packte den Wettermann am Kragen seines Hirschledermantels, schüttelte ihn, hob die Faust. Doch Uschom ging dazwischen. „Hat der Schartan euch ins Hirn gefurzt? Es reicht!“ Der Graubart trat neben Tajosch. „Lasnic jenseits des Großen Ozeans? Will nach Hause kommen? Bist du sicher?“

Tajosch nickte und lauschte dem Kolk. „Woher der Sinneswandel?“ Auch Kauzer schob sich an Tajoschs Seite. „Was hat er erlebt, der Bursche? Was kannst du von Tekla erfahren?“

„Üble Neuigkeiten hör’ ich.“ Tajoschs Miene hatte sich verdüstert inzwischen. „Ganz üble Neuigkeiten.“

Erstes Buch

Der Bastard

1

Ein fliegender Mensch!

Lasnic staunte in den Himmel, tauchte unter, schwamm, tauchte auf und staunte in den Himmel. Hatte je einer von fliegenden Menschen gehört? Niemand! Er, der Waldmann, sah dennoch einen – dort oben, mit eigenen Augen. Unglaublich! Beim Großen Waldgeist, einfach unglaublich!

Er warf sich herum, schwamm auf dem Rücken weiter, spähte zu dem tollkühnen Burschen unter den künstlichen Schwingen hinauf und konnte es nicht glauben. Ein fliegender Mensch! In immer engeren Schleifen lenkte der verrückte Kerl sein Fluggestell der Wasseroberfläche entgegen.

Joscun hieß der Flieger, hatten die anderen gesagt, Joscun von Blauen. Im Labyrinth unter der Bergstadt Garonada war Lasnic ihm vor Tagen schon einmal begegnet. Joscun, ein Getreuer der Königin Ayrin, „Indscheniör“ nannte Lord Frix ihn. Egal wie er hieß, egal woher er kam, egal was er war – der tollkühne Kerl hatte sich schon jetzt Lasnics Respekt verdient. Wie einen tapferen Jagdbruder würde er so einen behandeln – bei allen Wolkengöttern! –, wie seinen eigenen Eichgrafen!

Doch dazu musste er ihn erst einmal vor dem Absaufen bewahren. Im Schwimmen nämlich waren diese Bergstädter nicht halb so gut wie im Fechten, Klettern und Fliegen. Und wenn dieser Joscun samt seines Fluggestells in den See stürzte, würde er ganz sicher beim Vorjahreslaub landen. Wie sollte er denn schwimmen mit diesem Ding auf dem Rücken?

Lasnic ließ den tollkühnen Flieger nicht aus den Augen. „Spring!“, schrie er. „Du musst springen!“ Doch der fliegende Mann antwortete nicht. Dabei hatte er sich schon bis auf Rufweite zur Wasseroberfläche herunter geschraubt. Nach und nach erkannte Lasnic Einzelheiten des Schwingengestells. Das war etwa eine Lanzenlänge breit, spannte sich gut und gern auf fünf Lanzenlängen Weite aus und wirkte vollkommen starr. Die beiden nach oben gewölbten Schwingen schienen aus einem Stück zu bestehen und hatten die Form einer breiten, nur ganz leicht gekrümmten Sichel.

„Wie bringt man so ein verdammtes Gestell nur zum Fliegen?“, murmelte Lasnic. „Wie beim Schartan soll das gehen?“

Noch zehn Lanzenlängen, dann würden Flieger und Gestell auf dem Wasser aufschlagen, noch ein Dutzend Schwimmzüge höchstens, dann würde Lasnic die Absturzstelle erreichen. Am Ufer winkten die anderen, etwas mehr als dreißig Frauen und Männer. Sie riefen seinen Namen und den des Fliegers. Nur der bullige Erzritter Romboc stand reglos und stumm auf sein Langschwert gestützt.

„Lass das Gestell los und spring!“ Lasnic sah nun, dass der Tollkühne unter dem Mittelpunkt der Schwingenfläche waagerecht in einer Art Hängematte hing und sich an einem Bügel festhielt, der durch feine Seile mit den Schwingenspitzen verbunden war. „Raus aus dem Bügel, raus aus dem Tuch! Spring!“ Er brüllte, so laut er nur konnte. „Dann schaffst du es vielleicht! Andernfalls wird das Gestell dich unter Wasser ziehen!“ Die Seen und Teiche hier in den Sümpfen waren zwar seicht, aber immer noch tief genug, um zu ertrinken. „Hörst du, was ich sage? Lass los, Joscun, spring!“

„Damit mein Luftsegler mir auf den Kopf fällt?“, schrie der andere von oben. „Ich bin doch nicht lebensmüde!“

Der Waldmann warf sich auf den Bauch, tauchte unter, tauchte mit kraftvollen Schwimmzügen der wahrscheinlichen Absturzstelle entgegen. Es würde dem Garonesen eben nicht auf den Kopf fallen, das unglaubliche Gestell! Es würde einfach ohne den Flieger ein Stück weitersegeln und einen halben Lanzenwurf abseits ins Wasser stürzen. Aber so waren sie, die schlauen Kerle und Weiber von Garona, wussten einfach alles besser.

Der Waldmann tauchte auf, spähte nach oben, spähte nach allen Seiten. Am Ufer standen sie inzwischen alle so starr und stumm wie zuvor Romboc im Schilf oder im hohen Gras und starrten zu Lasnic und Joscun auf den See hinaus. Nun war es der Erzritter, der gestikulierte und rief. Der ganz in Schwarz und Grau gehüllte Romboc bedeutete dem fliegenden Mann, sofort seine künstlichen Schwingen abzustreifen.

Lasnic spähte wieder zu Joscun hinauf. „Hörst du, was dein Erzritter befiehlt?“ Zehn Lanzenlängen vor ihm und sieben über ihm glitt der Verrückte vorüber. „Raus aus dem Gestell, Kerl!“, brüllte Lasnic. „Sonst küsst dich der Karpfen und danach kein anderer jemals wieder!“

Das oder Rombocs Befehl – eines von beidem schien den fliegenden Kerl zu überzeugen, denn jetzt rührte sich etwas dort oben, jetzt tat er doch, was Lasnic ihm so dringend riet: Er ließ den Bügel los, löste irgendwelche Haken an den vorderen Seitenrändern der Hängematte und rutschte aus ihr heraus. Im freien Fall und inmitten eines Vorhangs aus Decken und Fellen rauschte er dem See entgegen und klatschte bäuchlings auf der Wasseroberfläche auf. Sein Fluggestell geriet ins Schwanken und Trudeln, flog aber dennoch ein Stück allein weiter. Nicht weit entfernt von seinem Steuermann bohrte es sich schließlich in den See.

Lasnic tauchte, schwamm schneller. Unter Wasser fasste er Joscuns Kahlkopf ins Auge, tauchte zu ihm, packte den Mann unter den Achseln, zog ihn nach oben. Prustend tauchten sie auf. „Tausend Pilze und hunderttausend Beeren!“, keuchte Lasnic.

Joscun hustete und spuckte Wasser aus. „Was redest du da, Waldmann?“ Natürlich begriff er nicht, wie viel Anerkennung hinter Lasnics Worten steckte. Er schnappte nach Luft.

„So grüßen im Herbst unsere Jäger einander, wenn sie sich in der Wildnis begegnen.“ Lasnic warf sich auf den Rücken, hebelte dem anderen den Arm unters Kinn und schwamm einhändig und mit den Beinen. Er spürte, wie Joscun zitterte. „Lass ganz locker, hörst du? Ich schaff’ dich ans Ufer.“

„Bist du wahnsinnig, Waldmann?“ Joscun schlug um sich. „Wir müssen mein Fluggerät bergen!“

„Wer hat denn dir ins Hirn geschissen?“ Lasnic hätte nicht für möglich gehalten, dass der Verrückte noch so viel Kraft in den Armen hatte. „Was willst du denn noch mit dem sperrigen Ding? Sei froh, dass es dich nicht in den Tod gerissen hat!“

Joscun wollte nicht hören. „Lass mich los!“ Er wand sich in Lasnics Armen, schlug und fluchte und strampelte so lange, bis Lasnic ihm seinen Willen ließ. Keuchend kraulte der Mann aus Blauen zu seinem bereits sinkenden Gestell. Nur dessen linke Schwingenhälfte ragte noch schräg aus dem Wasser. Er packte sie, zerrte daran, versank, tauchte auf und schrie: „Her zu mir, Waldmann! So hilf mir doch!“

Lasnic gab auf. Fluchend schwamm er zu dem abgestürzten Flieger und tauchte nach der schon versunkenen rechten Schwinge. Die war zwar sperrig, aber auch erstaunlich leicht, und der Auftrieb des Bambusrohrrahmens half dem Waldmann, sie über die Wasseroberfläche zu stemmen. Beide Männer schoben sich unter je eine Schwinge. Derart beladen schwammen sie auf dem Rücken dem Ufer entgegen.

„Ich wollte im Uferschilf landen“, keuchte Joscun. „Hatte schon einen baum- und buschlosen Streifen ausgespäht. Doch eine Böe kalten Nordwindes hat mich erwischt. Plötzlich riss der Auftrieb ab und mein Segler hat Schlagseite bekommen und ist ins Trudeln geraten.“ Lasnic blinzelte zu ihm und versuchte zu verstehen. „Bin froh, dass ich den Vogel überhaupt noch mal in den Gleitflug bringen konnte.“

Obwohl sein blauer Lederanzug längst mit Wasser vollgesogen sein musste, hielt dieser Joscun sich tapfer über dem Wasserspiegel. „Starten und vor allem landen ist schwieriger als der Flug selbst, weißt du?“ Er schwamm wirklich gut, er schwamm besser, als Lasnic es einem Bergkerl zugetraut hätte. „Der ist im Grunde ein Kinderspiel.“

„Du bist tatsächlich von Blauen aus mit diesem Gestell geflogen?“ Lasnic konnte es immer noch nicht glauben.

