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Olivia träumt – doch ihre Träume sind mehr als nur Bilder der Nacht. Sie sind voller Dämonen, Stimmen und Schatten, die langsam in ihre Wirklichkeit eindringen. Was beginnt wie ein Flüstern, verwandelt sich in einen Strudel aus psychischer Krankheit, unheimlichen Visionen und der Frage, was real ist – und was nicht. Während Olivia immer tiefer in die Dunkelheit ihrer Seele gezogen wird, kämpft ihre Mutter Mara verzweifelt darum, sie zu retten. Doch wie rettet man jemanden, dessen Albträume längst Besitz von der Realität ergriffen haben? Katatonie ist ein psychologischer Horrorroman, der an der Grenze zwischen Wahnsinn und Wirklichkeit spielt. Eine Geschichte über Schuld, zerknitterte Herzen, zerstörerische Dämonen – und die Sehnsucht nach einem Ende. Für Leserinnen und Leser von psychologischem Horror, düsteren Träumen und packenden Geschichten über den Verfall des menschlichen Geistes.
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Seitenzahl: 122
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Des Wahnsinns Beschützerin
Horror
Texte: © 2025 Copyright by Juliane OhlUmschlaggestaltung: © 2025 Copyright by Juliane Ohl
Verlag:Olaf SchönbrunnDorfallee 4918519 [email protected]
Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 BerlinKontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Triggerwarnung
Dieses Buch enthält Themen und Darstellungen, die für manche Leser:innen belastend sein können, darunter:
psychische Erkrankungen (Depression, Dissoziation, Katatonie)
Andeutungen von häuslicher Gewalt
Tod und Trauer
Albträume und verstörende Bilder
angedeutete Suizidgedanken
angedeutete Selbstverletzung
psychologischer Horror
Bitte lies achtsam und gönne dir Pausen, wenn dich Inhalte belasten.
Für alle, die denken,
es sei zu spät neu anzufangen
Es ist nie zu spät.
Esistzuviel. Dieses Buch, diese Kartons, diese ganze beschissene Wohnung. Zu. Viel. So viel kann ein Mensch nicht lesen, geschweige denn lernen. Ich bin müde, hellwach, erschöpft und könnte gleichzeitig die Wohnung grundsanieren. Was hier sowieso vor meinem Einzug mal hätte geschehen können.
Ich lebe in dieser 54-Quadratmeter-Wohnung nun seit knapp zwei Wochen. Überall, wo ich hinschaue, stehen Boxen. Letzte Nacht hätte ich mir beim Toilettengang fast den Zeh gebrochen und sämtliche Nachbarn durch meinen Schrei geweckt, weil – und ich schwöre, der stand vorher nicht da – ein Karton im Flur stand. Ich muss anfangen, den Krempel auszusortieren. Dinge, Menschen, Beziehungen. Immer muss ich sortieren, entscheiden, wegwerfen, trennen, durchatmen. Atme einfach durch, Olivia. Es sind deine eigenen Sachen. Es ist nur eine neue Wohnung. Es ist NUR ein neuer Lebensabschnitt.
Vor vier Wochen saß ich noch abends auf einer riesigen Couch in einer doppelt so großen Wohnung und wartete auf meinen Freund Sven. Vier Jahre, drei Monate und eine unnötige Anzahl an Tagen. Wie zu oft kam er recht spät nach Hause. Wie zu oft war er recht alkoholisiert. Ich hasse es. Diesen Geruch. Diesen Blick. Diese Stimme, die nur noch schleift. Dieses Wanken, dieses Wanken… Ich hasse es nicht nur. Ich ekle mich regelrecht davor. Und dann zerbrach das Glas, der Spiegel, die Zukunft. Vollkommen ohne Vorwarnung sagte Sven mir, dass er sich das mit uns noch mal überlegt hat und ich wahrscheinlich glücklicher wäre, wenn wir von nun an getrennte Wege gehen. War ich unglücklich? Vielleicht. Hat er das zu entscheiden? Eher nicht. Aber wie wahrscheinlich fünfzig Prozent aller Frauen in jeglichen Beziehungen dachte ich mir, dass es schon nicht so schlimm sei. Das bisschen Alkohol, das er trinkt, wird mich schon nicht stören. Ich werde mich schon dran gewöhnen. Nun – das muss ich ja jetzt nicht mehr.
