Karat - Karin Rey - E-Book

Karat E-Book

Karin Rey

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Beschreibung

Warum sie nach einem Vulkan benannt wurde, weiß Etna nicht. Explosiv ist sie eigentlich nur, wenn sie Ungerechtigkeiten aushalten muss – als Goldschmiedin geht ihr besonders das schmutzige Goldgeschäft gegen den Strich. Nur jetzt, mit Blick auf den Schwangerschaftstest, ist da ein ganz anderer Strich, der sie aufwühlt ... Svenja hingegen erstellt mit Vorliebe Listen, und noch lieber arbeitet sie ihre Listen Punkt für Punkt ab. Heute steht das Abholen der Trauringe an, denn in drei Wochen ist ihre Hochzeit geplant. Was nicht auf ihrer Liste steht? – Dass sie  mit einer Goldschmiedin namens Etna einfach mal zu einem Roadtrip aufbricht. Zwei Frauen zusammen im Auto, ihre Jugendsongs mitträllernd, unterwegs zum ersten Vaterkandidaten – denn das mit dem Kind kann Etna unmöglich allein schaffen, wo sie doch versprochen hat,  all ihre Energie in faires Gold zu stecken. Bald stellen die beiden  fest, dass sie weit mehr als das Geburtsjahr verbindet. Mit viel  Witz und Drive erzählt Karin Rey vom Ausbruch aus dem Unbehagen in der Welt, wie sie ist. Etwas muss sich ändern, das ist klar – und so beginnen die beiden nach einem guten Vater zu schürfen, reißen Neophyten aus und wüssten schon, wie das geht, eine faire Produktionslinie aufzuziehen. Ein engagiertes und zugleich schwereloses Debüt!

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Karin Rey

Karat

Roman

Atlantis

1

Dienstags war Etna allein. Der Laden, die Werkstatt,alles gehörte bis zum Schichtwechsel um zwölf Uhr nur ihr. Dienstags standen keine Termine für Ringberatungen an, dienstags kam selten Laufkundschaft. Dienstags roch es nach Metall und Putzmittel und sonst nichts. Etna blickte zuerst auf die Uhr – zehn vor elf –, dann auf die zwei Ringe, die vor ihr auf einem weißen Tuch lagen. Leo & Svenja 9.9.2023 hatte sie eingraviert, so wie es auf dem Auftragszettel stand – eine Gravur, wie sie sie schon x-mal gemacht hatte.

Leo hatte beim ersten Beratungstermin gelächelt, so wie sie selbst lächelte, wenn sie ein Reinigungsbad für Ohrringe verkaufen wollte. Wir machen jetzt Nägel mit Köpfen, hatte er erklärt und dabei auf sich und Svenja gezeigt.

Etna betrachtete die geschmiedeten Goldringe, 18 Karat, hohe Reinheit, nur war daran nichts rein, überhaupt gar nichts – acht vor elf –, und das Gefühl, kurz vor der Eruption zu stehen, nahm mit jeder Minute zu. Wenn sie nicht unter Lavaströmen begraben werden wollte, musste sie heute ebenfalls Nägel mit Köpfen machen. Sie nahm die Ringe hoch, hielt sich einen vors rechte und einen vors linke Auge. Schade, dass sie nicht in die Zukunft sehen konnte – sieben vor elf.

2

Einkäufe erledigte Svenja immer dienstags.

Dienstags arbeitete sie nicht, dienstags saß jemand anderes an ihrem Pult mit Fensterblick. Dienstags war Svenjas Tag für Podcasts, für scheues Ausschlafen; würde sie Sport machen, würde sie dienstags Sport machen.

Auf dem Marktplatz stand ein Springbrunnen, und Svenja stand zu nah an dem Springbrunnen. Auf ihrem Display landeten Wassertropfen, die das Licht bunt auffächerten.