„Was sollte ich machen? Die verfluchte Hexe Lauka hat die Stadt nach mir durchkämmt. Seit Tagen warmer Südwestwind, das musste ich einfach ausnutzen, sonst wäre ich in Laukas Folterkammer gelandet. Oder gleich auf dem Hackklotz.“

„Ich weiß schon.“ Lasnic spähte zum Ufer – noch einen halben Lanzenwurf höchstens. Schwertweiber aus Petronas Garde legten schon Waffen und Kleider ab, um in den See zu steigen. Der bullige Romboc gestikulierte nach links und rechts. „Lord Frix hat erzählt, dass die neue Königin alle verfolgt, die zu ihrer Schwester halten.“

„Der baldorische Dieb?“ Eine Woge überspülte Joscuns Grinsen. Er hustete, spuckte Wasser aus. „Dieses komische Kerlchen hat sich tatsächlich zu euch durchgeschlagen?“ Er keuchte und prustete. „Du hast seltsame Freunde, Lasnic, das muss ich schon sagen.“

Über ihnen tönte plötzlich ein knarziges, gurgelndes Krächzen. „Der da gehört auch dazu.“ Mit einem Blick deutete der Waldmann in den Himmel – ein großer Vogel mit weißen Flecken im schwarzen Gefieder kreiste über ihnen und dem Fluggestell: einer von zwei Kolks, die Lasnic aus den Wäldern am Mündungsdelta des Stomms über das Meer bis nach Garona begleitet hatten. „Er heißt Schrat.“ Ganz warm wurde es Lasnic ums Herz, als er den alten Kolk seines Vaters Vogler über sich kreisen sah. Als hätte eine sommerliche Böe aus dem heimatlichen Wald ihn angeweht, so kam es ihm vor, als würde sein geliebter Vater selbst ihm einen Gruß zuraunen.

„Der hat sich schon vor der letzten Bergkette zu mir gesellt!“, rief Joscun. „Danach habe ich mich nicht mehr ganz so allein gefühlt da oben in den kalten Lüften!“

So gut wie nackt sprangen vier Schwertweiber ins Wasser, wateten ihnen entgegen, streckten die Arme nach Joscun aus. Der wehrte ab. „Ich komme schon zurecht! Bringt lieber mein Fluggerät ans Ufer, ihr Schwertdamen!“ Die Kriegerinnen packten die künstlichen Schwingen. „Vorsicht!“, rief Joscun. „Bloß nicht kaputtmachen!“

Lasnic drehte sich auf den Bauch, überließ den vier Schwertweibern das Gestell. Behutsam zogen die es durchs Wasser in Richtung Ufer. Verschämt waren sie gar nicht, diese Weiber von Garona, trugen weiter nichts als schmale Lendenschurze. Ihre Brüste wogten im Wasser, und als sie sich umdrehten und ins Ufergras stiegen, weidete Lasnic sich am Anblick ihrer wiegenden Hüften und fast nackten Hintern. Ein herrlicher Anblick, weiß der Wolkengott!

Romboc blaffte Befehle. Drei Männer sprangen ins Wasser. Pirol Gumpen, der Hüne aus dem Eisland, rammte seinen Dreizack ins Ufergras und half den Schwertweibern mit dem Fluggestell. Lord Frix und der junge Weihritter Wigard bückten sich nach dem Abgestürzten und zogen ihn an Land. Diesmal wehrte Joscun von Blauen die Hilfe nicht ab. Schlaff und schwer atmend hing er zwischen den Männern.

„Du bisch ja fix und fertig, Kerl!“ Frix hatte recht, und Lasnic erschrak, als er sah, wie erschöpft der tollkühne Flieger wirklich war.

„Joscun!“ Mit ausgestreckten Armen lief Ayrin, die ehemalige Königin von Garona, durch das Schilf und auf ihn und die Männer zu, die ihn hielten. Ein rotes Stirntuch hielt ihr das schwarze Haar aus dem Gesicht. „Mein treuer Joscun! Ich bin so froh, dass du lebst!“

Die Gestalt des Kahlkopfes straffte sich augenblicklich. Er machte sich von Frix und Wigard los, ergriff mit beiden Händen Ayrins Rechte und verneigte sich vor ihr. „Glück unserer Königin, Frieden irgendwann wieder unseren Städten und Segen dem Reich.“ Ayrin zog ihn an sich und umarmte ihn. Für einen Moment loderte Lasnic Eifersucht durch die Brust.

„Bringt ihm zu trinken!“ Ayrin betastete Joscuns hellblauen Lederanzug. „Trockene Kleider für den Baumeister!“ Sie selbst trug ein weißes Leinenhemd und schwarze Ziegenlederhosen unter einer schwarzen Weste aus kurzem Lammfell und darüber einen langen Mantel aus dicht gewebter, tiefroter Wolle. „Und haben wir noch etwas zu essen für ihn?“ Sie winkte nach links und rechts.

Lasnic stieg aus dem See. Er streifte sich das Wasser von der Haut. Kaum jemand beachtete ihn – nur die blonde Kriegsmeisterin, die schöne Loryane lugte zu ihm herüber. Sie trug ein langes, hellblaues Wollkleid unter silbrigem Kettenhemd und schwarzem Ziegenpelzmantel. Ungeniert betrachtete sie seine nackte Gestalt. Und täuschte Lasnic sich oder lächelte sie?

Er drehte sich weg und ging ins Schilf. Etwas abseits von den anderen band er sich sein Hüfttuch um und stieg in seine Bärenlederhose. Das aus Tiersehne geflochtene Band mit der Lederkapsel hängte er sich um den Hals und zog das Hirschlederhemd darüber. In der Kapsel steckte der Mondstein, der magische Ring, den er vor so vielen Sommern im Mund seines toten Vaters gefunden hatte.

Am Rande des Uferwäldchens, nicht weit von ihm, landeten zwei Kolks auf den Wipfeln zweier Bäume, krächzten, quorkten und flöteten. Tekla, die Lasnic ebenfalls den weiten Weg vom Stomm bis hierher begleitet hatte, begrüßte ihren Gefährten. Die beiden Vögel hatten sich allerhand zu erzählen.

Währenddessen hüllten Petronas Schwertweiber Joscun in Decken und Lammfell. Der junge Wigard hängte seine Kleider und Stiefel zum Trocknen über Lord Frix’ Reittier, einen braunen Steinbock. Petrona selbst, die stämmige Herzogin von Schluchternburg, reichte dem Abgestürzten einen alten Gerstenfladen, frische Beeren und eine Glasschüssel mit Pemisal. So nannten die Ritter von Garona eine mit Kräutern, Zwiebeln, Pilzen und Ziegenfett durchsetzte Paste aus Trockenfleisch, von der sie sich während ihrer Winterfeldzüge ernährten.

Lasnic schlüpfte in seine Dachsfellweste, nahm Waffen und Mantel und trat neben Lord Frix und den Erzritter Romboc. Schweigend beobachtete der die aufgekratzte Menschentraube rund um Joscun. Der sehnige Kahlkopf war Rombocs Enkel, wenn Lasnic alles richtig verstanden hatte.

„Verrückter Kerl, dieser Joscun.“ Lasnic wickelte sich die Fußlappen um die Füße und stieg in seine Stiefel. „Sagt, er sei von Blauen bis hierher geflogen.“ Er gürtete sein baldorisches Kurzschwert und warf sich den Eulenfedermantel über die Schultern. „Glaubt ihr das?“

„Im Lebe net!“ Lord Frix schüttelte seine schwarze Mähne. „Zu Fuß dädsch doch mindeschdens zwanzig Stunde brauche, oda?“ Er zwirbelte an seinem zotteligen Kinnbart herum und machte ein Gesicht, als würde er seinen eigenen Worten nicht ganz trauen.

Der Erzritter blieb stumm. Schwarzes, abgewetztes Lederzeug und ein dunkelgrauer Wollmantel hüllten seine kräftige und untersetzte Gestalt ein. Silbrige Strähnen durchzogen sein zu Zöpfen geflochtenes Schwarzhaar, sein breites Gesicht war von Narben verwüstet. Man sah ihm nicht an, dass er zu den vierzehn mächtigsten Männern des untergegangenen Reiches gehört hatte. Dennoch gehorchte er nicht nur der Königin, sondern auch der Herzogin Petrona, ja sogar der Kriegsmeisterin Loryane. Lasnic jedoch war fest entschlossen, den vernarbten Bullen als eigentlichen Anführer der Flüchtlinge zu betrachten. Mochten die anderen Kerle sich doch den Weibern unterordnen, wenn sie unbedingt wollten! Für ihn kam das nicht in Frage. Niemals. Was gingen ihn die verrückten Sitten von Garona an?

„Du stinkst, Waldmann.“ Romboc trat einen Schritt zur Seite, rümpfte die Nase und betrachtete Lasnic von den Stiefelspitzen aufwärts bis zum Ansatz seines langen braunen Haares. „Hättest deine Kleider nicht ausziehen sollen, bevor du ins Wasser gesprungen bist.“

Er wandte sich ab und ging zu den anderen. Lord Frix grinste Lasnic von der Seite an. Kauzer, der kleine Wettermann von Strömenholz, hatte ihn manchmal mit ähnlich verschmitztem Grinsen beobachtet. Gut fühlte sich das an. Der Waldmann bückte sich nach Lanze und Bogen und folgte dem Erzritter. Stimmte schon – Wochen her, dass er seine Kleider gewaschen hatte. Vor allem sein Eulenfedermantel roch wie ein toter Rotaffe, der sich vor Angst vollgepisst hatte, bevor er verreckt war.

