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SS-Offizier Herbert Kappler, der letzte deutsche Kriegsgefangene, verschwindet im Sommer 1977 unter ungeklärten Umständen aus der Festungshaft in Italien. Die Suche nach den Hintergründen bleibt auch dreißig Jahre später für den Hobbyhistoriker Hermann Weber und seine Partnerin Rosa Cigara lebensgefährlich. Alles hängt mit allem zusammen. Die Geschichte basiert auf wahren Geschehnissen.
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Seitenzahl: 486
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Alle in diesem Roman beschriebenen Ereignisse sind frei erfunden, obgleich sie im Zusammenhang mit historischen Fakten stehen. Die Personen der Zeitgeschichte sind fiktionalisiert. Organisationen, die in diesem Roman genannt werden, und ihre Verwicklung in die beschriebenen Ereignisse sind frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen, mit Ausnahme der Personen der Zeitgeschichte, ist rein zufällig.
Was bisher geschah
Prolog: Rückblende Zweiter Weltkrieg
23. und 24. März 1944, Rom
Kapplers Flucht
15.08 1977 Bonn, Bundeskanzleramt früher Morgen
August 1977 Soltau
15.08.1977 Bonn, Bundeskanzleramt, früher Morgen
16.08.1977 Wiesbaden, Bundeskriminalamt morgens
16.08.1977 Soltau, Wilhelmstraße, vormittags
18.08.1977 Backnang, früher Abend
20.08.1977 Soltau, früher Morgen
01.09.1977 Hannover, Lagebesprechung Innenministerium
02.09.1977 Backnang, spätnachmittags
September 1977, Soltau
Geburtstagsfeier im Kreis der alten Kameraden
04.10.1977 Soltau
07.10.1977 Burgdorf, vormittags
07.10.1977 Burgdorf, früher Nachmittag
Rückblende: Zweiter Weltkrieg
27.04.1945 Dongo Uferpromenade
Geburtstagsfeier im Kreis der alten Kameraden
07.10.1977 Burgdorf, nachmittags
SS-Obersturmbannführer Fritz Meyers
28.5.1951 Amtsgericht Bückeburg, Saal 5, vormittags
Kapplers Ende
Oktober bis Dezember 1977, Soltau
Februar 1978 Soltau, Zeitz
SS-Obersturmbannführer Fritz Meyers
26.08.1979 Insel brioni, Adria, vormittags
28.10.1979 Reitlingstal bei Braunschweig, spätnachmittags
Den alten Kameraden auf der Spur: Hermann und Rosa
Mai 2006 Berlin
15.09.2006 Melnik
04.09.2006 Braunschweig
15.09.2006 Melnik, abends
25.04.2006 Königsbronn, schwäbische Alb
04.05.2006 Burgdorf
16.05.2006 Berlin, früher Nachmittag
25.05.2006 Hannover, Stöckener Friedhof
10.03.2006 Berlin, Mehringplatz vormittags
20.08.2006 Berlin
15.11.2004, München, Literaturarchiv Monacensia
10.01.2005, Prag, Geheimes Staatsarchiv des Innern
März 2005, Prag
28.10.2006 Prag, Geheimes Staatsarchiv
Der lange Arm der Italiener
November 2006 Rovagnate, Lombardei
Den alten Kameraden auf der Spur: Hermann und Rosa
06.02.2007 Jerusalem, Yad Vashem, vormittags
10.10.2007 Burgdorf, mittags
11.10.2007 Braunschweig, Magniviertel, vormittags
14.10.2007 Belgrad, Militärarchiv, vormittags
14.10.2007 Belgrad, nachmittags
17.10.2007 Belgrad
19.10.2007 Hamburg, Ottensen vormittags
24.10.2007 Berlin, Stadtmitte, vormittags
26.10.2007 Braunschweig
27.10.2007 Burgdorf, abends
Auf den Spuren des Vaters: Edda Meyers
27.10.2007 Braunschweig, abends
28.10.2007 Braunschweig, Margaretenhöhe abends
29.10.2007 Braunschweig, Zuckerbergsweg
30.10.2007 Autobahnraststätte Rhynern
30.10.2007 Peine, Werderstraße, abends
30.10.2007 Bielefeld, abends
31.10.2007 Raststätte Rhynern, mittags
11.11.2007 Braunschweig, Prinzenpark, abends
12.11.2007 Jerichow später Abend
4.12.2007 Soest, abends
Der lange Arm der Italiener
15.02.2008 Prag, abends
Personenregister Kapplers Hut
Danksagung
Weiterführende Literatur
Im Grenzgebiet zwischen Tschechien und Deutschland wird Anfang August 2004 an der Elbe eine Wasserleiche entdeckt. Durch die Kooperation zwischen deutscher und tschechischer Polizei wird ihre Identität bald festgestellt. Es handelt sich um den in Ústí nad Labem, dem früheren Aussig, gemeldeten deutschen Staatsbürger Egon Watepfuhl. Der Leichenfund wird zur Sensation, als in der Kleidung des Toten eine wertvolle Brosche entdeckt wird. Sie stammt aus dem Besitz von Claretta Petacci, der Geliebten Benito Mussolinis. Ihr Schmuck war in den Wirren des Kriegsendes 1945 in Norditalien spurlos verschwunden.
Watepfuhl betrieb zu Lebzeiten in Nordböhmen eine Beratungsfirma, die vorgab, Zugang zu internationalen Finanzplätzen zu haben und hilfesuchenden deutschen Firmen Kapital beschaffen zu können. Auch die Ziegelei des Unternehmers Gundolf Wernicke aus der Nähe von Magdeburg gehörte zu seinen Kunden. Im Verlauf der Kooperation mit Watepfuhl wurde Wernicke übel mitgespielt und er geriet durch windige Tricks der vermeintlichen Partner Watepfuhls in größte Existenznot.
Im Zuge ihrer Ermittlungen entdecken die tschechische und die deutsche Polizei, dass Watepfuhl intensive Kontakte zu einem Sprössling italienischer Migranten namens Pavel Slansky unterhielt, der als Kopf des italienischen Teils der Organisierten Kriminalität in Prag eingestuft wird.
Der Kontakt zwischen Watepfuhl und Slansky entstand durch Vermittlung von Watepfuhls Lebenspartnerin, der Tschechin Marta Blinkova, und mündete in einer intensiven Geschäftsbeziehung. Die Hinweise auf Slansky nach Watepfuhls Tod kommen von einem Oberkommissar aus dem tschechischen Innenministerium namens Petros Papadopoulos, der in seiner Behörde maßgeblich gegen die Organisierte Kriminalität arbeitet. Aus diesem Grund wird auf den Polizisten ein Attentat verübt.
In diese Melange geraten die portugiesisch-tschechische Rechtsanwältin Rosa Cigara und ihr deutscher Geliebter, der Hobbyhistoriker und Geschäftsmann Hermann Weber. Letzterer ist einem Netzwerk alter und neuer Nazis auf der Spur, die Ende der Siebzigerjahre an der Flucht des verurteilten Kriegsverbrechers Herbert Kappler aus italienischer Haft beteiligt waren.
Hermann hatte zu der damaligen Zeit im Auftrage bundesdeutscher Zeitschriften über die Geschichte der Flucht recherchiert. Jetzt erzählt er Rosa von der absurden Geschichte von Kapplers Hut, der völlig überraschend in den Neunzigerjahren in einem Plattenbau in Stendal auftauchte und seine Neugier geweckt hat. Diese Hutschachtel wird in der Familie immer weitergereicht, mittlerweile in dritter Generation, und bei besonderen Anlässen hervorgekramt, um ihre kuriose Geschichte zu erzählen. Die Familie ist tief im liberalen Milieu verwurzelt und der Hut nicht mehr als ein Objekt der Zeitgeschichte, das bei Bedarf für Erstaunen und Stimmung sorgt.
Auch Rosa weiß von besonderen Verstrickungen ihrer Familie vor und während des Zweiten Weltkriegs zu berichten. Ihr Großvater war Angestellter bei der Firma Otto Wolff in Lissabon, die mit der Beschaffung des Minerals Wolfram und anderer kriegswichtiger Rohstoffe für die deutsche Rüstungsproduktion befasst war. Er stand in Opposition zu dem faschistischen Diktator Salazar und wurde von einem deutschen Freund und Kollegen namens Rudolf Rothgänger denunziert. Kurz darauf verschwand Rothgänger spurlos, doch sein Name schwebt noch immer unheilvoll über der Familie, weshalb sich Rosa auf Spurensuche begeben hat.
Gemeinsam mit Hermann kommt sie dem Denunzianten endlich näher und bald stellt das Paar fest, dass es sogar eine Verbindung zwischen Kappler und Rothgänger gab. Im Archiv der Gestapoleitstelle Prag liegen umfangreichen Aktenbestände über beide Personen. Ihr Jagdeifer ist geweckt!
Etwa zur selben Zeit wird Hermann von der Polizei zum Mordfall Watepfuhl befragt, da er vor langer Zeit mit ihm in Kontakt gestanden hatte und erst vor Kurzem den Geschäftsmann Gundolf Wernicke zu einem Treffen mit Watepfuhl begleitete.
Die Explosion in der Via Rasella traf den Zug der SS-Ordnungspolizei aus Südtirol mit voller Wucht und völlig unvorbereitet. Jeden Tag marschierte diese Einheit in strammem Gleichschritt durch die engen Gassen der italienischen Hauptstadt, demonstrierte dabei mit dem martialischen Gedröhn der genagelten Stiefel in Marschkolonne symbolisch die Unterwerfung Italiens unter das Deutsche Reich Adolf Hitlers.
Etwa ein halbes Jahr zuvor waren über Nacht aus den ehemals verbündeten faschistischen Staaten Deutschland und Italien erbitterte Kriegsgegner geworden, als der Hitlerfreund Benito Mussolini abgesetzt und durch Marschall Badoglio ersetzt worden war, vorher ein treuer Anhänger Mussolinis. Die italienische Regierung schloss mit den in Süditalien gelandeten Alliierten ein Waffenstillstandsabkommen, wodurch Nazideutschland sich in der Position sah, das ganze Italien zu besetzen und unter deutsches Regiment zu stellen. Die italienische Bevölkerung war fortan besonderen Repressalien ausgesetzt, in der Hierarchie des Reiches standen nur die Juden noch unter den Italienern.