Sie scrollte durch die App, in der Leo und sie alle Einkäufe eintrugen. Noch zwei offene Punkte: WC-Papier und die Ringe.

Sie kniff die Augen zusammen, verstaute das Handy im Rucksack und versuchte sich auf den Podcast zu konzentrieren, eine Wissenschaftssendung zum Thema, wie der Mensch mit Duftstoffen kommuniziert.

 

Svenja lief über die roten Pflastersteine zum Juweliergeschäft. In großen Buchstaben stand am Fenster: Schmuckes von Schmuckes.

Sie fand diesen Slogan ziemlich misslungen, hatte sich aber nie getraut nachzufragen, ob die Geschäftsführerin tatsächlich Schmuckes hieß oder ob der Name das Ergebnis eines ausufernden Brainstormings war.

Eine Wahl hatte sie jedenfalls nicht, Schmuckes war weit und breit das einzige Juweliergeschäft. Also überquerte sie den Platz, drückte die schwere Tür auf.

 

Drei Mal war sie mit Leo hier gewesen. Er hatte sich nicht entscheiden können: Ein zu breiter Ring würde ihn bei der Arbeit mit der Motorsäge stören, ein zu schmaler unwiderruflich im Gras verschwinden, falls er mal vom Finger rutschte.

Svenja zog sich die Kopfhörer aus den Ohren. Der dicke Teppichboden schluckte das Ticktack der Pendeluhren, die neben Ringen und Kettchen aufgereiht standen. Svenja reckte den Kopf. Kein Mensch zu sehen.

 

Die Zeit sei stehen geblieben in diesem Geschäft, hatte Leo nach dem ersten Besuch gesagt. Schon vor zwanzig Jahren, als er sich eine Uhr zur Konfirmation aussuchen durfte, sei er über den ranzigen graubraunen Teppich marschiert.

Svenja drückte die goldige Klingel auf dem Verkaufstresen und versuchte, was sie schon oft versucht hatte: sich Leo als Konfirmanden vorzustellen. Sie konnte sich seine Barthaare wegdenken, seine Schultern schmälern, die Arme schlaksiger und die Haltung gedrückter machen, aber ab da kam sie nicht weiter: Einen hilflosen, Schutz suchenden Leo kriegte sie nicht hin. Vor allem jetzt nicht, nach einer Nacht mit zerstückeltem Schlaf.

 

Die Tür hinter dem Tresen war angelehnt, daran angepinnt ein Plakat für eine Veranstaltung zum Thema Gold, die Anfang des Monats stattgefunden hatte. Svenja wusste, dass die Tür zu einer kleinen Werkstatt führte. Falls dahinter jemand war, machte sich diese Person durch nichts bemerkbar.

Svenja überlegte schon, wieder zu gehen, da hörte sie aus der Werkstatt ein Ticken, das unregelmäßiger war als das der vielen Uhren. Es klang, als würde jemand mit einem Bleistift auf die Tischoberfläche klopfen.

Sie war also doch nicht allein hier. Vielleicht Etna Schmied?

Svenja roch kurz an ihrer Achsel, obwohl der Podcast behauptete, man könne seine eigenen Pheromone nicht bewusst wahrnehmen.

Sie trat einen Schritt nach links. Während sie den Kopf reckte, um durch den Türspalt zu spähen, wurde es im Laden plötzlich laut, zuerst klingelte es im Schaufenster, dann hinter dem Tresen, dann von allen Wänden: In unterschiedlichsten Tonlagen wurde »elf Uhr« verkündet.

Als die Pendeluhren wieder in ihren Ruhezustand zurückfielen, hörte Svenja ein Schluchzen.

Und obwohl sie noch keine der Angestellten im Schmuckes je hatte schluchzen hören, war sie sich nun ganz sicher, dass hinter der Tür Etna Schmied war.

