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Die zerschundene Leiche eines Mannes wird im Grenzgebiet zwischen Deutschland und Tschechien in der Elbe gefunden. Es gibt keine Hinweise auf seine Identität. Bei der Obduktion wird in seiner Kleidung eine Preziöse entdeckt. Deutsche und tschechische Polizisten tappen im Dunkeln. Durch einen Zufall gelingt es, dieses Kleinod dem Umfeld Benito Mussolinis zuzuordnen. Bei dessen Tod in Dongo am Gardasee verliert sich die Spur des von Mussolini und seiner Begleitung bei ihrer Flucht mitgeführten italienischen Staatsschatzes und vielerlei anderer persönlicher Wertgegenstände. Der Fund an der Elbe ist sechzig Jahre nach Kriegsende eine internationale Sensation. Der Hobbyhistoriker Hermann Weber recherchiert, ohne von dem Todesfall in Tschechien zu wissen, die Umstände der mysteriösen Flucht des Chefs der Gestapo in Rom, Herbert Kappler. An seiner Seite steht seine enge Freundin Rosa Cigara, eine international bestens vernetzte portugiesische Rechtsanwältin. Rosa hat in der Arbeit Hermanns eine Chance erkannt, Licht in ein dunkles Kapitel von Verrat und Denunziation zu bringen, das das Leben ihrer Familie nachhaltig beeinflusst hat. Die Recherchen führen das Paar in Archive in München und Prag. Hier stoßen sie auf tiefgehende Verflechtungen zwischen den kommunistischen Partisanen Italiens und den östlichen Geheimdiensten während des Kalten Krieges. Die in Tschechien und Deutschland ermittelnden Polizisten finden Informationen, die die Kooperation zwischen organisierter Kriminalität und Staatsführungen in Osteuropa belegen. Hermann und Rosa geraten ebenso wie die ermittelnde Polizei in das Räderwerk unterschiedlichster Interessen von Akteuren, die alles daran setzen, das Aufdecken der Wahrheit zu verhindern. Was harmlos mit historischer Neugier beginnt, entwickelt sich schnell zur tödlichen Bedrohung für alle ermittelnden Personen. Der Roman basiert auf wahren Geschehnissen.
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Seitenzahl: 428
Veröffentlichungsjahr: 2018
EDITION HERMANN WEBER
GERD BOHNE
DIEBROSCHE
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
© 2018 Gerd Bohne · www.edition-hermann-weber.de
Lektorat: Ursula Hahnenberg · www.lektorat-hahnenberg.de
Satz & Layout: PCS BOOKS · www.pcs-books.de
Fotos: Privat
Grafiken/Illustrationen/Collage: NaDi #25794614; Maik
Donsbach, Braunschweig
Portrait Gerd Bohne: Kai Ole Petersen, Hannover
Druck und Verlagsdienstleister: tredition GmbH,
Halenreie 40-44, 22359 Hamburg · www.tredition
1. Auflage
978-3-7469-8923-5 (Paperback)
978-3-7469-8924-2 (Hardcover)
978-3-7469-8925-9 (e-Book)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle in diesem Roman beschriebenen Ereignisse sind frei erfunden, obgleich sie im Zusammenhang mit historischen Fakten stehen. Die Personen der Zeitgeschichte sind fiktionalisiert. Organisationen, die in diesem Roman genannt werden, und ihre Verwicklung in die beschriebenen Ereignisse, sind frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen, mit Ausnahme der Personen der Zeitgeschichte, ist rein zufällig.
Inhaltsverzeichnis
Personenregister
Prolog09.08.2002, Decin/Tschechien
Zuvor …
28.08.2000, 11.00 Uhr, Stendal, Plattenbau
29.08.2000, 8.30 Uhr, Stendal, Hotel Schwarzer Adler
19.12.2000, 19.00 Uhr, Prag, Hotel Duo
08.06.2001, 14.00 Uhr, Lulea/Schweden
12.10.2001, 14.00 Uhr, Lazne Kyselka/Gieshübl-Sauerbrunn
26.06.2002, 9.30 Uhr, Jerichow
26.06.2002, 15.00 Uhr, Usti nad Labem
27.06.2002, 13.30 Uhr, Chur/Schweiz
24.07.2002, 10.30 Uhr, Jerichow
25.07.2002, 10.15 Uhr, Burgdorf/Hannover
02.08.2002, 10.00 Uhr, Magdeburg, Rasthof Börde
03.08.2002, 17.30 Uhr, Usti n. L.
05.08.2002, 9.30 Uhr, Jerichow
08.08.2002, 11.00 Uhr, Jerichow
Sonntag, 11.08.2002
10.45 Uhr, Königstein, Sächsische Schweiz,
18.30 Uhr, Dresden
20.45 Uhr, Dresden, Polizeipräsidium
23.0 Uhr, Dresden, Polizeipräsidium
Montag, 12.08.2002
9.00 Uhr, Burgdorf/Hannover
11.30 Uhr, Kriminalpolizei, Usti n. L./Aussig
14.30 Uhr, Usti n. L.
17.00 Uhr, Usti n. L., Plattenbau Na Teraza
19.00 Uhr, Usti n. L., Na Teraza
20.00 Uhr, Usti n. L.
Dienstag, 13.08.2002
9.00 Uhr, Usti n. L.
10.00 Uhr, Usti n. L.
12.00 Uhr, Prag
16.45 Uhr, Usti n. L.
Donnerstag, 15.08.2002
10.30 Uhr, Usti n. L., Polizeiabschnitt Na Teraza
13.00 Uhr, Usti n. L.
14.45 Uhr, Melnik
15.45 Uhr, Most/Brüx, Tagebau Armada
18.30 Uhr, Melnik
21.15 Uhr, Prag, Rechtsmedizin
Freitag, 16.08.2002
9.00 Uhr, Usti n. L., Polizeipräsidium
10.45 Uhr, Usti n. L., Sparkasse
15.30 Uhr, Prag
Samstag, 17.08.2002
10.30 Uhr, Usti n. L., Polizeipräsidium
12.45 Uhr, Prag, Innenministerium
14.00 Uhr, Prag, Innenministerium
24.10.1944, 11.00 Uhr, Gardone, Villa Fiardolino
14.30 Uhr, Prag, Innenministerium
28.05.1957, 9.00 Uhr, Padua/Italien
15.00 Uhr, Prag, Innenministerium
27.10.1944, 15.30 Uhr, Gardone, Villa Fiardolino
15.30 Uhr, Prag, Innenministerium
16.00 Uhr, Prag, Innenministerium
16.30 Uhr, Prag
Montag, 19.08.2002
10.30 Uhr, Usti n. L., Polizeipräsidium
11.30 Uhr, Usti n. L., Polizeipräsidium
13.30 Uhr, Usti n. L., Polizeipräsidium
Freitag, 23.08.2002
14.00 Uhr, Prag, Vinohradsky
Donnerstag, 29.08.2002
8.30 Uhr, Usti n. L., Mordkommission
10.30 Uhr, Usti n. L., Polizeipräsidium Videoraum
11.00 Uhr, Usti n. L., Polizeipräsidium
Montag, 02.09.2002
17.00 Uhr, Usti n. L., Polizeipräsidium
27.10.1944, 23.00 Uhr, Meran (Südtirol)