Die Chuzpe der SS-Kommandantur, den Zug der Südtiroler SS immer zur gleichen Zeit über immer die gleiche Strecke durch Rom marschieren zu lassen, machte diese wiederkehrende Routine der Deutschen zu einem besonders verhassten Symbol des deutschen Terrors und der Besatzung. Die harten Repressionen der Deutschen führten allerdings auch unmittelbar zu einer Zunahme von Aktionen des Widerstandes, der Resistenza, auf dem Land und in den Bergen sowie in den großen Städten.
So deponierte eine Gruppe von illegal agierenden Widerstandskämpfern, Männer wie Frauen, sogenannte Gapisti, vor einem Haus in der Via Rasella einen tödlichen Sprengsatz in einem Handkarren der Stadtreinigung. Die verheerende Bombe explodierte just in dem Augenblick, in dem die SS-Einheit mit dem dröhnenden Marschtritt deutscher Militärstiefel diese Stelle passierte. Dreiunddreißig SS-Männer waren sofort tot, unglücklicherweise starben auch zwei italienische Zivilisten, die nicht hatten gewarnt werden können. Siebenundsechzig Menschen wurden verwundet.
Die Attentäter verschwanden unerkannt im Chaos nach der Explosion, dem Schreien der Verwundeten, den Alarm signalisierenden Trillerpfeifen, der Hilflosigkeit in den Augenblicken nach einer derartigen Tat.
Hitler und der Reichsführer-SS Himmler hatten getobt, als sie die Nachricht vom Attentat erhielten, und sofortige harte Vergeltung befohlen. Hitler forderte sogar, einen ganzen Stadtteil Roms in die Luft zu jagen, denn die Täter hatten nicht dingfest gemacht werden können und waren in der italienischen Hauptstadt untergetaucht. Somit stand die römische Zivilbevölkerung im Zentrum der geballten Wut der Nazis.
Was folgte, war eine massive Vergeltung durch die Deutschen. Der Chef des Sicherheitsdienstes und der Sicherheitspolizei in Rom, SS-Obersturmbannführer Herbert Kappler, der gleichzeitig als Polizeiattaché und Kriminalrat fungierte, ordnete in Absprache mit den militärischen Befehlshabern die sofortige Exekution von zehn Italienern für jeden getöteten Deutschen an und übernahm persönlich das Kommando der Operation.
Er war längst bekannt für seine unbarmherzige Härte und seine Freude an der Ausübung seiner Macht. So hatte er nach seiner Ernennung zum Polizeichef eine Art Routine entwickelt, für die er jeden Vormittag zu einem kleinen Häuschen im Garten der Gestapozentrale ging. In diesem romantisch in den Garten eingefügten Gebäude wurden Häftlinge verhört und gefoltert. Kappler gefiel sich darin, auf einem Stuhl sitzend die Verhöre interessiert zu verfolgen, sich an den Schreien der Malträtierten zu weiden und wie einst Caesar durch eine Handbewegung die Verhöre zu verschärfen oder abzumildern. So war es nur folgerichtig, dass Kappler die Vergeltungsmaßnahmen des Angriffs auf den Zug der SS- Ordnungspolizei umgehend in die Tat umsetzte.
Die makabre Aufrechnung von zehn für einen war von der Stadtkommandantur schon weit im Vorfeld irgendwelcher Attentate auf deutsche Einheiten oder Zivilpersonen per Plakatanschlag allgemein verkündet worden, den Partisanen mithin bekannt.
Nur einen Tag nach dem Anschlag wurden 335 Todgeweihte in der Via Rasella in mehreren LKW zu den außerhalb Roms gelegenen Tuffsteinhöhlen der Fosse Ardeatine transportiert. Auf ihrem Weg passierten die Fahrzeuge Trastevere, überquerten den Tiber und bogen kurz vor dem Erreichen der historischen Via Appica Antica nach rechts auf das Gelände mit den Zugängen zu den Höhlen ab. Die ersten Opfer der Vergeltung wurden nun in einer Fünfergruppe an das Ende eines Blindstollens geführt, wobei jedes der fünf Opfer von einem SS-Mann begleitet wurde.
Fackelträger tauchten die makabre Szenerie in unheimlich flackerndes Licht. Am Ende des Blindstollens mussten die Gefangenen niederknien und wurden von einem Mitglied des Kommandos per Genickschuss direkt ins Kleinhirn getötet. Die folgenden Fünfergruppen wurden auf die gleiche Art und Weise behandelt. Mit auf dem Rücken zusammen gebundenen Händen wurden sie an den Eingang der Höhlen geleitet, mussten dort warten, bis sie an der Reihe waren, während sie die Angstschreie der Männer hörten, die vor ihnen exekutiert werden sollten. Sobald sie ins Halbdunkel geführt worden waren und die Augen sich an das schale Licht gewöhnt hatten, konnten sie die Leichenberge erkennen, die sich in der Zwischenzeit aufgetürmt hatten. Der Raum in den Höhlen war begrenzt, also erhielten die Delinquenten den Befehl, die aufgehäuften Leichen zu erklimmen und sich auf dem Haufen toter Körper ebenfalls niederzuknien, um den Genickschuss zu erhalten. Innerhalb weniger Stunden war auf diese Weise der Boden der Ardeatinischen Höhlen mit einem einen Meter hohen Berg von Leichen bedeckt.
Unter den Erschossenen befanden sich römische Juden, Generale und hohe Offiziere der italienischen Armee, andere Erschossene waren willkürlich auf der Straße festgenommen worden. Insgesamt wurden 335 Menschen von den Kommandos der Dienststelle Kappler hingerichtet. Kappler persönlich brachte einige der Opfer auf die beschriebene Weise per Genickschuss um.
Die SS hoffte, die Spuren dieses Verbrechens durch die Sprengung der Tuffsteinhöhlen verwischen zu können, daher sprengte nach Abschluss der Hinrichtungen ein SS-Kommando gegen Abend den Eingang zu den Höhlen. Doch die Kunde von der Gräueltat hatte sich längst wie ein Lauffeuer in Rom herumgesprochen.
Als die Fosse Ardeatine nach dem Abzug der Deutschen und dem Ende der Kampfhandlungen in der Region Rom geöffnet wurden, entdeckten die italienischen Partisanen die erschossenen Opfer der deutschen Willkür – 335 und nicht 330 wie damals im Zuge der Vergeltungsmaßnahmen gefordert.
Im Juli 1948 wurde Herbert Kappler mit fünf weiteren Angeklagten vor ein italienisches Militärgericht in Rom gestellt und wegen der Erschießung dieser fünf hingerichteten Geiseln zu lebenslanger Festungshaft in der Festung Gaeta verurteilt. In der Anklageschrift für den Prozess fand sich die Formulierung, Kappler fehle „der elementare Sinn für Menschlichkeit“. Das Urteil war endgültig und nicht anfechtbar.
Die Frage, warum die fünf „Überzähligen “ ebenfalls erschossen worden seien, kommentierte er im Prozess mit den Worten: „Wenn sie schon mal da waren …“
Seine Mitangeklagten aus dem Erschießungskommando wurden mit dem Hinweis auf Befehlsnotstand freigesprochen und konnten den Gerichtssaal als freie Männer verlassen.
Die italienische Regierung verschleppte tausende Ermittlungsverfahren gegen deutsche Kriegstäter, denn man hatte Sorge, dass die internationale Öffentlichkeit dadurch auch ein Auge auf die italienischen Kriegsverbrechen und ihre Akteure in Griechenland, Jugoslawien und Albanien werfen würde. Abgesehen davon gab es die klare Direktive der westlichen Alliierten, keine mutmaßlichen Kriegsverbrecher aus ihren Besatzungszonen an Italien auszuliefern, ein Tribut an den schon entbrannten Ost-West- Konflikt.
Kappler aber wurde in den Jahren seiner Haft über Jahrzehnte zum politischen Symbol der deutschen Besatzungspolitik und des Terrors gegen die italienische Bevölkerung in der Zeit vom September 1943 bis zum Kriegsende.
Im Bonner Bundeskanzleramt klingelte das Telefon des diensthabenden Staatssekretärs Riesinger.
„Ja, bitte?“
Seine Sekretärin Marlies Gust versuchte, ihren Chef zu dieser frühen Stunde möglichst unaufgeregt anzusprechen: „Herr Staatssekretär, es ist eine Anruferin am Telefon, die behauptet, dass heute Nacht der Gefangene Herbert Kappler aus einem italienischen Gefängnis entführt und nach Deutschland verbracht worden sei.“
Der Staatssekretär war sofort hellwach. „Frau Gust, stellen Sie das Gespräch durch!“
Bevor der Summton ihm die erfolgte Weiterleitung des Anrufs signalisierte, hatte er einen kurzen Augenblick Gelegenheit, seine Gedanken zu ordnen.
„Riesinger …“
Eine weibliche Stimme meldete sich. „Hier spricht Anneliese Kappler-Wenger. Mein Ehemann Herbert Kappler befindet sich in meiner Obhut. Er ist wieder in seiner deutschen Heimat!“
Riesinger glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen.
„Wovon reden Sie?“
„Heute Nacht ist der letzte deutsche Kriegsgefangene aus italienischer Haft befreit und in seine Heimat zurückgeführt worden. Herbert Kappler ist wieder zu Hause!“ Das Pathos in der Stimme der Anruferin war nicht zu überhören.
Wer Riesinger in diesem Augenblick hätte sehen können, hätte die Synapsen förmlich greifen können, die sich in diesen Millisekunden im Hirn des Chefs des Bundeskanzleramtes bildeten. Nach außen hin blieb er jedoch gewohnt professionell.
„Wo befindet er sich?“
„Herr Staatssekretär“, reagierte sie sehr förmlich und unaufgeregt, „gehen Sie bitte davon aus, dass er sich an einem sicheren Ort befindet. Wir werden Ihnen in Kürze die notwendigen Informationen zukommen lassen.“ Die Anruferin hatte sich auf solche Fragen offensichtlich bestens vorbereitet.
Dennoch wollte Riesinger die Chance nicht ungenutzt lassen, nähere Auskünfte über den Aufenthaltsort Herbert Kapplers zu bekommen.
„Sie wissen“, sagte er zu Frau Kappler, „dass er sich in höchster Gefahr befindet, wenn nicht die erforderlichen Maßnahmen für seine Sicherheit getroffen werden. Es wird eine Welle der Empörung insbesondere in Italien geben. Wir müssen damit rechnen, dass sich Mordkommandos auf den Weg nach Deutschland machen werden.“
Man konnte spüren, wie sich die Anruferin entspannte.