„Erzähle!“, hörte Lasnic den Erzritter sagen. „Wie steht es im Reich?“

„Was fragst du, Großvater?“ Bitterkeit und Härte verzerrten Joscuns Züge. „Ihr wisst alle, wie es steht. Das Reich ist verloren. Aus sechs Städten schleppen die Blutsäufer Kinder, Halbwüchsige und junge Ritter weg aus Garona und zu ihren Schiffen an den Troch und an die Küste von Trochau. Fragt mich lieber nicht nach unseren Töchtern, Schwestern und Müttern. Gekämpft wird nur noch in Blauen. Herzogin Wilmis von Rothern konnte sich in die Stadt retten. Die Herzogin Sigrun hat man zuletzt bei Rothern gesehen. Mit einer großen Kampfschar von Schwertdamen soll sie den Staudamm verteidigt haben. Wilmis glaubt, sie sei verwundet in den See gestürzt.“

Lasnic sah genau, wie der Erzritter schluckte und wie seine Kaumuskeln bebten. Sigrun, die Herzogin von Violadum, war seine jüngste Tochter. „Wird Blauen sich halten können?“

„Eine Zeitlang vielleicht.“ Mit einem Dolch strich Joscun Pemisal auf den knochentrockenen Gerstenfladen. „Lass den ersten Schnee kommen, dann ist es vorbei. Bis dahin reichen die Vorräte in der Stadt noch.“ Es knirschte mächtig, als er in den Kanten biss.

„Und du weißt sicher, dass Lauka in der Stadt ist?“, fragte Ayrin.

„Verlass dich drauf, meine Königin.“ Joscun sprach mit vollem Mund. „Und verlass dich drauf, dass sie darauf brennt, jeden zu töten, von dem sie weiß, dass er dir die Treue hält. Meine Mutter hat mich genötigt, zu fliehen.“ Vor dem Schilf breiteten Wigard, Pirol Gumpen und einige Gardistinnen der schönen Kriegsmeisterin das Fluggerät, seine Riemen und die Hängematte zum Trocknen in der Sonne aus. Mit einer Kopfbewegung deutete Joscun auf das Gestell. „Also habe ich mich letzte Nacht in die Terrassengärten hinaufgeschlichen und nach Sonnenaufgang einen meiner Luftsegler aus der herzoglichen Weingrotte gezogen. Unsere Weinberge sind ja steil genug, um ordentlich Anlauf nehmen und springen zu können. Keiner hat mich gesehen am Himmel über Blauen. Im warmen Aufwind aus den Flusstälern und den Sümpfen konnte ich sieben Stunden lang ungestört meine Kreise ziehen. Glück gehabt. Der Großen Mutter sei Dank! Soviel Glück! Bis kurz vor der Landung.“ Er hob den Blick seiner grauen Augen und schaute zu Lasnic herüber. „Danke, Waldmann.“

Lasnic nickte. Voller Bewunderung hing er an den Lippen des Kahlkopfes. Aus der nördlichsten Stadt des Königsreichs von einer steilen Gartenterrasse gesprungen, über Täler und Flüsse geflogen, über die östlichen Schneegipfel, über die halben Sümpfe – das musste man sich einmal vorstellen!

„Wie geht es Blauens Herzogin Tanjassin?“, wollte Petrona wissen. Auch sie, die stämmige Kriegerin mit den männlichen Zügen und dem kurzen, dunkelblonden Haar, war eine der sechs Herzoginnen Garonas – ihre Stadt Schluchternburg hatten die Bräunlinge als erste erobert. Weil Joscun nicht gleich antwortete, verdüsterte sich ihre harte Miene. „Lauka, das verdammte Biest, hat es doch nicht etwa gewagt, sie anzutasten?“

Joscun hörte auf zu kauen und senkte den Blick. Stille herrschte plötzlich. Lasnic äugte in die Runde – keiner, der in diesem Moment nicht wie erstarrt stand und zu dem in Decken und Felle gehüllten Kahlkopf schaute.

„Wie geht es deiner Mutter, Joscun?“, hakte Romboc mit heiserer Stimme nach, als sein Enkel stumm blieb. Lasnic beobachtete ihn verstohlen – der Erzritter war aschfahl geworden unter seinen vielen Narben.

„Warum antwortest du nicht, Joscun von Blauen?“ Ayrin ging vor dem Kahlkopf in die Hocke. „Tanjassin ist doch nicht etwa ...?“

Joscun schluckte, ließ den Fladen fallen und atmete tief. „Vielleicht sollten wir alle ihr wünschen, tot zu sein.“ Er raffte die Decken um seine Schultern zusammen und schüttelte sich, als würde er frieren. „Doch ich fürchte, sie lebt. Und ich fürchte, es geht ihr erbärmlich.“ Er hob den Kopf und sah seinem Großvater in die Augen. „Gestern Abend, kurz nachdem ich gegangen war, drangen Laukas Schwertdamen in die Herzoginnenburg ein.“

Fast alle senkten die Blicke. Nur der junge Wigard musterte den Erzritter aus großen, traurigen Augen. Niemand sprach mehr ein Wort. Loryane, die blonde Kriegsmeisterin, ging zu Romboc, wollte ihn in den Arm nehmen. Doch der Erzritter wandte sich ab und stapfte zwischen die Bäume und Büsche am Seeufer.

2

Ein Rauschen wie von jähem Windstoß erfüllte plötzlich die Luft, etwas Schattenhaftes brauste heran zwischen Himmel und Stadt. Auf den Gassen und Straßen unterhalb der Steilwand schrien Menschen einander Warnungen zu. Die Schwertdamen und Ritter an der Zugbrücke und entlang des Burggrabens starrten in den Himmel. Einige warfen sich in den Staub. Dann schlugen kurz nacheinander drei Katapultgeschosse bei der Kreuzung vor der Burg ein, Felsbrocken, groß wie einachsige Eselskarren. Einer traf die Burgmauer, ein anderer ein Haus. Es klirrte und krachte; Ziegel, Glas, Dreck und Gesteinssplitter spritzten nach allen Seiten davon; Staub stieg auf.

„Nicht einmal zweihundert Fuß entfernt“, sagte Starian. Sorgenfalten zerfurchten seine Miene.

„Mach dir keine Sorgen, mein Ritter.“ Aus schmalen Augen beobachtete Lauka die nächsten Felsbrocken, die jenseits der Nordmauer in den Himmel stiegen. „Weiter können sie auch mit ihren größten Katapulten nicht schießen.“

„Um dein Leben sorge ich mich nicht, meine Königin. Hier oben in der Wand und in den Höhlen bist du sicher.“ Starian trug Bein- und Armschienen, einen schwarzen Harnisch über einem Kettenhemd und eine eherne Sturmhaube mit Nasenschutz. Mit einer Geste wies er auf die Gebäude im Hang unter ihnen. „Doch die Stadt geht zugrunde. Sieh doch!“

Auf bogenförmiger Flugbahn rauschten die nächsten Geschosse heran, vier waren es diesmal, und wie um Laukas Worte zu bestätigen, schlugen sie knapp 300 Fuß entfernt in einer Gasse, einem angrenzenden Hof und einem Dach ein. Esel blökten, Ziegen meckerten, Menschen schrien.

„Eine Stallung.“ Der Zorn machte Starians Stimme heiser. „Und ein Wohnhaus. Sie zertrümmern uns die Straßen und Häuser.“ Lauka, er und eine Handvoll Thronritter standen 600 Fuß über der Stadt an der Brüstung eines Felssimses. Viele Vertraute, Gardisten und Bedienstete der neuen Königin hatten sich hierher, in die Höhlen des Steilhangs, geflüchtet, der Blauen im Süden und zum Teil auch im Osten begrenzte. „Von den tausenddreihundert Gebäuden Blauens ist bereits jedes zehnte beschädigt oder zerstört“, klagte der blonde Starian. „Jetzt können unsere Leute noch in den Terrassengärten oder hier in den Höhlen leben. Doch was, wenn in einem Mond der Winter kommt?“

Lauka presste die Lippen zusammen. Ihr Erster Reichsritter und Kommandant der Throngarde hatte recht. Doch was tun? Noch klammerte sie sich an die Hoffnung, die Belagerer könnten bald aufgeben, um rechtzeitig vor den ersten Winterstürmen ihre Krieger einschiffen und über den Großen Ozean schaffen zu können. Von ihrem Vater Mauritz kannte Lauka ja das nächste Kriegsziel der tarkanischen Hohepriesterin: die Vernichtung der Waldstämme am Stomm.

Unten vor der Zugbrücke trugen Ritter zwei verletzte Schwertdamen in den Burghof. Auf jedem Turm, jedem Balkon, jeder Dachterrasse der Herzoginnenburg sah Lauka Bewaffnete. Drei Kampfscharen zu je hundert Schwertdamen und Rittern durchkämmten die Burg nach der entmachteten Herzogin und ihrem Gefolge. Stündlich wartete Lauka darauf, dass man ihr die Gefangennahme Tanjassins von Blauen meldete.

Genauso, wie sie stündlich darauf wartete, dass ihr Vater endlich in der belagerten Stadt eintraf.

„Da!“ Starian fasste nach ihrem Oberarm und deutete nach Südosten. Von dort flogen zwei brennende Baumstämme über die Wehrmauer in die Stadt und schlugen nicht weit dahinter zwischen den Häusern ein. „Warum erfinden unsere Baumeister keine Kriegsgeräte, mit denen man derart riesige Fackeln verschießen kann?“

„Wir besitzen Brandkörbe, vergiss das nicht, Starian. Die schießen wir weiter und zielgenauer, als die Blutsäufer ihre Felsbrocken und geteerten Brandstämme schleudern können.“

„Und warum haben wir dann erst einen einzigen feindlichen Katapult getroffen?“

„Weil sie ihr schweres Kriegsgerät hinter hohen Wällen verschanzt haben“, antwortete Lauka. „Das weißt du besser als ich.“ Ein schwarzer Wildledermantel ihres Vaters hüllte ihre zierliche Gestalt ein. Darunter trug sie ein moosgrünes, langes Kleid. Ein Helm aus Bronze bedeckte ihren Scheitel; die kastanienroten Locken hatte sie sich mit einem gelben Stirntuch aus dem Gesicht gebunden. Sie legte die Rechte über die Brauen, um ihre Augen vor der Nachmittagssonne zu schützen, und spähte dorthin, wo die Brandstämme eingeschlagen hatten. Flammen loderten zwischen den Häusern auf, Rauch stieg empor.

