Kanon der Konflikte - Moritz Elzenheimer - E-Book

Kanon der Konflikte E-Book

Moritz Elzenheimer

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Beschreibung

Eine Soldatin, die um ihre Familie fürchtet. Ein Mann, der alles verloren hat. Zwei Schicksale. Zwei junge Menschen, die in den Wirren von Krieg und Konflikt versuchen, das Richtige zu tun. Eine steht auf Seiten der Föderation, der andere auf Seiten der Republik. Und doch wollen beide eigentlich dasselbe: Frieden und Sicherheit für ihre Heimat. Doch inmitten eines Krieges, der auf Luftschiffen und Panzerraupen ausgetragen wird, ist es nicht leicht, zu erkennen, was richtig und was falsch ist, und wer auf welcher Seite steht. Am Ende müssen sie sich entscheiden: wie wollen sie leben? Und wen wollen sie leben lassen?

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Seitenzahl: 652

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99146-221-7

ISBN e-book: 978-3-99146-222-4

Lektorat: Caroline Siewert

Umschlagabbildung: Alxedo | www.alxedo.de

Umschlaggestaltung: Alxedo

Layout & Satz: novum Verlag

www.novumverlag.com

Kapitel 1

Jeder andere hätte die Geräuschkulisse am Ufer der Krei wohl als idyllisch empfunden. Das Wasser war ruhig und gab ein leises Plätschern von sich, ein paar Vögel zwitscherten ihre Melodien und die Zikaden im Gras zirpten ihren Rhythmus. Doch Armas nahm das gar nicht wahr.

Ruhig hob er die Impulsarmbrust an sein Kinn und visierte den Kopf der Forelle an, die ihm am nächsten war. Er atmete aus und betätigte den Abzug. Der an einem Seil befestigte Bolzen schoss blitzschnell aus dem Magnetlauf. Mühelos bohrte sich die mit Widerhaken besetzte Spitze durch den Kopf. Armas lächelte zufrieden. Durch einen Knopfdruck holte die Winde den Fisch wieder ein und Armas verstaute ihn in seinem Rucksack. Einer von vier Fischen. Es waren genug für einen Tag.

Der lange Weg nach Hause machte ihm kaum etwas aus. Er war zwar nicht besonders stark, aber dafür sehr ausdauernd. Ein dünner und durchschnittlich großer Junge mit heller Haut und einem bartlosen, diamantförmigen Gesicht. Seine dunkelbraunen Haare lagen ihm wirr im Gesicht und verdeckten teilweise die mandelbraunen Augen. Mit seinen zwanzig Jahren war er kaum erwachsen. Und dennoch gehörte er zu den jüngsten in seinem Dorf.

Tarnio war nicht weit von der Krei entfernt. Ein unbefestigter Schotterpfad folgte dem Fluss nach oben ins Dorf. Der Weg führte an stillgelegten Windmühlen vorbei, die darauf warteten, zu zerfallen und wieder in das Erdreich zurückzukehren. Zwar waren sie alle noch voll funktionstüchtig, aber die meisten waren von Schlingpflanzen überwuchert, die an den steinernen Mauern emporklommen.

Abgesehen von ein paar Wanderern und Händlern gab es niemanden, der auf diesem Weg nach Tarnio wollte. Denn jenseits davon gab es nur ewige Tundra und kleine Waldabschnitte, die von den Tieren erst wieder entdeckt werden mussten. Und Tarnio selbst war es nicht wert, sich so weit von der Hauptstadt zu entfernen.

Der Weg führte Armas vorbei an einem großen Hügel, der die Sicht auf die gigantische Filteranlage freigab, die über der Krei thronte. Ein riesiges Gebäude, dessen Qualm spuckende Schornsteine zweihundert Meter in den Himmel ragten. Die hohen Mauern aus schwarzem Metall und Stein wurden an mehreren Stellen durch Zahnräder, Kolben und andere Maschinerien unterbrochen, die seitlich aus dem Inneren ragten. Die Anordnung wirkte wahllos, jedoch lag ihr ein raffiniertes System zugrunde, das sich dem Verstand eines Durchschnittsbürgers entzog. Doch so schön die Anlage aus einer technischen Perspektive war, so hässlich war sie aus einer ästhetischen. Inmitten der grünen Wiesen, des wolkenbedeckten Himmels und der schönen Berglandschaft in der Ferne wirkte sie wie ein Tumor, der sich aus der Erde erhob.

Schattenspucker, wie die Anlage von den Einwohnern Tarnios hämisch genannt wurde, hatte keinen offiziellen Namen. Vielleicht hatte sie bei den Ingenieuren in Walkolap einen, doch wenn dem so war, dann kannte ihn ansonsten niemand. Vor etwa zwei Jahren wurde sie erbaut und schon damals beobachteten die Einwohner Tarnios die Arbeiten argwöhnisch. Niemand hatte sie nach ihrer Meinung gefragt, denn niemand musste sie nach ihrer Meinung fragen. Der Befehl kam aus Walkolap und wenn ein Befehl aus der Hauptstadt kam, war die Sache damit beschlossen. Monatelang kamen Luftschiffe mit Materialien, Arbeitern und Werkzeugen, die das ruhige Tal in Aufruhr versetzten.

Einige Bewohner wollten sich diese Bevormundung nicht bieten lassen. Es kam zu Demonstrationen und in vereinzelten Fällen zu Gewalt. Doch nur wenige wagten es, die Fäuste zu heben. Die Arbeiter wurden von Soldaten der Republik begleitet, die die Baustelle Tag und Nacht patrouillierten. Kaum jemand in Tarnio hatte die Erfahrung oder den Mut, es mit ihnen aufzunehmen. Und diejenigen, die es taten, wurden schnell verhaftet und man hatte sie seitdem nie wieder gesehen.

Und dann, mit einem Mal, war alles still. Keine Arbeiter waren zu sehen, keine Hämmer und Sägen zu hören. Sie waren alle verschwunden. Einzig und allein die Filteranlage blieb zurück und schleuderte dunklen Qualm in die Luft. Das war alles, was die Dorfbewohner über den Schattenspucker wussten. Niemand war jemals im Inneren gewesen oder hatte ein Wort mit der Belegschaft gewechselt.

Warum dieses Ungetüm überhaupt gebaut worden war, war ebenso rätselhaft wie sein Innenleben. Die Menschen hier in der Gegend lebten schon seit Jahren an der Krei. Sie benutzten das Wasser zum Trinken, Waschen und Kochen und nie war jemandem etwas Ungewöhnliches daran aufgefallen. Es schmeckte sowohl oberhalb als auch unterhalb der Anlagegenau gleich. Und obwohl sich zahlreiche Gerüchte um den Schattenspucker rankten, wurde die Neugierde der Menschen von ihrem Unmut überschattet. Sie waren schlichtweg zu stolz, jemanden zu fragen, was es mit diesem Koloss auf sich hatte. Der Gedanke, dass die Anlage komplett nutzlos war und die umliegende Luft ohne Grund verpestete, gefiel ihnen und nährte ihre Abscheu. Und daran wollten sie auch nichts ändern.

Armas würdigte den Schattenspucker keines Blickes, während er sich den äußeren Häusern seines Dorfes näherte. Tarnio lag unbedeutend und unscheinbar am Fuße der Anlage, nur ein paar Meter von den schwarzen Granitwänden entfernt. Es dämmerte bereits, als er die ersten Fachwerkhäuser erreichte und die Wolken blockierten die restlichen Sonnenstrahlen. Armas sah verwundert nach oben. Einen so wolkenbehangenen Himmel hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Wenn sich wirklich mal eine Wolke über Tarnio bildete, löste sie sich meist schnell wieder auf und Armas war sich sicher, dass es diesmal nicht anders sein würde. Er senkte den Blick und schritt an den vielen vernagelten Häusern vorbei, die schon seit geraumer Zeit leer standen. Erst, als er den Marktplatz erreichte, sah er wieder auf. Er ging zum Stand des Fleischers, so wie er es immer tat. Der Stand war ebenso verlassen wie der Rest des Platzes und wenn Armas ehrlich war, war es ihm auch lieber so. Er legte die Fische in das Salzfass, das hinter dem Tresen stand und nahm sich fünf Kupfermünzen aus der Kasse.

Sein Haus war nicht weit von hier entfernt. Ein einfaches, zweistöckiges Fachwerkhaus mit einem leicht schief sitzenden Dach. Als er es erreichte, öffnete er die Tür und trat seufzend ein. Er hängte die Impulsarmbrust an einen Wandhaken und warf seine Jacke und den Rucksack achtlos zu Boden. Onkel Uril saß, wie fast jeden Abend, in seinem großen Sessel nahe des Kamins.

Uril war ein großer, aber vor allem breiter Mann. Die wenigen Haare auf seinem Kopf waren säuberlich nach hinten gekämmt und sein breites Gesicht war von einer langen, aber oberflächlichen Narbe gezeichnet. Er trug eine weite Wollhose mit Hosenträgern, die über einem grauen Hemd lagen, das schon mehrmals geflickt wurde. Doch irgendwann hatte er es aufgegeben, die Löcher zu stopfen, und so paarten sich unpassend gefärbte Flicken mit fransigen Löchern.

Er rührte sich nicht, als Armas die Tür hinter sich schloss. Seine Augen waren geschlossen. Armas warf einige Holzscheite in das schon fast erloschene Feuer und fachte es erneut an. Als er sich umdrehte, sah er, dass Uril wach war. Er konzentrierte sich auf seine Lippen.

