Karlchen oder Die Tücken der Tugend - Heinz Liepman - E-Book

Karlchen oder Die Tücken der Tugend E-Book

Heinz Liepman

4,8

Beschreibung

Karl Kunde, genannt Karlchen, 26 Jahre alt, kann nicht lügen. Karlchen sagt stets die Wahrheit und sorgt somit für Verwirrung und Missverständnisse seitens seiner Umwelt. Noch etwas kann Karlchen gut: Auto fahren; er hat Glück und erhält eine Anstellung als Taxifahrer. Auf seinen Wegen durch die Stadt trifft Karlchen Freunde wieder, besucht seinen alten Stammtisch und geht kurze Beziehungen mit Frauen ein. Heinz Liepman erzählt mittels seines Antihelden Karlchen von einer Welt, in der die Anpassung nur durch die Lüge zu erreichen und die einfache Wahrheit zum Scheitern verurteilt ist. Der Roman ist eine Satire auf die zeitgenössische Gesellschaft, geprägt von einer tiefen Menschenliebe des Autors. In einem kurzen Beitrag für den Tagesspiegel bemerkte Liepman 1964: "Warum ich das Buch geschrieben habe? Weil ich Karlchen so gut kenne, und weil ich seit 5 Jahren so oft an ihn denken muss. Besuchszeit ist jeden ersten Dienstag im Monat, von 2 bis 4 Uhr nachmittags." Der Roman erschien erstmals 1964 und war Liepmans letztes Werk.

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Heinz Liepman

KARLCHEN

oderDie Tückender Tugend

Roman

INHALT

Karl Kunde, genannt Karlchen, 26 Jahre alt, kann nicht lügen. Karlchen sagt stets die Wahrheit und sorgt somit für Verwirrung und Missverständnisse seitens seiner Umwelt. Noch etwas kann Karlchen gut: Auto fahren; er hat Glück und erhält eine Anstellung als Taxifahrer. Auf seinen Wegen durch die Stadt trifft Karlchen Freunde wieder, besucht seinen alten Stammtisch und geht kurze Beziehungen mit Frauen ein. Heinz Liepman erzählt mittels seines Antihelden Karlchen von einer Welt, in der die Anpassung nur durch die Lüge zu erreichen und die einfache Wahrheit zum Scheitern verurteilt ist. Der Roman ist eine Satire auf die Gesellschaft, geprägt von einer tiefen Menschenliebe des Autors. In einem kurzen Beitrag für den Tagesspiegel bemerkte Liepman 1964: „Warum ich das Buch geschrieben habe? Weil ich Karlchen so gut kenne, und weil ich seit 5 Jahren so oft an ihn denken muss. Besuchszeit ist jeden ersten Dienstag im Monat, von 2 bis 4 Uhr nachmittags.“ Der Roman erschien erstmals 1964 und war Liepmans letztes Werk.

HEINZ LIEPMAN (1905–1966)

geb. 1905. Dramaturg bei den Hamburger Kammerspielen, 1929 erschien sein Debütroman Nächte eines alten Kindes. Da er sich politisch gegen den Nationalsozialismus engagierte, wurden seine Werke im April 1933 verboten. Zwei Monate später wurde Liepman im KZ Wittmoor inhaftiert, konnte aber nach Holland flüchten, wo er im Februar 1934 wegen »Beleidigung des Staatsoberhauptes eines befreundeten Staates« zu einem Monat Haft verurteilt wurde. Juni 1935 Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft. 1941 US-amerikanisches Exil, wo er von 1943 bis 1947 für die Times tätig war, als deren Korrespondent er schließlich nach Hamburg zurückkehrte. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Ruth Lilienstein gründete er die Literaturagentur Liepman AG und konnte namhafte Autoren wie Norman Mailer oder F. Scott Fitzgerald dafür gewinnen. 1962 übersiedelte das Ehepaar Liepman in die Schweiz, wo Heinz für diverse Zeitungen arbeitete. 1964 erschien sein letzter Roman Karlchen oder Die Tücken der Tugend. Heinz Liepman starb 1966 in seinem Ferienhaus in Agarone im Tessin. Die Literaturagentur Liepman AG besteht heute noch und hat ihren Sitz in Zürich.

Heinz Liepman

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

1

Dr. Freundlich, der Abteilungsarzt, kam in den Wachsaal und lächelte. Mit ausgestreckter Hand kam er auf Karlchen zu. Das alltägliche Ritual begann.

»Wie geht’s uns heute, Karlchen?«

»Danke, mir geht es gut, Herr Doktor.«

»Gut geschlafen?«

»Danke, ja.«

»Haben wir irgendwelche Wünsche, Beschwerden?«

»Danke, nein, Herr Doktor.«

Dr. Freundlich setzte sich auf das Fußende von Karlchens Bett. »Was ist los, Karlchen?«

»Nichts Besonderes, Herr Doktor …«, und noch bevor er den Mund geschlossen hatte, sah er den lauernden Blick. Dr. Freundlich merkte alles.

»An was haben wir jetzt gedacht, Karlchen?«

Karlchen zögerte. »Ja …«, sagte er.

»An was?«

»Ich werde ausbrechen, habe ich gedacht, Herr Doktor.«

»Ausbrechen?«

»Ausbrechen.«

»Ja, warum, um Himmels willen? Gefällt es uns nicht bei uns? Haben wir irgendwelche Wünsche, Beschwerden?«

»Danke, nein, Herr Doktor.«

Dr. Freundlich zögerte, kniff die Augen zusammen und visierte Karlchens Gesicht, die verwaschenen hellen Augen, die stoppligen Kinderwangen, die kleinen Pickel und Runzeln, den ahnungslosen Mund. Er suchte in seinen Schubladen nach einer Frage, die Karlchens unerwartete Antwort einordnen und registrieren könnte; schließlich fragte er: »Verdauung in Ordnung?«

»Ja, Herr Doktor, danke.«

»Und nichts geträumt?«

»Das übliche, Herr Doktor.«

Dr. Freundlich legte seine Hand auf Karlchens. »Nun wollen wir mal vernünftig miteinander reden, wir zwei. Wir sind doch ein intelligenter Bursche – und dann reden wir so dumm. Hier kann man nicht ausbrechen, das wissen wir doch. Und warum sollten wir? In ein paar Wochen werden wir entlassen …«