Ich drehe meinen Kopf, der immer noch auf dem Buch liegt, zur Seite und beobachte den Regen, der durch die Bäume rauscht und gegen meine Fenster fliegt. Mehr. Wasch mein Hirn sauber, Regen. Mehr, schneller, Wind. Ich will alles wegwaschen. Ich fühle mich nicht melancholisch oder traurig, nein, es ist eher eine Art Leere. Ein Gefühl von „Ich-habe-mich-irgendwo-im-Wald-verloren“. Warum sucht mich niemand? Aber solange mir niemand hilft, helfe ich mir halt selbst. Wie immer. Immer. Immer. Immer ich. Ich hieve den Stapel an Büchern, Manuskripten und Papieren vom Boden auf mein Bett, setze mich in die Mitte und versuche, einen klaren Kopf zu bekommen. Erst mal sortieren. Mich – und dann den Berg an Zetteln.
Mein Forschungsprojekt an der Uni trägt den wundervollen Namen „Mythologische Archetypen in Träumen“. Wäre ja auch absurd, wenn ich mal irgendwas mit der Realität zu tun hätte – was auch immer diese Realität sein soll. Das riesige braune, muffig riechende Buch packe ich irgendwie mit aller Muskelkraft erst mal zur Seite. Okay, ich habe es nicht komplett gelesen, aber es schien bisher auch nicht so, als wäre dort etwas niedergeschrieben, das mir bei meiner Arbeit weiterhelfen könnte.
Als ich das Buch sanft – und für den Mieter unter mir viel zu laut – auf den Boden fallen lasse, segelt ein Blatt Papier heraus. Es sieht alt aus. Oder alt gemacht. So, wie ich früher für Mama alte Blätter gebastelt habe – angekokelt und mit Kaffee beschmiert, damit es abgenutzt aussah. Aber das hier scheint echt zu sein. Ich kann nicht lesen, was dort steht. Das scheint keine „weltliche“ Sprache zu sein. In der Mitte ist eine große Zeichnung: ein Kreis mit diversen Ornamenten in der Mitte. Der Kreis wird von einem zweiten Kreis umrandet, in welchem die Buchstaben A S T A R O T H stehen.
Astaroth. Klingt alt, dunkel, böse. Ich erschrecke mich und lasse das Blatt fallen. Wovor habe ich mich denn jetzt erschrocken? Es fühlte sich an wie der Moment kurz bevor man einschläft und das Gefühl hat zu fallen – obwohl man ruhig im Bett liegt. Oder in meinem Fall: ruhig auf meinem Bett sitzt.
Ich schaue auf die Uhr. 23:23 Uhr. Verdammt, so spät schon? Ich wollte morgen früh raus, Dinge erledigen und Mama besuchen. Ich fege alles vom Bett, husche ins Badezimmer – das Licht geht erst nicht an, dann aber irgendwie doch. Diese Wohnung muss echt generalüberholt werden. Ich entferne meine Kontaktlinsen, putze meine Zähne (eine Minute – um diese Zeit hab ich keinen Raum für zwei ganze Minuten), binde meine Haare zu einem Dutt zusammen und laufe zum Bett. Als würde das jetzt noch etwas ändern. Es ist bereits spät. Zwei Meter laufen werden das auch nicht ändern.
Ich kuschle mich in meine neue Decke – wenn schon neue Wohnung, dann auch neues Bett, neue Decke, neue Kissen. Denn Schlaf ist wichtig, hab ich gelernt. Sekunden später falle ich in einen tiefen Schlaf, mit dem ich so schnell wahrscheinlich gar nicht gerechnet hätte. Was heißt „wahrscheinlich“? Niemals. Niemals in meinem ganzen Leben bin ich so schnell eingeschlafen.
Ich träume von Blättern, handbeschrieben, die an Bäumen wachsen. Es stürmt, und der Regen knallt mit voller Geschwindigkeit auf die Buchstaben. Die Tinte zerläuft und lässt die Blätter dunkelblauschwarz weinen. Es sieht wunderschön aus – und doch so zerstörerisch. Ich stehe unter dem Baum. Er ist riesig – der größte Baum, den ich jemals gesehen habe. Oder bin ich einfach nur klein? Ich genieße den kalten, dunkelblauschwarzen Regen auf meiner Haut und breite die Arme aus. Ich fühle mich ruhig. Allein und doch nicht einsam. Beschmutzt und doch nicht dreckig. Nass, aber nicht kalt. Schlafend, aber doch wach.
Die gefärbten Regentropfen rinnen mein Gesicht hinab, und ich schaue nach vorne. Da ist jemand. Groß. Breit. Unnatürlich groß. Ich blinzle – und bin wieder allein.
Aber immer noch nicht einsam.