»Wie lange bist du schon wieder da?« Urils Augen blickten ihn müde an.

»Erst seit einer Minute.«

»Wie viele hast du erwischt?«

»Zwölf Forellen. Ich hab sie bereits beim Fleischer abgeliefert.«

»Nur zwölf? Du wirst langsam nachlässig. Ich hab früher mindestens sechzehn pro Tour gefangen.«

Ein fast unmerkliches Grinsen huschte über Urils Gesicht. Jedem anderen wäre das vermutlich entgangen, aber Armas achtete genau auf das Gesicht seines Gegenübers.

»Und jetzt sitzt du den ganzen Tag in deinem Sessel und schläfst.«

Uril verzog das Gesicht. »Der Sessel ist auch verdammt bequem. Aber auch der bequemste Sessel hält mich nicht davon ab, gleich aufzustehen und dir eins überzubraten, wenn du nicht dein freches Mundwerk hältst!« Er räusperte sich, setzte sich auf und nahm einen Schluck aus dem Glas, das neben ihm auf dem Tisch stand.

»Ich bin es doch, der uns versorgt und täglich Geld nach Hause bringt. Und mal ganz nebenbei: Meine Angelkünste haben sich seit dem letzten Jahr verdoppelt!«

»Zwei mal null ist immer noch null«, sagte Uril mit einem scherzenden Unterton in der Stimme. Nicht, dass Armas das hätte hören können, doch er sah es seinem Onkel deutlich an.

Armas zuckte mit den Schultern, nahm sich etwas Brot und Käse vom Tisch und ließ sich seufzend in den gegenüberliegenden Sessel fallen. Das Feuer hatte inzwischen wieder an Stärke gewonnen und tauchte den Raum in ein gemütliches Licht.

»Irgendwas Neues?«, fragte Armas schmatzend, während er sein Brot aß.

»Aus Walkolap kommt die Nachricht, dass die terinischen Truppen einen großen Sieg an der Ostfront erzielt haben. Das war ein entscheidender Durchbruch!«

Armas atmete resigniert aus. »Das behaupten die doch schon seit Jahren, Uril. Fast jeden Monat dieselbe Leier:Entscheidender Sieg! Bald ist es soweit! Wir haben es fast geschafft!Bla, bla, bla.«

»Diesmal bin ich mir sicher! Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Föderation kapituliert. Was sollen sie denn anderes machen? Ihre Ressourcen sind erschöpft. Die halten nicht mehr lange durch.«

»Die Republik hält auch nicht mehr lange durch.«

Uril verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Das behauptest du schon seit Jahren. Fast jeden Monat dieselbe Leier:Das stehen wir nicht mehr lange durch! Der Abgrund ist nahe!Bla, bla, bla!«

Armas lachte kurz auf und seine düstere Miene glättete sich wieder etwas.

»Mal ganz davon abgesehen geht es uns doch gar nicht schlecht«, setzte Uril nach. »Was die in der Hauptstadt treiben, ist mir völlig egal! Für Tarnio interessiert sich niemand und das ist auch gut so. Welcher hirnverbrannte General würde denn auf die Idee kommen, uns anzugreifen? Wenn Walkolap in Flammen aufgeht und die ach so mächtige terinische Republik fällt, wird Tarnio immer noch stehen!«

Armas sah ihn mit einem gütigen Lächeln an und erhob sich aus dem Sessel. »Genug davon. Ich gehe jetzt schlafen. Und im Gegensatz zu dir hab ich mir das auch redlich verdient.«

Er wandte sich ab und sah noch aus dem Augenwinkel, wie Uril wütend einen Konter formulieren wollte, doch er beachtete seine Lippen nicht weiter.

Sein Onkel hasste es, wenn Armas ihm schnippische Sprüche an den Kopf warf, nur um anschließend seinen Lippen keine Beachtung mehr zu schenken. Und er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie Uril hinter seinem Rücken pikiert die Nase rümpfte.

Als er die schmale Treppe hinaufstieg, blieb er nochmals stehen. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Armas. Schlaf dich aus. Ich gehe morgen früh Wasser holen.«

Die Scheinwerfer wurden gedämpft, bis nur noch ein einzelner Lichtstrahl von oben herab auf Armas leuchtete. Die Halle war komplett ausverkauft. Jeder, egal ob arm oder reich, wollte ihn sehen und seiner Stimme lauschen. Der Krieg war nebensächlich. Menschen aus der Republik und der Föderation saßen Seite an Seite in ihren Sitzen und starrten voller Begeisterung auf die Bühne. Das erste Mal seit Jahren, dass sie sich nicht gegenseitig umbringen wollten.

Armas beobachtete die Lippen der Leute, die leise tuschelten. Er hob beide Arme zu einer anmutigen Pose und sofort war es im Saal komplett still. Das Orchester setzte zum finalen Crescendo an. Armas Gesang gewann an Intensität. Wie ein Windstoß fegte seine Stimme über das Publikum hinweg, dem voller Ehrfurcht der Atem stockte. Er drehte sich zu dem Orchester um.

Der Trommler hinter ihm begleitete ihn mit sachten Schlägen auf seiner Pauke. Zuerst spielte er einen unbekannten, aber stimmigen Rhythmus. Doch nach einer Weile wurde aus dem einladenden, dezent gehaltenen Rhythmus ein militärischer Marsch. Mit jeder Sekunde wurden die Schläge intensiver und Armas war sich sicher, dass sein Gesang mit diesem Geräuschpegel nicht mithalten konnte. Nervös bedeutete er dem Trommler mit einer Geste, leiser zu spielen. Doch dieser beachtete ihn nicht. Mit starrem Blick schlug er auf seine Trommel und holte mit jedem Schlag weiter aus. Armas drehte den Kopf und sah in die Zuschauerreihen.

Die Menschen, die vorher so friedlich nebeneinandergesessen hatten, fielen auf einmal übereinander her. Mit allem, was sie hatten, versuchten sie, sich gegenseitig umzubringen. Einige schlugen mit bloßen Fäusten zu, andere hatten Messer und einige wenige schossen sogar mit Impulsgewehren aufeinander, deren Magnetläufe todbringende Kugeln in die Massen spuckten. In wenigen Sekunden waren die Ränge mit Leichen gepflastert.

Armas konnte nicht fassen, was er da sah. War es der Paukenspieler, der die Menschen zu diesen Untaten trieb? Er drehte sich zu ihm um.

Dort saß er. Mit ausdrucksloser Miene hämmerte er auf seine Trommel. Ihm selbst schien dieser Zauber nichts auszumachen. Doch der Rest des Orchesters verfiel genau wie die Zuschauer in eine blinde Raserei.

Armas beschloss, dem ein Ende zu machen. Er rannte auf den Trommler zu, bereit, ihm die Schlägel abzunehmen. Doch die Bühne schien auf einmal unendlich lang. Je weiter er rannte, desto weiter entfernte sich der Trommler.

Und dann, mit einem Mal, hielt der Trommler mitten in der Bewegung inne. Erschrocken blieb Armas stehen und sah, wie er den Schlägel langsam über seinen Kopf hob. Armas wollte etwas sagen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Der Trommler, ausdruckslos wie zuvor, wartete einen Moment. Dann ließ er den Schlägel fallen.

Die Druckwelle katapultierte Armas aus seinem Bett. Unsanft landete er auf den harten Holzdielen. Es dauerte eine Weile, bis er zu Sinnen kam. Für einen kurzen Moment dachte er an den merkwürdigen Traum zurück. Doch ein dumpfes Geräusch unterbrach seine Gedanken abrupt. Nicht mal eine Sekunde später wurde das Haus heftig durchgeschüttelt und Armas klammerte sich an den Bettpfosten neben ihm. Erst, als das Beben nachließ, ließ er den Bettpfosten los. Verwirrt sah er sich um.

Er war alleine im Zimmer. Seine Bücher waren aus dem Regal gefallen. Das Sachbuch über die Ausbreitung von Schall war direkt vor ihm gelandet. Wieder hörte er das dumpfe Pochen.

Moment mal. Er hörte etwas? Armas lauschte angestrengt, um auszuschließen, dass der Ton nur seiner Fantasie entsprungen war. Doch tatsächlich, das Pochen war echt. Er konnte es kaum glauben. Seit er vierzehn Jahre alt war, war er fast komplett taub. Abgesehen von besonders tiefen und lauten Geräuschen konnte er praktisch nichts hören. Wie konnte es also sein, dass er nun dieses Pochen wahrnahm? Wenn selbst er es hören konnte, wie laut war es dann erst für jemanden, der keinen Hörschaden hatte?

Armas stand ächzend auf und trat an das Dachfenster vor dem Bett. Er erreichte die Scheibe und sah für einen kurzen Moment den leicht bläulichen Nachthimmel. Seine Aufmerksamkeit wurde aber sogleich wieder von etwas anderem in Anspruch genommen. Ein entferntes Aufleuchten, das sich rasch näherte.

Eine gewaltige Druckwelle erfasste Armas und schleuderte ihn in die andere Ecke des Raumes. Hart stieß er sich den Kopf an der Wand und kam auf dem Fußboden zum Liegen. Benommen und unter Scherben und Schutt begraben lag er auf dem Boden. Hustend und röchelnd räumte er die Steinbrocken und Glasscherben von seiner Brust. Sein Kopf dröhnte und der Versuch, aufzustehen, wurde mit einer intensiven Schwindelattacke bestraft.

