Kappa - Ryunosuke Akutagawa - E-Book

Kappa E-Book

Ryūnosuke Akutagawa

0,0

Beschreibung

Ryunosuke Akutagawa gilt als "Vater der japanischen Kurzgeschichte". Mehr als 150 Erzählungen entstanden in seiner kurzen Schaffensperiode von 1916 bis 1927. Der nach ihm benannte Akutagawa-Preis, der halbjährlich für die beste Kurzgeschichte eines Newcomers vergeben wird, zählt zu den bedeutendsten literarischen Auszeichnungen in Japan. "Kappa" ist die umfangreichste und nach "Rashomon" wohl bekannteste Erzählung Akutagawas. In diesem sehr persönlichen Werk projiziert der Autor seine Gedanken zur japanischen Gesellschaft und zu seinem eigenen Leben auf die Hauptfigur, den Patienten einer Nervenheilanstalt in Tokyo. Dieser berichtet von seiner Reise in das Land der Kappas. Diese froschähnlichen Wesen leben in einer Welt, die zugleich märchenhafte wie erschreckende Merkmale aufweist. Wie bei Swifts Gulliver und bei Carrolls Alice im Wunderland verwendet Akutagawa bei der Darstellung der Kappawelt die satirischen Mittel der Übertreibung und der Umkehrung von Sachverhalten, um dem Leser einen Spiegel vorzuhalten. Es entsteht ein düsteres Menschen- und Gesellschaftsbild, das gerade durch die vermeintlich komischen Episoden an kritischer Schärfe gewinnt. Kappa entstand im Februar 1927, nur fünf Monate vor dem Freitod Akutagawas, der in seinem Abschiedsbrief bekannte, im letzten halben Jahr seines Lebens an nichts anderes als an das Sterben gedacht zu haben. So ist der Selbstmord des Kappa-Dichters Tock im dreizehnten Kapitel der Erzählung wohl als Ankündigung seines eigenen Schicksals zu verstehen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 72

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kappa

Vorwort des HerausgebersPrologIIIIIIIVVVIVIIVIIIIXXXIXIIXIIIXIVXVXVIXVIIRyūnosuke Akutagawa – BiographischesImpressum

Vorwort des Herausgebers

Ryūnosuke Akutagawa gilt als „Vater der japanischen Kurzgeschichte“. Mehr als 150 Erzählungen entstanden in seiner kurzen Schaffensperiode von 1916 bis 1927. Der nach ihm benannte Akutagawa-Preis, der halbjährlich für die beste Kurzgeschichte eines New­comers vergeben wird, zählt zu den bedeutendsten literarischen Auszeichnungen in Japan.

Akutagawas Gedankenwelt und sein Schreibstil waren geprägt von den politischen und kulturellen Umwälzungen im Japan der Taishō-Zeit. Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu einem wirtschaftlichen Aufschwung und zu demokratischen Experimenten, die jedoch an der Macht der Militärs scheiterten. In diesem Umfeld entwickelte sich eine kulturelle Dynamik, in der neue, vom Westen inspirierte literarische Strömungen entstanden. Akutagawa gilt als bedeutendster Vertreter der shin richi ha  新理知派, deren Vertreter auf der Suche nach einer neuen Realität von intellektuellen Elitegedanken geleitet wurden.

Kappa  河童  ist die umfangreichste und nach Rashōmon  羅生門  wohl bekannteste Erzählung Akutagawas. In diesem sehr persönlichen Werk projiziert der Autor seine Gedanken zur japanischen Gesellschaft und zu seinem eigenen Leben auf die Hauptfigur, den Patienten einer Nervenheilanstalt in Tōkyō. Dieser berichtet von seiner Reise in das Land der Kappas. Diese froschähnlichen Wesen leben in einer Welt, die zugleich märchenhafte wie erschreckende Merkmale aufweist. Wie bei Swifts Gulliver und bei Carrolls Alice im Wunderland verwendet Akutagawa bei der Darstellung der Kappawelt die satirischen Mittel der Übertreibung und der Umkehrung von Sachverhalten, um dem Leser einen Spiegel vorzuhalten. Es entsteht ein düsteres Menschen- und Gesell­schafts­bild, das gerade durch die vermeintlich ko­mischen Episoden an kritischer Schärfe gewinnt.

Kappa entstand im Februar 1927, nur fünf Monate vor dem Freitod Akutagawas, der in seinem Abschiedsbrief bekannte, im letzten halben Jahr seines Lebens an nichts anderes als an das Sterben gedacht zu haben. So ist der Selbst­mord des Kappa-Dichters Tock im dreizehnten Kapitel der Erzählung wohl als Ankündigung seines eigenen Schicksals zu verstehen.