28.10.1944, 5.30 Uhr, Gardone, Villa Fiardolino
Dienstag, 03.09.2002
9.30 Uhr, Dresden
10.00 Uhr, Usti n. L.
Mittwoch, 04.09.2002
09.30 Uhr, Usti n. L., Polizeipräsidium Mordkommission
11.30 Uhr, Usti n. L., Mordkommission
13.00 Uhr, Usti n. L., Mordkommission
15.00 Uhr, Prag, Hotel Duo Raum Vjesnik
16.00 Uhr, Prag, Hotel Duo
17.00 Uhr, Prag, Hotel Duo
18.00 Uhr, Prag, Hotel Duo
18.15 Uhr, Prag, Hotel Duo
18.45 Uhr, Prag, Parkplatz Hotel Duo
Freitag, 04.10.2002
13.00 Uhr, Dresden, Heidefriedhof
Sonntag, 06.10.2002
12.00 Uhr, Burgdorf/Hannover
Mittwoch, 16.10.2002
22.00 Uhr, Burgdorf/Hannover
22.300 Uhr, Burgdorf/Hannover
Freitag, 15.11.2002
10.00 Uhr, München, Literaturarchiv Monacensia
25.4.1945, 9.00 Uhr Gardone, Villa Mirabella
Donnerstag, 05.12.2002
13.00 Uhr, Stendal
Freitag, 10.01.2003
10.00 Uhr, Prag, Geheimes Staatsarchiv des Innern
Sonntag, 12.01.2003
11.00 Uhr, Rovagnate, Lombardei, Italien
Danksagung
Abkürzungsverzeichnis
Der Autor
Personenregister
Hermann Weber, Deutscher Projektentwickler und Hobbyhistoriker
Rosa Cigara, Tschechische Rechtsanwältin mit aufregender Familiengeschichte
Egon Watepfuhl, nach Tschechien emigrierter deutscher Finanzfachmann
Marta Blinkova, Watepfuhls tschechische Partnerin mit stark entwickelten Eigeninteressen Gundolf Wernicke, Deutscher Unternehmer, hofft auf Hilfe von Watepfuhl
Reinhard Möckel, Kontaktmann von Watepfuhl und Freund von Wernicke
Dr. Remy Wöhler, Schweizer Jurist und Finanzfachmann
Urs Bertoli, Schweizer Finanzfachmann
Horst Liebscher, Deutscher Vermittler, Kontaktmann von
Watepfuhl
Zlatka Blinkova, Martas Mutter
Pavel Slansky, Tschechischer Unternehmer
Nguyen Van To, Vietnamesischer Unternehmer, Inhaber
einer Schneiderei
Petr Koral, Unternehmer, Tscheche, Eigentümer eines Hotels in Prag
Rudolf Rothgänger, Deutscher, alter Herr mit Vergangenheit in Prag und Lissabon
Ricardo Calabresi, Italiener, alter Herr, ehemaliges Mitglied der 52. Garibaldi-Brigade
Die Ermittler:
Prof. Dr. Johannes Bröcker, Leiter der Rechtsmedizin Dresden
Stefan Mettner, Kriminalhauptkommissar DresdenMax Rotenborn, Kriminalhauptkommissar Dresden
Peter Schönfeld, Kriminalhauptkommissar Landeskriminalamt Sachsen
Petros Papadopoulos, genannt „Papa“, Tschechischer Oberkommissar griechischen Ursprungs, Fachmann für Organisierte Kriminalität,
Adam Kratochvil, Oberrat der Tschechischen Kriminalpolizei
Petr Bouzek, Oberkommissar der Kriminalpolizei Usti/Aussig
Pavel Cerny, Oberkommissar der Kriminalpolizei Usti/Aussig
Nikola Veselova, Oberassistentin der Kriminalpolizei Usti/Aussig
Oldrich Vlasov, Oberkommissar, Leiter der Spurensicherung Prag
Milena Markova, Kommissarin, Mitarbeiterin Spurensicherung
Personen der Zeitgeschichte:
Benito Mussolini, „Duce“, Führer des faschistischen Italiens
Clara Petacci, genannt „Claretta“, Geliebte von Benito Mussolini
Donna Rachele Mussolini, Ehefrau von Benito Mussolini, Mutter seiner Kinder
Herbert Kappler, SS- Obersturmbannführer, Chef des Sicherheitsdienstes SD in Rom
Franz Spögler, SS-Untersturmführer, persönliche Ordonanz für Claretta Petacci Aldo Gasperini, Fahrer von Benito Mussolini Dante Gorreri, Senator, Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens, ehemaliger Kommandeur der 52. Garibaldi-Brigade
Prolog
09.08.2002, Decin/Tschechien
Die Elbe hatte sich nach tagelangen schweren Regenfällen in ein reißendes Gewässer verwandelt. Am westlichen Ufer konnte man die Bahnstrecke zwischen Prag und Dresden, die sich über viele Kilometer direkt am Fluss entlang zog, im Wasserdunst nur erahnen.
Zwei Männer fuhren auf der gerade noch befahrbaren Nationalstraße zwischen dem nordböhmischen Decin und dem sächsischen Bad Schandau am Ostufer der Elbe Richtung Grenze.
Sie hatten sich im Wetterchaos des 9. August in dieser frühen Nachmittagsstunde auf den Weg gemacht. Ihr Kombi vom Typ Skoda Octavia trug an beiden Seiten die Aufschrift Hasici, das tschechische Wort für Feuerwehr.
Die Insassen trugen Regenschutzjacken des Feuerwehr-Rettungskorps. So bestand für einen Beobachter keinerlei Anlass, an den lauteren Absichten der etwa fünfunddreißig und fünfzig Jahre alten Männer zu zweifeln.
Die Straßensperre am Marktplatz von Decin ließen sie ohne Probleme hinter sich, das Fahrzeug und die Jacken wirkten wie ein Passierschein. Kein Mensch kam auf die Idee, eine Durchsuchung des Autos und des Kofferraums vorzunehmen.
Der jüngere der beiden Männer sah missbilligend aus dem Autofenster.
„Ein absolutes Mistwetter, der Regen steht aber so richtig in den Bergen drin. Bei diesem Wetter jagt man keinen Hund vor die Tür.“
„So soll es sein. Für uns eine hervorragende Gelegenheit unseren Auftrag sauber zu erledigen, mein Lieber.“
Sie passierten eine verlassene deutsche Kirche und den Elbhafen mit seinen Lagerhäusern, Schrotthaufen und Kränen aus weißrussischer Produktion. Einige Binnenschiffe lagen angedockt am Kai, der Ladebetrieb war wegen der Unwetterwarnungen eingestellt worden.
Ihr Ziel lag etwa zwei Kilometer vom Hafen entfernt links an einem Hang direkt an der Elbe. Es handelte sich um ein Einfamilienhaus, von dem nur Giebel und Dach das Niveau der ansteigenden Straße überragten. Eine rote Leuchtreklame mit Herzchen und der Name Na Venusa ließen keine Zweifel darüber aufkommen, wie das Objekt genutzt wurde.
Vor einigen Jahren hatte der ältere der beiden diese Strecke schon einmal genommen, um das rege Treiben im Grenzgebiet zu Deutschland selbst in Augenschein zu nehmen. Er hatte damals die Straße verlassen und war einen kurzen, schmalen Weg entlang zu einem asphaltierten Parkplatz direkt am Gebäude etwa fünf Meter oberhalb des Flusses gefahren.
Hier stellte er sein Fahrzeug ab, warf einen kurzen Blick auf die Elbe und betätigte die Klingel an der Eingangstür. Kurze Momente später spürte er förmlich den Blick durch den Türspion und es öffnete sich eine Klappe in der Tür. Hell blondiertes Haar und ein grellrot geschminkter Mund wurden sichtbar.
Ein kurzer prüfender Blick auf den Besucher und er durfte in eine Art Vorraum eintreten. Ein reiferes Semester mit wogendem Busen führte ihn durch einen kleinen Flur in ein rechts abgehendes Zimmer. In diesem Raum befand sich eine schön verspiegelte Bar samt Barmann, das Ambiente jedenfalls machte einen gepflegten und angenehmen Eindruck.
„Was können wir für dich tun, mein Schatz?“, flüsterte ihm die üppige Blondine ins Ohr.
„Ich hätte gern ein wenig Entspannung“, antwortete er grinsend, „ein wenig spezieller als die schnellen 08/15-Nummern. Ich bevorzuge junge, sehr junge Damen, wenn wir uns verstehen.“
Die Blondine lächelte ihn an. „Ich denke, dass wir deinen Wunsch erfüllen können, mein Schatz.“ Zum Barmann gewandt sagte sie: „Hol die Hühner herunter!“
Kurze Augenblicke später standen drei blutjunge Sinti- oder Roma Mädchen vor ihm, die er lüstern beäugte.
Zwei der Mädchen, vermutlich nicht älter als zehn oder zwölf Jahre, waren ihm in den nächsten zwei Stunden für kleines Geld in einem der Séparées zu Diensten.
Diesem ersten Besuch folgten viele weitere, denn das Personal des Na Venusa erfüllte seine speziellen Bedürfnisse. Er hatte eine Vorliebe für südländisch aussehende Mädchen. Die Mädchen stammten zwar überwiegend aus Moldawien oder aus Südosteuropa und waren der Landessprache nicht mächtig, aber das focht ihn nicht an. Er fuhr nicht zum Reden nach Decin. Das Telefon klingelte nach seinem ersten Besuch in regelmäßigen Abständen und man informierte ihn, immer wenn ein Wechsel beim Servicepersonal erfolgt war.
Heute aber hatte er schon weit vor seiner erwarteten Ankunft ein Telefongespräch mit dem Na Venusa geführt.
„Was kann ich für Sie tun?“, hatte sich der Barmann gemeldet.
„Wir sind jetzt unterwegs. Sorge wie abgesprochen dafür, dass die Mädels für ein paar Stunden zu einem kleinen Betriebsausflug verschwinden. Wir werden in ungefähr einer Stunde am Haus sein und möchten dann niemanden mehr sehen. Haben wir uns verstanden?“
„Okay, okay, alles klar!“
Sein Boss hatte den Barmann auf diesen Anruf vorbereitet.
Er legte den Hörer auf, stürmte die Treppe hinauf und riss jede der vier Türen zu den Zimmern auf. Sein unmissverständlicher Kommandoton duldete schon durch seine Intonation keinen Widerspruch. „Dawai, Dawai!“
Diese gebellten Kommandos waren für die zwei blutjungen Moldawierinnen und die beiden rumänischen Sinti-Mädchen so unzweideutig, dass die Mädels ein paar Sachen griffen und mit schnellen Schritten halbnackt die Treppe hinunterliefen. Der Barmann stand am Fuß der Treppe und deutete Schläge an, wenn das Verlassen des Na Venusa nicht rasch über die Bühne gehen würde. Die Mädchen rannten durch den Regen zu einem Skoda Octavia mit abgedunkelten Fenstern. Die Türen waren zum Einstieg schon geöffnet. Nachdem alles zur Abfahrt bereit war, setzte sich der Octavia sofort in Bewegung und verließ mit quietschen Reifen die unwirtliche Stätte in Richtung Teplice.