Was war das denn?, fragte er sich und starrte an seine Zimmerwand.

Nur, dass da keine Wand war. Da, wo eben noch sein Bett gestanden hatte, klaffte ein riesiges Loch in der Wand. Das Dach, das nun eine tragende Wand verloren hatte, neigte sich bedrohlich nach unten. Ungläubig rieb sich Armas die Augen, um sicherzustellen, dass er nicht noch immer träumte. Das konnte nicht sein. Es konnte einfach nicht sein. Er musste immer noch träumen.

Armas, von Adrenalin und Angst getrieben, sprang auf und versuchte, die Tür seines Zimmers zu öffnen. Mit einem Ruck zog er an der Klinke, doch bemerkte, dass er die komplette Wand mit sich zog. Das Dach folgte. Armas wurde klar, würde er die Tür öffnen, würde das Dach über ihm einbrechen und ihn begraben. Er ließ die Türklinke los und ging im Schneckentempo von ihr weg, ohne sich umzudrehen. Er bildete sich ein, das Knacken des Holzbodens zu hören, doch ihm war klar, dass ihm sein Verstand einen Streich spielte. Doch der Anblick der brüchigen Wände verdeutlichte ihm die Gefahr nur zu gut. Es war mehr als wahrscheinlich, dass das Haus früher oder später in sich zusammenbrechen würde.

Armas drehte sich um und trat langsam an den Spalt, der in seine Zimmerwand gerissen worden war. Mit einem Fuß belastete er vorsichtig die Holzdiele vor sich. Er wagte noch einen Schritt nach vorne und sah hinab. Die Außenwand der unteren Etage war ebenfalls niedergerissen und ein etwa vier Meter breiter Krater tat sich vor dem Haus auf.

»Uril?!«, schrie er hinab. »Hörst du mich?«

Er wusste, dass er Urils Antwort nicht hören könnte, doch er betete inständig, dass sein Onkel einfach aus der Hauswand kommen und ihm zuwinken würde. Doch unten rührte sich niemand. Wäre Uril dort unten begraben und würde um Hilfe schreien, er hätte es nicht hören können.

Stattdessen hörte Armas immer noch das dumpfe Pochen, mal lauter, mal leiser, doch er sah sich nicht um. Seine Aufmerksamkeit musste diesem Sprung gelten, den er zu wagen gedachte. Es war seine einzige Chance, aus dem Haus zu kommen. Würde er nicht richtig landen, wäre ihm ein gebrochener Knöchel sicher. Dass er keine Schuhe anhatte, machte die Sache nicht gerade leichter. Doch wenn er es schaffte, in den Krater zu springen und sich von der schrägen Kraterwand abzurollen, könnte er den Aufprall genug abfedern, um ernstere Verletzungen zu vermeiden.

Armas atmete tief ein und stieß sich von der Kante ab. Für eine Sekunde war er in der Luft, kam mit beiden Füßen auf und rollte sich nach vorne ab. Von dem Schwung aus dem Gleichgewicht gebracht, kam er bäuchlings auf der Erde zum Liegen. Er schnaubte heftig und stand wieder auf. Die Kopfschmerzen hielten sich hartnäckig, doch bis auf ein paar Schrammen war ihm sonst nichts passiert. Er klopfte sich den Dreck von seinem Nachthemd und kletterte aus dem Krater. Als er endlich aufstand und sich umsah, erblickte er das Chaos, das sich vor seinen Augen entfaltete.

Die Bewohner Tarnios rannten durcheinander, die Münder zu stummen Schreien aufgerissen. Die meisten hatten noch ihre Nachthemden an. Einige waren sogar nackt. Jeder war mit sich selbst beschäftigt und aus ihren Gesichtern konnte Armas lesen, dass sie genauso wenig wussten, was gerade geschah, wie er selbst. Sie rannten umher, doch wussten nicht, wohin, versteckten sich oder suchten ihre Verwandten. Das Nachbarhaus war als solches nicht mehr zu erkennen. Es war nur noch ein Trümmerhaufen. Kein Qualm war zu sehen, kein Feuer. Einfach nur Trümmer. Er sah Devmin, seinen Nachbarn, der mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht unter einem Holzbalken hervorkroch. Das Gesicht blutüberströmt, eine klaffende Wunde an seiner Stirn. Niemand bemerkte ihn.

Plötzlich überkam es Armas wie ein Blitz. Uril! Er drehte sich um und blickte in das Loch in der Hauswand, aus dem er gerade gesprungen war. Man konnte in der Dunkelheit nichts erkennen. Armas rannte zur Vorderseite des Hauses. Die Frontseite war noch einigermaßen intakt und er konnte die Tür ohne Probleme öffnen. Er trat ein und sah sich um.

Die linke Seite des Erdgeschosses mitsamt dem Bücherregal war weg. Uril lag nahe des Lochs auf dem Boden. Nur sein linker Arm war zu sehen. Der Rest war unter Holz und Steinen begraben. Er rührte sich nicht. Armas zögerte nicht lange. Ungeschickt stieg er über mehrere Trümmerstücke, bis er Uril erreichte.

»Uril! Bist du verletzt?!«, schrie er.

Keine Regung. Armas versuchte, den Schutt von seinem Onkel zu heben. Die kleinen Steine und Holzstücke waren schnell zur Seite geräumt, doch ein großer Holzbalken machte einen schwereren Eindruck. Armas stemmte sich mit dem Rücken gegen das Holz. Er drückte mit aller Kraft, doch der Balken blieb unbeeindruckt an Ort und Stelle liegen. Armas drückte noch fester, drückte, bis sein Kopf rot wurde und seine Hände schmerzten, doch es half nichts. Nach ein paar Minuten sackte er schwer atmend in sich zusammen.

»Uril, bitte! Wenn du noch am Leben bist, hilf mir! Ich schaff das nicht allein!« Armas drehte seinen Kopf Richtung Tür. »Hilfe! Ist da jemand?!«, brüllte er heiser, nur um von einem Hustenanfall wieder zum Schweigen gebracht zu werden.

Mit einem Mal regte sich etwas hinter ihm. Urils Arm, der eben noch schlaff neben ihm lag, drückte auf einmal seitlich gegen das Holz. Armas fackelte nicht lang. Mit ganzer Kraft stemmte er sich erneut gegen den Balken, der sich langsam aber stetig zur Seite bewegte, bis er endlich von Urils breiten Schultern fiel.

Armas sah panisch in die halb geöffneten Augen seines Onkels. Dann wanderte sein Blick an ihm herab. Mit Schrecken stellte er fest, dass Urils Flickenhemd rot gefärbt war. Ein handbreiter Holzsplitter steckte in seinem Bauch. Armas’ Kehle schnürte sich zusammen. Er spürte Urils Hand an seiner Wange, die sein Gesicht wieder zu seinen Augen drehte. Sein Mund formte Worte, doch Armas konnte ihre Bedeutung nicht entschlüsseln. Der Schock betäubte seine Sinne, machte es ihm unmöglich, die Lippen seines Onkels zu lesen. Er konzentrierte sich.

»D-i-e D-e-c-k-e!«

Ihn durchzuckte es, als er die Bedeutung dieser Worte begriff. Ohne hoch zu sehen, stand er auf, ergriff Urils Arme und zog ihn auf das Loch in der Wand zu. Nur langsam bewegte sich sein schwerer Körper vom Fleck. Zentimeterweise kamen sie der Öffnung näher und Armas rechnete damit, dass sie jeden Moment unter den Trümmern ihres Hauses begraben würden. Als sie endlich den Krater erreichten, zog Armas sich und seinen Onkel in das Loch. Er stolperte, fiel hin und kam auf dem Rücken zum Liegen. Ein weiterer Hustenanfall erfasste ihn. Der Staub in seiner Lunge und die Anstrengung nahmen ihm langsam die Sinne. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sein trautes Heim endgültig in sich zusammenbrach.

Armas kämpfte damit, sich nicht zu übergeben. Seine Lunge und seine Glieder brannten. Er hatte nicht mehr die Kraft, sich aufzusetzen, geschweige denn aufzustehen. Also blieb er liegen und blickte in den Nachthimmel. Er sah den wolkenverhangenen Himmel und einige vereinzelte Sterne, die zwischen den Wolken aufblitzten. Doch dann sah er noch etwas anderes.

Ein Schatten tauchte aus den Wolken auf und senkte sich auf sie nieder. Armas kniff die Augen zusammen. Dort oben, weit über dem Erdboden, flog etwas. Ein zigarrenförmiges Etwas mit vier seitlichen Ausläufern, an denen Propeller rotierten.

Ein Luftschiff?, dachte Armas.

Er sah, wie an der Unterseite kurz etwas aufblitzte. Kurz darauf hörte er wieder das dumpfe Geräusch. Hatte der Krieg sie nun doch heimgesucht?

Armas versuchte, Einzelheiten auszumachen, und suchte nach Zeichen auf der Bordwand. Er entdeckte ein Symbol an der Seite. Eine goldene Sonne, die ihre Strahlen fächerartig in alle Richtungen aussendet.

Die terinische Sonne?, dachte Armas. Wir werden von unseren eigenen Truppen beschossen?!

Seine Sicht wurde schwammig. Er musste sich einfach irren. Sein Verstand spielte ihm einen Streich. Anders konnte es nicht sein. Armas kämpfte gegen die Ohnmacht an, die ihn allmählich überkam und starrte weiter auf das Luftschiff. Er merkte, dass es zurückstarrte.