»Das sagen Sie mir seit drei Monaten, Herr Doktor. Sie hatten mir gesagt im Mai. Und jetzt ist Juni.«

»Wir müssen noch ein paar Wochen Geduld haben, Karlchen. Ich kann Sie noch nicht entlassen. Wir sind gefährdet.«

»Wer gefährdet mich denn, Herr Doktor? Mir tut doch keiner was. Ich will Ihnen die Wahrheit sagen: ich habe doch was Besonderes geträumt. Von der Chausseestraße.«

»Chausseestraße? Was ist denn das?«

»Eine Straße.«

»Das verstehe ich. Was haben wir geträumt?«

»Ich ging durch die Chausseestraße. Ich kam an einem Blumengeschäft vorbei. Es war ein heißer Tag. Es roch nach Staub und nach Schweiß. Die Straßenbahnen klingelten, und da waren viele Leute. Der Blumenladen sah kühl aus, mit gelben Rosen für Beerdigungen und Nelken für die Damen zum Anstecken, weiße. Ich sehe mir Blumen gern an; ich blieb stehen, Blumen widersprechen einem nicht, sie fressen einen nicht, sie tun einem nichts, sie riechen wie so ein Mädchen, noch nicht ganz fertig zu gebrauchen, aber bald. Da saß an der Registrierkasse eine junge Dame in einem rosaroten Pullover. Nylon-Fältchen unter den Kniekehlen. Passiert ist nichts weiter in dem Traum. Ich wachte auf, und da dachte ich, jetzt muß ich weg aus der Anstalt. – Wollen Sie mich nicht vielleicht doch entlassen, Herr Doktor?«

»Geht doch noch nicht, Karlchen. Hier sind wir sicher, aber draußen, da sind wir gefährdet.«

»Draußen, wer sollte mir da was tun? Ich tu doch keinem was …«

»Das können wir nicht so übersehen, Karlchen. Das weiß ich besser. Draußen sind wir gefährdet, und zwar darum, weil wir für uns selbst gefährlich sind und darum auch für die anderen. Wir kennen doch unsere Erlebnisse, Karlchen, wir zwei – Sie und ich.«

Karlchen wurde bockig. »Das war damals doch nur, weil ich keinen Vater hatte. Jetzt bin ich erwachsen. Wenn Sie mich nicht entlassen, Herr Doktor, dann büxe ich aus, ruck-zuck. Wenn Sie mich nicht entlassen, wo Sie es versprochen haben, für Mai, und jetzt ist Juni, dann hau ich ab, dann hält mich keiner mehr hier.«

Die Ärzte argumentieren nie mit den Patienten. Dr. Freundlich war noch bei Karlchens Traum. Es sollte ihm etwas dazu einfallen, aber es fiel ihm nichts ein.

»Gut, gut, Karlchen«, sagte Dr. Freundlich zerstreut, unentwegt lächelnd, »darüber sprechen wir noch, wenn es soweit ist. Interessanter Traum, der mit dem Blumengeschäft. Wird uns sicher weiterhelfen. Träumen, Karlchen, das bringt uns weiter.«

Aber als Karlchen dann soweit war mit dem Ausbrechen, Montag nacht, da war Dr. Freundlich nicht da. Er, der immer alles wußte, hatte nicht gemerkt, daß es Karlchen ernst gewesen war. Er konnte nicht noch mal mit Karlchen darüber reden.

Es war spät geworden, nach elf, es ging ja nicht früher. Nun ist Karlchen im Park, die Bäume rauschen, fern tutet es vom Hafen. Vielleicht haben sie es gemerkt, daß ich weg bin, und nun warten sie irgendwo auf mich im Dunkeln. Es ist eine gute Nacht, sanft und still, es riecht nach Regen, und über der ganzen Stadt hängt der Himmel hoch, schimmernd, unbeteiligt. Niemand ist hier, niemand wartet auf mich. Der Himmel, der verrät mich nicht, der verrät niemanden außer denen, die sich auf ihn verlassen, und die sind selbst schuld. Laß den Himmel in Ruh, und er läßt dich in Ruh …

Bisher war es verhältnismäßig einfach, alles ging wie von selbst. Schwierig war es nur gewesen, die Kleider zu bekommen.

Nachmittags um fünf, wenn die Patienten des Wachsaals von ihrem Spaziergang durch den Park zurückkommen – zwei Pfleger vorn, zwei Pfleger hinterher –, dann müssen sie ihre Kleider abgeben. Die Pfleger schieben die fahrbaren Garderobenständer in den Saal. Die Patienten ziehen sich aus, hängen ihre Anzüge und ihre Unterwäsche auf die Bügel und die Bügel an den Garderobenständer. Sie ziehen die kurzen, hinten geschlitzten Krankenhausnachthemden über – das begreifen sie alle, die stumpfen und auch die erregten und alle in der Wolke ihres kranken Männergeruchs, und dann rollen die Pfleger die Garderobenständer aus dem Saal, hinter die verschlossene Abteilungstür, in den Korridor, und da stehen sie dann den ganzen Abend und die Nacht und flüstern und stinken.

An diesem Montagnachmittag hatte Karlchen sich blitzschnell als erster ausgezogen, er hatte seine Sachen schon über den Bügel und an den Ständer gehängt, als die anderen gerade anfingen, sich auszukleiden. Als dann die Männer, die Nachthemden über den mageren, haarigen Beinen, sich um ihn drängten und schoben, und die beiden Wärter an der anderen Seite des Wachsaals miteinander plauderten, da hatte er seinen Bügel ruhig, ohne Hast, wieder heruntergenommen vom Ständer und die Kleider unter die Decke seines Bettes gesteckt. Keiner der Pfleger sah ihn, und falls einer der Patienten ihn bemerkte, so verstand er nicht, was Karlchen da tat, oder falls er es verstand, dann sagte er nichts. Wenn man nicht muß, dann redet man nicht ungefragt im Wachsaal.