„Die Südmühle.“ Gepresst und zerknirscht klang Starians Stimme jetzt. „Sie besteht zur Hälfte aus Holzgebäuden. Was die Tarkaner uns nicht zertrümmern, schießen sie uns in Brand.“

„Hör auf zu jammern, Reichsritter!“, fuhr Lauka ihn an. „Sag mir lieber, was du vorschlägst.“ Sie musterte ihn von der Seite. „Rede!“ Sein Profil war kantiger geworden in den letzten drei Wintern. Betrachtete man nur seine linke Seite, war er immer noch schön anzusehen.

„Wir müssen einen Ausfall wagen!“ Starian drehte den Kopf und schaute ihr in die Augen. Eine vernarbte und gerötete Schwarte bedeckte seine rechte Schädelseite unter dem Wangenschutz der Sturmhaube. Kaum Haar wuchs ihm dort. „Wir müssen endlich ihre Katapulte zerstören! Hinter ihren Schanzwällen können unsere Katapulte sie nur mit viel Glück treffen.“

Lauka dachte an jenen Tag zurück, als ihre Schwester Ayrin in ihre Schlafkammer eingedrungen war und dem nackten Ritter mit seinem eigenen Schwert das Ohr abgeschlagen und die Schulter zertrümmert hatte. Wie so oft flammte Hass durch ihre Brust. Bei der Großen Mutter: Ayrin würde bezahlen müssen! Dafür und für vieles andere; das hatte Lauka sich geschworen.

Angeblich hatte ihre Schwester nach dem Fall Violadums fliehen können. Wo sie wohl steckte? Wer ihr wohl beistand? Lauka hätte es Ayrin gegönnt, in die Hände der so grausamen wie gierigen Krieger aus Tarkatan zu fallen.

„Ein Ausfall wird uns viele Kämpfer kosten“, sagte sie leise.

„Das mag stimmen, meine Königin. Noch mehr Menschen allerdings werden wir verlieren, wenn die Tarkaner unsere Stadt weiterhin mit Felsbrocken und Brandstämmen bombardieren.“

Lauka ballte die Rechte zur Faust, presste sie an die Lippen und dachte nach. Etwas mehr als 9.000 Menschen lebten normalerweise in Blauen. Seit die Blutsäufer aus Tarkatan eine Bergstadt nach der anderen gestürmt hatten, war der Strom der Flüchtlinge stetig angeschwollen. Vor wenigen Tagen erst war auch die Hauptstadt Garonada gefallen, und der Belagerungsring der kleinen, braunen Krieger hatte sich endgültig um Blauen geschlossen. Fast vierzigtausend Garonesen lebten nun in der Stadt. Mehr als doppelt so viele, wie die Gärten, Ställe und Vorratshäuser der Stadt den kommenden Winter über ernähren konnten.

Kaum jeder zehnte war waffenfähig, und nicht alle konnten sich zu jeder Stunde hier in der Steilwand des Blauphirs oder rechts und links davon in den Terrassengärten aufhalten. Die Wehrmauern und Stadttore mussten ja besetzt bleiben; Löschzüge mussten zwischen Zisternen und Brandherden pendeln; Boten, Ärzte, Wagenkolonnen mit Material und Proviant mussten zwischen den Wehrmauern und der Burg verkehren. Dazu kamen die Bäckereien und Küchen, die das Essen für die auf der Mauer kämpfenden Schwertdamen und Ritter zubereiteten. Und nicht zu vergessen die viel zu vielen Blauener, die sich wegen ihrer Tiere und ihres Eigentums weigerten, Häuser und Gehöfte zu verlassen.

Wie schmerzlich vermisste Lauka ihren Vater in diesen Stunden! Wo blieb er denn nur? Für einen mächtigen Magier wie ihn konnte es doch nicht so schwer sein, sich durch den Belagerungsring in die Stadt zu schleichen! Was würde er, Mauritz, entscheiden, wenn er jetzt hier wäre?

Lauka senkte den Blick, ballte die Linke und berührte den Mondsteinring, den sie dort trug. Ein Geschenk ihres Vaters, ein Tor zu ungeahnten magischen Kräften. Lauka schloss die Augen, legte die Rechte auf Faust und Ring und straffte ihre sehnige Gestalt. „Also gut, Starian.“ Endlich nickte sie. „Aber nur unter einer Bedingung: Du gehst nicht selbst mit nach draußen.“

„Das muss ich aber, meine Königin.“

„Nein!“ Sie packte ihn an den Oberarmen, sah zu ihm hoch. „Ich will dich nicht verlieren!“ Seit zwei Wintern begleitete Starian als Laukas engster Vertrauter ihren Aufstieg zur Königin von Garona. Damals, erst achtzehnjährig, hatte sie beschlossen, ihre Schwester zu stürzen, und den sieben Winter älteren Ritter aus dem Kerker in ihr Bett geholt. Starian war ihr mehr als nur Liebhaber und militärischer Berater – er war ihre rechte Hand. Und solange ihr Vater verschollen blieb, auch ihr Halt und die wichtigste Stütze ihrer Macht.

„Ich selbst muss den Ausfall anführen, meine Königin!“ Starian zeigte sich unbeirrt. „Willst du etwa dem alten Eisenfinger das Kommando geben?“ Er meinte den einarmigen Erzritter Raban; Lauka wusste, dass Starian ihn nicht besonders schätzte. „Die fette Herzogin wird es kaum wagen, sich ins Schlachtgetümmel zu stürzen, und Boras wird an der Südflanke des Blauphirs gebraucht.“

„Raban mag alt und verkrüppelt sein, aber er kämpft mutig und verbissen wie ein Schneeleopard.“ Lauka ließ Starian los und wandte sich ab.

„Doch wertvollere Dienste leistet dir ein Erzritter hier, in Burg und Stadt, meine Königin.“ Starian blieb hartnäckig; anders kannte Lauka ihn nicht. „Ich muss die Schwertdamen und Ritter in den Kampf führen! Sie verehren mich, das weißt du doch. Vor allem die jungen Ritter. Die Blutsäufer haben fünf Katapulte auf den Blauphir zur Stadt herauf geschleppt und im Hang verschanzt. Einen haben unsere Katapultschützen zertrümmert. Nur wenn wir den Ausfall mit äußerster Entschlossenheit durchführen, können wir die anderen vier zerstören. Dazu muss ein Ritter unsere Kampfscharen anführen, an den sie glauben und den sie als Vorbild verehren.“

„Du bist nicht der Einzige, der sein Leben für mich und Garona geben würde, nicht der Einzige, den sie achten.“

„Aber der Beste.“

Lauka biss die Zähne zusammen. Mit dem Handteller der Rechten rieb sie über den großen Mondstein ihres Ringes. Wie warm er sich anfühlte! Schließlich fuhr sie herum und sah dem kräftig gebauten und hoch gewachsenen Ritter in die hellblauen Augen. Von allen liebte sie Starian am meisten. Sie hängte ihre Armbrust ans Geländer, stellte sich auf die Zehenspitzen und fasste sein stoppelbärtiges Gesicht. „Dann geh und tu, was du tun musst. Die Große Mutter sei mit dir, mein Geliebter.“ Sie küsste ihn auf den Mund. „Pass auf dich auf und komm heil zu mir zurück. Ich brauch dich.“

Starian hielt sie einen Atemzug lang fest, dann löste er sich aus ihrer Umarmung und eilte zu einer der schmalen Eisenleitern, die nach unten führten. „Nimm keine Schwertdamen mit, Reichsritter Starian!“, rief sie ihm hinterher. „Ich will nicht, dass noch mehr Frauen in die Hände der verfluchten Blutsäufer fallen!“

Der Ritter nickte, fasste nach einem Griffbügel und schwang sich auf die gusseiserne Leiter. Wenig später drang seine bellende Stimme aus einer der tiefergelegenen Höhlen zu ihr herauf. Offenbar stellte er bereits die Scharführer für den Ausfall zusammen. Lauka schulterte ihre Armbrust und lauschte dem Klang seiner Stimme. Wie rasch er sich doch diesen schroffen Befehlston angewöhnt hatte, seit er ihr und Mauritz geholfen hatte, Ayrin Krone und Reich zu entreißen.

Und schon wieder brauste und rauschte die Luft. Lauka spähte suchend nach allen Seiten – diesmal flogen drei Felsbrocken von Nordwesten her über die Mauer. Starians Thronritter drängten sich in einem engen Kreis um sie herum und hoben schützend ihre Schilde. „Weg damit!“, zischte Lauka. „Nichts kann mich verwunden!“ Die Ritter senkten ihre Arme. Beinahe zeitgleich stiegen die schweren Geschosse in steilen Kurven nach oben, schienen einen Wimpernschlag lang zu verharren und beschleunigten danach umso rascher, bis sie eine halbe Meile entfernt einschlugen. Es dröhnte und donnerte.

„Das Garnisonshaus“, murmelte einer der Gardisten halblaut, ein junger, gut gebauter Rotschopf namens Hector; Lauka hatte längst ein Auge auf ihn geworfen. „Davon steht doch kaum noch die Grundmauer.“ Das stimmte – auf das Garnisonshaus der Stadtritterschaft hatten die Tarkaner sich schon vom ersten Tag der Belagerung an eingeschossen. „Verdammich!“, zischte der Rotschopf, hielt die Linke über die Augen und spähte nach Westen. „Ich glaube der dritte Brocken hat die Westmauer erwischt!“

Die Thronritter stellten sich auf die Zehenspitzen und beobachteten die zerquellende Staubwolke über dem Mauerabschnitt hinter dem Garnisonshaus, und wie um Hectors Vermutung zu bestätigen, ertönten plötzlich Fanfarenklänge von der Westmauer her. Mit Eisklauen griff die Angst nach Laukas Herz: Wenn es den Blutsäufern gelingen sollte, eine Bresche in die Mauer zu schießen, dann würde sie den sicheren Platz hier auf dem Felssims aufgeben und an der Stadtmauer ihre Magie gegen feindliche Sturmtruppen einsetzen müssen. Dabei begann sie doch gerade erst, ihre neuen Kräfte zu entdecken. Wenn doch bloß ihr Vater endlich käme!