Zwei Augen waren vorne auf den Bug gemalt. Blut quoll aus den Unterlidern hervor und lief an der Leinenwand des Flugkörpers hinab. Wütend funkelten sie ihn an, als wollten sie ihn mit ihrem Blick allein vernichten. Armas starrte wie gelähmt auf die Bemalung und rührte sich nicht. Dann drehte er seinen Kopf zu Uril, der regungslos neben ihm lag. Seine Lider fielen zu und es wurde schwarz.

Als Erstes kamen die Schmerzen. Sein ganzer Körper fühlte sich wie ein einziger Krampf an. Seine Lunge brannte, der Kopf dröhnte. Alles drehte sich. Dann fühlte er den groben Stoff unter sich. Kein Bett, nur ein paar Laken, durch die sich Steine in seinen Rücken bohrten. Und zuletzt holten ihn die Erinnerungen ein. Was war geschehen? Wo war Uril?

Armas öffnete die Augen. Der Schwindel legte sich etwas, doch die Kopfschmerzen hielten an. Seine Sicht war verschwommen. Er blickte an die Decke eines Zeltes. Grob und provisorisch aus Laken und Stöcken zusammengebaut. Er versuchte erst gar nicht, aufzustehen. Das Liegen allein war schon schmerzhaft genug. Mit versteiftem Nacken drehte er den Kopf nach links.

Neben ihm lag sein Nachbar Devmin. Seine Augen waren geöffnet, doch sie starrten ins Leere. Sein bleiches Gesicht war von getrocknetem Blut überzogen. Er rührte sich nicht. Armas realisierte gleich, dass er tot war. Für eine Weile war sein Kopf absolut leer. Kein Gedanke durchfuhr ihn. Einzig allein ein Gefühl von Verwirrung und Ratlosigkeit. Aus dem Augenwinkel sah er jemanden auf sich zukommen. Er beachtete den Neuankömmling nicht. Weiterhin starrte er auf den toten Devmin. Erst, als ihn die Person mit dem Fuß antippte, sah er auf.

Vor ihm stand Doktor Bertlas. Ein hagerer Mann mit einem schmalen Gesicht und kurz rasierten schwarzen Haaren. Seine Beine waren seltsam deformiert, sodass er sich nur humpelnd fortbewegen konnte. Er war der einzige Arzt, der in Tarnio verblieben und nicht als Feldsanitäter zu den Waffen gerufen worden war.

Er trug ein graues Hemd und eine weit genähte braune Lederhose. Beide waren mit getrockneten Blutflecken überzogen und an mehreren Stellen durchlöchert. Sein Gürtel war mit unzähligen Taschen und Werkzeugen behangen. Unter anderem hingen dort mehrere Skalpelle, Spritzen mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten und andere Utensilien, die Armas nicht zuordnen konnte. Des Weiteren trug er eine seltsam aussehende Konstruktion an den Armen. Zwei kleine, bronzefarbene Zylinder waren um seine Oberarme geschnallt, aus deren Unterseite mehrere Kabelstränge führten. Diese mündeten in zwei ovalen Scheiben aus Metall, die an seinen Handgelenken angebracht waren. Zwei kurze Nadeln ragten aus den Scheiben hervor, die offenbar als Injektionsnadeln fungierten.

Armas kannte das Gerät. Als er noch klein war, sah er, wie sich einer der Alten aus dem Dorf die Brust hielt und in sich zusammenbrach. Bertlas wurde gerufen. Er eilte herbei und trug diese seltsamen Geräte an seinen Armen. Er drückte die beiden Scheiben auf die Brust des Alten, sodass sich die Nadeln in seinen Körper bohrten. Ein Stoß durchzuckte den Mann. Es dauerte ein paar Sekunden, aber dann öffnete er die Augen und begann wieder zu atmen. Später erklärte ihm Uril, dass es sich um einen Defibrillator handelte. Die Scheiben hatten seinem Körper einen elektrischen Schlag versetzt, der das unregelmäßig schlagende Herz zum Stillstand brachte. Danach wurde ihm über die Nadeln ein Gemisch aus Morphium, Adrenalin und ein paar anderen Chemikalien verabreicht, die das Herz wieder zum Schlagen brachten und ihm die Schmerzen nahmen.

Armas starrte entgeistert auf die seltsame Gerätschaft, während Bertlas die Gurte an seinem Arm fester zurrte. Seine Augen waren kaum geöffnet. Tiefe Augenringe lagen unter seinen Lidern.

»Kannst du mich verstehen, Junge?«

Armas nickte.

»Du hast eine leichte Gehirnerschütterung und ein paar Schrammen, aber ansonsten fehlt dir nichts.«

»Devmin«, sagte Armas leise. »Er … ist tot.«

Bertlas blickte zu Devmin.

»Es scheint wohl so«, sagte er mit ausdruckslosem Gesicht. »Seine Kopfverletzung war zu gravierend. Ich konnte den Blutverlust stoppen, doch sein Schädel wurde von einigen Splittern durchschlagen.« Bertlas gähnte und rieb sich die Augen. »Es war nur eine Frage der Zeit«, schloss er nüchtern.

Er drehte den Kopf nach rechts. »Ich werde gerufen. Bleib hier noch eine Weile liegen.«

Mit diesen Worten drehte sich Bertlas Richtung Zeltausgang.

»Was ist mit Uril?«, rief Armas aufgeregt. »Geht es ihm gut?«

Bertlas blieb stehen und drehte sich wieder um. »Ein Holzsplitter hat ihn am Bauch erwischt, doch der Alte ist schwer zu töten. Im Moment ist er außer Lebensgefahr, doch ich befürchte eine Infektion.« Bertlas zuckte mit den Schultern. »Gut möglich, dass er irgendwann die nächsten Tage den Löffel abgibt.«

»Wo ist er? Ich will zu ihm!«

»Du kannst jetzt nicht zu ihm. Ich habe dir doch gerade gesagt, dass du liegen bleiben sollst.«

»Das ist mir egal! Ich will ihn sehen.«

Bertlas rollte mit den Augen. »Fein. Mach doch, was du willst. Warum kümmer ich mich überhaupt um die Leute, wenn sie am Ende sowieso nicht auf mich hören? Uril ist ein Zelt weiter.« Mit diesen Worten drehte er sich um und humpelte nach draußen.

Einen Moment lang blickte ihm Armas missbilligend hinterher. Schließlich stemmte er seinen Oberkörper langsam nach oben. Die Bewegung verstärkte seine Kopfschmerzen, doch er ignorierte sie und sah sich um.

Außer ihm und Devmin lagen sieben weitere Dorfbewohner in dem Zelt. Er erkannte Ralma und Dalfin. Zwei Schwestern, gerade mal elf und zwölf Jahre alt. Beide weinten und von ihren Eltern war weit und breit nichts zu sehen. Außerdem war da noch Tobrun, der Fleischer, dem er gestern Abend noch die Fische in das Salzfass gelegt hatte. Er würde sie nicht mehr brauchen, soviel stand fest. Die anderen Leute kannte er nur flüchtig. Einigen fehlten Gliedmaßen. Andere waren augenscheinlich unversehrt, doch sie lagen bewegungslos auf ihren Laken und starrten an die Decke.

Armas beachtete sie nicht weiter und stand mühsam auf. Im Schneckentempo ging er auf den Zeltausgang zu und trat ins Freie. Seine Kopfschmerzen verschlimmerten sich weiter und ihm wurde schlecht. Er beugte sich nach vorne, um sich zu übergeben. Bertlas’ Anordnung, liegen zu bleiben, war durchaus begründet, doch Armas war das egal.

Als er sich wieder aufrichtete, sah er eine kleine Stadt aus Zelten. Die meisten bestanden aus provisorisch zusammengeschnürten Laken und Seilen. Einige wenige waren richtige Zelte aus festem Stoff, die früher von den Jägern benutzt wurden. Da man sie seit fünf Jahren nicht mehr verwendet hatte, waren sie in erstaunlich gutem Zustand und stachen aus der Masse hervor.

Zwischen den Zelten irrten die Bewohner Tarnios umher. Mit blutigen Bandagen, mit Wassertöpfen und Nahrung, mit Holz und Werkzeug beladen, stolperten sie über Zeltschnüre, stießen zusammen und versuchten, Struktur in das Chaos um sich herum zu bringen. Ihre Gesichter waren gezeichnet von Schock und Erschöpfung. Einige trugen noch immer ihre Nachthemden. Sie waren offenbar die ganze Nacht auf den Beinen. Armas war sich sicher, dass um ihn herum Dutzende Wehklagen und Schreie ertönten. Dies war einer der wenigen Momente in seinem Leben, in denen er froh war, nicht hören zu können.

Etwas weiter hinten erblickte Armas sein Haus. Oder zumindest das, was noch davon übrig war. Armas schluckte. Dieses Haus hatte seinen Eltern gehört. Bis zu ihrer Abreise hatten sie zusammen mit Uril darin gewohnt. Und nun war es weg. Nur noch ein Haufen Trümmer. Armas konnte den Anblick nicht länger ertragen. Er wandte den Blick ab.

Die wenigsten Häuser hatten den Angriff überstanden. Die meisten waren vollkommen zerstört oder so weit beschädigt, dass man sie nicht mehr gefahrlos betreten konnte. Es war kein Wunder, dass alle Verletzten in Zelten untergebracht waren.