„Wir sind auf alles vorbereitet. Wir wiederholen: Er ist in einem sicheren Versteck. Auf Wiederhören.“
Anneliese Kappler-Wenger beendete das Gespräch. Staatssekretär Riesinger betrachtete nachdenklich das Telefon. Das „Wir“ hatte er wohl vernommen.
Seine Sekretärin hatte in der Zwischenzeit den diensthabenden Beamten des Lagezentrums des Kanzleramtes zum Staatssekretär beordert. Alles lief nach den vielfach erprobten und geübten Ablaufplänen für den Krisenfall ab, und so war es keine Überraschung für Riesinger, als wenige Sekunden nach der Beendigung seines Gespräches mit Frau Kappler der an diesem Morgen im Krisenstab zuständige Ministerialdirektor Bernd Schütte in sein Büro trat.
Riesinger stand aus seinem eleganten ledernen Schreibtischsessel auf, ging einige Schritte auf seinen Mitarbeiter zu und beide begrüßten sich mit Handschlag.
„Guten Morgen, Herr Schütte, bitte informieren Sie trotz der frühen Stunde umgehend die Diensthabenden in den zuständigen Dienststellen über die neue Lage. Es müssen kurzfristig Maßnahmen zum Schutz italienischer Objekte im Lande ergriffen werden. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Ich wünsche, immer auf dem aktuellen Informationsstand zu sein.“
Schütte nickte und wollte schon das Büro des Staatssekretärs verlassen, als dieser noch eine Selbstverständlichkeit einforderte: „Das Bundeskriminalamt soll unverzüglich den Aufenthaltsort feststellen!“
Wenn jemand die Befreiung Herbert Kapplers aus italienischer Kriegsgefangenschaft forcierte, dann war es seine Ehefrau Anneliese Kappler-Wenger. Seit Anfang der Sechzigerjahre versuchten die einflussreichen und bestens vernetzten Verbände ehemaliger Soldaten mit ihren mehr als zwei Millionen Mitgliedern Druck auf die politischen Entscheidungsträger auszuüben. Man wollte auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen die Freilassung des Gefangenen erzwingen.
Natürlich hatten die in die Jahre gekommenen Haudegen von SS und Wehrmacht längst erwogen, Herbert Kappler in einer raffinierten und gegebenenfalls gewaltsamen Befreiungsaktion in die Heimat zurückzuholen. Doch der Arrestort, die Festung Gaeta, erwies sich auch in den kühnsten Planungen als unangreifbar. In der Konsequenz setzte man daher auf die Karte des Humanismus und des Mitleids. Dabei ließ man natürlich außer Acht, dass Herbert Kappler in seiner aktiven Zeit ein eiskalter und mitleidsloser Vollstrecker des nationalsozialistischen Terrors in Italien und damit besonders verhasst gewesen war.
Die Kampagne für Kappler wurde in wesentlichen Teilen von der „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Soldaten der ehemaligen Waffen-SS“ kurz HIAG getragen. Zwischen der HIAG und neonazistischen Gruppen in Deutschland und Italien bestanden kurze Verbindungswege, die jederzeit für eine Befreiungsaktion genutzt werden konnten.
Die wirksamste Waffe innerhalb der Pläne der Kampagne war jedoch seit Anfang der Sechzigerjahre die ehemalige Rot-Kreuz-Schwester Anneliese Wenger, die ihren ersten Kontakt zu Kappler mit einem Weihnachtspäckchen und einem Brief herstellte.
In den folgenden Jahren wurden die Kontakte zwischen der resoluten Dame und dem Gefangenen immer enger und mündeten im Hafen der Ehe, den die damals Siebenundvierzigjährige und der siebzehn Jahre ältere Kappler elf Jahre nach dem ersten Kontakt Anfang der Siebzigerjahre ansteuerten.
Ab diesem Zeitpunkt veränderte sich die äußere Erscheinung der Soltauerin. Sie kleidete sich häufig in Schwarz, aus Protest gegen die andauernde Haft ihres Ehemannes und die ihrer Meinung nach heuchlerische Unterstützung durch die Bonner Politiker. Schwarz trug sie auch bei ihren monatlichen Besuchen in Gaeta, die laut Aussagen der Ehefrau durch anonyme Spender ermöglicht wurden.
Am 10. Dezember 1975 trat sie unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und großem Medieninteresse auf dem Bonner Münsterplatz in einen unbefristeten Hungerstreik. Der Höhepunkt dieser spektakulären Aktion war ein Auftritt vor dem Bonner Bundeshaus, wo sie mit einem selbst gemalten Plakat, das sie sich um den Hals gehängt hatte, daran erinnerte, dass Kappler auch das diesjährige Weihnachten in Gefangenschaft in der Festung Gaeta verbringen werde – wie immer seit seiner Inhaftierung im Jahr 1947.
Im darauf folgenden Februar diagnostizierten die italienischen Militärärzte bei Herbert Kappler eine Magen- und Darmkrebserkrankung. Anneliese Kappler forderte daraufhin Unterstützung über das Netzwerk der alten Kameraden ein, um eine gute medizinische Betreuung ihres Gatten zu erreichen. Mit Erfolg. Ihre Heilpraktikerpraxis in Soltau war von dieser Zeit an bis zu Kapplers Flucht nur an zwei Tagen pro Woche geöffnet, die restliche Zeit verbracht die Gattin im Militärkrankenhaus in Rom, in das Kappler verlegt worden war.
Dass im November sechsundsiebzig auf massiven Druck der italienischen Öffentlichkeit hin von der italienischen Justiz die Entscheidung getroffen wurde, Kappler nicht freizulassen, war für die liebende Ehefrau der letzte Impuls, nun selbst zur Tat zu schreiten, denn die Alternative zur Befreiung lautete: Der Rücktransport nach Deutschland würde im Sarg erfolgen.
Über die Unterstützer wurden die finanziellen Mittel für die Befreiungsaktion kurzfristig bereitgestellt und junge Aktivisten in Deutschland und Italien waren schnell gefunden. So war der Weg geebnet, um den letzten deutschen Kriegsgefangenen bei nächster Gelegenheit aus dem schlecht bewachten Krankenhaus zu befreien. Der ein oder andere Geldschein für die verbliebenen Wachen sollte deren Motivation, im richtigen Moment wegzuschauen, erhöhen.
Man einigte sich auf die Tage rund um den wichtigen italienischen Feiertag Ferragosta, Mariä Himmelfahrt. Ein Feiertag, an dem ganz Italien im Tiefschlaf sein würde.
Die Fernschreiber im Lagezentrum des Bundeskanzleramtes spuckten laut ratternd unermüdlich die neuesten Meldungen aus. Ministerialdirektor Bernd Schütte sichtete die eingehenden Informationen, um sich nach einer Stunde wieder einmal auf den Weg ins Büro des Staatssekretärs zu machen. Er überreichte einen kleinen Stapel mit Fernschreiben, deren Inhalt er mit den Worten zusammenfasste: „Es liegt ein Hinweis des Bundesverfassungsschutzes aus dem Jahre 1976 vor, der besagt, dass ein befreundeter italienischer Dienst auf die Möglichkeit hingewiesen habe, dass es bei der Freilassung von Herbert Kappler ähnlich wie in Italien auch in der Bundesrepublik zu gewalttätigen Demonstrationen kommen könne.
Aktuell bittet der Bundesverfassungsschutz ebenso wie das Bundeskriminalamt darum, die Schutzmaßnahmen für italienische Objekte wie diplomatische Vertretungen, Konsulate und sonstige Einrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland bis auf Weiteres zu verstärken.“
Riesinger nickte nur kurz und ordnete, auf eine gegenüber seinem Schreibtisch angebrachte Wanduhr blickend, an: „Ich brauche möglichst klare Informationen über den Status quo in der Angelegenheit Kappler. In den nächsten Stunden wird es möglicherweise zu erheblichen Verstimmungen zwischen der Republik Italien und der Bundesrepublik Deutschland kommen. Der Bundeskanzler muss spätestens in der morgendlichen Lage in seinem Urlaubsdomizil am Brahmsee über die aktuelle Situation in Kenntnis gesetzt werden …“ Er blickte noch einmal auf die Uhr. „In sechzig Minuten treffen wir uns zu einer Besprechung im Lagezentrum.“
Die anberaumte Sitzung des Krisenstabes war bereits nach zwanzig Minuten beendet.
„Stimmen Sie sich mit den Landesbehörden“, Riesinger deutete auf den Vertreter des nordrhein-westfälischen Innenministeriums, „namentlich mit dem Landeskriminalamt ab und klären Sie die Vorgänge, die von der Anruferin beschrieben worden sind. Wenn es tatsächlich so ist, wie sie sagt, stellen Sie fest, wo sich Kappler befindet, und nehmen Sie ihn aus Gründen der Sicherheit in Polizeigewahrsam. Für etwaige folgende gerichtliche Auseinandersetzungen nehmen wir als Gerichtsstand den Ergreifungsort.“
Die Anwesenden nickten und nach einem kurzen Austausch brachte Riesinger die wesentlichen Aspekte auf den Punkt: „Das Kanzleramt geht davon aus, dass selbst bei einer Festsetzung Kapplers trotz des zu erwartenden diplomatischen Protestes der italienischen Regierung und dem möglicherweise folgenden Ärger keine Auslieferung Kapplers an Italien erfolgen wird.“ Er hob bedauernd die Schultern. „Ein Ermittlungsverfahren ist dennoch formal einzuleiten. Wir brauchen dringend Informationen über den Gesundheitszustand des Gesuchten. Es ist kurzfristig abzuklären, ob gegebenenfalls eine biologische Erledigung des Verfahrens erwartet werden kann, und wenn ja, voraussichtlich wann. Diese Informationen können die weitere Vorgehensweise maßgeblich beeinflussen.“
„Frau Kappler-Wenger hat schon vor einiger Zeit Rechtsanwalt Aschenbauer als juristischen Vertreter mit der Wahrnehmung der Interessen ihres Mannes beauftragt“, merkte der Vertreter aus dem nordrhein-westfälischen Innenministerium an.