 

Leo hatte Etna mit aufgelistet, als sie einander erzählten, wie viele Beziehungen sie schon gehabt hatten. Svenja hatte drei genannt, wovon man eine aber nicht richtig zählen könne, weil das in der Oberstufe gewesen sei und nicht viel mehr als Händchenhalten beinhaltet habe.

Leo hatte ebenfalls drei gesagt, aber Etna Schmied voll mitgezählt, obwohl es ebenfalls in der Oberstufe und nicht viel mehr als Händchenhalten gewesen war.

Er hatte ihr umstandslos erklärt, dass Etna Musik studiert habe, durch die Prüfungen geflogen sei und nach einer Lehre als Goldschmiedin seit ein paar Jahren bei Schmuckes arbeite, weshalb die Chance relativ groß sei, dass sie die Eheringe bei ihr aussuchen würden.

Svenja hatte das nicht weiter gestört – erst ein Kommentar von Leos Mutter hatte sie aufhorchen lassen. Pass auf, dass sie nicht an dir riecht. Etnas Großvater mütterlicherseits habe den Tod riechen können, das sei stadtbekannt. In den 1960er-Jahren sei er der einzige Schreiner in der Umgebung gewesen, der Särge hergestellt habe. Und nach einiger Beobachtungszeit sei die Brugger Bevölkerung zum Schluss gekommen, dass es schon sonderbar sei, dass er immer die richtige Sarggröße vorrätig hatte, der passende Sarg oftmals sogar schon bereitstand, wenn der Anruf des Pfarrers kam. Er könne den Tod riechen, sagten die Netteren, er würde den Tod anziehen, die anderen. Seine Enkelin habe die Gabe geerbt, ging nun in der Stadt rum, nur könne die Goldschmiedin nicht den Tod, sondern Scheidungen riechen.

Svenja hatte insistiert, dass so was ja wohl Quatsch sei, woraufhin ihr Leo den Podcast über Pheromone empfohlen hatte.

 

»Drei, zwei eins«, hörte Svenja. Dann erschien Etna im Türrahmen.

Ihre Augen hatten rote Ränder, die Haare strich sie sich mit schnellen Bewegungen hinter die Ohren. In der Hand hielt sie einen länglichen Gegenstand.

»Hallo, Svenja«, murmelte sie.

Svenja blinzelte, als sie erkannte, was Etna zwischen den Fingern hielt.

»Ich bin schwanger«, erklärte Etna und ließ die Hand mit dem Test nach unten sinken.

Dann verschwand Etnas ganzer Körper in der Versenkung.

Svenja lief schnell um den Tresen herum und sah, wie Etna jetzt auf dem Boden kauerte, ihre Knie umklammert hielt, eine kleine Menschenkugel. Svenja blickte sich im Raum um, die Pendeluhren zeigten drei nach elf.

»Brauchst du was?«, fragte Svenja. »Eine Suppe oder so?«

Etna hob den Kopf.

»Ich schließe gleich den Laden.«

»Willst du … willst du zu einer Ärztin?«

»Muss man das?«

»Ich weiß es nicht. Aber vielleicht jemanden anrufen? Das ist ja schon ziemlich was.«

»Es ist nicht der erste Test«, erklärte Etna, »ich weiß es schon seit ein paar Tagen und sollte eigentlich nicht mehr geschockt sein. Ich wollte nur nochmals sichergehen.«

Etna löste die Arme von den Knien, faltete ihren Körper auf, erhob sich. Ihr Bauch war flach.

»Du hast recht. Es ist schon ziemlich was«, verkündete sie, »aber irgendwie auch gut. Ich fühle mich, als stünde ich auf einem weiten Platz ohne Routenplan. Das ist doch schön, nicht? Warte, ich hole kurz die Ringe.«

 

Svenja stand wieder allein im Laden. Sie drehte sich zur Tür, die gleichzeitig der Notausgang war. Dahinter der Marktplatz mit den roten Steinen. Ein Auto fuhr über die Steine, obwohl das verboten war. Genauso, wie es verboten war, einfach zusammenzubrechen, mitten am Arbeitstag vor einer Kundin hinter dem Tresen zu versinken, zu schluchzen, rot geweinte Augen zu haben.