Etwa vierzig Minuten später traf der Kombi mit den beiden Männern am nun leeren Etablissement ein. Auf den letzten Kilometern waren ihnen Einsatzfahrzeuge mit deutschen Kennzeichen entgegengekommen. Es war keineswegs ungewöhnlich, dass sich Fahrzeuge mit Angehörigen paramilitärischer Einheiten aus Deutschland und Tschechien in den Grenzgebieten aufhielten. In Krisenzeiten wie dieser waren grenzüberschreitende gemeinsame Hilfeleistungen an der Tagesordnung, sogar die Bürokratie sah davon ab, dass sich Angehörige des anderen Staates erst eine formale Bewilligung für ihren Einsatz beschaffen mussten.
Den beiden Männern in Uniformjacken der tschechischen Feuerwehr waren diese Formalitäten völlig egal. Der Ältere bedauerte es allerdings zutiefst, dass es bei diesem Besuch nur darum ging, sich der Fracht im Gepäckraum des Skoda zu entledigen. Keine Chance, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden. Der Jüngere am Steuer bugsierte das Fahrzeug geschickt mit dem Heck bis einen Meter vor die Abbruchkante zur Elbe. Sie öffneten die Heckklappe, ließen die Abdeckung des Kofferraums zurückschnappen und entnahmen der Ladefläche einen ungefähr zwei Meter langen, in dunkelgraue Plastikplanen eingewickelten Gegenstand. Die Plastikplanen schlotterten um das Objekt, sollten offensichtlich nur die Neugier möglicher Beobachter irreführen. Aber auch ein ungeübter Beobachter hätte blitzschnell erkennen können, dass es sich dabei um einen menschlichen Korpus handelte.
Die Männer gingen ausgesprochen ruhig und gelassen zu Werke. Sie waren sich sicher, unbeobachtet zu agieren. Weit und breit keine Besiedlung, die Elbe floss auf einer Strecke von mehr als zwei Kilometern durch eine kleine Schlucht und der Einschnitt hatte an dieser Stelle den Namen Elbe Canyon erhalten.
Der Ältere gab ein leises Kommando und schon schulterten sie das bewegungslose menschliche Paket, trugen es an den Rand des Felsvorsprungs und entledigten sich mit einem weiteren Kommando ihrer Fracht. Das Paket fiel taumelnd etwa fünf Meter tief in die reißende Elbe.
Es war fast so, als ob sich der Fluss über den neuen Fraß, der ihm übergeben worden war, freute. Die Elbe sog den verpackten Körper auf, wirbelte ihn unter Wasser wie ein Spielzeug herum und fing bereits auf den ersten Metern an, die Verpackung zu zerlegen. Das dunkelgraue Paket tauchte noch ein oder zwei Mal aus den gurgelnden Wellen auf und verschwand danach auf Nimmerwiedersehen in Richtung Deutschland.
Die Männer stiegen wieder in ihren Wagen und passierten die Kontrollen bei der Ausfahrt aus den Hochwassergebieten ebenso ungestört wie sie hineingekommen waren. Ihr Ziel war ein entlegener, halb verfallener Dreiseithof, ein Relikt aus der Zeit der deutschen Besiedlung dieser Gegend.
Die Männer übergossen das Fahrzeug mit Benzin und warfen die Uniformjacken des Zivilschutzes auf den Rücksitz des Fahrzeugs, um auch diese Spur zu vernichten. Vor dem verfallenen Hof wartete bereits ein unauffälliger VW-Golf mit tschechischem Kennzeichen, der die beiden nach erledigter Arbeit aufnahm und mit ihnen in Richtung Prag davonfuhr.
Die Elbe vergnügte sich unterdessen mit dem ihr anvertrauten Paket, schleuderte es hin und her, tauchte es unter, ließ es wieder auftauchen, verpasste ihm den einen oder anderen Stoß; es war als ob der Fluss wissen wollte, was sich in diesem merkwürdigen Bündel verbarg.
Als der erste Riss in der Plastikumhüllung, erst ganz fein und dann immer größer, entstanden war, gab es kein Halten mehr für das Element.
Der sorgsam verpackte Leichnam wurde im wilden Spiel des reißenden Flusses fast vollständig von seiner Plastikhaut befreit und zum Vorschein kam ein in einen feinen dunkelblauen Anzug mit passender Weste, weißen Hemd und Krawatte gewandeter, etwa fünfzigjähriger, männlicher Körper. Die tosende Jagd ging weiter und führte dazu, dass dem Toten durch herumrasende Baumstämme und Paletten die Extremitäten an mehreren Stellen zerschmettert wurden. Der Körper verfing sich in einem Geflecht aus Zäunen, Ästen und Möbeln an einer Brücke, wurde am Brustkorb von einem mitgerissenen Motorrad schwer getroffen und, bevor sich dieser Biberdamm auflöste, traf ihn ein Geschoss in Form eines Kantholzes schwer am Schädel. Als sich die Blockade an den Brückenpfeiler auf wundersame, zufällige Weise auflöste, schien es, als ob der Fluss nun genug mit dem Körper gespielt hatte.
Eine der Verwirbelungen führte dazu, dass der Leichnam aus dem reißenden Strudel entkam und in die ruhigeren Uferbereiche getrieben wurde. Hier wurde er von einer folgenden Flutwelle aufgenommen und noch einige hundert Meter am Uferbereich entlang, mitgetragen, bis er sich endgültig in einem Gewirr von Ästen verhedderte.
Zuvor …
28.08.2000,
11.00 Uhr, Stendal, Plattenbau
„Murmel kommt!“
Hermann Weber hörte die Stimme seines Freundes Jürgen Schulze im Treppenhaus des elfgeschossigen Plattenbaus
Das zweite Geräusch, das Hermann nur bei größter Konzentration durch die geschlossene Wohnungstür einer Erdgeschosswohnung vernehmen konnte, war ein leichtes Pling. Ganz so als ob jemand mit einem Metallstück einen ganz leichten Schlag auf ein zweites Metallstück vornehmen würde. Allein die Tatsache, dass Hermann dieses Geräusch wahrgenommen hatte, hätte ihm deutlich machen können, was passieren würde.
Die Freunde hatten in einer Bierlaune ein kleines Experiment verabredet, das Hermann – dem Plattenbau-unerfahrenen Wessi – zeigen sollte, warum in der Platte nichts verborgen bleiben konnte, warum die Bewohner, ob sie wollten oder nicht, mehr Ohren- als Augenzeugen des sozialen Miteinanders in ihren ach so modernen Neubauten werden mussten. Böse Zungen aus dem Westen hatten die Plattenbauweise im Osten als real gewordenen Traum realsozialistischer Karnickelzüchter verspottet.
Die Bewohner dieser vermeintlichen Karnickelställe schätzten sich dagegen glücklich, fließend Warmwasser zu genießen, in hellen Wohnungen statt in dunklen Altbauten zu leben und dafür nur geringe Mieten bezahlen zu müssen. Schulze schlug vor, das Experiment in jenem Wohnblock zu machen, in dem bis vor zwei Jahren seine verstorbenen Schwiegereltern Rudolf und Edith Rothgänger gelebt hatten.
„Ich kenne dort noch den einen oder anderen Mieter.
Edgar Busche, ein Freund meiner Schwiegereltern, wird uns seine Parterrewohnung bestimmt zur Verfügung stellen.“
Gesagt, getan. Einen Tag später standen beide in der Wohnung Busches im Erdgeschoss. Während Schulze mit dem Fahrstuhl in den 11. Stock dieses Betonklotzes fuhr blieb Hermann mit Edgar Busche in dessen Wohnung. Schulze, der schon oben am Treppenabsatz stand, nahm eine Glasmurmel aus seiner Hosentasche und gab dieser einen kleinen Stoß, sodass sie auf der obersten Treppenstufe Fahrt aufnahm und sich in Richtung Erdgeschoss auf den Weg machte. Je mehr Schwung die Murmel aufnahm, desto unterschiedlichere Geräusche wurden von ihr ausgelöst. Wie ein Flummi sprang die Murmel von Treppenstufen gegen Betonwände, wurde weiter geschleudert gegen Metallgeländer, traf eine metallene Fahrstuhltür, dröhnte gegen die ein oder andere Wohnungstür und wurde von den zunehmenden Schwingungen ins Erdgeschoss getragen, wo sie mit lautem Knall gegen die Eingangstür des Wohnblocks knallte.
Schulze erschien wenige Momente später in der Tür zur Testwohnung und blickte triumphierend auf seinen westdeutschen Freund.