Die Originalausgabe von Kappa wurde im Jahre 1927 in der gesellschaftskritischen Monatszeitschrift Kaizō  改造  veröffentlicht. Die deutsche Erstausgabe erschien 1934 im Shōbundō-Verlag, Tōkyō.

Klaus Lerch                                      Kaarst, im April 2017

Prolog

Dies ist die Geschichte, die der Patient Nr. 23 einer gewissen Nervenheilanstalt jedem erzählt, der ihm über den Weg läuft. Ich glaube, er ist jetzt schon über dreißig, aber er sieht sehr jung aus für sein Alter. Was er sonst bisher erlebt hat – ach, es interessiert mich nicht. Als er mir und Dr. S, dem leitenden Arzt der Anstalt, lang und breit seine Geschichte erzählte, umklammerten seine Hände die Knie, und seine Augen blickten hin und wieder durch die Eisenstangen des Fensters nach draußen, wo ein Eichenbaum stand, ganz kahl, ohne ein einziges Blatt, der seine Äste in den durch tiefhängende Schneewolken verdunkelten Himmel reckte. Er untermalte seine Erzählung mit nur wenigen Gesten, aber wenn er zum Beispiel „ich erschrak“ sagte, dann warf er jedes Mal ruckartig seinen Kopf zurück…

Ich bin stolz darauf, dass es mir gelungen ist, die Geschichte vollständig, genauso wie er sie erzählt hat, schriftlich festzuhalten. Wenn Sie aber nicht zufrieden sind mit meinen Aufzeichnungen, dann besuchen Sie ihn doch selbst in der Nervenheilanstalt S. im Dorf X., unweit von Tōkyō. Der junggebliebene Patient Nr. 23 wird Sie mit einer tiefen Verbeugung begrüßen und Sie zu einem ungepolsterten Stuhl führen. Dann wird er mit einem unergründlichen Lächeln und mit ruhiger, leiser Stimme seine Geschichte wiederholen. Wenn er dann am Ende ange­kommen ist – ich kann mich noch gut an die Veränderung seines Gesichtsausdrucks erinnern – wird er aufspringen, seine geballten Fäuste schwingen und Sie anbrüllen: „Scher dich raus, du Schurke! Du bist auch nur so ein dummer, eifersüchtiger, obszöner, schamloser, eingebildeter, grausamer und un­ver­schämter Rohling! Scher dich raus, du Schurke!“ 

I

Es war an einem Sommermorgen vor drei Jahren. Wie alle Leute hier trug ich einen Rucksack, als ich den Onsen [1] in Kamikōchi [2] verließ, um den Hotaka [3] zu besteigen. Wie Sie wissen, kann man den Hotaka nur durch das Enge Tal des Azusagawa erreichen. Ich habe diesen Berg bereits einmal bestiegen und auch schon den Yarigadake [4]. Deshalb bin ich, obwohl es an diesem Morgen sehr neblig war, ohne einen Führer aufgestiegen.

Über eine Stunde ging ich die Schlucht entlang durch den Morgennebel, der sich einfach nicht lichten wollte. Er wurde sogar immer dichter und so erwog ich, in das Gast­haus nach Kami­kōchi zurückzukehren. Aber, selbst wenn ich mich zur Rückkehr entschlossen hätte, wäre mir nichts anderes übriggeblieben, als zu warten, bis sich die Nebelschwaden verzogen hätten. Da der Nebel jedoch weiterhin zunahm, sagte ich mir: „Ach was, ich gehe jetzt weiter!“ Und so kämpfte ich mich flussaufwärts durch das hohe Bambusdickicht, immer darauf bedacht, das Tal des Asuza nicht zu verlassen.

Die dichten Nebelschwaden versperrten mir die Sicht. Nur manchmal konnte ich das Laub einer Buche oder die niedrig hängenden Äste einer Silbertanne erblicken. Dann und wann tauchten überraschend die Gesichter grasender Pferde und Rinder vor mir auf, doch kaum hatte ich sie entdeckt, verschwand ihr Bild im dichten Nebel. Nun überfiel mich Hunger und ich spürte meine müden Beine. Zudem belastete mich das Gewicht meiner Bergsteigerkluft und der Wolldecken, die durch den Nebel ganz feucht geworden waren. Ich gab schließlich auf und, geleitet vom Geräusch des zwischen den Felsen gurgelnden Wassers, suchte ich tastend den Weg hinab zum Fluss.