DieSonneknalltmit voller Wucht auf mich und meinen Sonnenstuhl. Das Wetter ist herrlich, nicht zu warm, nicht zu frisch. Die Vögel zwitschern, und es weht eine leichte Brise. Wunderschön. So könnte ich ewig hier liegen, vielleicht ab und zu ein Buch lesen. Olivia sagt immer, dass das, was ich lese, nur schwer als Buch bezeichnet werden kann. Es ist halt kitschig und voller Klischees – na und? Man wird ja wohl noch träumen dürfen. Die Realität kann sowieso viel zu grausam sein, um nicht ab und zu fliehen zu wollen.
Früher war unser Leben kaum von Sonnenschein, Kitsch und Vogelgezwitscher durchsetzt, sondern eher vom Geruch nach Bier, Wodka und Kippen. Dieser kalte Gestank nach Zigaretten ekelt mich heute noch an. Deswegen würde ich auch nie in eine Kneipe gehen. Mal abgesehen davon – was soll ich da? Ich habe jetzt alles, was ich brauche. Alles, was ich will.
Mara ist vor knapp zwei Wochen wieder in meine Nähe gezogen und wohnt jetzt nur zwei Straßen weiter am Stadtrand, in einer kleinen süßen Wohnung. Beim ersten Betreten hat der Holzfußboden so laut geknarrt, dass Olivia sofort wieder fliehen wollte und mir erklärte, dass sie nicht alleine in so einer Wohnung leben kann. Es sei zu klein, zu schmutzig, zu unaufgeräumt, zu billig – bla bla bla. Ich habe ihr erklärt, dass sie mit Anfang 30 wunderbar jung ist, um noch mal komplett von vorne anfangen zu können. Ich sehe noch ihr Augenrollen vor mir. „Dreißig ist nicht jung…“. Und sie kann nicht erwarten, dass sie ohne festen Job, als Studentin, in ein Loft in der Innenstadt ziehen kann. So spielt das Leben nun mal nicht. Und das ist vollkommen okay.
Sie atmete tief (und trotzig) durch und sagte: „Oooookay, Mama…“. Dann schleppten wir die ganzen Kisten, Kartons, Boxen, Bücher und leeren Möbel nach oben – erstmal ohne Konzept. Da war sie dann wieder vollkommen überzeugt, alles alleine machen zu können und zu wollen. Das ist total okay. Sie soll sich finden – ohne Mann, ohne Sven, ohne Geld auszugeben, das nicht ihr gehört. Und das schafft mein Mädchen auch.
Sie ist stark. Das habe ich damals schon immer sehr an ihr bewundert, als mein Ex-Mann besoffen nach Hause kam und sofort die Stimme erhob. Ohne Grund. Oder vielleicht gab es in seinem Kopf einen Grund. Olivia blieb stur auf dem Sofa sitzen und bot ihm die Stirn. Ohne Worte. Ihr regungsloses Gesicht und ihre dunklen Augen haben gereicht, um ihm Warnung genug zu sein. Er hat sie nie angefasst. Sie nie geschlagen. Im Gegensatz zu mir. Ich bin und war nie so stark wie Olivia. Ich bin die welke Butterblume, die beim ersten Windstoß zerfällt. Olivia ist strahlend gelb, standhaft und stabil wie eine gerade gewachsene Butterblume auf einer riesigen Wiese. Kein Sturm der Welt könnte sie jemals wegtreiben.
Eines Nachts kam mein Ex-Mann mal wieder nicht nach Hause. Ich lag im Bett und schaute nach draußen. Es war dunkel, nur die Laternen auf dem Gehweg erhellten alle paar Meter die Umgebung. Olivia kam, ohne das Licht anzumachen, in mein Schlafzimmer. Einen Rucksack auf dem Rücken, Jeans, mindestens drei Shirts und zwei Jacken an.
„Hat nicht alles in den Rucksack gepasst…“, murmelte sie.
„Hey, was ist los, Schatz? Wo willst du denn hin?“, fragte ich.
Sie erklärte mir, dass es jetzt Zeit wäre zu gehen. Papa sei nicht gut für mich, und sie möchte mich lachen sehen. Sie möchte sehen, dass ich atme, auch wenn jemand da ist – und nicht ständig Angst vor dem nächsten falschen Wort hätte.
Sie nahm meine Hand, und ich setzte mich auf. Die Tränen liefen über mein Gesicht, ohne dass ich es bemerkte. Olivia zog meinen Koffer aus dem Schrank und sagte: „Hier, Mama, pack alles ein, was du willst. Du kannst mitnehmen, was DU willst.“ Und sie lächelte.
Meine Güte, dieses Kind. Dieses Kind hat mehr als einmal mein Leben umgekrempelt und mich gerettet. Ich liebe sie. Ich danke ihr. Auch wenn ich ihr das nicht jeden Tag sage.