Um neun Uhr abends, als die Männer schon eine halbe Stunde in ihren Betten lagen, stumpf, ausgeronnen alle Gedanken und Gefühle – entweder weil sie so waren oder weil man ihnen Spritzen, Pillen, Zäpfchen, Pulver, Einläufe, Tropfen gegeben hatte, damit sie über Nacht so seien –, um neun Uhr, da werden die Tagespfleger abgelöst und der Nachtmann kommt, Herr Brause, ein schwerfälliger Schrank von einem Mann, der seit hundert Jahren Nachtdienst macht und der an alles, was da passieren kann, gewöhnt ist. Schon um zehn sitzt er da, schlafend mit schweren Augenlidern, auf seinem Stuhl neben der Nachtlampe. Er erwacht auf die Minute genau jede Stunde, wenn er die Kontrolluhr stechen muß, und dann schläft er sofort weiter. Und von jedem ungewohnten Geräusch, das nicht in den Wachsaal gehört, und sei es auch noch so leise, erwacht er.

Karlchen hockt auf dem Linoleumboden, dem schmalen Raum zwischen seinem Bett und dem des Nachbarn, in dem dunklen Tümpel, in den das Licht der Nachtlampe nicht fällt, und da kleidet er sich an. Ihm ist gut zumute, obwohl sein Herz hart klopft; endlich ist es soweit, und er ist so ausgekocht. Er versteht es, seine Bewegungen und ein gelegentliches Rascheln einzuordnen in die kleinen Geräusche des Saales: das Atmen und das Röcheln, das Schnauben und das Schnarchen und das sich ruhelos Umherwälzen. Dann auf den Socken hinter das dritte Bett von seinem, wo die Toilette ist – ohne Tür natürlich und ohne Kette, damit nichts passiert, keiner sich aufhängt oder sich die Pulsadern durchschneidet. Für die Spülung gibt es einen blanken Knopf; er drückt den Knopf, das Wasser rauscht gleichmütig, und da das gelegentliche Rauschen der Spülung zum Wachsaal gehört, zum Atmen und Schnarchen und Umherwälzen, so wacht Herr Brause davon nicht auf und auch sonst keiner. Noch während das Wasser rauscht, ist Karlchen zurückgehuscht zu seinem Bett, er hebt das Kopfende ein wenig an und nimmt den Drücker, den Vierkantschlüssel, aus dem hohlen Metallbein des Bettes.

Wie er – am Vormittag – zu diesem Schlüssel, der alle Türen öffnet, gekommen ist, das war ein Zufall, ein günstiger Zufall gewesen, den er genützt hatte. Aber da Karlchen nicht an Zufälle glaubte, so bedeutete der gelungene Diebstahl des Drückers für ihn das Signal der Vorsehung. Das Signal: Karlchen, es ist soweit.

Es war morgens, kurz nach elf. Dr. Freundlich kam eiligen Schrittes in den Wachsaal und gleich auf ihn zu. Karlchen erschrak, er wollte nicht mit Dr. Freundlich sprechen; der merkte immer alles, sogar wenn man es selbst noch gar nicht wußte, und vielleicht würde er merken, daß es Karlchen ernst war mit dem Durchgehen und würde ihn in eine der hinteren Abteilungen verlegen, mit den Zellen, die immer abgeschlossen waren. Karlchen mochte überhaupt nicht gern mit Dr. Freundlich sprechen, der wußte immer alles besser; er wußte wirklich alles besser, er behielt immer Recht, und das wurmte Karlchen.

Aber an diesem Morgen stellte es sich heraus, daß der Arzt sich gar nicht unterhalten wollte. Vielleicht dachte er an etwas. Auch Irrenärzte, dachte Karlchen, Leute, die man sich nur im weißen Kittel, nur beruflich vorstellen kann, haben vielleicht eine Art Privatleben, das sie gelegentlich beschäftigt. Dr. Freundlich lächelte etwas knapper als gewöhnlich und sagte nur, er wolle jetzt wieder die körperliche Untersuchung vornehmen, sie sei wieder mal fällig.

»Das Hemd aus, Karlchen«, sagte er, »und aufrecht im Bett sitzen.« Er begann Karlchen die Brust abzuklopfen. »Tief einatmen, Karlchen, und nun ausatmen …«, und da hatte Karlchen auf gut Glück, und weil er das immer tat, schon die Taschen des weißen Mantels durchsucht, den Dr. Freundlich trug, und den Vierkantschlüssel gefunden.

(Weißer Mantel und so ein Drücker, der die verschlossenen Türen öffnet, dachte Karlchen, während der Arzt ihm nun den Rücken abklopfte, und er den Schlüssel in seiner rechten Hand hielt, die gehören zur Berufskleidung des Irrenarztes wie der Frack und die Peitsche zum Dompteur, wie die Schürze und der Kochlöffel zum Koch! Wie die Reizwäsche zur Nutte.)

Karlchen mußte lachen.

»Was ist denn so komisch, Karlchen? Tief einatmen sollen wir und wenn ich sage: Aus, dann ausatmen. Aus …« und Karlchen verkniff sich das Lachen und atmete tief aus. Er dachte nun an den Schlüssel, den er in der Hand hielt. Das ist das Signal, dachte er, jetzt ist es soweit, heute nacht hau ich ab.

Dr. Freundlich klopfte ihm auf die Schulter. »Tadellos, Karlchen, das Herz und die Lungen, bis auf ein kleines Geräusch, wir rauchen wohl zuviel, muß mal darauf achten. Und jeden Tag ganz regelmäßig an den Spaziergängen im Park teilnehmen. Frische Luft, Karlchen.«

»Jawohl, Herr Doktor«, sagte Karlchen höflich, »ich hab gerade an frische Luft gedacht.«

Dr. Freundlich ging ein paar Betten weiter und beschäftigte sich mit einem anderen Patienten. Karlchen ließ sein Taschentuch fallen, sprang, nackt wie er war, aus dem Bett, zog das Nachthemd an und tat, als suche er das Taschentuch, das vor ihm lag. Er bückte sich tief, kroch unter das Bett und suchte überall nach dem Taschentuch. Niemand achtete auf ihn. Er hob das Kopfende des Bettes etwas an, der Vierkantschlüssel, hoch gestellt, paßte genau in das hohle Metallbein.