Ich ließ mich auf einem Felsen am Fluss nieder, um eine Mahlzeit zu mir zu nehmen. Ich habe mich wohl etwa zehn Minuten damit beschäftigt, eine Fleischkonserve zu öffnen und mit Hilfe einiger trockener Zweige ein Feuer zu entfachen. Endlich begann der schreck­liche Nebel sich allmählich zu lichten. Ein Stück Brot abbeißend warf ich einen Blick auf meine Uhr. Es war bereits ein Uhr zwanzig. Doch was mich noch mehr überraschte, ja erschreckte, war ein seltsam fremd­­artig aussehendes Gesicht, das sich für einen Augen­blick im runden Glas meiner Uhr spiegelte. Ich drehte mich um, und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich einen Kappa [5]! Er stand auf einem Felsen hinter mir. Mit einem Arm eine Birke umklammernd, mit der anderen seine Augen beschattend, beobachtete er mich mit großer Neugier.

Zutiefst erschrocken verharrte ich für eine Weile ohne mich zu bewegen. Auch der Kappa schien vom Schrecken gezeichnet. Die Hand über seinen Augenbrauen regte sich nicht. Dann sprang ich rasch auf und lief auf den Felsen zu. Der Kappa flüchtete, zumindest glaubte ich dies. Dabei war er nur mit einer raschen Bewegung ausgewichen und aus meinem Blickfeld verschwunden. Verwundert schaute ich mich im hohen Bambusdickicht um und sah ihn schließlich, einige Meter entfernt, mich noch immer fluchtbereit anstarrend. Dies erschien mir gar nicht mehr sonderbar. Das eigentlich seltsame an dem Kerl war die Farbe seiner Haut. Als er vor dem Felsen stand, war sie grau gewesen. Nun schimmerte sein Körper von Kopf bis Fuß in grüner Farbe! „Verdammt“, rief ich und sprang auf ihn zu. Natürlich flüchtete er erneut. Für mehr als eine halbe Stunde lieferten wir uns eine wilde Verfolgungsjagd durch das Bambusfeld und über die Felsen.

Der Kappa war ein guter Läufer, genauso schnell wohl wie ein Affe. Während ich ihn wie ein Besessener verfolgte, war ich mehrfach kurz davor, ihn aus den Augen zu verlieren. Oft rutschte ich aus und fiel zu Boden. Doch dann, als der Kappa sich einem großen Rosskastanienbaum mit mächtigen Ästen näherte, versperrte ihm ein grim­mig dreinschauender Stier mit starken Hörnern und blutunterlaufenen Augen den Weg. Der Kappa gab einen seltsamen Schrei von sich und sprang Hals über Kopf in das hochgewachsene Bambusdickicht. „Jetzt habe ich ihn“, sagte ich zu mir und sprang auf ihn zu. Doch ich musste wohl ein Erdloch übersehen haben, das vor mir lag. Kurz bevor ich den glatten Rücken des Kappas mit meinen Fingerspitzen berühren konnte, fiel ich kopfüber in tiefste Finsternis. Es ist schon verrückt, dass dem menschlichen Geist gerade in solch kritischen Momenten die unwich­tigsten Din­ge in den Sinn kommen. Ich dachte nur „Oh je!“ und musste dabei an die Kappa-bashi [6] denken, die kleine Brücke in der Nähe des Kami­kōchi-Onsen. Ich kann mich nicht daran erin­nern, was danach geschah. Ich habe wohl so etwas wie ein Blitzlicht vor meinen Augen gesehen und dann das Be­wusst­sein verloren.

[1] Meist in Bergregionen gelegene Orte mit traditionellen japanischen Hotels, deren Bäder aus natürlichen heißen Quel­len gespeist werden.

[2] Abgelegenes Gebirgstal im Westen der Präfektur Nagano. Es ist 18 km lang und liegt auf einer Höhe von 1400 bis 1600 m. Der Fluss Asuza durchfließt das gesamte Tal, bevor er am Fuß des Yako-Berges in den Taishō-See mündet. Die Erwähnung des Tales in der vorliegenden Novelle führ­te ab 1927 zu einem Touristenboom in dieser Gegend.

[3] Der Gipfel des Hotaka-Gebirgszuges, der Oku­hotaka-dake, ist mit 3190 m der dritthöchste Berg Japans. Er wurde im Jahre 1906 zum ersten Mal bestiegen.

[4] Der ca. 6 km nördlich des Okuhotaka-dake gelegene Yari­ga­dake ist mit 3180 m der vierthöchste Berg Japans.

[5] Der Kappa 河童 ist eine der bekanntesten Kreaturen aus der japanischen Mythologie. Geschichten über Kappas wurden jahrhundertelang mündlich überliefert. In der zu Beginn des 18. Jahrhunderts erschienenen Naturenzyklopädie Wakan sansai zue 和漢三才図会 wurden diese Fabelwesen erstmals schriftlich erwähnt. Ihnen werden sowohl dämonische (yōkai 妖怪) als auch göttliche (kami