Katrines Lied - Charles von Rafenstain - E-Book

Katrines Lied E-Book

Charles von Rafenstain

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Beschreibung

Wir schreiben das Jahr 1387. Die Grafschaft Tirol erlebt eine Veränderung, durch welche die alten Adelsgeschlechter immer mehr Einfluss verlieren. Der junge Daniel von Rafenstain versucht verantwortungsvoll in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, doch ein unerwarteter Schicksalschlag stellt sein bisher so sicheres Leben vollkommen auf den Kopf. Damit beginnt ein dramatisches Abenteuer. Mit „Kartines Lied“ wird der Leser auf eine Zeitreise mitgenommen, die einen Einblick in das vielschichtige, schwierige, aber zugleich auch unglaubliche bunte und abenteuerliche Leben im späten Mittelalter gewährt. „Katrines Lied“ baut au dem Roman „Der Ritter von Rafenstain“ auf, ist aber ein in sich abgeschlossener Stoff.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


 

 

 

 

 

CharlesvonRafenstain

 

 

KatrinesLied

EinAbenteuerroman

ausdemmittelalterlichenTirol

 

Autor:CharlesvonRafenstain

Bilder:AnneGyritheSchütt,CharlesvonRafenstain

 

Lektorat:MargarethLun

Herstellung und Verlag: Effekt! - Buchverlag, www.effekt.it ISBN:979-12-5532-106-4

 

 

GefördertmitfreundlicherUnterstützung

 

Vorwort

 

 

 

Nachdem ich meinen ersten Roman „Der Ritter von Rafenstain“ fertiggeschrieben hatte, hatte ich das Gefühl, damit auch ein wichtiges Kapitel in meinem Leben abgeschlossen zu haben. Es war ein sehr befreiendes Gefühl, das aber gleichzeitig auch eine große Leere hinterließ. Meine Schreibecke war nun aufgeräumt, mein Sofa von den Schreibheften, Büchern und Füllfedern befreit, und sogar die wohlduftenden Grödner Zirbenholzfiguren aus meiner Südtiroler Heimat, die mich immer in eine wohlige und vertraute Schreibstimmung versetzt hatten, standen wieder an ihrem ursprünglichen Platz in der Stube.

 

Aber lange hielt ich es nicht aus, und ich begann wieder, mit meiner geliebten Füllfeder Notizen in mein Skizzenbuch zu schreiben. Bald schon war ich mir nämlich im Klaren darüber, dass ich meiner Leserschaft nicht vorenthalten wollte, was nach 1387 aus Daniel von Rafenstain geworden war. Ebenso wie seine beiden Eltern Franzisk von Rafenstain und Katrine von Goldeck ist auch er eine historisch verbürgte Persönlichkeit, und ich habe versucht, auch zu seinem Leben intensives Quellenstudium zu betreiben. Dies stellte mich vor große Herausforderungen, da die wenigen Schriftstücke über ihn, die ich bereits hatte, jahrelang zu keinem Durchbruch geführt hatten. Einige Dokumente sind durch die Franzosenkriege verloren gegangen, andere wiederum in den beiden Weltkriegen zerstört worden. Erst durch den Hinweis einer gut befreundeten Historikerin konnte ich schließlich weiteres, sehr interessantes Quellenmaterial im Tiroler Landesarchiv bzw. im Niederösterreichischen Landesarchiv in Pölten ausfindig machen. Schließlich konnte ich die vorhandenen Informationen wie Puzzleteile zusammenfügen, sodass ein vollständiges Bild entstand.

 

Nun konnte ich gar nicht mehr anders, als wieder in meine vertraute mittelalterliche Welt einzutauchen. Aber bereits als ich zu schreiben begann, stellte ich fest, dass diese Geschichte immer wieder neue Rätsel aufgab. Sie zu lösen, war für mich als Autor zwar eine anspruchsvolle, aber auch eine spannende und zugleich befriedigende Aufgabe.

„Katrines Lied“ baut zwar auf meinen ersten Roman „Der Ritter von Rafenstain“ auf, ist aber ein in sich abgeschlossener Stoff. Ich freue mich nun schon, Sie, liebe Leser, mitnehmen zu dürfen auf eine Zeitreise, die genau im Jahr 1387 in Bozen beginnt und die Ihnen einen Einblick gewährt in das vielschichtige, schwierige, aber zugleich auch unglaublich bunte und abenteuerliche Leben im späten Mittelalter.

 

 

 

1.

DieHundepfote

 

 

 

Einsame Schritte ertönten über den Burghof hinauf zum Palas. Es waren die Schritte eines müden Mannes, der nach einem langen Tag endlich wieder nach Hause zurückgekehrt war und soeben enttäuscht festgestellt hatte, dass niemand da war, der auf ihn gewartet hatte.

Rafenstain sah vollkommen verlassen aus. Das Burgtor glich in der Finsternis der Nacht dem Maul einer höllischen Bestie.

Im fahlen Mondlicht dieser Dezembernacht stapfte die einsame Gestalt die Treppe hinauf. Das Rasseln des Schlüsselbundes wurde vom Winseln eines Fuchses begleitet, der sich im Schutz der Dunkelheit aus dem nahegelegenen Wald herausgewagt hatte. In der Kemenate angekommen, sperrte sich der Mann hinter der massiven Eichentür ein und schloss die Fensterläden, durch deren winzige Öffnungen nur ein schwaches Licht nach außen drang. Dann stellte er, begleitet von einem Seufzen, die Laterne auf den Tisch. Überall lagen Dokumente und andere Schriftstücke herum. Einige davon waren durch einen Windstoß zu Boden gefallen und erweckten dadurch noch mehr Trostlosigkeit. Obwohl es in der Kemenate leidlich warm war, umschlang ihn eine eisige Kälte der Einsamkeit und es fröstelte ihn durch Mark und Bein. Wie sehr er dieses Unbehagen und diese gespenstische Stimmung in den alten Burgmauern hasste! Und heute fühlte es sich auch noch so an, als würden sogar die alten Burgmauern um seinen Vater trauern.