Ein weiter Platz ohne Routenplan.

Die Arme, dachte Svenja, und gleich darauf dachte sie an sich selbst, weil Leo ihr das Gleiche heute Morgen gesagt hatte, du Arme, weil sie wieder schlecht geschlafen hatte. Er meinte, dass sie vielleicht mal ganz was anderes machen sollte an ihrem Dienstag. Neue Eindrücke, was Außergewöhnliches tun, solche Sachen.

 

Etna stand wieder vor ihr. Sie hatte eine dünne olivgrüne Jacke angezogen.

»Snacks!«, sagte sie, hielt Süßigkeiten und Chips hoch, die sie in einem neongrünen Turnsack verschwinden ließ.

Sie betätigte einen Knopf unter der Theke, der die Eingangstür verschloss, und riss das Plakat mit der Veranstaltung zu fairem Gold ab.

Entschuldigend sagte sie: »Tut mir leid, das volle Programm mit Präsentation und Goldpolieren holen wir später nach. Ich muss wirklich los, muss mich auf die Suche nach dem Vater machen. Erster Halt Basel.«

Svenja zog die Augenbrauen hoch.

»Es gibt mehrere Kandidaten«, ergänzte Etna.

Svenja nickte, nickte nochmals, sie nickte, damit die Worte endlich aus ihr rauspurzelten.

»Soll ich mitkommen?«, fragte sie und schob noch »Ich habe heute frei« hinterher.

Etna drückte einen weiteren Knopf, der das Licht in den Schaukästen ausgehen ließ. Alles wurde diffus, als hätte sich eine Rauchwolke vor die Sonne geschoben.

Etna zögerte, sagte: »Du willst deinen freien Tag hergeben?«

»Das passt. Für mich.«

Etnas Blick verlor sich zwischen den Pendeluhren.

Sie nickte nur.

2012

Entscheidungen mussten her, der Vulkan stand kurzvor der Eruption. Sie packte die wichtigsten Sachen – Zelt, Pullover, Trompete – in die Satteltaschen und fuhr an den nächsten See.

Zwischen zwei Wohnmobilen stellte sie ihr Zelt auf, griff nach der Trompete und lief auf einem langen Steg übers Wasser. Am Ende angekommen, fädelten sich ihre Finger ums Metall, sie hob das Instrument an die Lippen, zögerte.

Die Wasseroberfläche flirrte unter der drückend heißen Sonne. Da stand sie nun, keine eins sechzig groß, zusammengehalten von gar nichts. Sie würde das erste Jahr an der Jazzschule nicht bestehen. Unmöglich. Die Finger ihrer rechten Hand drückten die Ventile in schnellen Wellen runter: Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger. Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger. Dann hielt sie die Trompete an die Lippen, das Mundstück war warm, als wäre es ein Teil von ihr. Sie spielte Naturtöne, immer höher, frei flogen sie über das Wasser.

Warum konnte sie nicht so spielen, wenn jemand zuhörte? Ihr ganzes Leben lang hatte sie nie Bühnenangst gehabt, und jetzt, wo’s um was ging, kam das plötzlich mit voller Wucht.

 

Eine Trompete, schwamm die eigentlich?

Der Gedanke hatte sich einfach so an ihre Neuronen gespült.

Sie nahm ihre Finger von den gewohnten Positionen und ließ ihr Instrument ins Wasser fallen.

Die Trompete schwamm. Sie lächelte. Ein tiefes Blopp drückte sich aus dem Trichter. Dann ging alles ganz schnell.