Eine halbe Stunde später, kurz vor Mittag, war Dr. Freundlich mit seinen Untersuchungen fertig und wollte den Wachsaal verlassen. Als er die Tür in den Korridor aufschließen wollte, vermißte er den Drücker. Er suchte in allen Taschen, auch in den privaten, aber er fand ihn nicht. Er schüttelte den Kopf; zum ersten Mal, seitdem Karlchen ihn kannte, lächelte er nicht und sah ganz verändert aus ohne Lächeln, grau und privat, beinahe wie ein Patient. Es gab einen Alarm, ein halbes Dutzend Pfleger schwärmte in den Saal. Alle Patienten, bis auf die mit den Schlafkuren, mußten aus ihren Betten und sich in ihren kurzen Nachthemden an der hellen, leeren Wand aufstellen, den Rücken zur Wand. Alles wurde durchsucht, mit altgewohnter Routine, die Patienten zuerst, auch die schwankenden, die sich von ihren Sedativen noch nicht erholt hatten, und die Betten. Sonst war im Wachsaal kaum etwas zu durchsuchen, höchstens noch die Heizungskörper, ein Kalender an der Wand, einige Nachttischchen mit zwei Blumenvasen, die eine leer, die andere dick voll mit etwas Grünem, und der Tisch des Abteilungspflegers. Aber der Schlüssel wurde nicht gefunden. Schließlich durften die Männer zurück in ihre Betten, und dann kam auch schon der Wagen mit dem Mittagessen. »Vielleicht habe ich den Drücker im Büro gelassen«, sagte Dr. Freundlich, der spürte, daß alle ihm schweigend Vorwürfe machten, die Patienten und auch die Pfleger, »vielleicht hat einer der Pfleger mir die Tür aufgeschlossen, als ich kam, ich habe nicht darauf geachtet, ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, ich habe allerlei im Kopf heute morgen …« Er war etwas kleinlaut, soweit er das sein konnte, aber schon lächelte er wieder.

Und nun in der Nacht, während das Wasser in der Toilette versickerte, holte Karlchen den Drücker aus dem hohlen Metallbein des Bettes. Dann nahm er seine Schuhe auf, die unter dem Bett standen. Unter den Einlagesohlen fühlte er die beiden Zwanzig-Mark-Scheine, die er dort versteckt hatte, als sie damals, am frühen Morgen, an die Zimmertür klopften, um ihn abzuholen und in die Anstalt zu bringen. Bei der Aufnahme hatte er auf die Frage: »Wertsachen?« nur seine Armbanduhr abgegeben, nach Geld fragten sie nicht, und so sagte er nichts. Er ärgerte sich jetzt über die Uhr, die Uhr war verloren, aber was hätte er machen sollen, damals?

Die Schuhe in der Hand bewegte er sich lautlos an der Wand entlang, von Schatten zu Schatten. Ein Mann, an dessen Bett er vorbeikam, hob den Kopf und grinste ihn an.

An der Tür, die vom Wachsaal ins ärztliche Untersuchungszimmer führte, stellte Karlchen die Schuhe auf den Boden. Von dem Nachtpfleger, Herrn Brause, und seiner Lampe war er durch die ganze Länge des Wachsaals getrennt. Dies war nun der Abschied. Karlchen betrachtete noch einmal den dunklen, atmenden Raum, so wie er des Nachts aussieht. Die weißgetünchte Decke zuerst, niedrig, fleckig und solid. Diese Decke, die Ewigkeit, das ist die Heimat. Sein Blick glitt über die offenen Münder hinweg, mit dem fauligen Geruch, die da Nacht für Nacht hinaufatmen, und er sah die leeren Augen, die da stets hinaufstarren. Ihm kam der Gedanke: So mag für manche das Grauen aussehen – aber für manche, für die ist es das Zuhause. Nicht nur für die Patienten, die zählen ja nicht; aber das Zuhause auch für die Pfleger und für manche der alten Ärzte. Sie werden alt und grau in diesem Wachsaal und merken es nicht; und für sie ist er so alltäglich wie kahle Bäume im Herbst oder wie das Kartoffelschälen für die alten Frauen.

Karlchen blieb eine Zeitlang stehen und sah dem Saal zu. Er hatte es nicht eilig. Denn es war der Abschied von einer der Heimaten, an die er sich hatte gewöhnen müssen und an die er sich genauso gewöhnt hatte wie an all die anderen. Karlchen dachte beinahe ein wenig traurig: Sie haben wenigstens für mich gesorgt. Essen und Zigaretten und das Bett. Nun muß ich wieder ins Leben. Er seufzte. Er wandte sich zu der Tür und suchte mit den Fingerspitzen das Schloß. Lautlos bohrte er den Vierkantschlüssel in das Schloß, drehte ganz langsam, öffnete die Tür.

Vor ihm Finsternis. Er hob die Schuhe auf und fühlte sich hinein in das Dunkel. Dann, unhörbar, die Schuhe auf dem Boden, richtete er sich auf, schloß die Tür hinter sich, langsam, sehr geduldig, mit beiden Händen und dem Drücker im Schloß.

Er wartete eine halbe Minute, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Nun war es schon nicht mehr so dunkel, vom Fenster her ein Schimmer von Helligkeit. Er zog die Schuhe an. Vorsichtig tastete er sich zum Fenster.

Die Erinnerung hatte ihn nicht betrogen.

Vor den unzerbrechlichen Fenstern des Wachsaals stehen solide Zuchthausgitter, aber die ärztlichen Untersuchungszimmer, die sind für zivilisierte Gespräche, für wohlwollende Ärzte und für Patienten, die sich zusammennehmen, weil sie die Prüfung bestehen möchten, und nach Hause. In den ärztlichen Untersuchungszimmern, da lassen sich die Fenster öffnen wie in normalen Wohnhäusern, und davor sind nur ein paar anmutige Schnörkel aus dünnem Eisen. Mit denen wird man fertig.