„Ich hatte bereits davon gehört“, stellte Riesinger fest. „Jetzt haben wir also die versammelten alten und neuen Kameraden der ‚Stillen Hilfe‘ mit im Boot.“
Nach Rundfunk- und Fernsehmeldungen über die erfolgreiche Flucht liefen erste Informationen über den Verbleib Kapplers ein. Die Medien verorteten den Gesuchten im Wohnort seiner Ehefrau Anneliese im niedersächsischen Soltau. Darauf ging sofort ein Fernschreiben an das zuständige niedersächsische Innenministerium und damit an die Polizeibehörde in Soltau, den Aufenthaltsort Kapplers festzustellen.
Die kurzfristig eingeleiteten Ermittlungen bestätigten den Aufenthalt. Die Beamten in Soltau hatten einfach an der Wohnungstür der Kapplers geklingelt und die Hausherrin hatte bereitwillig Auskunft gegeben.
Der Kommandeur der Schutzpolizei in Lüneburg wurde unverzüglich darüber in Kenntnis gesetzt, woraufhin dieser wiederum sofortige Objekt- und Personenschutzmaßnahmen anordnete, die von Polizeikräften aus Soltau durchgeführt werden sollten.
Der Präsident des Bundeskriminalamts, Dr. Horst Herold, teilte Ministerialrat Schütte im Bundeskanzleramt fernmündlich mit, dass eine Unterredung zwischen ihm und dem Generalstaatsanwalt stattgefunden habe, dessen Inhalt das Fahndungsersuchen der italienischen Behörden nach Herbert Kappler gewesen sei.
Es habe eine Kontaktaufnahme mit Interpol per Telex gegeben, in dem das BKA mitgeteilt habe, dass der Aufenthaltsort des Gesuchten nunmehr feststehe und die zuständige Staatsanwaltschaft prüfe, welche Maßnahmen zu ergreifen seien.
Die Staatsanwaltschaft wünsche wegen verschiedener Drohungen keine Bekanntgabe des Aufenthaltsortes.
Es klingelte an der Tür der Wohnung der Eheleute Kappler. Die Ehefrau schaute durch den Türspion. Im Hausflur stand ein stämmiger, etwa fünfundfünfzigjähriger Herr im dunkelgrauen, offensichtlich teuren Anzug, die dunklen Haare streng gescheitelt.
„Guten Morgen, gnädige Frau. Mein Name ist Aschenbauer, Dr. Rudolf Aschenbauer. Ich soll Ihnen und Ihrem Mann die herzlichsten Grüße von den Kameraden der ‚Stillen Hilfe‘ überbringen. Herzlichen Glückwunsch zur geglückten Aktion in Italien. Darf ich eintreten?“
„Ja natürlich, selbstverständlich.“
Aschenbauer deutete eine leichte Verbeugung samt Handkuss an und betrat hinter Frau Kappler, der er galant den Vortritt gelassen hatte, die Wohnung der Eheleute. In dem geräumigen Esszimmer traf er auf Herbert Kappler, der es sich in einem Sessel mit Armlehne bequem gemacht hatte.
Aschenbauer schlug zur Begrüßung die Hacken zusammen.
„Herzlich willkommen zu Hause, Obersturmbannführer! Ich begrüße Sie herzlich im Namen aller Kameraden und Kameradinnen der Stillen Hilfe, deren Vorsitzender zu sein ich die große Ehre habe.“
Kappler sah erstaunt und wohlgefällig auf.
„Dann waren Sie es wohl, der über all die Jahre für die Unterstützung für mich und meine Ehefrau verantwortlich war? Großen, großen Dank und allergrößten Respekt dafür, Kamerad Aschenbauer.“
„Nein, danken Sie nicht mir, danken Sie dem Netzwerk der vielen, vielen Kameraden. Gerade Ihr Schicksal war es, das uns immer wieder gezeigt hat, dass unser Kampf noch lange nicht zu Ende ist. Allergrößten Respekt für Sie, Obersturmbannführer. Diese langen Jahre in einem alliierten Gefängnis …“
„Aber nehmen Sie doch Platz, verehrter Herr Dr. Aschenbauer“, mischte sich nun Frau Kappler in das Gespräch ein, „darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee, Tee, Cognac?“
„Oh, danke. Wenn es keine Mühe macht, dann bitte Kaffee und zur Feier des Tages einen Cognac.“
„Herbert, und du? Was kann ich dir bringen? Du weißt: keinen Alkohol.“
Kappler verdrehte leicht die Augen. „So sind sie, die Frauen, gönnen einem nicht mal den kleinsten Spaß.“
„Ach Herbert, ich will doch, dass du so lange wie möglich bei mir bleibst, als lebender Zeuge für das unglaubliche Unrecht, das dem deutschen Soldaten und dem deutschen Volk nach dem Kriegsende widerfahren ist.“
„So ist es, Obersturmbannführer“, ließ sich Aschenbauer vernehmen, „ wir brauchen Sie dringend als Beweis für deutsche Standfestigkeit und Widerstandskraft auch in schwierigsten Lebenssituationen. Wir brauchen Sie als lebenden Beweis – ich betone noch einmal lebend – für den Umgang der alliierten Siegerjustiz mit dem tapferen deutschen Soldaten insbesondere mit den Kameraden von der SS, die seit einigen Jahren nach der Machtübernahme der Sozen Brandt und Schmidt doch eine Menge durchmachen mussten und noch müssen.“
„Ich lasse euch jetzt ein wenig allein. Es gibt sicherlich viel zu besprechen, was nicht unbedingt für die Ohren einer Frau bestimmt ist?“
Anneliese Kappler-Wenger verließ mit einem verständnisvollen Lächeln den Raum und ließ ihren Ehemann und Aschenbauer dicht nebeneinandersitzend zurück.
„Richten Sie meinen ausdrücklichen Dank auch an die jungen Kameraden, die sich in ihrer Umsicht und ihrem Mut in keiner Weise von unseren Kameraden vom SD und der Waffen-SS unterscheiden“, übernahm Kappler wieder das Wort. „Besser hätten wir diese Befreiung damals auch nicht durchführen können. Natürlich bin ich Ihnen, Kamerad Aschenbauer, sozusagen als Kopf der Aktion besonders dankbar. Es ist einfach unbeschreiblich, wie Ihre Unterstützung vor allem meiner Ehefrau in den harten Tagen der letzten Monate und Jahre den Rücken gestärkt hat.“ Er lehnte sich in seinem Sessel zurück.
„Danken Sie der Organisation“, erwiderte Aschenbauer, „wir haben es rechtzeitig geschafft, auch junge Burschen, die die Kameradschaft der SS nicht mehr selbst erfahren durften, an uns zu binden und sozusagen als Truppe zur besonderen Verwendung in der Hinterhand zu haben.“ Er beugte sich nach vorn. „Jetzt geht es aber erst einmal darum, Obersturmbannführer, ihren Aufenthalt in Soltau oder anderswo in Deutschland so sicher wie möglich zu machen. Bitte legitimieren Sie mich noch einmal persönlich als Ihren Rechtsbeistand, damit ich gegenüber den staatlichen Stellen alles Notwendige in die Wege leiten kann.“
Aschenbauer war für derartige Aufträge bestens präpariert, er steckte tief im Thema. Bereits 1947 hatte seine Karriere als Rechtsvertreter des Angeklagten Otto Ohlendorf im Einsatzgruppenprozess begonnen, allerdings hatte er nicht verhindern können, dass sein Mandant 1951 hingerichtet wurde. Im selben Jahr war er maßgeblich an der Gründung des Vereins „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte“ beteiligt gewesen.
Wo immer in der Bundesrepublik Deutschland spektakuläre juristische Aufarbeitungen der Naziverbrechen erfolgten – Aschenbauer war dabei und zog hinter den Kulissen die Fäden wie eine Spinne in ihrem Netz.
Die Stadt Soltau zeigte in den Siebzigerjahren eine geradezu klassische Kleinstadtidylle in der norddeutschen Provinz. Der neutrale Beobachter hätte sie aufgrund seiner Beobachtungen zur Gesellschaft als stellvertretend für Dutzende ähnlicher Kommunen bezeichnen können. Nach einem kleinen Kratzen an der Oberfläche wären die klassischen Verfilzungen in der Kommunalpolitik bis hin zur Klüngelwirtschaft mit ihren Machtstrukturen sichtbar geworden. Die Bevölkerung war noch stramm konservativ und der Stammtisch der HIAG, der Hilfsgemeinschaft der ehemaligen SS-Angehörigen, bestens besucht. Und es gab eine weitere Besonderheit: ein Ableger der rechtsterroristischen Wehrsportgruppe Hoffmann trieb in der Gegend sein Unwesen und200 auch der Chef des Ganzen, Karl-Heinz Hoffmann, wurde des Öfteren vor Ort gesichtet.
Die Nachricht von der Flucht des ehemaligen SD-Chefs Roms aus italienischer Haft schlug in der niedersächsischen Kleinstadt wie eine Bombe ein.
Anneliese Kappler-Wenger betrieb dort in der Tradition ihrer Familie eine Praxis als Heilpraktikerin und war eine angesehene Bürgerin der Stadt.
„Gut, dass sie das gemacht hat!“, war die einhellige Meinung der überwiegenden Mehrheit der Einwohner Soltaus. Wie ein Lauffeuer hatte sich im Ort die Kunde verbreitet, dass Frau Kappler ihren Mann aus italienischer Haft befreit habe. Gleichzeitig fing die Gerüchteküche an zu brodeln. Die Bewunderung für diese mutige Frau wurde grenzenlos, als erste Berichte laut wurden, sie habe ihren Mann an Bettlaken befestigt abgeseilt. Absolute Insider waren sich sicher, dass er Italien in Priesterkleidung verlassen habe, andere behaupteten später, sie habe ihn in einem Koffer aus dem Gefängnis getragen, bedingt durch seine Krebserkrankung habe er ohnehin nur noch fünfundvierzig Kilo gewogen.
Aber man machte sich auch über die unfähigen italienischen Behörden lustig, insbesondere als weitere angebliche Detailinformationen über die Flucht nach Soltau drangen. Ein Schild mit der Aufschrift: „Bitte nicht vor 10 h stören!“ an der Tür zum Krankenzimmer Kapplers habe angeblich verhindert, dass die Flucht vorzeitig entdeckt werden würde und sichergestellt, dass Frau Kappler mit ihrem Herbert im Koffer ungestört das Weite habe suchen können.