Armas wandte den Blick zu der Filteranlage hinter den Überresten des Dorfes und rechnete fest damit, dass sie ebenfalls in Trümmern lag. Doch zu seiner Überraschung hatte sie nicht einen Kratzer abbekommen. Als wäre nichts geschehen, stand sie da und verpestete den inzwischen wolkenlosen Himmel mit Rauch.

Armas’ Gedanken überschlugen sich. Was war nur geschehen? Wieso war das geschehen? Er schüttelte den Kopf und schob diese Fragen beiseite. Das war im Moment nicht wichtig.

Das Zelt, in dem Uril lag, war direkt vor ihm. Langsam ging er auf den Eingang zu und atmete tief ein, wissend, dass es durchaus möglich war, den leblosen Körper seines Onkels zu erblicken. Er schob die Stoffwand beiseite und betrat das Zelt.

Uril lag auf mehreren übereinander geschichteten Kartoffelsäcken. Der Splitter in seinem Bauch war entfernt worden und eine dicke Bandage umringte seine Hüften. Seine Augen waren geöffnet und seine Brust hob und senkte sich langsam.

Armas seufzte erleichtert auf. Die Vorstellung, dass Uril den Angriff nicht überlebt hätte, hätte ihn beinahe um den Verstand gebracht.

»Uril«, japste er. »Dein Bauch …«

»Es geht schon«, unterbrach ihn Uril hektisch, während er den Kopf hob. »Bertlas hat die Blutung gestoppt und mich wieder zusammengeflickt. Was ist mit dir? Bist du verletzt?«

»Nein, alles in Ordnung.«

Mit sichtbarer Erleichterung ließ Uril den Kopf wieder sinken.

Armas kniete neben ihm nieder und betrachtete mit sorgenvollem Gesicht die Bandagen um Urils Bauch. »Die hätten schon lange gewechselt werden müssen.«

»Wir haben nicht genügend Verbandszeug. Sicher hat Bertlas nicht damit gerechnet, dass wir seinen gesamten Vorrat in einer Nacht aufbrauchen würden.«

Armas blickte niedergeschlagen zu den anderen Überlebenden, die mit ihnen in dem Zelt waren. »Was ist passiert, Onkel?«

Uril starrte einen Moment ins Leere. Dann sah er Armas wieder an. »Als du schon in deinem Zimmer warst, saß ich noch unten und habe meine Pfeife geraucht. Ich wollte gerade aufstehen und das Feuer im Kamin löschen, da gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Zuerst dachte ich, der alte Rumes ballert schon wieder mit seiner Knarre die Vögel vom Himmel.« Uril deutete mit einer Hand ein Gewehr an und schoss in die Luft.

»Doch das war eindeutig ein größeres Kaliber, soviel war klar. Kurz darauf gab es einen weiteren Knall. Noch lauter als der davor. Das ganze Haus wackelte und ich hätte mich beinahe auf die Schnauze gelegt. Ich trat an das Fenster und was ich sah, ließ mir die Kinnlade runterklappen. Ein Luftschiff steuerte von Norden auf das Dorf zu und verschwand wenig später über den Wolken. Eines dieser kleinen wendigen, mit den vier Propellern an den Seiten. Ich erkannte noch schwach die goldene Sonne an der Seite.«

Armas sah seinen Onkel verdutzt an. »Goldene Sonne? Dann war es wirklich ein terinisches Schiff?«

Uril blickte kurzzeitig auf den Boden. Die Angst war deutlich in seinen Augen zu erkennen. »Für einen kurzen Moment sah ich noch, wie das Geschoss auf mich zuflog. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, wie du mich unter diesem Balken gefunden und aus dem Haus gezogen hast.«

Armas hauchte Luft aus. »Das glaub ich einfach nicht. Bist du dir sicher, dass es eine goldene Sonne war?«

»Wir wurden von unseren eigenen Truppen beschossen«, sagte Uril mit gesenkter Stimme. »Das war eindeutig ein Aufklärer der Republik. Ich kenne die Dinger noch von früher, als sie deine Eltern eingezogen haben. Diese Schiffe wurden eingesetzt, um sie in die Kasernen zu bringen.«

Armas schüttelte ungläubig den Kopf. »Warum sollten sie das tun, Onkel?«

»Ich weiß es nicht.«

»Was ist mit dem Schattenspucker? Der steht immer noch, während alles andere zerstört wurde.«

Uril zuckte ratlos mit den Schultern.

Armas überlegte einen Moment. »Vielleicht haben sie uns als Rache für die Übergriffe während des Baus angegriffen.«

»Nein, das glaube ich nicht. Es wurden auch einige ihrer Arbeiter und Wachen getötet, da sie zum Zeitpunkt des Angriffs in Tarnio waren. Einige der Leute hier haben das erste Mal seit Langem wieder mit ihnen gesprochen. Die sind genauso ratlos wie wir.«

»Und was, wenn föderierte Soldaten das Schiff gekapert haben?«

»Das halte ich auch für unwahrscheinlich. Die Frontlinie ist schon viele Kilometer nördlich und westlich von uns. Wenn es ein föderierter Trupp wirklich so weit in das Zentrum der Republik geschafft hätte, würden ihm weitaus bedeutendere Ziele als Tarnio zur Auswahl stehen. Und da die Filteranlage noch steht, glaube ich nicht, dass sie das Ziel war. Und ich garantiere dir, dass diese Aufklärer noch tausendmal verrückter sind als jeder gemeine Soldat. Die würden sich eher in ihre Propeller werfen, als ihre Schiffe in feindlichen Händen zu sehen. Nein, nein. Ich bin mir sicher. Es waren unsere eigenen Leute.«

Er sagte diese Worte mit einer Ruhe, die Armas einen Schauer über den Rücken jagte. Uril hatte in der Vergangenheit des Öfteren wutentbrannt über den Krieg gewettert. Er beschwerte sich über die Unfähigkeit der terinischen Generäle, die in ihren Kommandozentralen saßen und noch nie ein Schlachtfeld gesehen haben. Über die Musterung von jungen Männern und Frauen, die mehr Kinder als Erwachsene waren. Und über die sinnlosen Angriffe, die zahllose Leben forderten, nur um ein paar Meter Land zu gewinnen.

Doch nun lag er da. Mit ausdrucksloser Miene, als wäre die Wut zusammen mit dem Blut aus seiner Bauchwunde entwichen.

Armas nickte und sah seinen Onkel hilflos an. »Und was bedeutet das jetzt?«

»Ich habe keine Ahnung. Vorerst müssen wir uns wohl damit abfinden, dass wir keinen Dunst haben.«

»Was soll ich denn jetzt tun, Uril? Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Ist okay«, sagte Uril besänftigend. »Ruh dich etwas aus. Du bist ziemlich blass um die Nase.«

»Ich kann jetzt nicht einfach gehen«, erwiderte Armas trotzig. »Nicht, wenn du so schlimm verletzt bist. Was, wenn du …«

»Stirbst?«, vollendete Uril seinen Satz. Er lachte kurz auf, aber verzog sogleich wieder schmerzerfüllt das Gesicht. »So ein bisschen Holz wird mich doch nicht umbringen. Da braucht es schon mehr, um mich klein zu bekommen!«

Er legte die Hand auf Armas’ Schulter und sah ihn eindringlich an. »Geh schon. Ich komme klar.«

Armas versuchte zu lächeln, doch er scheiterte kläglich. Widerwillig stand er auf und sagte: »Ich bringe dir heute Mittag einen Fisch und etwas zu trinken vorbei.«

»Danke dir, Armas.«

Armas nickte und verließ das Zelt.

Kapitel 2

Die Stille war unerträglich. So viele Menschen an einem Ort und niemand sagte etwas. Alles wäre ihr lieber gewesen. Ein Husten, ein Räuspern, irgendwas. Doch sie hörte nichts. Alle standen nur da, warteten, bis sie an der Reihe waren.

Vier Schlangen bildeten sich in der Versammlungshalle der Minike-Kaserne. Ganz hinten, an der südlichen Wand, standen vier große Schreibtische aus dunklem Holz, an denen die föderierten Offiziere saßen. Sie waren die Einzigen, die etwas sagten, jedoch konnte man das von so weit hinten nicht hören.

Noemi stand etwa in der Mitte der linken Schlange. Überdurchschnittlich groß für eine Frau überragte sie die Leute vor sich und konnte so die Halle überblicken. Etwa zweihundert Rekruten waren hier versammelt. Sie trugen hellgraue Uniformen mit dunkelgrünen Hosenträgern. An ihren Ärmeln prangte groß der rote Stern der Föderation und ihre weiten Hosen steckten in schwarzen Stiefeln aus festem Leder. Braune Gürtel umringten ihre Hüften, an denen Taschen mit diversen Utensilien und eine Scheide mit einem Feldmesser befestigt waren. Ihre Rucksäcke waren mit einem Schlafsack und Dutzenden kleiner Taschen behangen. Viele Rekruten hatten kleine Talismane an ihnen befestigt, bei denen es sich meistens um Alltagsgegenstände handelte. Viele Uniformen waren bereits mehrmals geflickt und man konnte ihren Trägern deutlich ansehen, wie unwohl sie sich darin fühlten.

Auf diesen Tag hatten sie alle gewartet und dennoch wünschten sie sich, er wäre nie gekommen. Ihre Ausbildung war nun zu Ende. Und hier entschied sich, welchem Regiment sie zugewiesen wurden.