Die Trompete, voller Wasser, sank unverzüglich, der Vulkan sprang barfuß hinterher, holte Luft, tauchte unter, das Wasser grün und weiter unten hellbraun. Hier irgendwo musste sie sein, sie suchte das Hellbraun ab, drehte den Kopf nach links, nach rechts. Hier irgendwo. Die Trompete hatte sie zu ihrem achtzehnten Geburtstag gekriegt, sie würde sie niemals auf dem Grund des Hallwilersees verrosten lassen. Da! Metall blitzte auf, und sie machte große Züge, Luft, sie brauchte dringend wieder Luft, hielt aber trotzdem inne, denn jetzt, genau jetzt, nahm sie ihre im Sand liegende Trompete zum ersten Mal als das wahr, was sie ebenfalls war: nicht nur ein Instrument, sondern ein Kunstwerk mit geraden und geschwungenen Linien, aus Blech geformt. Sie griff nach dem Kunstwerk, und als sie sich mit den Füßen vom sandigen Boden abstieß, fiel Licht darauf. Die Trompete glänzte wie Gold.

Gold, war ihr Gedanke, als sie die Grenze zwischen Wasser und Luft durchbrach und wieder atmen konnte. Gold, vielleicht sollte sie was mit Gold machen, Dinge formen, etwas herstellen, schmieden, schließlich hieß sie doch Schmied.

Wasser tropfte aus dem Trichter auf den Steg. Sie lief zurück zum Zelt, beglückt.

3

Svenja drehte sich einmal um die eigene Achse. Überden Personaleingang waren sie in einen Hinterhof gekommen, den sie noch nie betreten hatte. Erstaunt betrachtete sie den unförmigen Grundriss. Es gab nichts Nennenswertes zu sehen, es war vielmehr seine Existenz, die Svenja überraschte. Als sie vor zwei Jahren von Deutschland hierhergezogen war, hatte sie innerhalb einer Woche alle Ecken, alle Brunnen, alle größeren und auch die kleineren Straßenkreuzungen erkundet. Dass sie in dieser Stadt noch etwas Neues entdecken würde, hätte sie nicht gedacht. Neue Eindrücke sind gut, rief sie sich in Erinnerung, neue Eindrücke will das Gehirn im Schlaf verarbeiten, und je mehr Eindrücke, desto größer die Motivation des Gehirns, lang und tief zu schlafen.

Etna war weitergelaufen und verschwand im Innern eines blauen Minis. Svenja folgte ihr, öffnete die Beifahrertür, setzte sich ebenfalls, Etna gab der Haifisch-Wackelfigur auf dem Armaturenbrett einen Stoß.

 

Aus der Mittelkonsole zog Etna ein kleines Fläschchen.

»Habe leider nur noch einen«, erklärte sie, bevor sie den Ingwer-Shot in zwei Schlucken leer trank. Ihr Gesicht verzog sich ein wenig, dafür richtete sich ihr Körper auf, wie ein Grashalm nach einem Sturm.

»Es ist wirklich nett von dir, mitzukommen«, sagte sie. »Dass ich immer versuche, alles allein zu machen, ist sicher meine größte Schwäche.«

Svenja gab ein Lächeln zurück und suchte den unteren Rand der Frontscheibe nach Wespen ab, aber da war nur der Hai.

Etna schaltete den Motor ein und fuhr aus dem Innenhof raus auf die Straße Richtung Autobahn.

»Musikwünsche?«, fragte Etna. »Oder einfach Radio?«

»Radio«, antwortete Svenja. Zeit, um einen eigenen Musikgeschmack zu pflegen, hatte sie sich nie genommen.

Etna drückte einen Knopf. Was folgte, war etwas Poppig-Modernes, mit dem sich die Musikredaktion der Sendestation erhoffte, Sommerstimmung in gut gekühlte Büroräume zu bringen.

Die Ampel vor ihnen sprang auf Rot, Etna hielt an, griff nach ihrem grünen Turnsack und zog eine kleine Schachtel hervor.