Braves, einfältiges, italienisches Wachpersonal! Augenzwinkernd war auch von Bestechung die Rede.
Allen Erzählungen gemein war die Bewunderung für die unerschrockene Anneliese Kappler-Wenger, die nach langen Jahren der Bittstellerei für die Freilassung ihres Mannes nun selbst zur Tat geschritten sei. Endlich sei Schluss mit der chaotischen Situation rund um Herbert Kappler. Die Hin- und Herschieberei der Kompetenzen innerhalb der italienischen Behörden sei für Deutsche doch ein entwürdigender Vorgang. Es zeichnete sich der Konsens ab, Herbert Kappler als Neubürger anzusehen und ihn in der städtischen Gemeinschaft alsbald herzlich willkommen zu heißen.
Die Anteilnahme der Bevölkerung war so überwältigend, dass Anneliese Kappler den örtlichen Blumenladen anwies, keinerlei Bestellungen für Blumensträuße und -gebinde mehr anzunehmen. Post- und Fleurop-Boten gaben sich die Klinke in die Hand. Das Haus in der Wilhelmstraße quoll über.
Der Bürgermeister der Stadt, Jochen Rothardt, fasste die Stimmung in der Stadt folgendermaßen zusammen: „Man hat hier in Soltau Frau Kapplers Engagement für ihren Mann schon immer bewundert. Und jetzt bekennen sich die Soltauer erst recht zu dieser Frau und ihrem Husarenstück. Ihr mutige Tat war erstklassig durchdacht, auch in den juristischen Konsequenzen.“
Zugleich wurde die Gerüchteküche von den alten Kameraden der „Hilfsgemeinschaft“ befeuert, die mit stolz geschwellter Brust nebulös auf die Arbeit der berüchtigten SS-Untergrundorganisation „ODESSA“ hinwiesen, die mit ähnlichen Aktionen auch die Massenmörder Eichmann und Mengele nach Südamerika geschleust habe. Es ging sogar die Mär, Anneliese Kappler habe seit 1945 für die „ODESSA“ gearbeitet.
Wohlwollend wurde zur Kenntnis genommen, dass auch Teile der im national-konservativen Soltau nicht wohl gelittenen Großstadtpresse Verständnis für diese Lösung des Problems Kappler formuliert hatte. Man vermutete das Ehepaar in der Soltauer Wohnung der Ehefrau. Gleichzeitig war man jedoch wegen der zu erwartenden heftigen Reaktionen aus dem In- und insbesondere aus dem italienischen Ausland sehr um Ruhe und Ordnung in der Stadt besorgt, Schlagworte wie „Rote Brigaden“ und „Baader-Meinhof-Bande“ fielen.
Gerüchte machten die Runde, dass sich Terrorkommandos schon auf dem Weg nach Deutschland befänden. Für das folgende Wochenende hätten sich hunderte „Chaoten“ zur Demonstration im ansonsten friedlichen Soltau angesagt.
Um die Sicherheit der Eheleute Kappler zu gewährleisten, wurde der in Soltau beschäftigte Kriminalhauptkommissar Breit zum vorläufigen Gesamteinsatzleiter für den Personen- und Objektschutz ernannt. Morddrohungen gegen Kappler gingen ein.
Die Staatsanwaltschaft Lüneburg stellte zur selben Zeit in einer Pressemitteilung des Leitenden Oberstaatsanwalts fest, dass keine Strafverfolgung Kapplers in Deutschland stattfinden könne, da keine Akten gegen ihn vorlägen. Eine Anforderung der Akten werde über das zuständige Bundesministerium der Justiz erfolgen. Allerdings müsse man davon ausgehen, dass auch bei nochmaliger Verurteilung Kapplers in Deutschland eine Anrechnung der in Italien verbüßten Gefängniszeiten erfolgen müsse. Angesichts dreißigjähriger Gefängnis- und Festungshaft sei eine nochmalige Untersuchungshaft eine unbillige Härte.
Möglicherweise habe sich die Ehefrau Kappler-Wenger bei der Durchführung der Fluchtaktion strafbar gemacht, doch dies sei italienisches Rechtsgut, der Straf- und Vollstreckungsanspruch obliege der Republik Italien.
Zwischen zwanzig und teilweise bis zu vierzig Journalisten waren zu dieser Zeit in Soltau, sie hatten sich im ersten Haus am Platze eingemietet und verbreiteten eine unglaubliche Hektik in dem ansonsten so beschaulichen Ort. Vor allem die Italiener unter ihnen waren nicht wohlgelitten. Nach Beschwerden von Touristen habe man sie kurzerhand hinauswerfen müssen, erklärte der Eigentümer des Hotels. Überhaupt waren die Arbeitsbedingungen der überregionalen Presse alles andere als optimal. Die eine Amtsleitung des Hotels war ständig besetzt und wer auf die Idee kam, vom Postamt aus die auswärtigen Redaktionen kontaktieren zu wollen, musste sich auf ellenlange Wartezeiten vor den Telefonzellen einstellen.
Alle waren auf der Jagd nach Infos über Herbert Kappler. Hinzu kamen mehrere Aufnahmeteams deutscher und ausländischer Fernsehanstalten, die natürlich alle versuchten, an sendefähige Bilder und entsprechendes Nachrichtenmaterial zu kommen. Dieses Bestreben trieb seltsame Blüten. So meinte man, im Schaufenster der örtlichen Buchhandlung ein Foto Herbert Kapplers entdeckt zu haben – tatsächlich zeigte es aber den Schriftsteller Hermann Hesse.
Die Geheimhaltung des Aufenthaltsortes Kapplers in der Wohnung seiner Ehefrau war unter diesen Umständen nicht mehr möglich. Die Vögel pfiffen es buchstäblich von den Dächern und so drehte sich das polizeiliche Interesse an Kappler um 180 Grad. Hatte man in den Stunden nach seiner Flucht noch nach ihm gefahndet, so war innerhalb kürzester Zeit der Schutz seiner Person und seiner Umgebung das Ziel polizeilicher Tätigkeit geworden. Zur besonderen Absicherung des derart im öffentlichen Interesse stehenden Flüchtigen wurde das Sondereinsatzkommando (SEK) aus Hannover angefordert. Gemeinsam mit anderen ortskundigen Beamten und dem Ehepaar Kappler plante Einsatzleiter Breit die Umquartierung in ein sichereres und besser zu schützendes Objekt in unmittelbarer Nähe zu Soltau.
Die Wahl fiel auf die Pockenisolierstation in Ebstorf. Hier wurde der erste Unterschlupf Herbert Kapplers eingerichtet.
Die zentrale Quarantäneeinrichtung des Landes Niedersachsen, ausgelegt für die Aufnahme von bis zu siebzig Pockeninfizierten, lag in einem gut abzuschirmenden Areal in der Nähe eines Klostergutes bei Uelzen. Die Einrichtung war für die sofortige Aufnahme von Erkrankten vorbereitet, es gab Isoliersysteme für die Trennung von Patienten und Personal, da man auf die Isolierung hochinfektiöser, als Kampfstoff eingesetzter bakteriologischer Erreger eingerichtet war. Alles lief hoch effizient organisiert. Die Alarmpläne für Infektionen und Pockenerkrankungen stellten sicher, dass kurze Informationswege zu anderen Behörden und Polizeidienststellen bestanden.
Polizeihauptkommissar Breit vom Polizeiabschnitt Soltau-Fallingbostel stand neben dem Ehepaar Kappler in einem der Isolierzimmer.
„Kein Mensch wird Ihren Mann hier in dieser Einrichtung vermuten“, sagte er an Frau Kappler gewandt. „Dieser Ort ist optimal für den Schutz der persönlichen Unversehrtheit Ihres Mannes und zum ersten Krafttanken nach den anstrengenden Stunden geeignet.“
Anneliese Kappler-Wenger war wohl zu erschöpft, um noch großen Widerstand gegen diese Art der Unterbringung zu leisten.
„Es ist ja schon eine Zumutung, ich will meinen Mann zu Hause haben. Er hat dreißig Jahre lang unschuldig für sein Vaterland in Quarantäne gesessen.“ Sie hielt ihren Kopf müde durch die rechte Hand gestützt, mit drei Fingern ihre Stirn massierend. „Ich kann nicht mehr. Herbert, sag du doch auch einmal was.“
„Ach Liebes, die Beamten werden schon wissen, wie sie im ersten Ansturm der Itaker und der Journaille agieren müssen. Die kennen die örtlichen Gegebenheiten.“ Er streichelte seiner Frau über den Kopf. „Beruhige dich, die Kameraden werden uns auch hier nicht im Stich lassen.“
Polizeihauptkommissar Breit sprach ebenfalls auf die ermüdete Ehefrau ein: „Liebe Frau Kappler, wir wollen doch den grandiosen Erfolg Ihrer Unternehmung nicht in Gefahr bringen!“ Er versuchte, ihr beruhigend über die Schulter zu streichen. „Zunächst müssen wir den ersten zu erwartenden Proteststurm und die Attacken auf Leib und Leben Ihres Mannes abwarten. In Soltau können wir für seine und Ihre Sicherheit nicht garantieren. Hier aber in Ebstorf haben wir die nötige Abgeschiedenheit und Ruhe, um die Schreihälse in aller Gelassenheit und durch den polizeilichen Schutz ins Leere laufen zu lassen. Alle vermuten Sie und Ihren Ehemann schließlich in Soltau.“
Anneliese Kappler-Wenger konnte sich diesen Argumenten nicht länger widersetzen. Sie wandte sich an den Polizeibeamten: „Ich wäre Ihnen und Ihren Kollegen sehr verbunden, wenn Sie uns nun allein lassen würden. Trotzdem vielen Dank für alles.“
Die aus Sicht der politischen Entscheidungsträger und der Polizeibehörden optimalen Bedingungen sollten allerdings nur kurze Zeit von Bestand sein. Die Tarnung hielt nicht einmal vierundzwanzig Stunden, dann war sie durch Indiskretionen des Personals der Pockenstation aufgeflogen. Die Kapplers wurden zurück nach Soltau verbracht.
Die Verlegung erfolgte in der Nacht zum 18. August nach einem vorab exakt erarbeiteten Durchführungsplan und wurde weder von Journalisten noch von Bürgern erkannt.
In der Dienststelle der Polizei Backnang klingelte das Telefon.
Der diensthabende Beamte meldete sich.