Karlchen öffnete das Fenster, dann holte er die Fußbank, die unter dem Untersuchungstisch stand, und stemmte sie gegen die Schnörkel. Sie ließen sich auseinanderbiegen. Er stieg auf die Fensterbank und zwängte sich durch die verbogenen Schnörkel. Er hielt sich an ihnen fest.

Er blickte hinunter. Es war nur ein Stockwerk hoch. Er sah undeutlich die Bäume, die Äste und Büsche und die Schatten. Die Spitzen der Büsche und Äste schwankten ein wenig, als ob sie im Nachtwind ungestört miteinander sprächen, etwas Ernsthaftes und Heimliches.

Plötzlich dachte er: da unten stehen sie im Dunkel, lautlos, und warten auf dich. Sie wissen doch immer alles. Sie wissen längst, daß ich hier stehe. Es hat keinen Zweck, Karlchen. Gib auf, Karlchen. Geh zurück, Karlchen, melde dich bei Herrn Brause, er soll dir was zum Schlafen geben. Du weißt doch, daß du es nicht kannst, dieses Leben.

Und da ließ er los. Im Fallen drehte er sich um, ließ sich rückwärts fallen, in die Büsche hinein und die Sträucher. Die schnappten nach ihm, fingen ihn, kratzten, bogen sich – dann fiel er langsamer weiter, in das Gestrüpp und rutschte sanft bis auf den Boden. Er blieb liegen; nichts verletzt, nichts weh getan, kein Laut als sein eigenes Atmen. Sollen sie kommen, dachte er, ich rühre mich nicht.

Eine Glocke begann zu schlagen, unerwartet und darum erschreckend laut und dumpf und nah, als liege er unmittelbar neben dem vibrierenden Ton. Zweimal schlug es, und dann summte es noch eine Zeitlang weiter. Halb zwölf. Dann kam langsam die Stille zurück und das Dunkel und der Geruch der Erde.

Sie wissen eben doch nichts, dachte er. Sie spielen uns nur vor, als wüßten sie alles, und wir, wir glauben ihnen. Ich gefährlich? Ist ja gar nicht wahr. Sie schlafen, die Dummköpfe, die ewig böse lächelnden. Sie haben keine Ahnung. Es ist halb zwölf, noch eine halbe Stunde bis Mitternacht. Dann wird es Dienstag sein.

Dienstag, der 16. Juni.

Das ist mein Tag.

Karlchen erhebt sich, bürstet sich mit den Händen ab. Ich kann gehen, wohin ich will.

Zum Beispiel zur Chausseestraße.

Oder zum Weinhaus zur Traube. Nein, das geht nicht, Stammtisch ist Dienstag abend, und ich nicht rasiert und ohne Schlips. Besser zur Chausseestraße, da schlafen sie jetzt, und ich kann sie mir ansehen, ganz für mich, und ohne daß sie mich.

Auf jeden Fall: erst mal raus. Tief einatmen die Luft, die mir gehört. Es ist Juni. Jetzt fängt das Leben wieder an. Mein Leben. Meine Nacht.

Karlchens Herz schlägt schneller, wenn er daran denkt. Alles Leben, das ich erwischen kann, das will ich.

Zum Beispiel (denkt er): Mit dem eigenen Taxi durch die Einbahnstraßen, und alle Lichter wechseln auf grün …

Ein Eisberg. Das Schiff neigt sich schief, schräg, es sinkt, es gurgelt. Ich stehe aufrecht, kommandiere ruhig: Frauen und Kinder erst, und die Boote stoßen ab; ich bleibe zurück, sie winken mir zu …

In meinem Schrebergarten, ich grabe, schwitze naß. Der Hund blickt auf zu mir, mein Hund …

Und in der Absteige, schmuddliges, trübes Zimmer, traurige Gardinen. Das Mädchen sagt: du, Karlchen – du bist ganz anders als alle die anderen …

Karlchen schreckt auf. Ich muß über die Mauer. Vielleicht hat Herr Brause es schon gemerkt, er merkt alles. Ich bin gefährlich. Sie werden mich suchen, sie mit ihren aufgekrempelten Armen, den Pranken mit den dreckigen, abgebrochenen Nägeln. Vielleicht auch mit den Hunden.

Über die Mauer.

Er bewegt sich vorsichtig durch die Büsche, er hält sich im Schatten der Bäume. Vielleicht steht irgendwo einer am Fenster. Einer von denen kann immer nicht schlafen. Er huscht von einem Baum zum anderen, bleibt in den Schatten.

Nach einigem Suchen fand er die Stelle, die er sich beim Spaziergang ausgesucht hatte, wo man leicht über die Mauer konnte. Er kletterte hinüber. Erst in dem Augenblick, da er von der Mauer auf die Straße sprang, hörte er die Schritte.

Da war es zu spät. Er sah sie und sie sahen ihn gleichzeitig: den Mann in Uniform und das Mädchen, eine kleine, magere, mit einem Kopftuch. Sie schleppten etwas zwischen sich, etwas Schweres, einen Sarg.

Karlchen konnte im Dreivierteldunkel die Gesichter nicht erkennen, aber daß der Mann in Uniform kein Polizist war, erkannte er am Schritt; er wußte, wie Polizisten gehen, auch in Zivil, das wußte man schon als Kind. Der Sarg, den sie schleppten, mußte sehr schwer sein. Karlchen sah, wie erschöpft das Mädchen war und wie schwer ihr das Tragen wurde.

Es war ein Koffer.

Nicht nur Karlchen erschrak, als er so plötzlich vor den beiden auf der nächtlichen, leeren Straße auftauchte. Auch sie blieben stehen und starrten ihn an. Einen Augenblick schien es sogar, als wollten sie weglaufen, aber der Koffer war zu schwer, er hielt sie fest.