„Na, überzeugt?“
„Das kann man wohl sagen“, entgegnete Hermann, „Es ist unvorstellbar wie hellhörig diese Plattenbauten sind.“
Schulze nickte und ergänzte: „Und trotzdem war es für den normalen DDR-Bürger das absolute Non-Plus-Ultra eine dieser Neubauwohnungen zu ergattern.“
„Diesen Widerspruch zu dem, was ich soeben erlebt habe, musst du auflösen“, forderte Hermann ihn auf. „Denk nur mal an Kohleschippen und das Kohleschleppen.“
Hermann konnte sich gut an die Haufen vor den Altbauten erinnern, die er das eine oder andere Mal bei seinen Besuchen im Osten auf den Fußwegen hatte liegen sehen.
„Diese Haufen vor der Tür waren immer eine Herausforderung für die Hausgemeinschaften und die Passanten“, stellte Schulze ob der Doppeldeutigkeit grinsend fest. „Die Kohlen zu schippen oder zu schleppen war sozusagen alternativlos. Weder für die Hausgemeinschaften noch für die Malocher, die die Kohlen geliefert hatten. Das waren oft genug Knackis, die selbst in unserem Arbeiterparadies keine andere Arbeit bekommen hatten.“
„War es nicht möglich, die Knackis zu motivieren …“, Hermann machte die weltweit bekannte Bewegung für Geld zwischen Zeigefinger und Daumen, „die Kohlen direkt ins Haus und in die Wohnungen zu schaffen?“
„Na klar war das möglich, wenn die Hausgemeinschaft bereit war, dafür zu zahlen, absolut kein Problem. Die Knackis waren dankbar für jede Zusatzeinnahme in bar und am Staat vorbei.“ Er unterbrach seine Gedanken an längst vergangene Zeiten. „Wir haben meine Schwiegereltern gern in der Platte untergebracht. Allein schon der Fahrstuhl war eine ungeheure Erleichterung für die alten Herrschaften und auch für uns. Und das alles für 'nen Appel und 'nen Ei, es sind reichlich Subventionen in den modernen Wohnungsbau geflossen, aber für die Menschen war es gut.“
„Okay, ich verstehe, da waren Lärm und Hellhörigkeit wirklich die kleineren Übel.“
„Na ja, wie man es nimmt. Die Probleme mit dem ABV waren schon nicht ohne.“
„Mit wem?“, unterbrach Hermann ihn.
„Mit dem ABV, dem Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei. Bei den Nazis nannte man diese Herrschaften Blockwarte, die in alles ihre Nase reinsteckten und den Gestank schon witterten, bevor er entstehen konnte.“
„Aber warum hattet Ihr Probleme mit dem Blockwart?“
„Die Hellhörigkeit habe ich dir gerade demonstriert. Nun stell dir aber einmal vor, man veranstaltet eine Feier, auf der es etwas geräuschvoller zugeht.“
„Ja und, man kann sich doch mit der Nachbarschaft einigen.“
„Das schon. Damit hatten wir auch keinen Ärger. Ärger gab es mit dem ABV, denn mein Schwiegervater Rudolf Rothgänger neigte dazu, bei steigendem Alkoholpegel in seine Kiste mit dem altdeutschen Liedgut zu greifen und Nazilieder grölend durch die Wohnung zu paradieren.“
„Oh je, ich ahne, was dann passiert ist.“
„Nein, ich denke nicht, dass du dir das vorstellen kannst, es wird nämlich noch verrückter.“ Schulze schien sich im Nachgang richtig zu amüsieren. „In jeder dieser Wohnungen, wirklich in jeder, stand eine zwei bis drei Meter lange Schrankwand, so auch bei meinen Schwiegereltern.“
Hermann konnte mit dieser banalen Feststellung erst einmal nichts anfangen, denn westdeutsche Wohnzimmer waren von Otto Normalverbraucher ebenso durch ein derartiges Möbel verunziert worden.
Spannend wurde es, als Schulze fortfuhr: „Auf dieser Schrankwand meiner Schwiegereltern stand eine Hutschachtel. Mein Schwiegervater stieg immer, wenn er genug intus hatte, auf einen kleinen Schemel. Wir waren immer in Sorge, dass er irgendwann einmal mit seinem angesoffenen Kopf vom Hocker fallen und sich die Haxen brechen würde.“ Er drehte sich zu der Schrankwand in Edgar Busches Wohnung. „Der alte Herr hat die Hutschachtel vom Schrank heruntergenommen, ist vom Hocker mehr oder weniger schwankend herabgestiegen, hat die Hutschachtel geöffnet, einen Wanderhut rausgenommen, hat ihn sich aufgesetzt und ist danach noch lauter grölend im Stechschritt durch die Wohnung marschiert.“
„Warum hat ihn dieser Hut denn so in Wallung versetzt?“ fragte Hermann stirnrunzelnd.
„Er hat ihn von seinem ersten Besuch im Westen als Rentner als Souvenir mitgebracht. Er war im Oktober 77 auf einer Geburtstagsfeier in Burgdorf bei Hannover, dort hat er ihn, glaube ich, geschenkt bekommen.“
Hermann schien weiterhin ungläubig zu schauen.
„Dieser Hut war für ihn wie eine Götze. Ein stinknormaler Wanderhut mit Gamsbart, für den neutralen Betrachter jedenfalls.“
„Wie weiland Geßlers Hut!“, meinte Hermann spontan.
Schulze reagierte nicht auf seinen Einwurf und atmete tief durch. „Wir konnten es in der Familie nicht mehr hören, wenn er im Marschschritt durch die Wohnung paradierte und immer wieder brüllte: Das ist der Hut von Herbert Kappler.“ Er sah seinen Freund an: „Hast du schon mal was von Herbert Kappler gehört?“
Hermann war wie elektrisiert. „Und ob ich was von dem ehemaligen Chef des Sicherheitsdienstes der SS in Rom gehört habe. Er ist unter sehr merkwürdigen Umständen aus italienischer Haft entkommen. Es hat eine Menge Aufregung damals gegeben. Hast du eine Ahnung in welcher Beziehung dein Schwiegervater zu Kappler stand?“ Er konnte seine Neugierde nur schwer verbergen.
„Nein, das kann ich dir nicht beantworten. Wir wissen bis heute nicht, warum mein Schwiegervater derart vernarrt in diesen alten speckigen Hut gewesen ist.“
Hermann hatte Ende der siebziger Jahre in Westberlin gelebt, studiert und war Mitglied einer linken Organisation gewesen, die ihren Platz in der Aufdeckung von Verbindungen zwischen Alt-und Neonazis und dem Staatsapparat sah. Sein konkreter Auftrag lautete, die Berliner und erreichbare DDR-Presse nach Hinweisen auf die Hintermänner dieser Flucht zu durchforsten.
Nun Stendal, die Murmel, dieser alte Hut …, sein Jagdinstinkt war geweckt.
29.08.2000, 8.30 Uhr,
Stendal, Hotel Schwarzer Adler
Hermann hatte kaum Schlaf gefunden, so überraschend waren für ihn die Neuigkeiten zum Thema Kappler gewesen. Eine andere Information aus dem Hause seines Freundes Schulze erschien in einem neuen Licht. Hermann hatte vor sieben Jahren Schulzes Ehefrau Reinhild in seinem nach der Wende gegründeten Bildungsträger als Dozentin eingestellt. An diesem Tage hielt er das Diplom-Zeugnis von Reinhild Schulze zum ersten Mal in der Hand. Ein Blick auf das Geburtsdatum und den Geburtsort ließ ihn aufmerken.
„Sag mal, Reinhild, geboren 1942 in Prag? Was hat denn dein Vater dort gemacht?“
Das Prag des Jahres 1942 war das Prag des Reinhard Heydrich, des genial-eiskalten Kopfes des deutschen Vernichtungsapparates aus Gestapo und Sicherheitsdienst. Der hatte seine Prager Dienststelle als Chef des Reichssicherheitshauptamtes und stellvertretender Reichsprotektor für Böhmen und Mähren zur schlagkräftigen Einrichtung des Naziterrors in Osteuropa ausgebaut.
Reinhild antwortete ganz beiläufig: „Mein Vater hat wie so viele aus seiner Generation nicht viel über diese Zeit erzählt. Er war wohl bei der Deutschen Post.“
Hermann nahm sich an diesem Morgen vor, die Suche nach dem Unterstützerkreis für Kappler endlich auf Prag auszudehnen. Der erste Schritt sollte die Kontaktaufnahme mit dem Archiv der Deutschen Post in Prag sein, um Einsicht in vielleicht noch vorhandene Personalakten zu nehmen.
19.12.2000, 19.00 Uhr,
Prag, Hotel Duo
Egon Watepfuhl konnte auf die Loyalität seiner Marta Blinkova zählen, trotz aller kleinen Nebengeschäfte und der Affäre mit Pavel Slansky. Sie hatte ein sicheres Gespür für gute Geschäfte und während ihrer Tätigkeit im Interhotel in Usti verschiedene vielversprechende Kontakte aufgebaut, ganz platonisch wie sie dem eifersüchtigen Egon zu verstehen gab. Dieser wollte das nur zu gern glauben und fragte nicht weiter nach, als im Laufe der Zeit immer mehr ehemalige Gäste als zuverlässige Freunde von Marta vorgestellt wurden. Das eine oder andere kleinere Vermittlungsgeschäft war auch gelaufen.