„Polizei Backnang.“
„Guten Abend. Hier spricht Elfriede Behm, die Ehefrau des Schmuckgroßhändlers Helmut Behm. Mein Schwager aus Gütersloh hat mir mitgeteilt, dass sich im Augenblick italienische Terrorkommandos in Deutschland befinden, die Rache für die Flucht von Herbert Kappler nehmen wollen.“
„Wie kann Ihnen die Polizei Backnang hier weiterhelfen?“
„Meine Familie ist eng mit dem Ehepaar Kappler befreundet und ist in die Kappler-Flucht direkt eingebunden, mein Mann befindet sich im Augenblick in Niedersachsen, in Soltau, ich bin allein zu Hause und verlange polizeilichen Schutz. Ich habe Angst um meine Familie.“
„Bitte haben Sie einen Moment Geduld, wir müssen erst Rücksprache mit unserer vorgesetzten Behörde halten, wir sehen aber kein Problem darin, unsere Beamten im Außendienst auf Ihren erhöhten Schutzbedarf hinzuweisen und die Kontrollgänge im Umfeld Ihres Wohnhauses zu verstärken. Wir melden uns wieder bei Ihnen.“
„Ich bitte Sie zu berücksichtigen, dass ein Fahrzeug eines unserer Besucher schon vor knapp einem Jahr Ziel eines Anschlages mit Feuerwerkskörpern gewesen ist und auch unser Briefkasten Ziel von Attacken war.“
„Ja, Frau Behm, diese Vorgänge aus dem letzten Jahr sind uns natürlich bekannt. Wir haben erhöhten Eilbedarf für die Entscheidung nach verstärktem Schutz für Ihre Familie angezeigt. Gehen Sie bitte davon aus, dass alles in Ihrem Sinne geregelt wird. Vorerst sind unsere örtlichen Beamten angewiesen, im Sinne Ihrer Sicherheit zu handeln.“
Das Wohnhaus der Behms war ohnehin durch eine optische und eine akustische Alarmanlage gesichert, zwei Wachhunde sorgten für einen zusätzlichen Schutz gegen Eindringlinge. Der eigentliche Grund für den festungsartigen Ausbau des Wohnhauses im Schwäbischen war ein großes Schmucklager, das der Großhändler Behm hier für sein Unternehmen unterhielt.
Nach der gelungenen Flucht Kapplers war die fünfzehnjährige Tochter der Behms sofort aus der Schule genommen und bei einem befreundeten Ehepaar in Stuttgart untergebracht worden. Eine in der Familie aufgenommene Austauschschülerin aus Großbritannien, die gar nicht wusste, wie ihr geschah, wurde umgehend in ein Flugzeug gesetzt und nach Hause geschickt.
Nur eine Woche zuvor, am 11. und 12. August 1977, waren die Behms in Italien gewesen, angeblich um Geschäftsfreunde zu besuchen. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland hatte sich Behm, entgegen seiner ursprünglichen Planung, nur drei bis vier Tage zur Unterstützung von Kappler und seiner Ehefrau in Soltau zu bleiben, entschlossen, aufgrund der nicht überschaubaren Sicherheitslage in Backnang seinen Wohnort auf unbestimmte Zeit nicht aufzusuchen.
Er berichtete seiner Ehefrau telefonisch von ständigen Drohanrufen in Soltau, betonte aber den optimalen Schutz der Soltauer Villa durch Sicherheitskräfte. Aufgrund seiner langjährigen Unterstützung für Anneliese Kappler-Wenger und seinen ehemaligen Vorgesetzten bei der Gestapo in Rom sah er sich als gefährdete Person. Er begrüßte es daher außerordentlich, dass die Backnanger Polizei sich dazu entschlossen hatte, einen Beamten mit Funkgerät im Hause Behm unterzubringen.
Geradezu erbost reagierte er allerdings, als er von seinem Studienkollegen Mecklinger in einem persönlichen Gespräch erfahren musste, dass der zuständige Oberstaatsanwalt in Lüneburg seinen, Behms Namen, an die Presse weitergegeben habe, in diesem Fall an die Illustrierte „Stern“. Dazu habe er bemerkt: „Der weiß alles“. Daraufhin schlich sich tatsächlich ein „Stern“-Reporter mit dem Hinweis auf die Oberstaatsanwaltschaft Lüneburg unter falschem Namen in das Haus Kapplers ein.
Mecklinger, dessen Fahrzeug damals Ziel des Anschlages mit Feuerwerkskörpern vor dem Hause Behms gewesen war – er war zu dieser Zeit Berichterstatter der „Bild-Zeitung“ im Baader-Meinhof-Prozess gewesen –, reagierte erleichtert auf die Feststellung Behms, die Sicherheitslage in Backnang sei überschaubar und sicher.
„Gefahr droht allenfalls durch die vielen italienischen Gastarbeiter!“
Da ein neuer Aufenthaltsort für das Ehepaar Kappler gefunden werden musste, schaltete sich Rechtsanwalt Aschenbauer in die Vermittlung ein. In Absprache mit dem Leiter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes Dr. Thürck wurden mehrere Varianten durchgespielt. Die Wahl fiel auf einen Vorschlag Aschenbauers, der ein kleines Kreiskrankenhaus im westfälischen Lohne vorschlug. Die ärztliche Leitung der Einrichtung war ebenfalls mit der Verlegung einverstanden.
Allerdings ließ sich die ursprünglich per Hubschraubereinsatz geplante Überführung nicht ohne größeres Aufsehen realisieren. Die Landung des Hubschraubers und sein Abflug hätten in Soltau nicht mit der als notwendig eingeschätzten Diskretion stattfinden können. Also wurde stattdessen ein gesondert gesicherter Konvoi verschiedenster Fahrzeuge über Bundesstraßen in Richtung Nordrhein-Westfalen organisiert.
Die Überführung begann in den frühen Morgenstunden.
Schon während der Fahrt wurde deutlich, dass Frau Kappler mit dieser Verlegung keineswegs einverstanden war.
„Ich halte es für vollkommenen Blödsinn, mich und meinen Mann nach Lohne zu verfrachten! Wir protestieren entschieden gegen diese Verlegung. Ich kann ihn zu Hause wesentlich besser betreuen.“
Um 5.45 Uhr traf die ungewöhnliche Kolonne am Kreiskrankenhaus Lohne ein. Während der Fahrt hatte das Ehepaar Kappler trotz allem einige wenige Minuten der Ruhe gefunden, aber der inzwischen mehrfach ausgedrückte Ärger der Ehefrau brach sich bald Bahn.
Chefarzt Dr. Konejung hatte sich zu dieser frühen Uhrzeit bereits in sein Krankenhaus und dort in die Onkologie- Station begeben, um das Ehepaar persönlich zu empfangen. Schon von Ferne sah er eine Gruppe weißgekleideter Personen auf dem Krankenhausflur stehen, von denen einige heftig gestikulierten. Das anwesende Pflegepersonal begrüßte ihn mit verzweifelten Blicken und Achselzucken.
Die Tür zu dem für Herbert Kappler vorgesehenen Zimmer war geöffnet. Kappler selbst saß müde lächelnd in seinem Rollstuhl, das Krankenbett war unbenutzt, seine Ehefrau hatte sich seitlich neben ihm aufgebaut, walkürenhaft und kampfbereit.
Eine der auf dem Gang stehenden Krankenschwestern versuchte die Situation zu erklären.
„Frau Kappler-Wenger ist mit der Unterbringung nicht einverstanden!“
„In der Tat“, ließ sich diese vernehmen, „dieses Zimmer und überhaupt die ganze Unterbringung, so weit von Soltau entfernt, das ist eine Zumutung. Ich protestiere entschieden und lehne einen weiteren Aufenthalt hier ab.“
Der Chefarzt versuchte die aggressive Stimmung, die sich zwischen dem Pflegepersonal und dem Ehepaar Kappler deutlich spürbar aufgebaut hatte, zu entschärfen.
„Liebes Ehepaar Kappler, wir heißen Sie beide ganz, ganz herzlich in unserem Hause willkommen. Wir versuchen Ihnen,“ er schaute zu der Ehefrau, „den Aufenthalt hier in Lohne trotz aller Widrigkeiten so entspannt und vor allen Dingen sicher“, jetzt schaute er zu Herbert Kappler, „wie möglich zu gestalten. Alle Beteiligten hier im Krankenhaus, die örtliche Polizei und die eingeschalteten Behörden sowohl des Landes als auch des Bundes werden das Menschenmögliche tun, um Ihnen, Kamerad Kappler“, der Endfünfziger hielt erschrocken inne, „um Ihnen, Herr Kappler, die Heimkehr nach Deutschland so angenehm wie möglich zu machen.“
Herbert Kappler nickte dankbar und schaute auf seine Ehefrau, die wohl nur darauf gewartet hatte, dem Chefarzt die ihrer Meinung nach angemessene Antwort zu geben.