Karlchen faßte sich zuerst. Es tat ihm leid, daß er die beiden erschreckt hatte. Mit seiner höflichen, sanften Stimme sagte er: »Ich bitte um Verzeihung, ich wollte Sie nicht erschrecken.« Und nach einer langen Pause, als sie nichts sagten, fuhr er fort: »Wenn ich Ihnen vielleicht behilflich sein kann – Ihnen tragen helfen zum Beispiel, ich tu es gern. Ich habe nichts Besonderes vor, und das Fräulein sieht müde aus.«

Der Mann hatte sich von seinem Schrecken erholt, nun war er nur noch ärgerlich. Er stand steif da, kniff die Augen zusammen und fragte barsch: »Von wo sind Sie denn so plötzlich hergekommen? Vielleicht über die Mauer? Aus der Klapsmühle ausgebrochen?«

Karlchen lächelte und sagte eifrig: »Ja, genau; ich komme aus der Klapsmühle.«

Sie wußten nicht, ob sie ihm glauben sollten. Das Mädchen sagte gar nichts. Sie hatte den Gurt, an dem sie den Koffer hielt, losgelassen, der Koffer kippte auf ihrer Seite auf den Boden, sie rührte sich nicht. Ihr Kopftuch war rot, ein paar Strähnen Haar auf der Stirn, verschwitzt, farblos, und von ihrem Gesicht konnte Karlchen nur erkennen, daß es mager war und müde. Der Mann in Uniform hielt noch immer seine Seite des Koffers am Gurt hoch, er mußte sehr kräftig sein, obgleich er klein aussah in seiner Uniform, aber drahtig, seine Füße standen breit und fest. Sein Gesicht lag im Schatten. Karlchen spürte, wie mißtrauisch er war.

»Kann mir schon denken, warum er uns helfen will mit dem Tragen«, sagte der Mann. »Raffiniert sind diese Brüder. Der weiß genau, daß die da drin ihn suchen, die Wärter von der Klapsmühle und vielleicht auch die Polizei. Wenn er mit uns ist und den Koffer trägt, denkt er, dann sieht es so aus, als ob er zu uns gehört. Gerissener Vogel. Aber mir soll’s recht sein. Ich schulde denen nichts, denen da drinnen, und den Polypen. Wenn sie mich fragen, ich sage nichts. Geht mich nichts an. Dich auch nicht. Wenn sie dich fragen, du weißt von nichts, verstanden?«

Karlchen nickte, als ob der Mann zu ihm gesprochen hätte. Es war ihm zwar nicht eingefallen, sich bei den beiden zu verstecken, er hatte nur helfen wollen, weil er die beiden erschreckt hatte und weil das Mädchen so müde aussah, aber es ging ihm sofort ein, daß das, was der Mann gesagt hatte, vernünftig war. Karlchen nahm also den Gurt an der Seite des Mädchens, und so gingen sie los, Karlchen und der Mann im gleichen Schritt. Der Koffer war schwer und wurde immer schwerer. Niemand begegnete ihnen. Der Mann mußte sehr kräftig sein, er schritt aus, mit regelmäßigen, langen Schritten, Karlchen mußte folgen.

Sie kamen nun am Portal der Anstalt vorbei, eine Lampe brannte, und in diesem Augenblick wurde eine kleine Tür im Portal geöffnet und ein Dutzend Männer kamen herausgestürzt, alle mit langen, braunledernen Schürzen von oben bis unten und aufgekrempelten Ärmeln. Sie liefen nach allen Seiten auseinander, nur einer blieb vor ihnen stehen und wandte sich an Karlchen. »Haben Sie vielleicht einen laufen gesehen, einen Patienten? Einer ist ausgebrochen, er ist gefährlich.«

»Wie sieht er denn aus?« fragte Karlchen.

»Etwa Ihr Alter und Ihre Figur«, sagte der Wärter. »Er kann noch nicht weit sein. Wir werden ihn schon fangen. Die Polizei ist auch alarmiert. Sie haben einen allgemeinen Alarm durchgegeben. Jede Polizeistreife, jeder Peterwagen, jeder Verkehrspolizist und jeder Detektiv hat seine Beschreibung. Weit kann er nicht kommen, der Kerl. Es wäre uns natürlich lieber, wenn wir ihn erwischen, bevor ein Unglück geschieht. Sie verstehen?«

»Natürlich.«

»Sie haben in der letzten halben Stunde keinen laufen gesehen?«

Karlchen überlegte. »Nein«, sagte er schließlich wahrheitsgemäß, »in der letzten halben Stunde habe ich überhaupt niemand gesehen außer diesem Herrn und der jungen Dame.«

»Machen Sie keine Witze«, schnaubte der Wärter, »ich sagte Ihnen doch, es ist ein junger Kerl, so etwa in Ihrem Alter. Wenn Sie so einem begegnen, seien Sie vorsichtig. Man weiß nie, was diese Burschen anstellen. Na, ich muß weiter.« Er verschwand im Dunkel. Die laufenden Schritte verhallten.

»Da haben wir den Salat«, sagte der Mann, dann hob er den Koffer an und ging weiter. Karlchen blieb nichts übrig, als den Gurt aufzunehmen und ihm zu folgen.

Ab und zu kamen sie an einer Laterne vorbei. Einmal sah der Mann, der vorausging, sich um nach ihm, aber er sagte dann doch nichts. Bei der nächsten Laterne warf Karlchen einen Blick auf das stille Mädchen, und im gleichen Augenblick sah auch sie ihn an. Ihre Blicke trafen sich einen Moment wie eine Verabredung, aber schon blickte sie wieder weg; nichts war geschehen, sie ging mit kurzen Schritten neben ihm, das Licht der Laterne hinter ihnen und vor ihnen Schatten.

Um das lange Schweigen zu brechen, bemerkte Karlchen schließlich, das sei aber ein verdammt schwerer Koffer, ob sie wohl Gold darin hätten. Und als sie auf seinen kleinen Witz überhaupt nicht antworteten, ärgerte er sich und sagte vorlaut: »Vielleicht haben Sie irgendwo eingebrochen? Geht mich natürlich nichts an. Nur möchte ich nicht gern in Unannehmlichkeiten kommen mit den Behörden. Das verstehen Sie doch …«

Der Mann in Uniform vor ihm blieb plötzlich stehen und setzte bedächtig den Koffer ab. »Hast du Geschmack«, sagte er (über Karlchen hinweg) bitter zu dem Mädchen, »hast du das mitgekriegt? Er möchte keine Unannehmlichkeiten haben mit den Behörden, sagt er. Geht durch aus der Klapsmühle, die ganze Polizei der Stadt sucht ihn, und er will keine Unannehmlichkeiten haben. Hast du Töne?«

»Ich hab ja nur ’nen Witz gemacht«, sagte Karlchen begütigend.