Der ganz große Wurf zeichnete sich ab, als Marta ihrem Egon den Kontakt zu einem leibhaftigen Ex-Minister aus der gewendeten DDR vermittelte. Dieser Ex-Minister mit Namen Liebscher hatte sich nach seiner unfreiwilligen Demission wie viele andere auf das Immobiliengeschäft gestürzt und wollte seine Verbindungen in bare Münze umwandeln. Eines der Objekte, das dem Ex-Minister angedient wurde, war das Hotel Duo, sechshundert Zimmer groß und vier Sterne schwer. Das Hotel war in den Jahren nach der Revolution des Novembers 1989 ein idealer Treffpunkt für Geschäftsleute, die in Prag Geschäfte machen, aber sich möglichst aus der Prager Innenstadt fernhalten wollten. Die Lage des Hotels mit Anschluss an das Netz der Prager U-Bahn, die unmittelbare Nähe zur Autobahn Prag-Dresden machten es später zu einer begehrten Unterkunft für internationale Reisegruppen.
Egon Watepfuhl war ganz euphorisch gewesen, als er Hermann Weber per Fax mitteilte, dass ein großes Immobiliengeschäft in der Pipeline sei und er sich wünschte, dass Hermann Weber an den Verhandlungen in Prag teilnahm.
Dieser traf am Abend vor den Verhandlungen im Hotel Duo ein, mietete sich ein Einzelzimmer und ging wie immer nach einer kurzen Erfrischung in das Hotelrestaurant zum Abendessen und anschließend auf einen Absacker in die Lobby Bar.
Die Bar war an diesem Abend nicht sonderlich gut besucht, in den Polstersitzgruppen hinter Hermann saßen einzelne Pärchen. Die ständige Hotelnutte war auch vor Ort, eine Mittdreißigerin mit durchaus ansprechendem Äußeren, auch darauf schien Hotelier Koral zu achten, das Bild musste einfach stimmen.
Es war eine angenehme, entspannte, sehr ruhige Stimmung im Hotel, nur ein etwa fünfzigjähriger Mann schien ein wenig neben der Spur zu laufen. Hermann bekam mit, dass der Kellner ihm signalisierte, dass sein Alkoholpegel wohl schon so hoch sei, dass jeder weitere Schluck der berühmte Schluck zu viel wäre. Der Angetrunkene, soviel konnte Hermann jetzt auch im Spiegel der Bar an seinen verlangsamten und unsicheren Bewegungen erkennen, wurde ärgerlich wie ein kleines Kind. Er berief sich immer wieder auf Herrn Koral, drohte damit sich bei diesem direkt zu beschweren und orderte für sich eine Runde Bier und Becherovka nach der anderen. Der Kellner wollte wohl ob der Drohung mit seinem Chef jeden Ärger vermeiden, zog seine Schultern resignierend nach oben und führte die Bestellungen ohne weiteren Widerspruch aus. Seine Gedanken und seine Missachtung standen ihm auf die Stirn geschrieben, wurden aber von dem Alkoholiker nicht mehr wahrgenommen.
Hermann konnte sich lebhaft vorstellen, in welchem Zustand dieser Deutsche aus Sachsen am nächsten Morgen sein würde und er hatte eine leise Befürchtung, wer dieser Mann war. Egon Watepfuhl hatte von seiner neuen Wunderwaffe geredet, die die Verhandlungen in erfolgreiche Bahnen lenken würde.
In der Tat, am nächsten Morgen traf Watepfuhl in feinem Zwirn gewandet im Hotel Duo ein, Hermann erwartete Watepfuhl in der Lobby und beide gingen ins Restaurant, in dem Koral einen diskreten Ecktisch für die Gespräche reservieren lassen hatte. Koral wurde vom Kellner über ihr Eintreffen informiert und kam kurze Zeit später zum Treffpunkt.
Wer nicht da war, war der Minister.
Koral stand auf und nahm sich das Telefon. „Rezeption? Ist Herr Horst Liebscher im Hause?“
„Ja, der ist gestern am späten Nachmittag eingetroffen und hat eingecheckt.“
Koral wirkte leicht angesäuert. „Können Sie bitte dem Herrn Minister sagen, dass drei Herren im Restaurant auf sein Erscheinen warten.“
Der Kellner hinter dem Tresen war der gleiche wie am Vorabend in der Bar. Er deutete seinem Chef mit einer kurzen kippenden Geste an, dass möglicherweise zu viel Alkohol im Spiel gewesen war.
„Oh je, ich ahne was gleich passieren wird.“ Er setzte sich wieder zu seinen Gästen und meinte: „Wir fangen jetzt an.“
„Sie“, er deutete auf Hermann, „können ja protokollieren und dem Herrn anschließend mitteilen, was wir in seiner Abwesenheit besprochen haben.“
Watepfuhl fing an: „Herr Liebscher hat uns ja netterweise zusammengebracht. Ich untertreibe nicht, wenn ich behaupte, dass ich über ein Netzwerk von international tätigen Maklerbüros verfüge, in dem problemlos auch ein 600-Betten-Hotel in Prag eingestellt und verkauft werden kann.“
Koral hörte sich das interessiert an, betrachtete aufmerksam die Visitenkarte Watepfuhls und fragte ganz beiläufig: „Wie kommt es Herr Watepfuhl? Internationaler Immobilienhandel und Finanzierungen und dann ein Standort in Usti?“
Watepfuhl hatte diese Frage offensichtlich schon häufiger gestellt bekommen, er lächelte. „Ja, ja, wo die Liebe hinfällt. Meine Partnerin hängt halt sehr an ihrer Mutter und ist nicht von ihr wegzubewegen.“
Hermann hatte diese Leier schon öfter gehört und wunderte sich darüber, dass Egon die Geschichte immer wieder brachte.
So saß der ältere jüdische Herr aus Prag dem Hochstapler aus Usti gegenüber und jeder log dem anderen über vermeintliche Verkaufschancen und vorhandene Interessenten die Hucke voll, dass sich die Balken bogen.
Nach etwa dreißig Minuten, der exklusive Maklervertrag war schon von beiden Seiten unterschrieben worden, taumelte ein schlecht rasiertes männliches Etwas auf den Tisch zu.
„Wie stehen die Dinge?“, lallte Minister Liebscher.
Watepfuhl war ziemlich angesäuert, ob des Zustandes seines Partners, während Hermann nach dem abendlichen Erlebnis alles andere, als dieser Zustand zur Überraschung gereicht hätte.
„Horst, setz dich.“ Watepfuhl versuchte, freundlich zu bleiben, wer ihn, wie Hermann, kannte, sah aber, dass er kochte. „Wir haben schon einmal ohne dich begonnen und sind uns dank deiner umsichtigen Vorbereitung …“, Hermann war nicht klar, ob Watepfuhl das ernst meinte, „schnell einig geworden.“
Koral griff nun in das Gespräch ein. „Wir haben eine gute Regelung für den Maklerauftrag getroffen, die alle Seiten“, jetzt schaute er den Ex-Minister an, „also auch deine Interessen wurden berücksichtigt, zufriedenstellen wird.“
Watepfuhl drückte die Brust durch, schob seine Daumen unter den Ärmelansatz seiner Weste und schaute im Raum herum, ob er auch genügend Aufmerksamkeit bekam. „Ja, wir haben den Exklusivmaklervertrag für das Hotel Duo, Horst.“
Hermann glaubte ein verschmitztes Augenzwinkern im Gesicht des alten Koral zu sehen und hätte sonst etwas dafür gegeben haben, die Gedanken dieses listigen Fuchses lesen zu können. Koral merkte, dass Hermann ihn aufmerksam beobachtete, und legte sofort wieder sein geniales Pokerface auf, das ihn schon während des ganzen Gespräches ausgezeichnet hatte.
Liebscher schien nun sicheren Boden unter dem schwankenden Gesamtkunstwerk zu spüren. „Na, dann können wir ja mit einem Schnäpschen darauf anstoßen.“ Er hob den Arm, um dem Kellner ein Zeichen zu geben.
Watepfuhl griff ihm in den Arm. „Horst, vergiss mal den Alkohol so früh am Morgen. Sieh zu, dass du ein gutes Frühstück und etwas in den Magen bekommst.“
Hermann dämmerte jetzt, was ihm bevorstehen würde, der Herr Minister musste wieder nach Deutschland zurück und er war derjenige, der diese Strecke fahren würde.
Die Dinge nahmen ihren Lauf. Liebscher bekam sein Frühstück, wurde danach in der Tat einigermaßen ruhig, wobei nicht zu übersehen war, dass, je mehr sich der Pegel des Restalkohols vom Vorabend reduzierte, der Minister begann, immer nervöser und zappeliger zu werden. Gegen Mittag machten sie sich auf den Rückweg nach Usti nad Labem. Die einstündige Fahrt versuchte Hermann für sich so angenehm wie möglich zu gestalten. Neben ihm saß ein starker Raucher mit entsprechenden Ausdünstungen, auf der Rückbank schnarchte ein nach Rauch und Alkohol stinkender Ex-Minister, der jederzeit das üppige Frühstück wieder von sich geben konnte. Hermann achtete also darauf, ruhig und gleichmäßig zu fahren, um diesen größtmöglichen Unfall wirklich zu vermeiden.