Wie eine dunkle Wolke stieg im Westen ein Pfeilhagel auf und senkte sich auf die Mauer. „Sie bereiten einen Sturm vor“, sagte einer der Männer. Unten in der Stadt rollten drei Fuhrwerke über die Zugbrücke und bogen in die Gasse nach Westen ein; Wagen, um die Verletzten zu bergen. Eine große Kampfschar aus Schwertdamen folgte ihnen.

„Unser Reichsritter!“ Hector deutete auf Starian, der nun neben dem südlichen Burggraben an der Spitze einer berittenen Kampfschar in ihrem Blickfeld auftauchte. Er saß auf einem großen, weißen Ziegenbock. Hinter ihm lenkten Hunderte Ritter ihre Esel und Reitziegen aus dem Schatten der Felswand. Etliche trugen brennende Fackeln. Die Großkampfschar teilte sich an der Kreuzung, etwa fünfhundert Reiter lenkten ihre Tiere Richtung Nordtor. Lauka biss die Zähne zusammen, als sie Starian an der Spitze von fünfhundert Reitern in die Straße nach Westen einbiegen und verschwinden sah. Ihre Augen waren Schlitze auf einmal.

Von derselben Leiter, über die Starian nach unten geklettert war, schwang sich jetzt eine junge Schwertdame auf den Felssims herauf. Sie trug ein Zweihandschwert auf dem Rücken und gelbliches Leder über dem Harnisch. Ein wahres Gestrüpp aus blauschwarzen Zöpfen quoll unter dem blauen Kopftuch heraus, das sie sich um den braunen Lederhelm gebunden hatte. Eine Botin Rabans; Lauka hatte ihren Namen vergessen. Der Erzritter Raban, Kommandant der Stadtritterschaft von Blauen, schickte stündlich Boten mit Nachrichten zu ihr herauf. Gab es endlich Neuigkeiten von Mauritz? Lauka schöpfte Hoffnung.

Die Schwertdame eilte herbei. Drei Schritte vor ihrer Königin blieb sie stehen und verneigte sich tief. „Was gibt es?“, herrschte Lauka sie an.

Die junge Frau stammte aus Rothern und gehörte eigentlich zu Wilmis’ Gefolge. Doch die ehemalige Herzogin von Rothern und neue Herzogin von Blauen hatte sie zu den Kampfscharen abkommandiert, die in der Burg nach Wilmis’ Vorgängerin Tanjassin suchten. Wahrscheinlich hielt sie Wilmis auf dem Laufenden. Lauka misstraute den Überlebenden aus Rothern; der Herzogin nicht weniger als ihrer Entourage.

Die Schwertdame hob den Blick. „Botschaft vom Erzritter Raban, meine Königin.“ Man redete in Gegenwart der Königin nicht, bevor man dazu aufgefordert wurde; und man hatte sich zu verneigen. Neue Sitten – Lauka hatte sie gleich nach Ayrins Sturz eingeführt. „Die Herzogin Tanjassin hat sich im Südflügel ...“

„Tanjassin ist keine Herzogin mehr!“, schnitt Lauka ihr das Wort ab. „Geht das nicht in deinen Schädel, dummes Ding? Deinen Namen!“

„Tigrit, meine Königin. Verzeih mir.“ Die Schwertdame errötete.

„Noch einmal nennst du die Verräterin mit diesem Titel, und ich werde dafür sorgen, dass du es unter Stockhieben erst bereust und dann verlernst!“

„Verzeih, meine Königin.“ Tigrit verneigte sich erneut. „Höre die Botschaft Rabans, meine Königin: ‚Die Verräterin Tanjassin hat sich im Südflügel der Burg verschanzt. Der Zugang zum Höhlensystem liegt nahe ihres Verstecks. Die Verräterin wird wohl versuchen, sich dorthin durchzuschlagen. Hinter dem Felsentor jedoch wartet bereits die Majordame Wolfrun mit ihren Schwertdamen auf sie.’“

„Gute Nachrichten.“ Lieber hätte Lauka gehört, dass Mauritz in der Stadt aufgetaucht war. „Gehe und richte Raban aus, dass ich Tanjassin und ihren Sohn lebend will. Er möge mich benachrichtigen, sobald er beide Verräter in Ketten gelegt hat.“ Die Botin wiederholte die Botschaft, verneigte sich und kletterte wieder nach unten.

Das Triumphgefühl trieb Lauka jenes Lächeln ins Gesicht, für das viele sie fürchteten. Ein kaltes Lächeln, selbstgewiss und verschlagen. Tanjassin in der Falle! Die letzte noch lebende Herzogin, die sich offen zu Ayrin bekannte! Von allen Anhängern der gestürzten Königin waren nur noch sie und ihre wenigen Getreuen auf freiem Fuß. Alle anderen hatten Laukas Ritter und Schwertdamen getötet oder in den Kerker unter der Burg geworfen.

Lauka hoffte inbrünstig, dass man auch Tanjassins Sohn, den hochmütigen Baumeister Joscun, gefangenen nehmen konnte. Sie brauchte Männer wie ihn, brauchte Schwertlose, die mit ihrem scharfen Verstand und ihrem Wissen über Welt und Natur wichtigere Siege zu erringen imstande waren als ein mit Katapulten, Armbrüsten und Schwertern ausgerüstetes Heer.

Doch Lauka machte sich nichts vor: Joscun hielt Ayrin die Treue und würde sich erst einmal weigern, einer Herrscherin zu dienen, die seine Königin vom Thron gestürzt hatte. Daran würde auch seine enge Freundschaft zu Starian nichts ändern. Aber Lauka kannte Mittel und Wege, dem Baumeister ihren Willen aufzuzwingen. Ihre Rechte rieb kreisend über den warmen Ring; zwischen den Fingern sah sie ihn aufleuchten. Joscun würde der Hochmut schon noch vergehen.

„Ein Bautrupp!“ Der Rotschopf deutete zur Burg hinunter, wo schon wieder Eselsgespanne Wagen über die Zugbrücke zogen. „Und da – ein Löschtrupp!“ Sieben Fuhrwerke rollten Richtung Westmauer, teils mit Bauholz und Steinen, teils mit Großfässern beladen. Ritter und Zimmerleute rannten neben ihnen her. „Die Mauer ist beschädigt, der Wehrgang scheint zu brennen!“

Plötzlich Stimmen und Schrittlärm am südlichen Ende des Felssims – die Köpfe der Thronritter flogen herum. Hector griff zum Knauf seines Schwertes, andere rissen ihre Armbrüste von den Schultern. Etwa hundert Schritte entfernt sprangen Schwertdamen von den Leitern, die aus dem oberen Felshang auf den Sims herabführten. Ihnen folgten ein paar Ritter und Boras, der Reichsritter, der die Verteidigung des Südhangs befehligte. Lauka und ihre Throngardisten entspannten sich, als sie die eigenen Leute erkannten.

Die Schwertdamen zerrten zwei kleine, sehnige Männer mit brauner Haut von den Sprossen, stießen sie zu Boden und setzten ihnen die Klingenspitzen an die Kehlen. Ein Fremder und die letzten Schwertdamen und Stadtritter kletterten von der Leiter. Lauka schluckte ihre Enttäuschung herunter: Mauritz war nicht unter den Männern.

Sie ging Boras entgegen; die sieben Thronritter wichen nicht von der Seite ihrer Königin. „Ihr habt Gefangene gemacht, mein Ritter?“

„Fast zwei Dutzend.“ Boras feixte zufrieden. Er trug einen roten Mantel über seinem schwarzen Harnisch. Wie Starian hatte Lauka auch ihn für seine Dienste beim Sturz Ayrins mit dem Stand eines Reichritters belohnt. Allerdings nur, um die Flamme der Eifersucht rund um ihren Thron gar nicht erst auflodern zu lassen – Boras’ Geistesschärfe und Willenskraft reichten bei weitem nicht an Starians Fähigkeiten heran. Dafür verstand er, sein Schwert mit vernichtender Kraft zu führen. Außerdem war er ein Liebhaber, dessen grobe Wildheit Lauka manchmal den eher sanften Liebeskünsten Starians vorzog.

Boras zog seinen schwarzen Helm ab und wischte sich den Schweiß vom stoppelhaarigen Schädel. „Blutsäufer sind über einen Felskamin zum Kamm unter dem Gipfel herauf gestiegen.“

Im Süden und Osten bildete der Blauphir einen natürlichen Stadtwall um Blauen. Der Reichsritter Boras und seine Kampfscharen aus erfahrenen Schwertdamen und Grenzrittern bewachten und verteidigten die wenigen Routen, auf denen Feinde den Berg überwinden konnten.

„Die meisten habe ich töten lassen.“ Mit dem Schwert zeigte der Stoppelkopf auf die beiden Gefangenen. „Diese hier haben die Rotte angeführt. Hauptleute. Ich denke, sie haben einiges zu erzählen. Wir müssen sie nur zum Reden bringen.“ Boras zog seinen Dolch und grinste böse.

Lauka schritt um die Tarkaner herum und betrachtete sie neugierig. Noch nie hatte sie die blutrünstigen Krieger von den Tausend Inseln aus solcher Nähe gesehen. Erstaunlich klein kamen die beiden ihr vor, dazu ungewöhnlich drahtig und dürr. Ketten verbanden ihre Fuß- und Handgelenke, sie trugen schwarze Pluderhosen, graue Lederjacken und schwarze Stirntücher. Aus den Sohlen ihrer Bergsteigerstiefel ragten kurze, stumpfe Nägel. Ihre hasserfüllten Blicke tasteten Laukas Gesicht und Körper ab.