Das Mädchen sagte nichts, sie antwortete weder dem Mann noch Karlchen. Der Mann in Uniform grunzte, dann, als das Mädchen immer noch schwieg, hob er mit einem ärgerlichen Schnauben den Koffer wieder an und marschierte weiter. Es blieb Karlchen nichts übrig, als den Gurt aufzunehmen und zu folgen. Sie marschierten weiter, bogen ab von der Mauer der Anstalt, überquerten eine Straße, bogen ein und gingen weiter.

An der Ecke war eine Laterne. Plötzlich lachte das Mädchen auf, piepsig, ein wenig schrill. Sie wandte sich direkt an Karlchen. »Nur damit Sie’s wissen«, sagte sie, »wir ziehen um.« Sie betonte jedes Wort überaus deutlich, als rede sie zu einem Kind, das schwer von Begriff ist, oder zu einem Ausländer. »Wir ziehen um – umziehen – neue Wohnung – kapiert?« Sie sprach weiter, ein wenig atemlos, wie über Karlchen hinweg, aber doch zu ihm. »Ich weiß wirklich nicht, Papa, ob wir ihn weiter mitnehmen sollen. Was machen wir, wenn die Polizei kommt; er ist gefährlich, hat der Wärter gesagt.« Sie sprach so bissig, als meinte sie es gar nicht, als wollte sie ihn nur hochbringen. »Vielleicht sollten wir ihn loswerden, solange es noch geht«, sagte sie irgendwohin, damenhaft.

Der Mann unterbrach nicht den gleichmäßigen Rhythmus seiner Schritte. »Wenn die Polizei kommt«, sagte er ruhig, »dann kann ich immer noch überlegen, was ich tue. Keinen Sinn, sich zu kratzen, bevor es juckt.«

Wieder hundert schweigende Schritte, eine Ecke, eine Laterne. Das Mädchen sagte, zu niemand, vor sich hin: »Er sieht eigentlich nicht aus wie ein Verrückter, oder?«

»Ist doch egal, wie er aussieht, Frieda«, sagte der Mann. »Verrückt oder nicht, den Koffer trägt er wie ein Normaler …«

Er wandte sich plötzlich an Karlchen: »Sie … Wo wollen Sie denn hin, jetzt mitten in der Nacht?«

Erstaunt, daß jemand sich um ihn kümmerte: »Ich?«

»Ja, Sie. Wo Sie hinwollen?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht zur Chausseestraße …«

»Haben Sie da Verwandte oder Freunde?«

»Nein«, antwortete Karlchen, »keinen Menschen hab ich da. Nur die Chausseestraße, die hab ich gern. Es ist eine gemütliche Straße. Ich hab mir immer vorgestellt, daß ich da mal wohnen würde. Ich bin schon oft dagewesen, nur so, mal durchgegangen. Ich kenne niemand da, bis auf eine junge Dame in einem Blumengeschäft …«

Der Uniformierte schnaufte bissig. »Die Geschäfte sind doch jetzt zu, Mensch. Das ist doch verrückt, daß Sie jetzt dahin wollen. Wenn Sie niemand da zu wohnen haben, den Sie kennen, was wollen Sie da mitten in der Nacht in der Chausseestraße?«

Karlchen wurde verlegen, aber er fühlte, daß er sich verteidigen mußte. »Das finden Sie nun wieder verrückt«, sagte er. »Ich sollte meinen Mund halten, aber Sie haben mich ja gefragt. Wo sollte ich denn sonst hin, als wo ich hin möchte? Ich kenne nirgends niemand richtig – warum sollte ich denn nicht in die Chausseestraße, wenn ich das möchte?« Und nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Ich kann doch nichts dafür, daß jetzt Nacht ist. Man kann am besten nachts ausbrechen, wenn überhaupt. Tagsüber ist es viel schwerer. Das ist doch klar. Das ist doch nicht verrückt.«

Und als sie ihm immer noch nicht antworteten, holte er tief Luft und sagte aggressiv (und zugleich erstaunt über seinen Mut): »Ich zum Beispiel finde es viel verrückter, nachts einen verdammt schweren Koffer durch die Straßen zu schleppen und mir zu erzählen, daß Sie mitten in der Nacht und mit einem Koffer umziehen …«

»Siehst du, daß er verrückt ist, Papa?« sagte das Mädchen, und in ihrer dünnen Stimme zitterte ein bißchen Begierde nach dem Verrücktsein.

»Entschuldigen Sie, ich meinte es nicht böse«, lenkte Karlchen ein, keuchend unter der Last des Koffers. »Mein Name ist Kunde, Karl Kunde, aber gewöhnlich werde ich Karlchen genannt. Könnten wir nicht mal einen Augenblick parken?«

»Wir sind bald da, Herr Kunde«, sagte der Mann und marschierte gleichmütig weiter. »Noch einen kleinen Kilometer, dann sind wir in der neuen Wohnung.«

»Sie meinen, Sie ziehen wirklich um?«

»Natürlich, Mensch, was haben Sie denn gedacht? Heute war der fuffzehnte, das ist der Einzugstermin. So habe ich mir gestern nach dem Dienst eine Handkarre geliehen, und Frieda und ich – das hier ist meine Tochter Frieda –, wir haben die Möbel, die Betten und das Geschirr in die neue Wohnung gefahren. Ein halbes Dutzend Mal hin und her. Ist ja nicht weit. Als es dann dunkel wurde, da kam so ein junger Schnösel von Polizist und sagte, nach Einbruch der Dunkelheit darf man keine Karre nicht mehr ohne Licht fahren. Und weil wir keine Laterne hatten, da haben Frieda und ich den Rest im Koffer rübergeschleppt. – Den Koffer darf man nämlich ohne Laterne tragen«, fügte er bissig hinzu.