Warum Egon Watepfuhl seine Anwesenheit bei den Gesprächen im Duo als unabdingbar eingefordert hatte, wurde ihm jetzt sonnenklar: Er musste sicherstellen, dass der unbotmäßige Ex-Minister auch garantiert wieder nach Deutschland gelangte und ihm nicht länger als unbedingt nötig auf der Pelle hing.
Der größtmögliche Unfall trat dann in der Wohnung Watepfuhls ein, nachdem dieser dem Minister angeboten hatte, noch etwas Brot mit dick aufgetragener Margarine zu essen, um den Magen durch Fettzufuhr zu beruhigen. Ein Hausmittel der Watepfuhls, das seine prognostizierte wohltuende Wirkung vollends verfehlte und dazu führte, dass Liebscher einen heftigen Brechreiz bekam, mehrfach würgte, dann mit eiligen Schritten, beide Hände vor dem Mund, in Richtung Toilette stürzte und sich dort mit kehligen Geräuschen erbrach. Der Minister kam einige Minuten später völlig erschöpft, in Schweiß gebadet und sich noch den Mund abreibend wieder ins Wohnzimmer des Watepfuhlschen Etablissements.
„Egon, es reicht jetzt, ich halte es nicht mehr aus“, schnarrte er mit angegriffener Stimme. „Ich brauche dringend ein Bierchen zum Runterspülen.“
Watepfuhl hatte wohl schon geahnt was passieren würde und vor seiner Abreise nach Prag einige Flaschen tschechischen Pilsners kaltgestellt. Liebscher griff nach einer Flasche wie ein Ertrinkender nach dem berühmten Strohhalm und zog die erste Flasche fast in einem Zug weg.
„Boaah, tut das gut, Egon, du rettest mir mein Leben.
Aber …“, er schaute Watepfuhl und Hermann an, „auf einem Bein kann man nicht stehen.“
„Ist schon gut Horst“, antwortete Watepfuhl. „Ich habe vorgesorgt.“ Mit diesen Worten stand er auf, ging wieder zum Kühlschrank und holte eine zweite Flasche, die vom Minister fast mit der gleichen Geschwindigkeit wie die erste gelehrt wurde. Liebscher wurde zunehmend ruhiger in seinen Reaktionen. Die weitere Entwicklung war vorhersehbar.
„Egon, wie sieht es denn mit einem Schnäpschen aus? Ein kleiner Becherovka vielleicht? Das ist ja auch fast wie Medizin und daher genau das Richtige für mich im Moment!“
Hermann hatte schlicht und ergreifend keine Lust, sich an diesem Gelage zu beteiligen, völlig unabhängig davon, ob er an diesem Tage noch fahren musste oder nicht. Er flüchtete sich in Fatalismus, um später einmal darüber berichten zu können. Denn wer hat schon einen stockbesoffenen Ex-Minister, der Jahre zuvor am deutschen Einigungsprozess maßgeblich mitgewirkt hatte, leibhaftig erlebt. Der Nachmittag ging schnell dahin, die beiden Herren versicherten sich mehrfach der gegenseitigen Zuneigung und es wurden neue Geschäfts unvorstellbaren Ausmaßes diskutiert. Ganz nebenbei hatte man auch auf eine Verteilung der Maklerprovision für die Vermittlung des Hotel Duo geeinigt, wobei sie sich über den alten Koral lustig machten, der übersehen hatte festzulegen, wer denn die Provision zu zahlen hatte, der Käufer oder der Verkäufer. Auch an diesem Punkt waren sich Liebscher und Watepfuhl schnell einig, sie würden dieses Thema nicht problematisieren, sondern von beiden Seiten kassieren.
So einfach ist das also, wenn man sich erst einmal Mut zum Größenwahn angetrunken hat, dachte Hermann, der langsam Spaß an diesen Höhenflügen bekam. Die nackte Realität holte ihn wieder ein, als es darum ging, den Minister dazu zu bewegen, sich in sein Auto zu setzen und die Rückreise nach Deutschland anzutreten. Möglichst vor Einbruch der Dunkelheit, da sie besonders auf deutscher Seite eine kurvenreiche, enge Strecke erwartete.
Hermann bestimmte kategorisch: „In meinem Auto wird während der Fahrt weder Alkohol getrunken noch geraucht.“
Daraufhin stürzte Horst Liebscher noch schnell einen weiteren Schnaps herunter und paffte eine letzte Zigarette. Mit den Worten: „Egon, ich nehme mir noch zwei Flaschen Bier für die Pausen mit, hast du eine Tasche für mich?“, erhob er sich aus der Couchgarnitur und wankte Richtung Wohnungstür, an der ihn Egon Watepfuhl erwartete und ihm eine Stofftüte mit den Bierflaschen in die Hand drückte.
„Egon, du bist und bleibst ein guter Kumpel“, lallte der Minister und versuchte, Watepfuhl zum Abschied einen Kuss auf die Stirn zu setzen. Der konnte seinen Kopf mit einer leichten Körperdrehung gerade noch aus der Kusslinie ziehen. Hermann betrachtete sich diese Abschiedsszene aus sicherer Entfernung am Fahrstuhl, hielt dem Minister die Tür auf, der wankte in den Fahrstuhl und Egon Watepfuhl verabschiedete sie mit den Worten: „Fahrt schön vorsichtig, kommt mir gut wieder nach Hause, es warten große Geschäfte auf uns.“ Er winkte kurz durch das Fahrstuhlfenster und verschwand in der Wohnung.
Hermann und Liebscher fuhren inzwischen mit dem Fahrstuhl nach unten. Die körperliche Nähe zu diesem angesoffenen Kerl war Hermann so unangenehm, dass er sich regelrecht dazu zwingen musste, seine gute Kinderstube nicht zu vergessen und diesem Menschen seine ganze Angewidertheit nicht entgegenzuschleudern. Unten angekommen gingen sie zu seinem Fahrzeug, plötzlich erklang ein markiges: „Heil Hitler, hier spricht die Wolfsschanze.“
Egon Watepfuhl hatte sich auf seinem Balkon postiert, den rechten Arm zum Deutschen Gruß ausgestreckt und krakelte in den tschechischen Abend hinein. „Obersturmbannführer Watepfuhl verabschiedet seine Kameraden und wünscht ihnen gute Fahrt. Heil Hitler!“
Man konnte das Zusammenschlagen der Hacken hören. Hermann wollte nur noch weg und diese Mischpoke endlich los werden.
Oben in der Wohnung wurde Watepfuhl von seiner Frau Marta erwartet. Sie hatte über Stunden, ohne sich bemerkbar zu machen, im ehelichen Schlafzimmer vor dem Fernseher gesessen. Sie hatte inständig gebetet, dass dieser kotzende Ex-Minister endlich verschwinden und ihr nicht die ganze Wohnung auf Tage hinaus unbewohnbar machen würde.
„Egon, das war das letzte Mal, dass ich diesen Menschen in meine Wohnung gelassen habe.“
Watepfuhl, selbst leicht angeschlagen, schaute mit glasigen Augen seine ärgerliche Frau an. „Marta, Schätzchen, das wird sich nicht vermeiden lassen. Horst Liebscher ist ein Garant für gute Kontakte und Geschäfte.“
Marta drehte sich auf dem Absatz um und verschwand wieder im Halbdunkel des Schlafzimmers. Egon ging in das gemeinsame Badezimmer, wunderte sich nicht, dass Marta das Fenster sperrangelweit aufgerissen hatte, schmiss sich kurz etwas Wasser ins Gesicht und schlappte zum Sofa ins Wohnzimmer. Hier fiel er in einen tiefen, selbstgerechten Schlaf, aus dem ihn erst am frühen Morgen des folgenden Tages die wütende Marta durch einige Fausthiebe auf die Rippen sehr unsanft weckte.
Währenddessen hatte sich Hermann mit dem Minister auf den Rückweg nach Deutschland gemacht. Es gab die klare Ansage, dass die Pausen von ihm festgelegt wurden. Sie waren aber kaum eine halbe Stunde gefahren, als der Harndrang des Fahrgastes so stark wurde, dass eine sofortige Pause notwendig zu sein schien. Er rutschte unruhig auf dem Beifahrersitz hin und her, klemmte auch seine Beine zusammen, sichere Zeichen für schwersten Druck.
Hermann hielt auf einem Parkplatz noch auf der tschechischen Seite an, nachdem er sich vergewissert hatte, dass dieser Stopp nuttenfrei war, um nicht noch ein weiteres, zeitraubendes Bedürfnis beim Minister zu wecken. Liebscher sprang aus dem Auto, rannte hinter den nächsten Baum, verrichtete sein Geschäft und steckte sich als nächstes die unvermeidliche Zigarette an, um dann seelenruhig paffend auf dem Parkplatz zu flanieren. Irgendwie hatte er es auch von Hermann unbemerkt geschafft, eine der Bierflaschen mit sich zu nehmen, und schüttete den Gerstensaft in hastigen Zügen in sich hinein.
Hermann war diese ganze Szene so zuwider, dass er für sich beschloss, dass dies der erste und letzte Stopp mit diesem Beifahrer sein würde, egal was passierte.