„Dolmetscher!“, rief Lauka. Der Fremde, der mit Boras und seiner Schar aus dem Fels herabgestiegen war, trat zu ihr und den Gefangenen, ein Trochauer von gedrungener Gestalt und mit hellbraunen Locken, lang und dicht. Er deutete eine knappe Verbeugung an. „Frag sie, wie ihre Anführer heißen, wie viele Krieger vor Blauen lagern und wie viele in den anderen sechs Städten des Reiches.“

Der Dolmetscher sprach die beiden Tarkaner in ihrer eigenen Sprache an. Er hieß Pradosco und gehörte zu den Rebellen, die in Trochau die Herrschaft Garonas bekämpft hatten. Wie die beiden Blutsäufer war er ein Gefangener des Reiches, denn als Bergführer hatte er Tausende von tarkanischen Kriegern über die Ostgrenze des Reiches und vor die Mauern Schluchternburgs und Weihschroffs geführt. Bis dahin hatte die steile und zerklüftete Ostgrenze als unüberwindbar gegolten. Doch weil die Tarkaner inzwischen auch in Trochau mordeten, raubten und schändeten, hatte der Mann die Seiten gewechselt.

Der ältere der beiden Gefangenen blaffte ein paar Silben heraus, und der Trochauer übersetzte: „‚Von uns erfahrt ihr kein Wort’, sagt er.“ Lauka nickte Boras zu, der bückte sich blitzschnell nach dem trotzigen Tarkaner, schwang seinen Dolch und schlitzte ihm die Stirn auf. Der Dolmetscher wiederholte die Frage, der Tarkaner spuckte ihn an. „Schneid ihm die Ohren ab“, befahl Lauka. Zwei Ritter traten dem Gefangenen auf die Arme und griffen in sein schwarzes Kraushaar. Boras holte mit den Dolch aus, verfluchte den Mann von den Tausend Inseln und trennte ihm beide Ohren ab. Der braunhäutige Krieger gab nicht einen Ton von sich, blieb auch zum dritten Mal die Antwort auf Laukas Fragen schuldig.

„Schafft den anderen ans Geländer.“ Lauka deutete auf den Jüngeren der beiden Gefangenen. „Und tretet ein paar Schritte zurück. Alle.“

Boras und die Thronritter zögerten. „Verzeih, meine Königin.“ Hector verneigte sich. „Doch es ist meine Pflicht, keinen Augenblick von deiner Seite ...“

„Es ist deine Pflicht, mir zu gehorchen, Rotschopf!“, zischte Lauka. „Weg mit euch!“

Boras und seine Ritter packten den zweiten Gefangenen und zerrten ihn ans Geländer. Er blickte in die Tiefe, und Lauka konnte zusehen, wie die Angst sich in seiner knochigen Miene einnistete. Gut so. Die Schwertdamen und Thronritter wichen widerwillig zur Seite. Lauka ballte die Linke zur Faust und richtete sie auf den braunhäutigen Krieger zu ihren Füßen. Aus der Blutlache um seinen Schädel heraus starrte er voller Hass zu ihr herauf.

Lauka tat, was sie als Erstes von ihrem Vater, dem Magier, gelernt hatte: Sie verband ihren Geist mit der Kraft im Mondstein und beschwor das magische Licht herauf, das ihr Vater „ERSTES MORGENLICHT“ nannte. Eine ungeheuerliche Kraft, vor der es Lauka noch immer graute; ein ungeheuerliches Licht, das sowohl vernichten, als auch erschaffen konnte.

Der Ring leuchtete heller, und sie hielt den Atem an. Die Ritter und Schwertdamen wichen noch weiter zurück. Der Blick des blutenden Tarkaners wurde starr.

Alles in Lauka geriet in Aufruhr. Innerlich erbebte sie vor der Macht, die ihr Geist auf einmal empfand, äußerlich stand sie reglos und mit versteinerter Miene. Wie sie es von Mauritz gelernt hatte, rang sie Angst und Erregung nieder und legte dem magischen Licht mit ihrem bloßen Willen Zügel an: Ein schwacher Lichthof aus blauem, grünlichem und türkisfarbenem Schimmer fiel jetzt auf den Gefangenen; zugleich versuchte Lauka, mit ihrem Geist nach seinem Willen zu tasten. Das zu lernen – einen fremden Willen anzugreifen –, hatte sie erst begonnen, als sie ihren Vater vor sieben Tagen zuletzt in Garonada gesehen hatte.

Der Wille des blutenden Gefangenen fühlte sich hart und spröde an, und es gelang ihr nur unter Mühen, in ihn einzudringen. Doch das magische Licht tat schon die Wirkung, die Lauka sich wünschte – das Haar des Gefangenen wurde grau, seine Lippen fahl, sein Blick trübe, und unzählige Furchen zogen sich über die plötzlich schmutzigbraune Haut seiner Handrücken und seines Gesichtes.

Die Zeit vergeht schneller oder hält inne, ganz wie wir wollen, hatte ihr Vater erklärt, die Kraft des Lebens strömt oder versiegt, ganz wie wir wollen. Lauka verstand nicht wirklich, was Mauritz damit hatte sagen wollen. Noch nicht.

„Steh auf!“, herrschte sie den Tarkaner an. „Geh zur Brüstung!“

Ein alter Mann, ein Greis beinahe, erhob sich vom blutigen Felssims, stemmte sich ächzend auf die Knie und zog sich am Felsen auf die Füße. Schwer atmend schleppte er sich zum Geländer am Rande des Felssimses. Seine Ketten rasselten bei jedem Schritt. Die Ritter und Schwertdamen beobachteten den plötzlich Vergreisten aus schmalen Augen. Entsetzen spiegelte sich in den Mienen derer, die bisher nur aus Gerüchten von den Ringträgern und ihren magischen Kräften wussten. Der zweite Gefangene schluckte unablässig, und nur der Trochauer beobachtete die gespenstische Szene mit gleichmütiger Miene, so als würde er einen verdorrten Baum oder einen leeren Weinkelch betrachten.

Vor dem Geländer blieb der verstümmelte Gefangene stehen und stützte sich auf den obersten Brüstungsholm. Das Blut aus den freigelegten Gehörgängen strömte ihm über Schultern und Rücken. Lauka bohrte ihre Willenskraft tiefer in seinen Geist. „Klettere über das Geländer und stürze dich hinab!“

Alle hielten jetzt den Atem an, sie sah es genau, sogar der Rebell aus Trochau. Der blutende Tarkaner aber setzte den rechten Stiefel auf den mittleren Holm, stützte sich auf die Brüstung und kletterte über das Geländer. Wegen der Ketten und seiner plötzlichen Vergreisung und Kraftlosigkeit brauchte er drei Versuche, bis es ihm endlich gelang, auch das zweite Bein über den Brüstungsholm zu schwingen. Er stierte erst in die Tiefe, dann zurück zu Lauka.

„Spring!“, befahl sie. Der Gefangene ließ das Geländer los und stürzte ab. Sekunden später hörte Lauka seinen Körper unten im Steilhang aufschlagen.

Sie erschauerte. Derart ungeheure Kräfte besaß sie? Und zwanzig Winter lang hatten diese Kräfte unbemerkt in ihr geschlummert? Sie konnte es noch immer nicht fassen.

Sie suchte die Blicke ihrer Ritter und Schwertdamen. Keiner rührte sich, keiner sprach ein Wort. Die meisten waren bleich, und der Schrecken machte ihre Gesichter starr. Hector betrachtete Lauka respektvoll und mit hochgezogenen Brauen, der Trochauer mit einer Mischung aus Neugier und Abscheu. Boras feixte, doch sein Feixen wirkte unsicher und wie eingefroren.

Lauka hätte gern gelächelt, denn ihre neue Kraft so deutlich wie niemals zuvor zu spüren und ihre Wirkung so drastisch zu erleben, erfüllte sie mit tiefer Genugtuung. Herrlich! Sie atmete tief durch; kantig und hart blieb ihre Miene.

„Her mit dem anderen!“, befahl sie. „Legt ihn dahin ins Blut.“ Sie deutete in den Fliegenschwarm, der über dem blutigen Fels summte. Boras’ Schwertdamen stießen den Gefangenen zu Boden und ins Blut des Abgestürzten. „Und jetzt frag ihn, was ich wissen will“, wandte Lauka sich an den Dolmetscher.

Pradosco wiederholte Laukas Fragen. Man hatte ihm in Aussicht gestellt, sich Freiheit und Leben zu verdienen, wenn er der neuen Königin als Dolmetscher diente, doch insgeheim hatte Lauka längst seinen Tod beschlossen. Niemand, der gegen Garona gekämpft hatte, durfte am Leben bleiben. Außerdem gefiel ihr der eigensinnige Zug um Pradoscos Mund nicht; auch hatten die furchtlose Art, wie er sie ansah, und seine nur dürftigen Verneigungen etwas Widerspenstiges.

Der Gefangene redete, ohne dass Lauka ihm den Ring auch nur zeigen musste. „Dreizehntausend belagern die Stadt“, übersetzte Pradosco. „Etwa zwanzigtausend halten die anderen Städte besetzt. Weitere knapp fünftausend beherrschen Trochau oder kümmern sich um die Flotte.“

„Mit wie vielen Schiffen sind sie gekommen?“

„Mit fünfhundert“, dolmetschte der Trochauer die prompte Antwort.

„Wie heißen eure Kriegsmeisterinnen?“

Der Gefangene verstand nicht gleich, und Pradosco umschrieb den Begriff „Kriegsmeisterin“, weil der Tarkaner nichts damit anfangen konnte; kämpfende oder gar kommandierende Frauen kannte man nicht auf den Tausend Inseln.

„Zlatan heißt ihr Oberster“, übersetzte der Trochauer endlich. „Sein Titel lautet ‚Tarbullo’. Der zweithöchste Rang ist der des ‚Ersten Hauptmanns’, ein gewisser Kaikan bekleidet ihn. Der hat Weihschroff und Schluchternburg erobert und residiert jetzt in Garonada. Über allen aber steht die Hohepriesterin des Gottes Tarkartos. Einen Namen habe sie nicht, alle nennen sie nur ‚Herrin’.“

„Sie heißt Catolis“, murmelte Lauka, die es besser wusste. Ihr Vater hatte diesen Namen erwähnt. Und keine Hohepriesterin sei diese Frau in Wahrheit, sondern eine Magierin von Kalypto. So wie er selbst nur zum Schein ein Harlekin und in Wahrheit im Auftrag Kalyptos nach Garona gekommen war. Diese Catolis jedoch sei eine besonders mächtige Magierin, vor der sie, Lauka, sich vorerst zu hüten hatte. Solange wenigstens, bis ihr Vater sie dieser Catolis vorstellte.