»Die Gravur sollte korrekt sein«, sagte sie, als sie Svenja die Ringe überreichte, »ich kontrolliere die Buchstaben immer doppelt und dreifach. In meinem ersten Lehrjahr habe ich einmal Reto anstatt Remo in einen Ring graviert, da war die Hölle los. Das Paar hat einen riesigen Radau gemacht, ich hätte fast meine Lehrstelle verloren. Und was höre ich ein Jahr später? Getrennt. Das ganze Theater für nichts.«

Svenja hob den Deckel an. Darunter lagen auf dunklem Samt die goldenen Ringe, die sie schon kannte. Neu war nur die Gravur. Svenja nahm ihren Ring in die Hand. Die Gravur stand korrekt auf der Innenseite: Leo & Svenja 9.9.2023.

Noch knapp drei Wochen. Ab dann wären Leo und Svenja ganz offiziell Leo & Svenja. Drei Jahre nach ihrem Kennenlernen in Costa Rica. Ende zwanzig waren sie da gewesen. Längst keine Teenager, keine verletzlichen Jugendlichen mehr, beide schon im Leben angekommen. Damals, in der Sprachschule in San José, dachte Svenja, dass Leo eine Abkürzung war. Für Leopold, für Leonhard. Aber Leo war einfach nur Leo. Das stand so in seinem Pass: Stierli Leo, drei Buchstaben, fertig.

Svenja steckte den Ring in die Schachtel und die Schachtel in den Rucksack, klemmte den Rucksack zwischen ihre Knie und setzte sich gerade hin.

 

Etna lenkte den Mini auf die Autobahn und wechselte die Spur. Der Haifisch auf dem Armaturenbrett wackelte mit.

»Hast du Hobbys?«, fragte Etna.

»Natur«, antwortete Svenja, »und solche Dinge.«

»Was mit Insekten?«

Svenja räusperte sich.

»Ich bin in einer Neophyten-Gruppe«, erklärte sie, »wir machen regelmäßig Touren durch Brugg und Umgebung.«

Etna stieß ein lautes Lachen aus. »So witzig!«

»Eigentlich sagen die meisten, sie fänden das langweilig.«

»Nein, ich meine, ich war auch mal in einer Neophytengruppe. The Neophytes, wir haben ein paar Songs auf Spotify gestellt, dazu ein richtig schlechtes Bild von uns während einer Bandprobe. Als ich aus dem Studium geflogen bin, musste ich die Band verlassen, weil Rea, unsere Sängerin«, und hier zeichnete Etna mit zwei Fingern Gänsefüßchen in die Luft, »das Niveau halten wollte. Der Prototyp einer selbstverliebten Sängerin. Ihr Mikro hat sie mit Goldspray eingesprüht, weil sie fand, das würde mehr Jazz verbreiten. Aber der Spray färbte grausam ab, am Schluss konnte Rea das Mikro nur noch mit Handschuhen anfassen. Seit meinem Rauswurf haben die Neophytes jedenfalls nichts Neues mehr rausgebracht.«

»Das spricht für dich.«

»Denke ich auch. Aber mit dem Erfolg in der Musikbranche ist es so eine Sache. Pro Tag werden Hunderttausende Songs auf Spotify geladen – und der größte Teil davon wird genau zwei Mal aufgerufen: Einmal von deinen stolzen Eltern und einmal von einem random Dude, der seinen eigenen Musikgeschmack für exquisit und deine Musik für underground hält. Eure Neophytengruppe macht wenigstens einen Unterschied. Kämpft für Biodiversität, dass die invasiven Pflanzen die anderen nicht verdrängen. The Neophytes hat niemanden vom Markt verdrängt, wir haben ihn lediglich um ein paar zusätzliche Songs erweitert. Die Musik zum Beruf zu machen, kann ich also nicht empfehlen. Und du? Was hast du gelernt?«