Noemi senkte den Blick. Die lockigen, braunen Haare fielen ihr in das schmale Gesicht und verdeckten die braunen Augen.

Alles, nur nicht die Vorhut, dachte sie. Bitte lass es nicht die Vorhut sein.

Die Rekruten hatten schon einiges von den verschiedenen Regimentern gehört. Ein Soldat hatte ihr erzählt, dass es bei der schweren Artillerie am besten sei. Meistens würde man dort nur die Impulsgeschütze bedienen, weit weg vom Chaos der Schlacht. Und wenn die eigene Stellung doch mal überrannt wurde, dann waren die Artillerieregimenter die ersten, die das Feld räumten. Schließlich wollte niemand die teuren Waffen in feindlichen Händen wissen.

Ein anderer Soldat behauptete, dass die Besatzungen der Luftschiffe den besten Job hätten. Dort oben bietet sich einem eine Aussicht, die man so schnell nicht vergisst, prahlte er. Natürlich würde man dort leichter in Kämpfe verwickelt als es bei der schweren Artillerie der Fall war, aber wenn man starb, dann war es ein schneller Tod. Die meisten föderierten Luftschiffe waren klein und schwach gepanzert. Wenn sie getroffen wurden, dann blieb von ihnen meist nicht viel übrig.

Unterm Strich erzählte jeder etwas anderes. Doch in einem Punkt waren sich alle einig. Die Vorhut war das schlimmste Schicksal, das einem Rekruten widerfahren konnte. Und so war es kein Wunder, dass sich kaum Freiwillige fanden. Jeweils zwei Offiziere aus jedem Regiment kamen einen Monat vor Abschluss der Grundausbildung in die Ausbildungslager und versuchten, die Rekruten für ihr Regiment zu gewinnen. Die Soldaten aus der Vorhut waren wesentlich jünger und unerfahrener als ihre Kollegen aus den anderen Regimenten. Eigentlich war es ihre Aufgabe, die Rekruten für ihre Sache zu begeistern, doch während sie von Ehre und Kameradschaft im Kampf berichteten, sah man in ihren Augen den dunklen Abgrund, der sich darin auftat. Ihre Reden waren einstudiert. Niemand glaubte wirklich an das, was er da sagte, doch so wurde es von ihnen verlangt. Irgendwer musste die Aufgaben der Vorhut übernehmen. Und wenn sich ein paar naive Freiwillige finden würden, umso besser.

Mit jedem Schritt wurde Noemi nervöser. Es standen noch fünf Rekruten vor ihr. Dann war sie an der Reihe. Nun konnte sie die Mienen der Rekruten erkennen, die gerade ihrem Regiment zugewiesen wurden. Der Junge, anders konnte man den kleinen, bartlosen Knirps kaum bezeichnen, der gerade noch vor dem Offizier am Tisch stand, ging nach rechts aus dem Seitenausgang. Ein leichtes Grinsen huschte über sein Gesicht, während er erleichtert ausatmete.

»Name?«

Noemi kehrte aus ihren Gedanken in die Gegenwart zurück.

»Noemi«, fiepte sie.

»Weiter?«, fragte der Offizier gelangweilt. Er sah sie nicht an. Seine Augen waren durchgehend auf das Papier vor ihm gerichtet.

»Som.«

Der Offizier fuhr mit einem Stift über die Tabelle vor ihm und suchte ihren Namen. Noemis Herz schlug so heftig, dass sie dachte, man könne es im ganzen Saal hören. Ihre Hände zitterten unaufhörlich und sie drückte sie an ihre Hüfte.

»Noemi Som, No-e-mi. Ah ja, hier. Die 432-igste Vorhut, Trupp sieben. Melde dich bei Leutnant Tatsu auf Rampe fünf.«

Noemi bewegte sich keinen Zentimeter. Ihr Herz, das eben noch wie wild gehämmert hatte, schien auf einmal still zu stehen. Der Offizier sah von seiner Tabelle auf und blickte sie irritiert an.

»Hast du mich nicht verstanden? Leutnant Tatsu. Rampe fünf.«

»Si-sind Sie sicher? Vielleicht sind Sie in der Zeile verrutscht.«

Der Offizier neigte seinen Kopf leicht zur Seite und durchbohrte sie mit seinen hellblauen Augen. »Ob ich … Was redest du da für einen Schwachsinn? Geh mir aus den Augen! Hier sind noch andere, die warten.«

»Jawohl«, sagte Noemi heiser und torkelte auf den Ausgang zu.

Grelles Tageslicht schien ihr entgegen und ein Wust aus Menschen lief an ihr vorbei, während sie auf dem Kasernenplatz stand. Der Lärmpegel war enorm. Überall ratterten Motoren kleiner, dreirädriger Fahrzeuge, die Kisten und Soldaten an ihren Bestimmungsort brachten und große Masten mit Lautsprechern ließen allerlei Durchsagen erschallen.

Noemi blickte zu dem Tor, das nicht weit von der Versammlungshalle lag. Dahinter lagen die weiten Wiesen des Ichu-Bezirks. Dutzende kleiner Seen glitzerten in der Morgensonne. Unter anderen Umständen hätte ihr dieser Anblick Freude bereitet.

Die Vorhut, dachte sie. Natürlich musste es die Vorhut sein. Vielleicht sollte sie einfach weglaufen. Könnte sie nicht einfach gehen und nie wieder zurückkommen? Der Ichu-Bezirk war der größte der föderierten Bezirke und bestand fast ausschließlich aus kleinen Dörfern. Es würde nicht lange dauern, bis sie eine kleine Siedlung finden würde. Sie könnte arbeiten, vielleicht als Uhrmacher, und sich so ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie könnte sich einen neuen Namen ausdenken, die Haare schneiden und andere Kleidung tragen. Sie wäre ein ganz normaler Mensch in einem normalen Dorf. Sie müsste einfach nur durch dieses Tor gehen. Was würde dem Militär denn verloren gehen? Die Wiesen schrien förmlich nach ihr. Komm zu uns, hörte sie sie in ihrem Kopf rufen. Lass das alles hinter dir. Schreite durch das Tor und blicke nicht zurück.

Aber nein. Sie durfte sich nicht verstecken. Es wäre einfach nicht richtig. Sie könnte verschwinden, aber der Krieg wäre immer noch da. Wenn jeder einfach abhauen würde, wäre die Föderation verloren. Mal abgesehen davon würde man sie wahrscheinlich doch schneller finden, als sie es sich ausmalte. Die Steckbriefe für desertierte Soldaten hingen meist nur wenige Wochen an den Aushangtafeln. Die Belohnungen, die man bekam, wenn man den Aufenthaltsort eines Deserteurs preisgab, waren einfach zu verlockend. Und wenn man sie finden würde, dann würde man sie an die Wand stellen. Keine Anhörung, kein Prozess.

Noemi lachte geschlagen auf. Völlig egal, wie sie sich entschied. Am Ende wartete höchstwahrscheinlich eine Kugel auf sie. Und wenn sie schon sterben sollte, dann zumindest für eine gute Sache. Sie atmete tief ein und schüttelte den Kopf, als wollte sie der Wiese verdeutlichen, dass sich sich anders entschieden hatte. Sie zog ihren Rucksack fest und machte sich auf den Weg zu der Rampe, bei der sie sich melden sollte.

Insgesamt sechs Rampen gab es in der Minike-Kaserne. Es waren große Erhöhungen aus Beton, die als Bahnsteige fungierten und den Einstieg in die Transporter ermöglichten. Ein solcher Transporter stand bereits an Rampe eins bereit. Es war ein etwa siebzig Meter langer und fünf Meter hoher Kasten, der sich vorne keilförmig verjüngte. Die Frontscheiben waren schwarz getönt, um den Fahrer vor der Sonne zu schützen. An den Seiten befanden sich mehrere Schiebetüren, die hydraulisch geöffnet und geschlossen werden konnten und es so den Soldaten ermöglichten, ein- oder auszusteigen. Außerdem war an jeder Seite jeweils ein Impulsgewehr befestigt, das den Soldaten Unterstützungsfeuer bieten sollte, wenn sie ausstiegen. Die langen, mit zwei Reihen Magneten besetzten Läufe ragten aus den Schießscharten an den Seiten und machten auf Noemi einen bedrohlichen Eindruck.

Das bemerkenswerteste Merkmal dieses als Raupe bezeichneten Transporters waren nach Noemis Meinung aber seine Radbeine. Im Grunde genommen handelte es sich um drei Beine, die sternförmig von einem Drehpunkt in der Mitte ausgingen. An ihren Enden war jeweils ein Rad befestigt. Zwei dieser Räder rollten ganz normal über den Boden, während das dritte in der Luft hing. Stieß das vordere Rad auf ein Hindernis, drehten sich die Beine um den Knotenpunkt in der Mitte, sodass das nächste Rad übernehmen konnte. Sechs dieser Radbeine, jeweils drei zu jeder Seite, flankierten die Kabine und bewegten die Raupe vorwärts und versetzten sie so in die Lage, selbst das unwegsamste Terrain zu überwinden.

Noemi stellte sich vor, unter Beschuss aus so einem Ding auszusteigen und sich in die Schlacht zu stürzen, während sie diesen unförmigen Kasten betrachtete. Ihr lief es kalt den Rücken runter.

»Achtung, von der Kante wegtreten. Raupe auf Rampe eins fährt ab«, ertönte es über einen Lautsprecher.