Allerdings hatte Mauritz diese Magierin nirgends gesichtet unter den Eroberern, weder in Violadum noch in der Hauptstadt. Lauka war es vorgekommen, als wäre ihr Vater deswegen erleichtert gewesen.

Der Gefangene hob den Kopf aus dem Blut seines toten Gefährten und redete immer weiter. Die Angst schien ihm im Nacken zu sitzen. Mit Recht.

„Es geht um diesen Kaikan“, übersetzte der Trochauer. „Um ihren Ersten Hauptmann. Der wird in den nächsten Tagen mit zwanzigtausend Mann und dreihundert Schiffen nach Osten aufbrechen.“

„Klingt, als hieße ihr nächstes Ziel Baldor“, sagte Boras.

Lauka nickte. Und rechnete: Wenn die Tarkaner mit der Hälfte ihres Eroberungsheeres in See stechen wollten, würden sie weiterhin mit 13.000 Kriegern vor Blauen bleiben und die Belagerung aufrecht erhalten können. Zuviel, um die Stadt auf die Dauer zu halten. Und wenn man versuchte, einen Waffenstillstand zu erreichen? Das würde vielleicht ihrem Vater die Gelegenheit verschaffen, endlich in die Stadt zu gelangen.

„Schneide ihm die Ohren ab, Boras“, befahl sie, „und lass ihn durchs Nordtor aus der Stadt führen.“ Und an Pradosco gewandt: „Und du, Trochauer, schärfst ihm folgende Botschaft an seinen Heerführer ein, an diesen Zlatan: ‚Stell den Beschuss der Stadt ein und breche den Sturm auf die Westmauer ab. Sobald das geschehen ist, werde ich ans Nordtor kommen und mit dir verhandeln.’“

3

Musik. Der Wind wehte die Klänge zu ihr herauf: Trommeln, Sackpfeifen, Fideln, Flöten. Sie trat ans südlichste Turmfenster und spähte in die eroberte Stadt hinunter. Die Dächer von Garonada leuchteten im Abendlicht. Auf dem Platz vor dem Garnisonshaus wurde getanzt. Erschöpft lehnte sie sich in die Fensteröffnung, lauschte den Klängen und versank im Anblick der von Licht gefluteten Dächer, Mauern und Gassen. Wie schön, dachte sie, doch wie schön wäre es erst, wenn es sonst nichts gäbe zwischen den Schneegipfeln von Garona – nur diese Musik, nur dieses zauberhafte Licht.

Müde war sie, müde und maßlos erschöpft. Sie vermied es, die Tänzer genauer zu betrachten, drehte sich nach ihrem Kuppelzelt um. Ihre Priester hatten es für sie aufgestellt. Hier oben im Hauptturm der Königinnenburg, am höchsten Punkt Garonadas. Hier, wo sie all den Grausamkeiten unten in der Stadt am fernsten sein konnte. Die Eingangsplane hatte sie längst zurückgeschlagen. Noch zögerte sie, sich hinein zu bücken.

Unter ihr, in den ehemaligen Gemächern des gescheiterten Gefährten, bewachten die Priester jetzt den Aufgang herauf zu ihr ins oberste Turmzimmer. Niemand sollte die Zwiesprache der Hohepriesterin mit dem Gott stören.

Wie ein dumpfer Schmerz zerrte die Erschöpfung an ihren Gliedern. Scharf sog sie die kühle Abendluft durch die Nase ein. Sie betrachtete die tiefblauen Teppiche, mit denen die Priester die kleine Zeltkuppel bespannt hatten, ihre silbernen Fransen, die silbernen Stickereien auf ihren Säumen.

Nachtblau und Silber – die Farben einer Großmeisterin der Zeit. Ihre Farben.

Nein, sie war keine Hohepriesterin. Sie gedachte auch nicht, Zwiesprache mit dem Gott Tarkartos zu halten. Dieser Gott existierte nicht. Hier oben gab es nur sie: Catolis, die Magierin von Kalypto, die Großmeisterin der Zeit. In Tarkatan, dem Reich der Tausend Inseln, hatte sie 500 Galeeren und 40.000 Krieger aufs Meer gebracht, um über viele Wochen hierher zu segeln, ins Königreich Garona. Um von hier aus den Weg zu bahnen für das Zweite Reich von Kalypto.

Kein Gott, sie, die Magierin, hatte das geschafft.

Sie seufzte, betrachtete den Zelteingang, zögerte. Dann wandte sie dem blauen Kuppelzelt wieder den Rücken zu. Nein, noch nicht. Erst noch einmal in das schöne Abendlicht über Garonada blicken. Auch auf dem kleinen Platz vor dem Garnisonshaus, nicht weit entfernt von Burg und Hauptturm, leuchtete es noch, beschien die Musikanten und Tänzer dort. Und nun sah sie doch genauer hin.

Krieger aus Tarkatan tanzten dort mit ihrer Beute. Die siegreichen Männer wild und mit wirbelnden Armen und Beinen, die gefangenen Frauen der eroberten Stadt steif und mit hochgezogenen Schultern. Zerlumpte Männer spielten ihnen auf, Halbwüchsige und Greise. Gefangene, die sie zum Musizieren aus den Kerkern geschleppt hatten. Als würden sie gegen Tod und Schmerz anspielen, so verzweifelt krümmten und bogen sie sich an ihren Instrumenten.

Und genauso war es, das wusste die Magierin: Die Männer dort unten spielten um ihr Leben; die Frauen dort unten tanzten um ihr Leben.

Einer der kleinen, braunhäutigen Krieger packte den Arm seiner Tänzerin und zerrte sie hinter sich her unter einem Torbogen hindurch in einen Hof. Beide verschwanden aus dem Blickfeld der Magierin. Gut so. Doch nicht gut genug: Denn was nun unweigerlich geschah in jenem Hof dort unten, was Catolis’ Augen nicht mit ansehen mussten, das beschwor ihre Vorstellungskraft herauf, und jäh stand es ihr in grellen, schmerzhaften Bildern vor dem inneren Auge ihres Geistes. Sogar die Schreie der Frau glaubte sie zu hören.

Die Magierin wandte sich ab, wankte an der Zeltwand vorbei und drei Turmfenster weiter. Warum nur fühlten sich ihre Beine so schwer an? Schleppte sie denn Ketten mit sich herum? Sie ballte die Fäuste – die Leiden der eroberten Garonesen trübten ihre Siegesfreude und Zuversicht beinahe so sehr wie die Trauer um den gescheiterten Gefährten. Das ärgerte sie. Am Ringfinger ihrer Rechten leuchteten die blauen Steine ihrer beiden Ringe auf. Einer hatte ihm gehört, dem Gescheiterten. Sie steckte die Faust unter ihr nachtblaues, von Silberstickereien durchwirktes Gewand.

Über den Gipfeln im Osten dunkelte bereits der Himmel. Es kam ihr vor, als würden die Schneekappen der Berge nicht mehr ganz so tief in die Hänge hinab reichen wie noch zwei Monde zuvor, als der Krieg begonnen hatte. Als die Krieger Kaikans über die östlichste Stadt von Garona hergefallen waren; als das Heer Zlatans gleichzeitig Garonas südlichste Stadt angriff.

Inzwischen neigte sich der Sommer; inzwischen wehte die Fahne mit dem Bocksschädel und dem mit einem Schlachtbeil gekreuztem Krummschwert über sechs unterworfenen Städten von Garona. Nur die siebte und nördlichste leistete noch Widerstand.

Um das Kuppelzelt herum wankte sie an ein Nordfenster und spähte hinaus. Zum Greifen nahe lag hier der Garonit, der gewaltige Gipfel über der Hauptstadt. In seiner Westflanke funkelte ein Gletscher im Abendlicht. Weiter unten, von der Schlucht vor der Stadt aus, stieg ein Hang nicht allzu steil zum Tempel des zerstörten Reiches hinauf, zum „Mutterhaus“ wie ihn die Einheimischen nannten. Krieger schrien dort und schwangen Peitschen; zehn Gespanne zu je vier Mustangs zogen einen Thron aus Bernstein über geschälte Baumstämme zu dem Bauwerk hinauf. Catolis’ Hohepriesterthron. Morgen, während der Siegesfeier, würde sie auf ihm sitzen und die Kampfrotten von Tarkatan segnen.

Ihr müder Blick wanderte über die Gespanne hinweg zu dem Gebäude selbst. Es bestand aus zwei mächtigen Kuppeln und einem hohen Portalbau, der sie verband. Das Portal hatte Zlatan einreißen lassen. Anders hätten seine Krieger das Bild des Gottes nicht in den Tempel schaffen können. Auf der breiten Treppe rechts und links der zerstörten Torflügel hockten hundert Gefangene. Hundert gesunde, junge Männer und Frauen in Ketten, bewacht von zwei Dutzend Tarkanern. Morgen, während der Siegesfeier, sollten sie dem Gott geopfert werden.

Die Großmeisterin der Zeit stieß sich vom Fenster ab, wandte sich nach Süden. Ihr Gewand streifte das Kuppelzelt, während sie das große Turmzimmer durchquerte. Sie berührte die zurückgeschlagene Eingangsplane. Durch sie hindurch würde Catolis sich in das Zelt bücken. Bald. Um der Stadt, dem Bergreich und der Welt noch ferner zu rücken, als sie es hier oben sowieso schon war.

Sie hatte den Wächter des Schlafes gerufen. Wie viel Kraft sie das gekostet hatte! Mehr als der magische Kampf gegen Mauritz, den gescheiterten Gefährten. Im ERSTEN MORGENLICHT würde sie dem Wächter des Schlafes begegnen. Sinnlos, es noch länger hinauszuschieben: Er musste erfahren, was geschehen war. Der Frevel des gescheiterten Gefährten, die Existenz eines Bastards, der anmaßende Name des Bastards, das Schweigen der dritten Gefährtin – in Kalypto mussten sie davon erfahren. Es führte kein Weg daran vorbei.