Dem Himmel sei Dank war an der Grenze kein sonderlich starker Verkehr und so konnten sie ohne großen Zeitverlust passieren und nach Deutschland einreisen.
Nach einer Weile begannen sie wieder, diese konvulsiven Zuckungen des unter dem beginnenden Entzug leidenden Ministers. Da saß ein nach Rauch und Alkohol stinkendes Etwas neben Hermann auf dem Beifahrersitz, das noch wenige Stunden zuvor großspurig mit seinem Alter Ego Watepfuhl von sagenhaften Geschäftsmöglichkeiten schwadroniert hatte. Dem alten Juden Koral würde man schon zeigen, was eine deutsche Harke sei. Hermann wollte ihn einfach nur loswerden.
„Mensch, halt doch bitte noch einmal an. Ich geh kaputt“, flehte ihn Liebscher an.
„Du kannst gern aussteigen“, sagte Hermann zu ihm, „ich fahre weiter.“
Der Minister gab seinen Widerstand auf, denn in seinem Zustand hätte er alles geschafft, nur nicht in das kleine Kaff in der Nähe von Zwickau zurückzukommen, wo seine ihn liebende Ehefrau auf seine Rückkehr wartete oder auch nicht. Nach ein paar ruhigen Minuten merkte Hermann, dass Liebscher in ein leises Wimmern, wenn nicht gar Weinen, verfallen war.
In diesem Augenblick war Hermann voller Dankbarkeit für den alten Koral, dessen abfälliges Grinsen er beim Verlassen des Hotels noch in einer spiegelnden Glasfläche wahrgenommen hatte. Alles machte ihm deutlich, auf was er sich beim Spiel mit Watepfuhl und Co. eingelassen hatte. Wenn solche Typen nicht so einen großen Schaden an missbrauchtem Vertrauen, zerstörten Hoffnungen durch Unterschlagungen und einfachen Betrügereien anrichten würden, wäre ihm das alles völlig egal, so aber hatte Hermann volles Verständnis dafür, dass es eine Menge Menschen gab, die Egon Watepfuhl und seinem vermeintlichen Netzwerk an den Kragen wollten.
Petr Koral würde jedenfalls nicht zu ihren Opfern gehören.
08.06.2001, 14.00 Uhr,
Lulea/Schweden
Ein halbes Jahr später sollte sich eine große Veränderung im Leben Hermann Webers ergeben. Er war in den Norden Schwedens gereist und war von einer geradezu greifbaren Vorfreude auf die Mittsommernacht erfasst. Die Europäische Union hatte zu einer Konferenz für kleine und mittelständische Unternehmen an den Polarkreis eingeladen. Man wollte dem Rest Europas die Schönheiten dieser Region vorführen. Mehrere hundert Unternehmer und Unternehmerinnen samt Gefolge aus ganz Europa waren dieser Einladung gefolgt.
Hermann Weber hatte derartige internationale Veranstaltungen schätzen gelernt. Er versuchte seit geraumer Zeit Partner für grenzüberschreitende Kooperationen im Umweltschutz in Polen und Tschechien zu finden. So war sein Fokus in Lulea auf die teilnehmenden Unternehmen und Berater aus diesen Ländern gerichtet.
Am Stand der Tschechischen Republik wurde er von einer ausgesprochen attraktiven, etwa fünfzigjährigen Dame angesprochen. Ein Namensschild, an der beigefarbenen Kostümjacke oberhalb des Busens angebracht, wies sie als Mitglied der tschechischen Delegation aus. Sie schaute ungeniert auf Hermanns eigenes Schildchen.
„Herr Weber, was kann ich für Sie tun?“
Hermann konnte sich später gut an diesen ersten Kontakt, an diese ersten Blicke erinnern, so sehr wurde er in diesem Augenblick von dieser Frau in ihren Bann gezogen. Er hatte Mühe, seine Anliegen vorzutragen. Er hatte gleichzeitig das Gefühl, dass auch die Tschechin nicht bei der Sache war und ihm nicht zuhörte. Aufmerksame Kenner der Szenerie hätten sofort bemerkt, was zwischen diesen Menschenkindern geschehen war. Es war Hermann, der diese spannungsgeladene Situation auflöste.
„Frau Cigara, was halten Sie davon, wenn wir uns heute Abend in der Hotelbar auf einen Drink treffen?“
„Nichts lieber als das! Sagen wir um 21.00 Uhr? Bis dahin werden die offiziellen Programmpunkte dieser Veranstaltung abgearbeitet sein und wir haben Zeit.“
Hermann hätte vor Freude losjubeln können. Diese sagenhafte Frau machte es ihm wirklich leicht.
Den ganzen Tag über fuhren die schwedischen Gastgeber eine raffinierte Kreation der skandinavischen Küche nach der anderen auf. Die Kongressteilnehmer ließen es sich gut gehen. Das kulturelle Rahmenprogramm hatte es ebenfalls in sich. Eine Kultband aus Lappland hatte ihren Auftritt. Für den Abend war ein Feuerwerk angekündigt. Hermann fragte sich, wie das bei einer nicht untergehenden Sonne bei taghellem Licht funktionieren sollte. Die Organisatoren hatten einen Feuerwerker engagiert, der alle bisher bekannte Formen eines Feuerwerks ad absurdum führte. Er fuhr auf einem auf Schienen installierten Schlitten in einem rasenden Tempo hin und her und verschoss dabei seine Brandsätze. Wer bisher funkelnde und blitzende Lichtkaskaden mit Feuerwerk gleichgesetzt hatte, konnte nun am Polarkreis seinen Horizont erweitern. Dem Feuerwerker ging es darum, mit seinen Geschossen in den strahlenden Himmel einen ohrenbetäubenden Lärm zu erzeugen.
Hermann hatte nicht bemerkt, dass sich die Tschechin neben ihn gestellt hatte.
„Wir sehen uns nachher in der Bar. Ich freue mich“, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Die verbleibenden eineinhalb Stunden wollten und wollten nicht vergehen. Hermann blickte immer wieder auf die Uhr seines Handys. Als er sich dann endlich auf den Weg in die Hotelbar machte, schlug sein Herz bis zum Hals. Keine Spur mehr vom professionellen Geschäftsmann.
Sie saß auf einem ausladenden roten Sofa in einer Nische der Hotelbar und sah in einem türkisfarbenen, schulterfreien Sommerkleid einfach umwerfend aus. Ihre Attraktivität wurde durch das Zusammenspiel der Farbe ihres Kleides mit den dunklen, schulterlangen Haaren und ihrem südländischen Teint noch hervorgehoben.
Welch ein Bild von einer Frau, dachte Hermann.
„Setzen Sie sich doch bitte!“ Rosa Cigara deutete auf den freien Platz neben sich auf dem roten Sofa. „Ich habe mich noch nicht richtig und formell vorgestellt. Irgendwie sind wir heute Mittag darüber hinweggekommen.“
„Advogada Rosa Cigara“, las er halblaut, als er Rosas Visitenkarte in der Hand hielt, „Das ist nicht das tschechische Wort für Rechtsanwältin!“
„In der Tat“, antwortete sie lächelnd, „das ist die portugiesische Version.“
„Ich bin von Natur aus neugierig. Auf meiner Stirn müssen meine Fragen förmlich eingebrannt sein!“ Er versuchte seine unverhohlene Neugier zu überspielen. „Helfen Sie mir bitte und lösen meine Verwirrung ob der ungewöhnlichen Kombination der Sprachen Tschechisch, Portugiesisch und Deutsch auf.“
Rosa schaute ihm lachend direkt in die Augen. „Sie vergessen Italienisch, Englisch und Französisch, Herr Weber.“ Sie dachte einen kurzen Augenblick nach, kicherte sehr süß und fragte: „Oder darf ich Hermann sagen? Ich weiß, dass es ungewöhnlich ist, wenn dieser Wunsch von der Dame geäußert wird, aber mir ist einfach danach.“
„Ja natürlich“, seine Antwort kam mit einem leichten Stottern über seine Lippen. „Natürlich habe ich nichts dagegen, dass wir uns duzen.“
„Also Hermann. Ich habe ein Faible für Linguistik und spreche diese sechs Sprachen recht gut …“, Hermann war sich sicher, dass Rosa in diesem Augenblick maßlos untertrieb, „Portugiesisch, Tschechisch und Deutsch spreche ich fließend. Ich habe lange Jahre in diesen Ländern gelebt.“
Rosa streichelte wie zufällig über Hermanns Arm. „Mein Leben ist bisher wirklich sehr, ich will es einmal so nennen, abwechslungsreich verlaufen. Die ersten zehn Jahre habe ich in meinem Heimatland Portugal verbracht. Meine Familie lebte in Lissabon.“
„Warum hat deine Familie das wunderschöne Lissabon verlassen?“
„So ganz freiwillig war das nicht, Hermann“, Rosa schaute gedankenverloren auf einen imaginären Punkt im Raum und dann auf ihren Gesprächspartner. „Kennst du dich in der Geschichte Portugals ein wenig aus? Ich will dich aber nicht langweilen.“
„Ja, so leidlich. Den einen oder anderen Eckpunkt habe ich präsent.“
„Dann weißt du sicherlich, dass das NATO-Mitglied Portugal fast fünfzig Jahre lang von dem faschistischen Diktator Salazar und seiner Clique regiert worden ist!“
Hermann nickte.