Sie erschrak und rannte los. Wenn die Raupe auf Rampe eins bereits abfuhr, dann galt dasselbe für Rampe fünf. Vorbei an Offizieren, Rekruten und Transportern eilte Noemi zu ihrem Ziel. Hinter mehreren Munitionskisten sah sie das Schild mit der Aufschrift »5« und zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass die Raupe noch da war und die Rekruten immer noch vor den verschlossenen Türen standen. Außer Atem stellte sie sich zu den anderen. Einige Rekruten besahen sie mit abschätzigen Blicken, drehten sich aber gleich wieder um und beachteten sie nicht weiter.

»Willst du zusätzlichen Latrinendienst aufgebrummt bekommen?«

Noemi blickte in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ein junger Mann mit schwarzen, glatten Haaren, die ihm knapp unter die Augen reichten, blickte sie neugierig an.

»Was?«

»Ob du zusätzlichen Latrinendienst aufgebrummt bekommen willst.«

»Nein. Wieso sollte ich das wollen?«

»Weil deine Schnürsenkel offen sind. Wenn das einer der Offiziere sieht, kannst du dich darauf einstellen, dass du die nächste Woche die Latrinen putzt«, antwortete der Mann und grinste sie an.

Noemi öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder und bückte sich, um ihre Schuhe zuzubinden.

»Welcher Einheit wurdest du zugewiesen?«, fragte er, ohne abzuwarten, bis Noemi wieder aufrecht stand.

»Die 432-igste Vorhut.«

»Oh, unter Komin Tatsu? Ich wurde ihm auch zugeteilt. Deswegen habe ich mich auch für die Vorhut gemeldet. Ich wusste bereits vorher, dass die Rekruten für die Vorhut ihm zugewiesen werden. Mit etwas Glück ist Major Konomi unser kommandierender Offizier. Hast du dich auch für die Vorhut gemeldet? Und wie heißt du überhaupt? Ich heiße Minoh Riyati. Die Betonung bei Minoh liegt aber auf dem ‚i‘. Das ist zwar nicht gängig, aber meine Eltern fanden es so besser und …«

Noemi runzelte die Stirn und musterte den Typen, der gar nicht mehr aufhören wollte, zu erzählen. Er war relativ klein, was durch Noemis enorme Körpergröße noch verstärkt wurde. Zwei kleine, grüne Augen blickten sie ekstatisch an und seine kleine Nase zuckte im Rhythmus seiner Worte. Während er ihr ungefragt seine komplette Lebensgeschichte erzählte, lagen seine Arme durchgehend schlaff an den Seiten. Nicht ein einziges Mal deutete er eine Geste an oder bewegte sich auf irgendeine andere Weise. Das einzige, was sich allerdings unaufhörlich bewegte, war sein Mund und hell klingende Ströme an Worten purzelten aus ihm heraus.

»… Er konnte ja nicht wissen, dass meine Eltern denselben Namen trugen, weswegen er uns den falschen Brief zugestellt hatte. Unter uns, die Bürokratie ist furchtbar, obwohl …«

»Ich heiße Noemi«, unterbrach sie ihn abrupt. »Und nein, ich habe mich nicht freiwillig für die Vorhut gemeldet. Warum sollte ich das tun? Warum willst du ausgerechnet zur Vorhut?«

Minoh sah sie überrascht an. »Wo sollte ich denn sonst hin?«

»Zum Beispiel zu der schweren Artillerie oder zu den Luftfahrern.«

Minoh schüttelte energisch den Kopf, ließ seine Arme aber nach wie vor an seinen Seiten. »Nein, Impulsgeschütze sind zu unpräzise. Man weiß nie genau, ob man trifft oder nicht. Gewehre sind da wesentlich genauer. Ich finde …«

»Niemand meldet sich freiwillig für die Vorhut. Und das aus gutem Grund.«

Minohs Blick wandelte sich schlagartig von Euphorie zu Besorgnis. Mit leicht zitternder Stimme fragte er: »Wieso?«

Noemi öffnete den Mund, doch als sie in die großen, schillernden Augen ihres Gegenübers blickte, hielt sie kurz inne.

»W-wegen den Offizieren. Ich habe gehört, dass die Offiziere der anderen Regimenter etwas lockerer drauf sind als hier«, sagte sie und lächelte gekünstelt.

Minoh hielt inne und sah sie an. Sein besorgter Gesichtsausdruck wandelte sich schlagartig zu Belustigung.

»So locker wie deine Schnürsenkel?«

Noemi musste unwillkürlich lachen. Eigentlich fand sie das gar nicht mal so lustig, doch irgendetwas an diesem Kerlchen amüsierte sie.

Minoh lachte mit und seine Schultern hoben sich leicht. Doch schon im nächsten Moment waren sie wieder fest an seinen Seiten verankert.

»Weißt du schon, wo wir hingebracht werden?«, fragte er schnell. »Soweit ich weiß, schickt man uns an die Südostfront. Oh, du hast mir noch gar nicht gesagt, wo du herkommst. Ist es da auch schön? Bei uns …«

»Hey, wenn du etwas über mich wissen willst, solltest du mir auch die Chance geben, dir zu antworten.«

Minoh sah betroffen auf seine Füße. »Ja, du hast ja Recht.« Nach einer kurzen Pause fragte er: »Also, woher kommst du?«

»Ich komme aus Nagan.«

Minohs Augen weiteten sich. »Was, du kommst aus der Hauptstadt? Da wollte ich schon immer mal hin. Mir wurde erzählt, dass es dort riesige Hochhäuser gibt. Fast zweihundert Meter hoch. Von dort muss man eine wunderbare Aussicht haben.«

»Ja, man hat dort oben eine gute Aussicht.« Noemis Miene wurde ernst. »Doch was man dort sieht, ist alles andere als schön.«

Minoh sah sie wieder mit diesem etwas überzogenen Welpenblick an. »Ist es dort immer noch so schlimm? Der Nagusi-Bezirk hat sich wieder einigermaßen erholt. Die Bäume haben das Wasser über Jahre gespeichert, wodurch wir auch weiterhinPilze züchten konnten.«

»Wie viele waren es bei euch?«

»Etwa die Hälfte.«

Noemi wartete ab, doch Minoh schwieg.

»Achtung, Rekruten! Bezieht Aufstellung!«, erschallte es von der Mitte des Platzes.

Die Rekruten wuselten durcheinander und stellten sich gemäß ihrer Dienstnummer in zwei Reihen auf. Noemi und Minoh hasteten zu ihren Plätzen. Beide standen in der vorderen Reihe.

Vor ihnen stand mit durchgestrecktem Rücken und erhobenem Haupt ein Offizier. Es war Leutnant Komin Tatsu, Befehlshaber der 432-igsten Vorhut. Er war etwa vierzig, hatte kurz geschnittene, braune Haare und einen muskulösen Körperbau. Seine Uniform war maßgeschneidert und saß perfekt. Nicht eine einzige Falte war zu erkennen. Der rote Stern der Föderation prangte groß auf seinem Ärmel und an seiner Brust hingen zahlreiche Dienstabzeichen und Orden. Auch wenn Noemi von seinem Namen mal abgesehen nichts über ihn wusste, erkannte sie gleich, dass es sich hier um einen erfahrenen Soldaten handelte.

Hinter Leutnant Tatsu sah sie sechs weitere Offiziere. Sie standen kerzengerade und hatten ihre Hände hinter dem Rücken verschränkt. Fast alle blickten ernst und diszipliniert. Nur eine Offizierin, eine junge Frau mit dunkelroten, langen Haaren, die sie zu einem Zopf zusammengebunden hatte, lächelte leicht.

»Willkommen in der 432-igsten. Ich bin Leutnant Komin Tatsu. Ihr seid nun keine Rekruten mehr. Ab sofort seid ihr Gefreite und werdet auch als solche bezeichnet«, erschallte Tatsus dröhnende Stimme.

Eine dermaßen laute, aber kontrollierte Stimme hatte Noemi in ihrem ganzen Leben noch nicht gehört. Man konnte gar nicht anders, als ihm zuzuhören, und auch die Soldaten, die auf den anderen Rampen standen, drehten sich unwillkürlich zu ihm um.

»Ihr werdet an die Südostfront gebracht«, fuhr Tatsu fort. »Dort werdet ihr dem Vormarsch der terinischen Truppen Einhalt gebieten und sie zurückdrängen. Habt ihr das verstanden?«

»Ja, Leutnant Tatsu«, riefen die Gefreiten im Chor.

Tatsu nickte befriedigt, drehte sich zur Seite und zeigte mit der geöffneten Hand zu den Offizieren hinter ihm. »Ihr werdet euch nun gemäß eurer Zuteilung vor euren Vorgesetzten aufstellen. Danach werdet ihr mit der Raupe an die Front gebracht und ausgerüstet. Ihr habt dort zwei Tage Zeit, um euch mit dem neuen Umfeld und euren Aufgaben vertraut zu machen. Danach erhaltet ihr eure Befehle. Stellt euch nun bei euren Vorgesetzten auf. Das ist alles.«

Mit diesen Worten stolzierte Leutnant Tatsu auf die vorderste Hydrauliktür der Raupe zu und verschwand in ihr. Die sieben Offiziere, die nach wie vor steif wie Bretter auf dem Platz standen, nannten nun nacheinander ihre Namen.

»Major Ima Konomi. Trupp sieben«, rief die junge Offizierin mit den roten Haaren. Sie hatte während der gesamten Zeit nicht aufgehört zu lächeln.