„Ich finde es unglaublich, dass mein Mann und ich gegen unseren Willen hierher verfrachtet worden sind. Das Gerede über eine Gefahr im Verzuge ist doch nur vorgeschoben. Bringen Sie uns sofort wieder nach Soltau zurück. Hier bleiben wir keine Minute länger.“
„Aber Frau Kappler, gehen Sie doch bitte davon aus, dass alle Verantwortlichen nur eines im Sinn haben: Gefahr für Leib und Leben von Ihnen beiden abzuwenden. Die Risiken in Soltau waren einfach nicht mehr überschaubar.“
„Papperlapapp, hören Sie mir auf mit diesem Geschwafel über fehlende Sicherheit. Es geht mir nur um die Gesundheit meines Mannes. Ich kann ihn am besten in meiner eigenen Praxis und in meinen eigenen vier Wänden pflegen und wieder in Schwung bringen nach dieser unmenschlich langen Gefängnishaft.“
„Wir können Ihnen garantieren, dass unsere Onkologie hervorragende Therapiemöglichkeiten anbietet. Sie können hier auf hochqualifiziertes Personal und gegebenenfalls kurzfristig nötige Notfallmedizin zurückgreifen.“
„Mein Mann braucht vor allen Dingen seine vertraute Umgebung, bekannte Gesichter und ein intaktes Umfeld. Nichts davon kann er hier bekommen.“
„Wir versichern Ihnen nochmals, dass wir alles Menschenmögliche tun werden, um Ihrem Mann eine ihm angemessene Heimkehr zu ermöglichen.“
„Ihren guten Willen stelle ich gar nicht in Zweifel. Ich bezweifle nur, dass mein Mann hier wirklich sicher untergebracht ist, dass keine Informationen über seinen Gesundheitszustand nach außen dringen und vor allen Dingen negative Elemente ferngehalten werden können.“
„Was wollen Sie damit sagen?“
„Ich will damit sagen, dass ich nicht sehe, dass in einem öffentlichen Krankenhaus alle meinen Mann betreffenden Informationen nach außen hin abgeschottet bleiben können und dass damit der Therapieerfolg gefährdet ist.“
„Unser Personal ist zur absoluten Verschwiegenheit verpflichtet worden.“
„Meinen Sie, wir schlafen in der Heide noch auf Bäumen? Wenn die Reporter der Presse mit Geldscheinen winken, wird ein Schwestern- oder Pflegerherz schnell einmal weich!“
„Das ist eine unverschämte Unterstellung,“ Dr. Konejung fiel es schwer, die Contenance zu bewahren. „Ich denke, unter diesen Umständen wird es besser sein, Sie nehmen Ihren Mann und verlassen unser Krankenhaus auf dem schnellsten Weg wieder Richtung Soltau. Ohne gegenseitiges Vertrauen wird keine Therapie helfen. Auf Wiedersehen!“
Ohne das Personal der Klinik noch eines weiteren Blickes zu würdigen, eilte Anneliese Kappler-Wenger mit ihrem Herbert im Rollstuhl zum Fahrstuhl zurück, fuhr in die Parkgarage der Einrichtung, wo die Fahrzeuge der Überführungskolonne noch bereitstanden. Man wartete auf die Meldung der Aufnahme Kapplers in diesem Krankenhaus.
Frau Kappler wandte sich unverzüglich an den Chef des Begleitkommandos und sagte: „Meine Herren, das Gleiche bitte noch einmal. Diesmal aber in umgekehrter Richtung!“
Polizeihauptkommissar Breit kontaktierte sofort den verantwortlichen Kommandeur der Schutzpolizei in Lüneburg, um die Order zu erhalten, wie in der neuen Lage zu agieren sei.
„Na, dann sehen Sie zu, Breit, wie Sie die Kapplers auf schnellstem Wege wieder nach Soltau zurückbringen. Alle für die Hinreise festgelegten Sicherheitsmaßnahmen gelten auch für die Rückfahrt.“
Die Nachricht vom Aufbruch der Kapplers hatte inzwischen auch das nordrhein-westfälische und das niedersächsische Innenministerium erreicht und wurde vom zuständigen Staatssekretär lapidar mit den Worten „Jetzt haben wir den Salat!“ kommentiert.
Als neuer Anlaufpunkt wurde das Wohnhaus einer mit Anneliese Kappler-Wenger befreundeten Familie in Wietzendorf, in der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen, festgelegt.
Eine Sicherheitsprüfung fand noch während der Rückreise der Kolonne aus Lohne statt. Am späteren Vormittag zog das Ehepaar Kappler dort ein. Wie zuvor in Soltau wurden spezielle Schutzmaßnahmen in Form eines erweiterten Objektschutzes sowie zusätzlicher Raumschutzstreifen eingerichtet.
Als positiv wurde seitens des niedersächsischen Innenministeriums sowie des Regierungspräsidiums Lüneburg die Tatsache bewertet, dass die Abreise nach Westfalen ebenso wie die ungeplante Rückkehr in die Heide von der Öffentlichkeit und der Presse unbemerkt über die Bühne gegangen waren und beide Aufenthaltsorte Kapplers hatten geheim gehalten werden können.
In Soltau, in gebührender Entfernung also zum Standort der Kapplers, regte sich indes politische Öffentlichkeit aller Schattierungen. Es gab eine vom Kommunistischen Bund aus Hamburg durchgeführte Demonstration, die jedoch friedlich blieb. Man vermutete, dass die offen zur Schau gestellte massive Polizeipräsenz daran einen entscheidenden Anteil hatte.
Einen Tag später erfolgte ein Aufmarsch der Aktionsfront Nationaler Sozialisten des Bundeswehrleutnants Michael Kühnen vor dem Haus in der Wilhelmstraße. Die fünf jungen Männer posierten breitbeinig als vermeintliche Schutzwache vor dem Haus der Kapplers. Gekleidet waren sie in schwarze Lederjacken, am Gürtel trugen sie das SS-Zeichen und genossen die Aufmerksamkeit der anwesenden Presse. Es waren kleine Schrifttafeln zu erkennen, die die selbsternannte Schutzwache hoch hielt. „Deutsche wacht auf!“ wurde da gefordert und behauptet, dass „Kommunisten und Juden“ Kappler in die Luft sprengen wollten. Der Einsatzleiter der Polizei bat um eine Personenüberprüfung und Erkenntnismitteilung per Fernschreiben.
Für das Wochenende wurden Verkehrsbehinderungen wegen angekündigter Demonstrationen und des Urlaubsreiseverkehrs durch das anstehende Heideblütenfest angesagt, dem Großraum Lüneburg drohte das totale Chaos.
Ein Hamburger VW-Bus wurde beobachtet, aus dessen Inneren eine Person per Schablonen Anti-Nazi-Parolen an Hauswände sprühte.
Die Wellen nach Kapplers Verschwinden aus italienischer Haft schlugen also hoch und waren durch intensive diplomatische Konsultationen zwischen deutschen und italienischen Behörden und Ministerien geprägt. Die italienische Regierung forderte Hausarrest für Herbert Kappler und die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen ihn in Deutschland.
Natürlich war die Flucht auch Thema der internationalen Presse und, insbesondere in Italien, ein Anlass für das Aufleben antideutscher Ressentiments. Massive Proteste der Veteranenverbände des Widerstands und linker Parteien gingen einher mit der Forderung nach sofortiger Auslieferung des verurteilten Kriegsverbrechers.
Wir geben ihn erst wieder heraus, wenn Andreas Baader und die anderen Gefangenen der RAF freigelassen werden! Es lebe Ulrike Meinhof!“
Erste Analysen der Umstände der Flucht machten deutlich, dass die Helfershelfer Kapplers einen ausgesprochen günstigen Zeitpunkt für ihre Aktion gewählt hatten. Im Umfeld des Ferragosta-Festes, dem Marienfeiertag Mitte August, war die italienische Polizei vor allen Dingen mit der Bekämpfung von Einbrechern und Taschendieben beschäftigt. Geschäfte und Gaststätten waren geschlossen, kein Mensch, insbesondere Ministerialbeamte, arbeitete. An den Küsten lagen tausende Motorboote und Segelyachten. Der starke Reiseverkehr machte Straßensperren und Kontrollen unmöglich. Die italienischen Sicherheitsbehörden befanden sich also im Ruhemodus, sodass sich eine Gruppe von Touristen in diesem Umfeld völlig unbeachtet hatte bewegen können.
In Deutschland wurden verstärkt polizeiliche Maßnahmen zum Schutz von Gebäuden und Einrichtungen, aber auch zum konkreten Personenschutz ergriffen.
Vermeintliche Trittbrettfahrer hielten die Polizeibehörden zusätzlich in Atem. So erhielt die italienische Nachrichtenagentur ANSA den Anruf einer bisher unbekannten „Organisation Roter Morgen“: „Wir haben Kappler! Wir geben ihn erst wieder heraus, wenn Andreas Baader und die anderen Gefangenen der RAF freigelassen werden! Es lebe Ulrike Meinhof!“
Die Meldung, ein „Kommando Neue Partisanen“ sei in Stuttgart und Hamburg eingetroffen, sorgte zusätzlich für Aufregung. Das bisher unbekannte Kommando drohte mit Rache für die Flucht in Form von Anschlägen auf Konsulate. Zwar konnte das Landeskriminalamt Niedersachsen keine direkte Verbindung zwischen diesen angedrohten Aktionen feststellen, ordnete aber sicherheitshalber an, Zivilpolizisten als Objektschützer in Soltau einzusetzen. Und während dann Zivilpolizist „Cäsar 021“ meldete, dass sich im Soltauer Hotel Meyn, etwa vierhundert Meter vom Objekt entfernt, fünf Italiener und ein Österreicher eingemietet hätten, kündigte ein anderer Anrufer beim Soltauer Stadtdirektor die „Ausräucherung der Wilhelmstraße“ an.
Etwa zur selben Zeit teilte die Leitende Oberstaatsanwaltschaft Lüneburg dem Lagezentrum im Innenministerium in Hannover mit, dass die Nachrichtenagentur Reuters zwei Kommandos auf dem Weg von Italien nach Deutschland gemeldet habe, mit dem Ziel, in Deutschland eine besondere Persönlichkeit zu entführen. Man wünschte eine Verstärkung des Streifendienstes in den Wohnbereichen gefährdeter Personen des öffentlichen Lebens.
Bei der deutschen Botschaft in Rom ging die in solchen Fällen unvermeidliche Bombendrohung ein Und die Bild-Zeitung erhielt einen Brief, in dem man für den Fall des Todes Herbert Kapplers die Ermordung von zehn Italienern androhte, weil Kappler bei guter medizinischer Betreuung ungleich länger hätte leben können. In der italienischen Zeitung „Domenico del Corriere“ indes erschien ein Interview mit dem Gründer des „Hilfskomitees Freiheit für Herbert Kappler“, der jegliche Beteiligung an der Befreiung des Inhaftierten bestritt, allerdings gleichzeitig als Kontaktperson für die „Vereinigten Helferkreise für die letzten deutschen Kriegsgefangenen und Kriegsverurteilten“ fungierte. In der Zeitung gab er nun die Auflösung seines Hilfskomitees bekannt: Da Herbert Kappler in Freiheit sei, habe sich der Sinn seiner Organisation erledigt.
Daneben drohten die Verfasser eines aus zusammengestückelten Buchstaben bestehenden Drohbriefs einer Organisation namens ODESSA-Ost aus Vilshofen, beim Tod von Kapplers fünf Juden zu ermorden. Ein „Kommando Fosse Ardeatine“ dagegen forderte, den mitgelieferten Aufruf zur Auslieferung Kapplers in der Bild-Zeitung zu veröffentlichen, ansonsten würden 335 Geiseln in Deutschland umgebracht.
Die italienische Regierung forderte Hausarrest für Herbert Kappler und die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen ihn in Deutschland.