„Meine Familie war immer in der Opposition. Großeltern und Eltern haben uns Kinder …“, Rosa blickte wieder auf Hermann, „ich habe noch drei ältere Brüder, im Sinne des Humanismus und der Freiheit erzogen.“
„Sicherlich kein leichtes Unterfangen in diesem Umfeld“, merkte Hermann an.
„Nein, leicht war es wirklich nicht. Es gab immer wieder Probleme, Verhöre, mein Großvater war während des Weltkrieges sogar auf einer Gefängnisinsel interniert. Er hatte in einer deutschen Firma in Lissabon gearbeitet und war von einem deutschen Kollegen denunziert worden.“
Hermann nahm diese Information sehr interessiert auf.
„Eine deutsche Firma während des Krieges in Lissabon …? Was hat die gemacht? Entschuldige bitte meine Neugier, aber ich interessiere mich wirklich sehr für Geschichte, besonders die deutsche.“
Rosa lächelte ihn an und berührte seinen Arm. „Wir haben eine Gemeinsamkeit entdeckt, Hermann!“, sie blickte ihm in die Augen. „Durch die Geschichte meiner Familie und der Beschäftigung damit, bin ich, ob ich es gewollt habe oder nicht, zur Freizeithistorikerin geworden.“ Ihr Blick wurde ernst.
„Mein Großvater war Angestellter bei der Firma Otto Wolff, die mit der Beschaffung des Minerals Wolfram für die deutsche Rüstungsproduktion befasst war. Ich werde dir später mehr darüber erzählen.“
Hermann nickte und bemerkte: „Wenn ich mich richtig erinnere, gab es doch im April 74 eine erfolgreiche Revolte junger Offiziere, die die Salazar-Herrschaft beendet haben.“
„Oh, du bist gut informiert“, lobte Rosa ihn. „In der Nacht zum 25. April spielte ein Radiosender ein Lied des Sängers José Afonso, es hieß Grandola Vila Morena, das war das Zeichen zum Aufstand.“
Der Anwältin stand ihr Stolz ins Gesicht geschrieben.
„Mein Vater war damals einer der jungen Majore, die mit ihren Panzern und Soldaten ausrückten und den autoritären Spuk beendeten.“
„Wir haben das damals in Deutschland sehr aufmerksam verfolgt“, merkte Hermann an. „Immerhin war und ist Portugal NATO-Mitglied.“
Rosa blickte wieder zu dem imaginären Punkt im Raum. Ihre Stimme klang sehr sentimental, als sie fortfuhr: „Wir nannten diese Revolte die Nelkenrevolution, weil die aufständischen Offiziere und Soldaten eine rote Nelke im Gewehrlauf hatten, um den friedlichen Charakter ihres Aufstandes zu betonen.“
Hermann sah Tränen der Rührung in ihren Augen.
„Ich habe als kleines Mädchen nicht viel direkt mitbekommen. In den folgenden Monaten war mein Vater nur selten zuhause. Er war Mitglied im Revolutionsrat, wie sie das damals nannten.“
Rosa signalisierte ihm, dass sie ihren Gedanken zu Ende bringen wollte. „Nach allem, was mir meine Eltern berichtet haben, wurde systematisch ein Putsch gegen den Revolutionsrat vorbereitet, der im November 76, da war ich gerade einmal zehn Jahre alt, tatsächlich durchgeführt wurde.“
In ihren Augen bildeten sich Tränen.
„Mein Vater stand als führendes Mitglied des Revolutionsrates ganz oben auf allen Fahndungslisten. Fernsehen und Presse veröffentlichten Fotos von ihm. Seine Kameraden sind reihenweise eingesperrt und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden.“
„Und dein Vater?“
„Er konnte sich mit Hilfe guter Freunde auf einem Bauernhof im Alentejo, südlich von Lissabon, verstecken. Man hat ihn über die Grenzen von Spanien und Frankreich geschmuggelt. In Paris ist er in ein Flugzeug nach Ostberlin gestiegen. Dort hat er politisches Asyl bekommen.“
„Die DDR hat politische Flüchtlinge aus Portugal aufgenommen?“, fragte Hermann nach.
„In Ostdeutschland war eine große Kolonie von politischen Flüchtlingen aus der ganzen Welt, vor allem aus Südamerika, Afrika und dem Nahen Osten, ein einziger Schmelztiegel.“
„Wie ist es dem Rest der Familie ergangen?“
„Die schon erwähnten Freunde haben dafür gesorgt, dass wir ganz legal unserem Vater in die DDR nachreisen konnten. Das lief ohne Probleme, soweit ich mich erinnern kann.“
Rosa schlug die Beine übereinander. „Meine Eltern haben mich auf eine deutsche Schule geschickt. Dort lernte ich schnell Deutsch, blieb bis zum Abitur, hatte meine ersten Liebschaften …“ Sie blickte ihn kokett an. „Meine Brüder, die kamen nicht so gut klar. Sie gingen einer nach dem anderen nach Portugal zurück. Das Heimweh war dann doch zu stark.“
„Warum bist du nicht den gleichen Weg gegangen?“, hakte Hermann nach.
„Nach dem Abitur hat es mich nach Prag verschlagen. Erst habe ich ein Jurastudium in Leipzig begonnen, dann hatte ich eine Möglichkeit nach Prag zu wechseln, in diese wunderbare Stadt. Wenige Monate nachdem ich mein Studium an der juristischen Fakultät in Prag begonnen hatte, stand ich unter den Hunderttausenden, die den Sieg der Samtenen Revolution über den Stalinismus feierten.“
„Du bist in Prag geblieben?“
„Was denkst du denn?“, antwortete sie sichtlich überrascht, „es war eine phantastische Zeit. Die Menschen waren bester Stimmung, geradezu euphorisch. Es hat uns alle, auch die ausländischen Studentinnen mitgerissen. Man konnte sich dem Sog des Jubels und der Hoffnung auf Demokratie und Menschenrechte nicht entziehen, warum sollten wir auch?“
Schimmerten da Tränen der Rührung in ihren Augen?
„Dann war da auch ein junger Tscheche …“, sie lächelte, „ein Kommilitone von der Juristischen Fakultät. Wir haben uns verliebt, geheiratet und zwei wunderbare Töchter miteinander bekommen.“ Rosa hatte mehr zu sich selbst gesprochen und schien sich im nächsten Augenblick daran zu erinnern, dass Hermann ihr gespannt zuhörte.
„Mein Mann und ich haben uns als Rechtsanwälte in Prag niedergelassen. Das war nach der Wende relativ problemlos möglich.“
„Was ist aus deinen Eltern in der DDR geworden?“
„Irgendwann im Laufe der Jahre hat die Regierung Portugals eine allgemeine Amnestie erlassen. In deren Genuss kamen auch alle im Zusammenhang mit der Revolte der Offiziere verfolgten und eingesperrten Menschen. Meine Eltern sind daraufhin nach Portugal zurückgegangen.“
Rosa besann sich kurz. „Mein Vater ist in der Zwischenzeit verstorben.“
Hermanns unausgesprochene Frage nach dem Rest der Familie stand im Raum.
„Mei Mann und ich …, das ist ein spezielles Thema …“ Sie hatte einen traurigen Blick. „Wir respektieren uns, keiner will dem anderen wehtun, aber es ist ein Leben nebeneinander.“
„Und deine Töchter?“
„Die sind erwachsen und leben ihr eigenes Leben. Unser Verhältnis ist gut, aber wir sehen uns viel zu selten.“
Rosa sah auf Hermann. „Jetzt habe ich viel zu lange erzählt. Schnitt!“
Es waren zwei sehr kurzweilige Stunden vergangen, die noch größere Nähe zwischen den beiden geschaffen hatten.
„Kein Problem, Rosa. Ich werde bei allernächster Gelegenheit von mir berichten.“ Hermann versuchte eine Brücke zu bauen. „In unserem Lebensalter hat jeder seine Geschichte und kann von seinen Erfahrungen erzählen.“
Rosa sah ihn nachdenklich an. „Ich habe so viel geredet. Eine Frage habe ich jedoch: Bist du verheiratet und hast Kinder?“
„Frage eins: ja. Zum zweiten Mal. Frage zwei: Ja, ich bin aus erster Ehe Vater von drei erwachsenen Töchtern. Meine zweite Frau hat drei erwachsene Söhne. Wir sind eine sehr große Familie.“
Rosa nahm diese Information ohne sichtbare Regung auf, war aber in der Folgezeit sehr anlehnungsbedürftig. Jeder, der die beiden eng beieinander auf dem roten Sofa sitzen sah, musste davon ausgehen, ein frisch verliebtes Paar vor sich zu haben. Kein Beobachter war verwundert, als die beiden gegen Mitternacht gemeinsam die Hotelbar verließen und auch am nächsten Morgen gemeinsam im Frühstücksraum auftauchten.