»In Deutschland habe ich Informatik studiert und hier in der Schweiz eine Stelle bei einer Krankenkasse angenommen. Sie zahlen gut. Der Kaffee ist gratis, das IT-Team ganz nett, es gibt weder Apéros noch Teamausflüge, alles sehr entspannt insgesamt. Du hast Musik studiert?«

»Jazz. Vier der fünf großen Schulen des Landes wollten mich nehmen. Ich bekam ein Stipendium vom Kanton, es erschien sogar ein Artikel über mich im Generalanzeiger. Ich zog aus, hatte in Basel eine WG mit zwei anderen Musikerinnen.«

»Und dann?«

»Dann nichts. Ich bekam Bühnenangst. Ich konnte vor einem Vorspiel tagelang nicht schlafen und mich auf nichts konzentrieren. Bei den Prüfungen kam aus meiner Trompete nichts, bloß warme Luft. Die Dozentinnen haben gemeint, ich solle eine Therapie machen, es gäbe viele, die damit zu kämpfen hätten. Bis ein Platz bei einer darauf spezialisierten Therapeutin frei wurde, waren die Prüfungen schon durch und ich exmatrikuliert. Die Therapie habe ich trotzdem gemacht, das ging noch auf Kosten der Hochschule. Jetzt habe ich zwar keine Bühnenangst mehr, dafür aber keine Bühne.«

Svenja nickte, versuchte alles zusammenzusetzen. Leo war in der Neunten über beide Ohren in Etna verliebt gewesen. Nach den Frühlingsferien hatte sie mit ihm Schluss gemacht und war später aufs Gymnasium gegangen. Dann die abgebrochene Jazzschule, jetzt Goldschmiedin. Und neu: schwanger von unbekannt.

Svenja schielte zu Etna rüber, die in dem kleinen Auto erstaunlich groß wirkte. Ihr Gesichtsausdruck war freudig, so als wäre das ein Ausflug in den Europapark.

»Mein Gott«, sagte Etna lächelnd, »und ich wäre fast allein losgefahren.«

2013

Sind Sie Einzelkind?, wollte ihre zukünftige Chefin beimBewerbungsgespräch wissen. Der Vulkan kannte die Frage, sie kam ab und zu. Dabei hatte sie zwei ältere Brüder. Beide hatten erst viel Sport getrieben und sich dann Jobs gesucht, in denen man sich ebenfalls gut abkämpfen konnte.

Die Eltern arbeiteten Teilzeit, der Vater Maler, die Mutter Archäologin, beide hatten viel mit Pinseln zu tun, beide mochten italienische Vornamen.

Es wurde viel Zeit draußen verbracht. Vor ihrem Haus stand ein alter Kirschbaum, aus den Früchten kochten sie Konfitüre. Beim Rasenmähen wurden Osterglocken und Margeriten stehen gelassen.

Warum nur wurde sie so oft als Einzelkind taxiert?

Ihre WG-Mitbewohnerin meinte, es sei, weil sie immer recht haben wolle: Wie viele Tage hat der November? Wie können wir die Welt gerechter machen?

Florian, den sie ein bisschen zu nah an sich herangelassen hatte, meinte, es läge daran, dass sie niemanden richtig nah an sich heranlassen würde, als hätte sie Angst, die Menschen würden gleich darauf wieder verschwinden – Kinder mit Geschwistern hätten da mehr Konstanz erlebt, hätten mehr Vertrauen.

Als die Chefin meinte, ihr Name klänge, als hätten sich ihre Eltern was ganz Besonderes für ihr einziges Kind aussuchen wollen, antwortete sie: Ich habe zwei Brüder.

4

Den Fressbalken bei Pratteln kannte Svenja nur ausErzählungen. Etna schlug vor, dort Mittagspause zu machen, und Svenja hatte Hunger, wollte essen, wollte dieses Restaurant, das sich quer über die sechs Spuren spannte, von innen sehen.