Das war der letzte Abend in unserem Haus. Ich habe keine Notiz hinterlassen. Ich habe nur meine Sachen gepackt, Olivia an die Hand genommen – und wir sind gegangen, ohne den Funken eines schlechten Gewissens. Das war der erste Tag vom Rest meines Lebens. Klingt kitschig, aber ich lese ja auch viel Kitsch.
Ich nehme mein Smartphone in die Hand und beginne eine Nachricht an Olivia zu schreiben. Ich bin zwar noch relativ neu in diesem Technik-Business, aber mein Smartphone gebe ich nie wieder her. Und schließlich bin ich erst 57 – ich gehe mit der Zeit. Und solange ich nicht alle Level von diesem doofen Spiel mit den bunten Zuckerbonbons durchgespielt habe, kann ich dieses Technik-Wunder eh nicht aus der Hand legen.
„Hey Oliv, hast du Zeit? Wollen wir kurz telefonieren? Mama“ – zack und abgeschickt.
Ich lege es wieder zur Seite und lehne mich zurück. Langsam wird es doch etwas zu warm in der Sonne. Das Telefon klingelt. Olivia. Das ging schnell.
„Hey Schatz, wie geht’s dir?“
Sie antwortet nicht sofort, räuspert sich und sagte, dass sie viel Stress hätte. Die Arbeit in der Uni sei viel. Sie müsse so viel lesen und notieren.
Irgendwie wirkt sie müde. Das ist verständlich, aber ihre Stimme klingt monoton und schlapp. Ist das so, wenn man sich so in die Arbeit reinkniet? Oder verheimlicht sie mir etwas?
„Vielleicht solltest du mal ein, zwei Tage Pause machen, etwas ausruhen, mich besuchen… zum Beispiel?“
„Klar.“
Freude klingt anders, aber ich nehme, was ich kriegen kann.
„Mama, ich schreib dir, wenn ich Zeit habe und wann ich vorbeikomme. Ok?“
„Na klar, mein Schatz, kein Stress.“
„Ok. Bye.“
Und das Telefonat ist beendet.
Sie ist müde, gestresst, schläft wahrscheinlich wenig, ist erschöpft, weil sie ihre neue Wohnung wahrscheinlich zum dritten Mal umstellt, damit alles so steht, wie es ihr am besten gefällt. Ich hätte ja geholfen, aber leider „habe ich keinen Geschmack, was sowas angeht“. Es lohnte sich nicht, deswegen zu streiten, also habe ich sie einfach machen lassen. Aber das Telefonat geht mir nicht aus dem Kopf. Sie war so ruhig. Ich hab sie nicht mal atmen gehört. Kein Seufzer. Keinerlei Emotion. Nur Worte. Die Worte waren genau wie immer. Aber irgendwas stimmt nicht. Ich dramatisiere schon wieder alles. Denke ich.
Zeit für eine kleine Runde durch den Park mit meinem Mängelexemplar Brösel. Brösel hat mein ganzes Herz – na ja, nicht ganz, Olivia hat auch mein ganzes Herz. Beide haben all meine Liebe. Brösel ist ein Streuner aus dem Tierheim. Der einzige Hund, der damals über zwei Jahre im Tierheim gelebt hat. Gelebt – nicht nur kurz. Er hat nicht gewartet, dass ihn jemand mitnahm. Er hatte sein Schicksal akzeptiert. Aber als ich ihn sah, wusste ich, dass das MEIN Hund ist. Er sah gebrochen, bröckelig, schmutzig, alt und treudoof aus. Ich liebe es.
Jetzt ist er sauber, wohlgenährt – muss an meinen Schuhen liegen, die er regelmäßig zerkaut –, gekämmt und verbringt die Nächte auf einem Lammfell, das genau seine Größe hat. Oder er schnarcht neben mir im Bett. Ich glaube, er ist mir dankbar. Und ich ihm auch. Olivia sagt, ich verwöhne den zotteligen Vielfraß viel zu sehr. Blödsinn. Das ist genau das, was er braucht. Er braucht jemanden, der ihm alles gibt, was er so lange nicht hatte – und ich brauche jemanden, dem ich so viel geben kann, bis mein Herz vor Freude überläuft. Das tut es. Jeden Tag.
„Bröööösel…?“, rufe ich in den Flur hinein, und er kommt angewuschelt. Ich sollte ihm mal wieder die Locken aus den Augen schneiden, aber solange er noch nirgendwo gegenläuft, scheint er noch genug zu sehen.
„Komm, mein Schatz, wir durchlüften einmal unseren Körper und Kopf und spazieren eine Runde durch den Park.“