Am Südfenster stützte sie die Ellenbogen auf die steinerne Fensterbank und ihr Gesicht in beide Hände. Ihr Körper verlangte nach Ruhe, ihr Geist nach Schlaf. Das Sims verlief in Höhe ihrer Brust, denn die Magierin aus Kalypto war von kleiner, zierlicher Gestalt. Fingerhandschuhe aus feinem, schwarzem Bocksleder reichten ihr bis über die Unterarme, eine Stola aus schwarzer Seide bedeckte ihr dunkelrotes Haar und ihre Schultern. Ihr Gesicht war kantig, sehr bleich und beinahe faltenlos. Catolis war kaum gealtert, seit sie vor über hundert Sommersonnenwenden die erste der Tausend Inseln betreten hatte. Der Blick ihrer hellen, kupferfarbenen Augen wanderte über den Südrand von Garonada.

Hier sah man der Stadt ihr Kriegsschicksal sofort an: niedergerissene Wehrmauerabschnitte, von Katapultgeschossen zertrümmerte Dächer, Schutthaufen auf Plätzen und Straßen, Brandruinen, gebeugte Überlebende, die ihre Toten aus den Trümmern scharrten.

Durch das zerstörte Tor und über die südlichste Brücke des Gletscherstromes – die Einheimischen nannten ihn Glacis – zogen Hunderte Gefangene zur Stadt hinaus. Junge Männer, Halbwüchsige und Kinder. Die Männer ließ der Tarbullo Zlatan zu seinen Galeeren am Stromufer und an der Küste bringen. Sie würden ihr heimatliches Hochgebirge nie wieder sehen und den Rest ihres Lebens angekettet auf Ruderbänken fristen. Die Kinder und Halbwüchsigen waren für die Sklavenmärkte in Tarkatan, Baldor, Kalmul und an den noch ferneren Westküsten bestimmt.

Hufschlag ließ Catolis aufhorchen. Sie lief zurück zum Westfenster – drei Reiter auf Steinböcken ritten über die Zugbrücke auf den Burghof. Boten des Tarbullos aus dem Heerlager vor der eingeschlossenen Stadt; vor Blauen, wo noch immer gekämpft wurde. Oder gab es Neuigkeiten des Ersten Hauptmannes? Ihm, Kaikan, hatte Zlatan die Statthalterschaft über Garonada anvertraut.

Ein Gespann aus vier großen Bergziegen folgte den Reitern in den Burghof. Es zog einen Wagen. Die hochgewachsenen und schweren Paarhufer mit den kurzen Hornstangen dienten den Einheimischen als Reit- und Zugtiere. Die Boten sprangen von den Mustangs und rannten zum Tor der Innenburg. Sie schienen es eilig zu haben.

Nun, sie würden warten müssen. Noch einmal blinzelte Catolis in die Abendsonne. Deren unterer Rand berührte bereits die Schneegipfel im Westen. Sie wandte sich ab und schritt zur Eingangsplane. Jetzt. Es hatte keinen Sinn, noch länger zu warten. Entscheidungen mussten getroffen werden; der Kriegszug für das Zweite Kalyptische Reich hatte ja erst begonnen.

Schwindel ließ sie taumeln, Catolis lehnte sich noch einmal gegen die Wand. Sie holte tief Luft. Dann bückte sie sich ins Zelt hinein und verschloss die Eingangsplane von innen.

Wie bläulicher Nebel sickerte das Licht aus ihren beiden Mondsteinringen ins Halbdunkle. Mit den Zehenspitzen tastete sie sich bis zu ihrem Sitzkissen unter dem Zenit der Zeltkuppel und ließ sich darauf nieder. Sie drückte die leuchtenden Ringe an die Stirn, konzentrierte ihre Willenkraft auf die Hitze in den Mondsteinen und wartete, bis das ERSTE MORGENLICHT als prickelnde Wärme erst durch ihren Schädel perlte, dann durch alle Glieder strömte.

Wie immer, wenn die Macht des magischen Lichtes sie berührte, weitete sich ihr Geist, und sie fühlte sich hochgehoben und von einer Kraft durchdrungen, die sie ganz gewiss ins Nichts reißen würde – hätte sie nicht gelernt, sie zu beherrschen.

Wogende Bläue in zahllosen Schattierungen hüllte sie ein, durchflutete das Zelt, strömte durch ihr Hirn, ihre Glieder, ihr Bewusstsein. Sie überließ sich den schillernden Lichtschwaden, gab sich dem Gefühl der Weite und des Schwebens hin, verschmolz mit dem Atem des Universums, mit dem ewigen Pulsschlag des Lebens.

Eine Zeitlang schwebte sie so im wogenden Blau. Bis sie einen violetten Lichtwirbel wahrnahm, der greller und greller leuchtete, näher kam und Umrisse einer Gestalt annahm. Sie hörte ihren Namen.

„Catolis!“ Als würde jemand kraftvoll ihren Geist berühren, so fühlte es sich an. „Du hast mich gerufen, Catolis! Ist es denn schon so weit? Stehen wir schon auf der Schwelle des Zweiten Kalyptischen Reiches? Kann ich unsere Schläfer endlich wecken? Hier bin ich, sprich!“

Der Wächter des Schlafes! An seinem kraftvollen Geist erkannte sie ihn. Doch nicht jener greise Wächter, der sie damals geweckt hatte, berührte sie hier im ERSTEN MORGENLICHT, sondern ein neuer, ein junger Wächter. Hatte also der alte Magier erlöschen müssen, bevor er das Zweite Reich mit eigenen Augen sehen durfte; das war immer sein sehnlichster Wunsch gewesen.

„Ja, mein Vorgänger ist erloschen.“ Der andere spürte ihre Fragen. „Zuvor hat er mich und meine Gefährtin geweckt, damit wir die verbleibenden Sonnenwenden bis zum Anbruch des Zweiten Reiches von Kalypto über jene Magier wachen, die noch im ERSTEN MORGENLICHT schlafen. Ist die Zeit denn schon reif, sie zu wecken? So sprich doch, Catolis.“

„Nein“, sagte sie, „leider ist die Zeit noch nicht reif. Doch ich habe ein vielversprechendes Volk gefunden, und es steht gut um das kommende Reich von Kalypto. Nun aber sind schlimme Dinge geschehen, Wächter des Schlafes. Sehr schlimme Dinge. Hör mir zu.“

Die Großmeisterin der Zeit berichtete, ohne zu werten, ohne zu verurteilen, ohne auch nur anzudeuten, was sie empfand. Mit knappen Worten schilderte sie weiter nichts als die nackten Tatsachen. „Ich habe während annähernd hundert Sommersonnenwenden Macht über ein Volk gewonnen, das tief im Süden verstreut auf unzähligen Inseln lebt“, begann sie. Nicht durch gewöhnliches Sprechen sagte sie, was sie zu sagen hatte; keine Lippen, keine Zunge formten ihre Worte. Es war eher so, als würde ein Geist den anderen berühren und sich ihm ganz unmittelbar mitteilen. „Braunhäutige Menschen, klein und zäh, grausam und einem ebenso grausamen Gott verfallen. Sie kennen kein Erbarmen, sie scheuen keinen Feind.“

Catolis hielt inne und genoss eine Zeitlang die Nähe des starken Magiergeistes und das belebende Pulsieren des Ersten MorgenlichtES. Dessen leuchtend blaue Wogen umgaben sie und den Wächter des Schlafes mit Stille, Wärme und Klarheit. Wie zwei kleine Sonnen schwebten sie mitten im vielfältigen Blau um einen gemeinsamen Mittelpunkt. Jung und stark fühlte sie sich, keine Spur von Erschöpfung hemmte sie noch.

„Mich fürchten sie als ihre Hohepriesterin“, fuhr sie fort. „Sie glauben, ich stünde in unmittelbarem Kontakt mit ihrem Gott Tarkartos. Der Ringträger, den ich aus diesem Volk erwählt habe, hat die Inseln und ihre Bewohner zum Reich von Tarkatan vereinigt.“ Sie dachte an Zlatan und an seine bedingungslose Ergebenheit. Eine bessere Wahl hätte sie nicht treffen können. „Tarkatans streitbare Männer hat er auf Schiffen Tausende Meilen weit über den Großen Ozean bis ins Bergreich von Garona geführt. Hier, im Hochgebirge, blühte seit etwa eintausendzwanzig Sommersonnenwenden ein kulturell hochstehendes Reich, das von tapferen und klugen Frauen regiert wurde. Die von mir erwählten Insulaner haben es dennoch besiegt. Noch vor der Wintersonnenwende werden sie nun die Herren der Wälder angreifen.“

Was sie verschwieg: Verrat und Uneinigkeit im Königinnenreich von Garona hatten dessen Untergang mit herbeigeführt. Und der Frevel des Magiers, der dieses Volk erwählt und zu prüfen hatte. Die Erinnerung an den Kampf mit Mauritz, dem Meister des Lichtes, erbitterte Catolis. Doch was geschehen war, war geschehen. Tarkatan hatte über Garona gesiegt. Das allein zählte. Die Mittel und Umstände, die den Insulanern zum Sieg verholfen hatten, spielten keine Rolle mehr. Warum noch darüber reden?

„Was du berichtest, klingt beruhigend, Großmeisterin der Zeit.“ Ruhig und gleichmäßig leuchtend schwebte der Wächter des Schlafes ihr gegenüber durch die schillernde Bläue. „Es klingt ganz so, wie wir es geplant haben“, sagte er, „ein starkes Volk misst sich an einem anderen starken Volk, der Sieger am nächsten und so fort, bis eines übrigbleibt: das Volk nämlich, das uns dienen wird, wenn wir das Zweite Reich errichten, das stärkste also.“ Der Wächter des Schlafes hielt einen Moment inne, bevor er fortfuhr. „Da ich die schlimmen Dinge, die du angekündigt hast, noch nicht erkennen kann, fürchte ich fast, sie könnten deine Gefährten betreffen.“