Als Svenja die Beifahrertür öffnete, drang sofort das Dröhnen der vorbeirasenden Autos in den Mini.

»Ich muss aufs WC«, erklärte Etna, »du kannst ja schon ins Restaurant hoch, wenn du willst.«

Svenja streckte ihre Beine heraus und beobachtete Etnas lang gezogene Schritte; ein heranrollendes Auto hielt, um ihr den Vortritt zu lassen.

Svenja blieb noch einen Moment sitzen.

Leo fragte am Dienstagabend oft, was sie den ganzen Tag gemacht habe – meistens wusste sie nicht, was sie ihm antworten sollte. Kaffee trinken, Einkäufe erledigen und was lesen, das klang einfach nicht nach einem vollen Tag im Vergleich zu Hecken schneiden, Gärten vertikulieren und Motorsägen einfetten.

Sie gab dem Haifisch einen Stoß, sein Unterkiefer und seine Rückenflosse begannen zu wackeln. Heute würde anders werden.

 

Das Restaurant schwebte über der Autobahn, darunter tödliche Geschwindigkeit. Die ovalen Fenster sahen aus wie abgehackte Tentakel, es roch nach Bratwurst und Feuchttüchern.

Svenja hatte sich mit ihrer Portion Pommes so hingesetzt, dass sie das ganze Restaurant im Blick hatte, und den Teller schon halb leer gegessen, als Etna endlich auftauchte.

Sie hielt ihre Jacke in der Hand, das Namensschild von Schmuckes hing noch immer an ihrer weißen Bluse.

»Unten gab’s einen Bücherkasten. Ich habe mein Buch dort deponiert«, entschuldigte sich Etna.

Svenja hob die Augenbrauen.

»Das ist meine Marketingstrategie«, erklärte sie, setzte sich auf einen Stuhl und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »Als Red Bull in den britischen Markt einsteigen wollte, haben sie in London mehrere Wochen lang leere Red-Bull-Dosen gut sichtbar in öffentlichen Mülleimern platziert, um den Eindruck zu erwecken, dass das Produkt bereits breit konsumiert wird und darum gut sein muss. Da ich keinen Verlag für mein Buch gefunden habe, vermarkte ich es erst mal selbst, und zwar auf die gleiche Art. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, deponiere ich eins in einem Bücher-Kasten. Aber darum geht es jetzt nicht. Soll ich dir mehr über den ersten Vaterkandidaten sagen?«

»Bisher weiß ich nur, dass er in Basel wohnt«, antwortete Svenja und schob den Teller in die Tischmitte.

Etna griff in die restlichen Pommes.

»Er heißt Florian, ist ein netter Typ«, erklärte sie mit vollem Mund, »ein bisschen schüchtern am Anfang, das liegt an seinem Beruf.«

»Was arbeitet er denn?«

»Er ist Komponist.«

»Oh, kennt man was von ihm?«

»Das solltest du ihn besser nicht fragen. Aber mach dir keine Sorgen. Ich glaube, du hast eine beruhigende Wirkung auf Menschen. Was meinst du? Werde ich etwas spüren, wenn ich vor dem richtigen Vater stehe? Ich denke die ganze Zeit darüber nach, ob mir das Kind dann ein Zeichen gibt, mich tritt oder so.«

Svenja schüttelte den Kopf und legte mit vier Pommes das Fundament für einen Turm, wie sie das mit ihren Schwestern früher immer gemacht hatte.

»Das Baby hat noch keine Beine«, erklärte sie, »das tritt dich nicht.«

Etna zeigte mit beiden Zeigefingern auf Svenja.

»Siehst du!«, rief sie entzückt. »Genau deswegen brauche ich Menschen wie dich. Du weißt, dass Babys so früh noch keine Beine haben. Darf ich? Dann ist er stabiler.«

Svenja nickte, und Etna vollendete den Pommes-Turm mit einer kleinen Plattform.