In einer ersten Auswertung der durchgeführten Maßnahmen wie die geheim gehaltenen Aufenthaltsorte, die taktischen Täuschungen beim Wechsel des Aufenthaltsortes sowie die verdeckte Objektüberwachung wurde die größtmögliche Sicherheit für das Ehepaar Kappler konstatiert. Der berufliche Alltag von Anneliese Kappler-Wenger als selbständig praktizierende Heilpraktikerin sowie das weiterhin existierende Medieninteresse lösten jedoch einen regen Publikumsverkehr im Hause Wilhelmstraße 6 aus.
Man traf die Vereinbarung, dass der Zutritt zur Praxis erst nach Sichtkontrolle durch den Türspion erfolgen sollte. Elf Personen wurde der Einlass verwehrt und es wurde eine Personenüberprüfung vorgenommen. Es handelte sich um acht deutsche Journalisten sowie drei italienische Staatsbürger.
Die sichere Situation des Ehepaares Kappler änderte sich Ende August schlagartig, da Frau Kappler entgegen dem polizeilichen Rat sowohl ihre alte Wohnung bezogen als auch den stadtbekannten Opel Commodore wieder aktiviert hatte. Dieser Opel Commodore war aus Sicherheitsgründen stillgelegt und an einem geheimen Ort abgestellt worden. Trotz aller Warnungen hatte sie ihn nun jedoch beim Straßenverkehrsamt Fallingbostel erneut zugelassen.
Der Commodore hatte bei der Flucht aus Italien als Fluchtfahrzeug gedient und waren seitdem wiederholt Halteranfragen von italienischen Staatsbürgern sowie Behörden an das zuständige Straßenverkehrsamt gestellt worden. Als Konsequenz zu diesen Anfragen aus Italien wurde von der Polizei ein Sperrvermerk für Halterauskünfte veranlasst. Zum Ende August 1977 musste die Einsatzleitung in Soltau feststellen, dass Anneliese Kappler-Wenger keineswegs gewillt war, sich den sicherheitspolizeilichen Überlegungen zu unterwerfen. Im Gegenteil, sie gewährte einem Fernsehteam unter Leitung des bekannten Journalisten Franz Alt sowie drei weiteren Personen aus Soltau Zutritt zu ihrem Haus.
Hinweise der zuständigen Polizeibeamten auf gegebene Gefahren ignorierte sie mit dem Hinweis: „Ich habe keine Angst und der Rest interessiert mich nicht!“
Im Innenministerium des Landes Niedersachsen kam man Anfang September 1977 aufgrund der vorhandenen Erkenntnisse zur Gefährdung des Ehepaares Kappler zu dem Schluss, dass von einer konkreten Gefahr, wenn nicht sogar Lebensgefahr ausgegangen werden musste.
Die Behörden wurden verpflichtet, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um gegen Störer sowie gegebenenfalls auch, wenn nicht anders möglich, gegen Nichtstörer vorgehen zu können.
Die Kontrolle von Besuchern wurde als grundsätzlich zulässig und geboten eingeschätzt. Falls die Sicherheit nicht anderes gewährleistet werden könne, solle auch die Bewegungsfreiheit des Ehepaares Kappler durch sicherheitspolizeiliche Maßnahmen eingeschränkt werden.
Grundsätzlich wurden folgende Maßnahmen angeordnet:
- Identitätskontrollen
- Im Verdachtsfall Durchsuchung der Personen und der mitgeführten Sachen. Bei weiblichen Verdächtigen Hinzuziehung weiblichen Polizeipersonals.
-Halterfeststellungen bei fremden Kraftfahrzeugen mit fremden Kennzeichen.
Zu diesem Zeitpunkt waren rund um die Uhr örtliche Polizeikräfte und das SEK aus Hannover am Objekt im Einsatz. Zusätzlich wurden Bestreifungen durch Zivilfahrzeuge im engeren Bereich sowie die Einrichtung einer Ringalarmfahndung organisiert und durchgeführt.
Anneliese Kappler-Wenger erklärte, sie nehme eine Gefährdung für sich und ihren Ehemann in Kauf, doch das änderte nichts an der grundsätzlichen rechtlichen Würdigung. Schließlich war die Polizei dazu verpflichtet, tätig zu werden, wenn es um die Verhütung von drohenden Gefahren für wesentliche Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit oder Freiheit ging. Daher wurde von den leitenden Behörden darum gebeten, diese Rechtsauffassung bei der Planung und Durchführung eigenverantwortlicher Maßnahmen der zuständigen Behörden in jedem Fall zu berücksichtigen.
Auch der „Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen Deutschlands e. V.“ forderte vom Bundesministerium des Innern Sicherheitsmaßnahmen gegen eine Entführung des Ehepaares Kappler.
Zur selben Zeit fand sich im Firmenbriefkasten des Schmuckgroßhandels Behm ein direkt an den Firmeninhaber adressierter DIN-A4-Umschlag ohne Absender, aber auch ohne Inhalt.
Für Helmut Behm war klar, was zu tun war. Er setzte sich in seinen Mercedes, fuhr ins nahegelegene Zentrum der schwäbischen Kleinstadt, suchte sich am Marktplatz eine Telefonzelle und wählte eine Telefonnummer in Nordrhein-Westfalen.
„Ja, bitte?“
„Hier Behm, ich sollte mich bei Ihnen melden.“
„Ah, Kamerad Behm, bleiben wir doch beim Du unter uns Kameraden.“
„Natürlich gern.“
„Ausgezeichnete Arbeit dort in Rom. Hätte nicht besser laufen können. Gab es trotzdem irgendwelche Probleme?“
„Hatte Probleme mit meinem Auto, aber die jungen Kameraden haben das Programm wie geplant durchgezogen und Kamerad Kappler wieder in die Heimat verbracht. In Soltau gab es dann den erwarteten Ärger. Aber die Behörden in Niedersachsen spielen mit.“
„Na, das haben wir doch gut überstanden, die Politiker spuren, der Sturm wird sich bald legen.“
„Meine Familie in Backnang hatte zeitweise direkten Polizeischutz. Ich habe mich ein paar Tage länger als geplant dort nicht blicken lassen, aber jetzt ist alles ruhig.“
„Unsere Kameraden bei der Polizei werden dafür sorgen, dass weder bei euch noch in Soltau irgendwelche Sicherheitsprobleme entstehen. Nun zum Wesentlichen: Die Führung ist ausgesprochen angetan von der professionellen Vorbereitung und dem reibungslosen Ablauf der Aktion. Einen herzlichen Glückwunsch an dich und an die jungen Kameraden.“
„Danke, Kamerad, das freut mich natürlich sehr.“
„Sage den jungen Getreuen, dass das Geld bereits wir wie vereinbart auf das Konto in der Schweiz überwiesen haben und sie darüber verfügen können.“
„In Ordnung, ich denke, dass wir auch in Zukunft auf diese Kameraden zurückgreifen können, falls es einmal notwendig sein sollte.“
„Schau dich um in Europa, Kamerad Behm, die Frage beantwortet sich von selbst.“
Es klickte in der Leitung, das Gespräch war beendet.
Ebenfalls im September begann die Zeitschrift „Bunte“ mit der Veröffentlichung einer Artikelreihe über die Flucht Herbert Kapplers. Durch Vermittlung des Soltauer Bürgermeisters hatte Anneliese Kappler-Wenger einen Vertrag mit der Medienagentur „action press“ abgeschlossen, die die Verwertung der Rechte an exklusiven Informationen an den Meistbietenden zum Ziel hatte.
Nach langer Feilscherei hatte die Publikation aus der Burda-Verlagsgruppe den Zuschlag erhalten. Angeblich sollten dabei einige hunderttausend D-Mark als Honorar geflossen sein.
Die Version der Ehefrau über die Fluchtumstände strotzte jedoch nur so von Ungereimt- und Halbwahrheiten. Viele Angaben waren nicht plausibel, hielten einer Nachrecherche durch investigative Journalisten nicht stand und dienten wohl nur dem Zweck, den tatsächlichen Ablauf der Flucht zu verdecken. Die mutige Tat der liebenden Ehefrau war das, was die deutsche Seele lesen wollte, nicht die Infos über finstere Mächte und Netzwerke von Alt- und Neonazis.
Die überregionale Presse hatte inzwischen die Berichterstattung eingestellt und die Bürger Soltaus hatten sich an die SEK- Beamten auf dem Grundstück der Kapplers gewöhnt. Lediglich im Ausland, insbesondere in Italien und in kommunistisch orientierten Zeitungen und Zeitschriften, wurde der Fall Kappler noch intensiv behandelt. Somit konnten die zuständigen Polizeibehörden eine von langer Hand vorbereitete Aktion gegen Kappler nicht ausschließen.
Über einhundert Kennzeichenüberprüfungen samt Halterfeststellungen waren bislang durchgeführt worden, jedoch alle ohne weitere Verdachtsmomente.
Die Personenkontrollen und Durchsuchungen in der Wilhelmstraße verliefen derweil ohne Schwierigkeiten. Die Besucher der Praxis ließen die Kontrollen klaglos über sich ergehen und so lagen Ende September 1977 keine Anhaltspunkte für eine konkrete Gefährdung des Objekts in Soltau und seiner Bewohner mehr vor.
Ab Mitte September unternahmen die Kapplers auch wieder tägliche Fahrten in nahe gelegene Ausflugsgebiete der Lüneburger Heide. Während dieser Fahrten erhielten sie Personenschutz durch das SEK.
Anlässlich Kapplers 70. Geburtstag am 23. September 1977 wurde die Gästeliste durch das Landeskriminalamt Niedersachsen geprüft. Dabei stellte man fest, dass die Begleiterin des an der Feier teilnehmenden Neffen von Herbert Kappler, eine Hilde Frommer aus München, Betriebsrätin bei Siemens war. Laut dem Bayrischen Verfassungsschutz wurden ihr enge Kontakte zu den als linksradikal eingestuften Arbeiterbasisgruppen nachgesagt, sie sei als linke Agitatorin bei Siemens aktiv geworden. Allerdings gab es keine kriminalpolizeiliche Erfassung und so konnte eine unmittelbare Gefährdung für Kappler nicht festgestellt werden. Die Feier selbst fand ohne Zwischenfälle im engeren Familienkreis statt. Presse und Öffentlichkeit nahmen keine Notiz.