Karlchen war sprachlos. Wieder einmal hatte sich eine der Verrücktheiten, die die anderen begingen, als vollkommen normal erwiesen. Karlchen seufzte.

Das Mädchen piepste plötzlich los, eine hohe atemlose Stimme. »Sehen Sie wohl, Herr Karlchen, das ist doch ganz logisch, nicht wahr?« Sie sprach hastiger, als habe sie Angst, daß man ihr das Wort abschneiden würde. »Aber warum Sie jetzt in die Chausseestraße wollen, wo Sie Ihre Freundin in dem Gemüseladen doch erst morgen früh besuchen können, das kommt mir verrückt vor. Ist es doch wohl, nicht?«

»Sie war in einem Blumenladen, Fräulein Frieda, nicht in einem Gemüsegeschäft, und ich kenne sie doch gar nicht, ich habe sie nur einmal durch das Ladenfenster gesehen …«

Beinah schrill, spitzig: »Für Sie bin ich nicht Fräulein Frieda. Für Sie immer noch Fräulein Biedermeier.«

»Frieda«, sagte der Mann mit mildem Vorwurf, »Herr Kunde ist so freundlich, uns mit dem Koffer zu helfen. Kein Grund, ihn zu kränken.«

»Keine Kränkung«, sagte Karlchen. Er war traurig. »Fräulein Frieda hat möglicherweise recht. Wahrscheinlich bin ich nicht ganz richtig im Kopf. Irgendetwas ist nicht in Ordnung mit mir. Sonst hätten die in der Anstalt sich doch nicht all die Arbeit mit mir gemacht, und die Unkosten. Mich suchen zu lassen und mich zu beköstigen, das tun sie doch nicht aus lauter Freundlichkeit. Das sind doch Ärzte, studierte Leute. Es ist schon möglich, daß ich nicht alle Tassen im Schrank habe. Natürlich haben Sie recht: was sollte ich wohl mitten in der Nacht in der Chausseestraße? Ich möchte nur eben dahin, weil ich so lange in der Anstalt war, wo man mit keinem reden kann und so vorsichtig sein muß. Ich weiß auch nicht, was ich in der Chausseestraße soll, außer daß ich hin möchte.«

Der Mann blieb stehen. Sie standen vor einem blitzblanken Neubau, direkt vor der Laterne, einem rötlichen Ziegelbau, einem Zwei-Etagenhaus. Die Hausnummer 47 war beleuchtet.

»Hier sind wir nun zu Hause«, sagte Herr Biedermeier mit einem gemütlichen Seufzer und stellte den Koffer ab. »Ich danke Ihnen, Herr Kunde, für Ihre Hilfe. Es war sehr freundlich von Ihnen, uns mit dem Koffer zu helfen. Freundlichkeit können sich heutzutage nur wenige leisten«, fügte er hinzu, »und die leben meistens über ihre Verhältnisse. Womit ich keinerlei Werturteil über Ihre geistige Gesundheit abgegeben haben möchte. Steht mir nicht zu. Bin Straßenbahner. Ich würde Sie gern noch zu einem Glas Bier einladen, aber es ist spät geworden und außerdem habe ich kein Bier im Hause. Vielleicht sehen wir uns mal gelegentlich in der Chausseestraße. Ich fahre nämlich die Linie 8.« Bei den letzten Worten hatte er seine Stimme gesenkt, als wollte er nicht renommieren.

Karlchen wußte nicht recht, was für eine Antwort der Mann erwartete.

»Linie 8 …?« wiederholte er fragend.

»Da staunen Sie, was?« schmunzelte Herr Biedermeier. »Die Linie 8, die Prinzessin unter den Straßenbahnen, wie sie einmal in einer Zeitung genannt wurde. Die fahre ich.«

»So«, bemerkte Karlchen und kam sich sehr dumm vor. »Was ist denn Besonderes an der Linie 8?«

»Besonderes? Besonderes?« äffte Herr Biedermeier ihm nach. »Wenn Sie das nicht wissen, dann kann ich es Ihnen auch nicht erklären. Ich fahre die 8 seit einundzwanzig Jahren – das ist die beste Linie in der ganzen Stadt. Aber woher sollten Sie das auch wissen, Sie waren ja wohl lange außer Zirkulation. Na, vielleicht sehen wir uns mal. Die 8 – falls Sie das auch nicht wissen – fährt durch die Chausseestraße … Gute Nacht.«

Mit einem scharfen Ruck hob er den Koffer, schwang ihn sich auf den Rücken. Ein kräftiger Mann, drahtig. Das Mädchen lief ihm voraus und hielt die Haustür für ihn auf. Er ging hinein, verschwand. Karlchen, der stehengeblieben war, sah, daß das Mädchen einen Augenblick in der Haustür zögerte. Sie wandte sich um nach ihm. Jetzt sah er ihr Gesicht deutlich, kurzsichtig, blaß, verhärmt. Sie blickte ihn an, eindringlich, als wollte sie ihm etwas begreiflich machen, es kam ihm sogar vor, als ob ihr Mund Worte forme. Aber dann kam von drinnen die Stimme des Mannes, sie wandte sich ab und folgte ihm, die Haustür fiel langsam zu.

Er rührte sich nicht vom Fleck, er war maßlos erstaunt, was hatte sie ihm sagen wollen? Er sah sich um, es war eine schmale, ruhige Straße, die er nicht kannte, und hinter ihm die Laterne. Als er die Straße entlang blickte, fiel ihm auf, daß auf beiden Seiten alle Fenster dunkel waren bis auf ein einziges, auf der anderen Seite, hoch oben im zweiten Stock, da war noch Licht. Das Fenster stand offen, eine Gardine hing heraus und bewegte sich lässig im Nachtwind. Karlchen sah auf das erleuchtete Fenster. In der Anstalt, dachte er, da schlafen sie nun, und ich hier allein in einer wildfremden Straße.

Die Haustür öffnete sich wieder unter der erleuchteten 47. Das Mädchen kam zurück. Nun sah er sie deutlich. Sie sah versorgt aus, sogar die Lippen blaß. Sie begann schon zu sprechen, bevor sie bei ihm war, atemlos.