Noemi stellte sich wie geheißen vor sie und in der nächsten Sekunde stand Minoh neben ihr. Mit einem zufriedenen Lächeln blickte er sie an. Zwei weitere Gefreite stellten sich zu ihnen und nach ein paar Sekunden standen alle Soldaten vor ihren neuen Befehlshabern. Etwa vier bis sieben Soldaten pro Offizier.

»Super«, sagte Major Konomi fröhlich. »Dann steigt mal ein. Wir haben einen langen Weg vor uns.«

Gemeinsam stiegen sie durch die Hydrauliktüren in das Innere der Raupe. Noemi musste den Kopf einziehen, um sich nicht an dem niedrigen Türrahmen zu stoßen.

»Ich hab so eine Raupe noch nie von innen gesehen«, sagte Minoh und sah sich begeistert um.

Die Raupe war ähnlich wie ein Zug in mehrere Segmente unterteilt, die mit verschlossenen Hydrauliktüren voneinander abgetrennt waren. An den Wänden waren Bänke mit Gurten angebracht, auf denen die Passagiere Platz nehmen konnten. Die zwei Impulsgewehre waren in den Wänden befestigt und eine kleine Scharte ermöglichte es dem Schützen, nach draußen zu blicken. Der Boden und die Sitzflächen waren im starken Kontrast zum restlichen Gefährt aus Holz gefertigt und mehrere kleine Lampen an der Decke, tauchten den Innenraum in ein kaltes Licht.

Noemi setzte sich auf den Platz direkt neben der Tür und zurrte den Gurt fest. Nicht mal zwei Sekunden später saß Minoh neben ihr. Major Konomi, die nach wie vor grinste, nahm auf der gegenüberliegenden Seite Platz und lächelte Noemi fröhlich an.

Noemi wollte zurücklächeln, wandte dann aber doch den Blick ab. Wie sollte sie sich dieser Offizierin gegenüber verhalten? Nicht ein einziger Offizier im Ausbildungslager hatte sie jemals angelächelt. Solange die Soldaten im Dienst waren, wurde von ihnen erwartet, dass sie sich diszipliniert verhielten. Und nun saß diese Konomi in ihrem Sitz und grinste sie an, als wären sie auf einem Schulausflug.

Als hätte sie Noemis Gedanken gelesen, sagte Major Konomi: »Du kannst ruhig zurücklächeln. Ich beiße nicht.«

Noemi blickte verlegen nach unten, sah dann wieder auf und brachte ein zaghaftes Lächeln hervor.

Ima lachte laut auf. »Entspann dich. Ich bin nicht so wie diese Trantüten nebenan. Das gilt übrigens auch für euch drei.«

Mit diesen Worten blickte sie zu den anderen Soldaten, die neben ihnen auf der Bank saßen. Abgesehen von Noemi und Minoh saßen noch zwei weitere Gefreite in dem Abteil. Der eine, ein besonders muskulöser Mann mit an den Seiten ausrasierten, braunen Haaren und eisblauen Augen, sah verlegen auf den Boden, während die Soldatin, die ihm gegenüber saß, Konomi direkt in die Augen blickte.

»Wie heißt du?«, fragte Major Konomi Minoh, der bis eben so tat, als hätte er das Gespräch gar nicht wahrgenommen.

»Minoh Riyati«, sagte er so leise, dass man es kaum hören konnte. »Ma’am«, fügte er hastig hinzu.

»Und wo kommst du her, Minoh Riyati?«

»Aus dem Nagusi-Bezirk, Ma’am.«

Konomis Grinsen weitete sich noch weiter. »Lass das ‚Ma’am‘. Das ist nicht nötig. Ihr könnt mich einfach Ima nennen. Jedenfalls, wenn Leutnant Tatsu gerade nicht in der Nähe ist.«

Minoh sah sie irritiert an. »Ja, Ma …« Er brach ab und räusperte sich. »Ja, Ima.«

»Also, du bist dann wohl ein Pilzzüchter, wenn du aus dem Nagusi-Bezirk kommst, oder?«

»Ja.«

»Ah, die Nagusipilze sind die besten. Da gibt es gar keine Diskussion. Aber sind die Bäume dort wirklich so groß, wie alle sagen? Ich habe gehört, dass die höchsten dreihundert Meter groß werden.«

»Teilweise sogar vierhundert Meter«, antwortete Minoh jetzt in normaler Lautstärke. »Die Stämme haben einen Umfang von fast sechzig Metern.«

»Wirklich?«

Minoh nickte übertrieben heftig. »Wir haben mal probiert, einen der Bäume zu umklammern, indem wir uns um ihn stellten und uns an den Händen nahmen. Fast vierzig Leute waren dafür nötig. Ich würde ja gerne mal auf so einen Baum klettern, aber die niedrigsten Äste liegen immer noch fünfzig Meter über dem Boden. Ich hab mal probiert, mir eine Leiter aus Holz zu bauen, aber die war ziemlich schlecht. Ich konnte das Ding zwar fertigstellen, aber ich hab mich nie getraut, sie auszuprobieren. Mein Onkel hat das mal gemacht und ist abgestürzt. Er hat sich zwei Rippen und einen Arm gebrochen. Aber unser Arzt hat das schnell wieder …«

»Okay, okay, halt mal wieder die Luft an«, unterbrach ihn Ima lachend. »Ich will noch wissen, wie die anderen heißen.«

Minoh blickte verlegen zu Noemi, die ihn neckisch ansah und mit den Achseln zuckte. Sie hatte sich ein Lachen verkneifen müssen, während Minoh redete. Wie er kerzengerade dasaß und nicht einen Finger rührte, während er wie ein Wasserfall plapperte, belustigte sie sehr.

»Du, zum Beispiel«, sagte Ima und zeigte auf den Gefreiten neben Minoh. »Wie heißt du?«

Der Mann mit den eisblauen Augen zögerte und sah verlegen auf. Schließlich sagte er: »Hagal.«

»Hagal und weiter?«

»Nichts weiter. Einfach nur Hagal.« Seine Augen wichen Imas Blick aus, während er nervös an einem Stofffetzen rumfummelte, den er um den linken Oberarm gebunden hatte.

»Du hast also keinen Nachnamen?«, fragte Ima langsam.

Sofort war es komplett still im Abteil. Imas Lächeln war abrupt verschwunden und alle starrten Hagal an. Es vergingen wahrscheinlich nur ein paar Sekunden, aber Noemi kam es wie eine Ewigkeit vor.

»Du kommst also aus der Republik, nicht wahr?«, fragte Ima.

»J-ja.«

Die blondhaarige Soldatin neben ihm war sofort in Alarmbereitschaft und packte den Griff eines Messers aus schwarzem Stahl, das sie am Oberarm trug.

»Ganz ruhig, unbekanntes Fräulein«, sagte Ima, ohne den Blick von Hagal abzuwenden. »Ich bin mir sicher, Hagal hat dafür eine gute Erklärung.«

Hagal, der immer noch Imas Blick auswich, fuhr sich mit einer Hand durch die braunen Haare. »Ich wurde nahe der toten Zone geboren«, erklärte er. »Meine Familie bestand aus Nomaden. Wir zogen ständig umher. Einmal waren wir in der Föderation und dann wieder in der Republik. Deswegen wurden einige von uns in der Föderation geboren und haben einen Nachnamen und andere eben nicht.«

Hagal pausierte für zwei Sekunden und sah Ima das erste Mal direkt in die Augen. Sie wirkte nicht überzeugt.

Also fuhr er fort: »Als der Krieg ausbrach, waren wir gerade im Gebiet der Föderation. Wir hatten noch nichts von dem Erstangriff der Föderierten auf Tapt gehört. Der Gegenangriff war für uns eine vollkommene Überraschung. Ohne Vorwarnung befanden wir uns auf einmal mitten in einer Schlacht. Meine Eltern versuchten, einen Raupenfahrer zu überzeugen, uns mitzunehmen, doch er erwiderte nur, dass er keinen Platz mehr habe. Schließlich konnte ihn meine Mutter überzeugen, wenigstens mich mitzunehmen. Und so bin ich endgültig in der Föderation gelandet.«

Die Soldatin, die Hagal gegenüber saß, ließ das Messer wieder in der dazugehörigen Scheide verschwinden und rümpfte verächtlich ihre krumme Nase. »Das hat uns ja noch gefehlt. Ein republikanischer Schweinehund in unseren Reihen!«, sagte sie und schüttelte sich die blonden Haare aus dem Gesicht.

»Und was ist mit deiner Familie?«, fragte Noemi.

»Die habe ich seitdem nicht mehr gesehen.« Er tippte mit dem Finger auf den Stofffetzen an seinem Ärmel. »Das ist alles, was ich von meiner Familie habe.«

»Was ist das?«

»Das gehörte zu der Jacke meiner Mutter. Ich habe daran gezogen und es abgerissen, als sie mich in die Raupe gesetzt hat.«

»Gut«, sagte die Soldatin neben ihm. »Mit etwas Glück hat es sie erwischt. Eine Schande, dass der Raupenfahrer so weichgespült war und dich mitgenommen hat. Den Platz hätte einer unserer verwundeten Soldaten haben können, ist dir das klar?«

Noemi funkelte sie böse an. »Er wäre wahrscheinlich nicht mehr am Leben, wenn ihn der Fahrer nicht mitgenommen hätte.«