Daniel von Rafenstain hatte eigentlich vorgehabt, noch am selben Abend alle Schriftstücke durchzusehen, um sich abzulenken. Aber er war einfach zu müde dafür und noch zu sehr von Trauer gelähmt, denn gerade erst am Vormittag hatte er in Anwesenheit des Botzner Adels seinen Vater Franzisk in der Sankt-Nikolaus- Kapelle beisetzen lassen. Zum Trauern hatte er bislang kaum Zeit gehabt, denn er hatte viel für das Begräbnis vorbereiten müssen, aber jetzt, als er völlig allein dasaß, überwältigte ihn der Schmerz.

Ursprünglich wollte er seinen Vater an der Seite seiner Mutter Katrine von Goldeck im Hof des Dominikaner-Kreuzgangs beisetzen lassen. Der dortige Prior hatte aber bereits einige Jahre zuvor weitere Begräbnisse im Kreuzgang untersagt, und so blieben als Bestattungsmöglichkeiten nur eine Nische in einer der Kapellen oder der Totenacker vor der Kirche. Da es Daniel an Geld mangelte, wäre der Friedhof die einzige Lösung gewesen, hätte sich nicht Arnold von Niedertor seiner erbarmt. Dieser hatte ihm gegen Unterzeichnung eines Rückzahlungsabkommens die Möglichkeit gegeben, seinen Vater doch noch würdig an der linken Wand der Nikolauskapelle beisetzen zu lassen. Normalerweise war die Kapelle zwar nur dem Adelsgeschlecht derer von Niedertor vorbehalten, aber in diesem Fall wurde eine Ausnahme gemacht. Die beiden kannten einander sehr gut. Und zudem war es Herr Arnold gewesen, der einige Jahre zuvor die Gerichtsverhandlung der Botzner Bürger gegen seinen Vater geleitet hatte. Über diesen Prozess, der für seinen Vater eine Schmach gewesen war, hatte Daniel zu dessen Lebzeiten kein Wort verlieren dürfen. „Diese eifersüchtigen, gierigen Botzner Pfeffersäcke!“, hatte sein Vater noch lange danach vor Wut geschäumt, „die kriegen nie genug, und es wird von Jahr zu Jahr schlimmer! Ich war das erste Opfer dieses schmutzigen Spiels, und glaube ja nicht, dass man mich wegen des Weines vor Gericht gezwungen hat! Der Wein war nur ein Vorwand! Es ging vielmehr um einen Machtkampf zwischen Bürgertum und Adel, und um sonst nichts!“ Noch Jahre später konnte sich Daniels Vater über diesen Rechtsfall ereifern.

Eigentlich hatte alles damit begonnen, dass es mit Rafenstain wirtschaftlich aufwärts ging. Die Weinernte wurde immer besser, und schließlich gaben die Reben so viel Wein ab, dass man weder auf der Burg noch bei den Bauern am Schlosserhof genug Platz hatte, diesen bei gleichmäßig kühler Temperatur einzulagern.

So beschloss sein Vater, die überschüssigen Fässer im Keller seiner beiden Häuser am Oberen Markt in Botzen aufzubewahren, weil dort die Lagerbedingungen optimal waren. So handhabte er dies zehn Jahre lang, und weil die Menge für den Eigenverbrauch zu groß war, gab er einige Fässer gegen wenig Geld an Freunde und Bekannte weiter. Es dünkte ihn einfach schade, so viel Wein verderben zu lassen, und an die Botzner Händler wollte er auf keinen Fall seine Fässer verkaufen. Diese drückten nämlich den Einkaufspreis und verkauften dann den Wein zu unverschämt hohen Summen weiter. Und da wollte er sicher nicht mitspielen! Zusammen mit seiner geliebten Frau Katrine und seinen Bediensteten hatte er so viel Kraft und Liebe in diese Weinäcker gesteckt, dass es ihm nicht richtig erschien, damit die Gier der Botzner Pfeffersäcke zu befriedigen.

Früher oder später musste das allerdings freilich die neidischen Botzner Bürger auf den Plan rufen, denn um in Botzen Handel betreiben zu dürfen, musste man dem Bischof von Trient jährlich zwei Mark Silber an Steuern bezahlen. Und auch, wenn Franzisk den überschüssigen Wein um nur ein geringes Entgelt seinen Freunden abgab und nicht offiziell im Handel anbot, sahen dies einige als Schwarzhandel an. Deshalb schrieben einige Botzner Bürger immer und immer wieder Klagebriefe an den Bischof, Jahr für Jahr, bis sich der Bischof schließlich doch gezwungen sah, darauf zu reagieren.

 

So verging einige Zeit, in der sich Daniels Vater mehr und mehr auf Rafenstain zurückzog und sich kaum mehr in der Stadt sehen ließ. Eines Tages tauchte aber tatsächlich ein Gerichtsbote auf der Burg auf und überbrachte die schlechte Nachricht, dass er sich vor einem Gericht verantworten müsse. Zu Gericht saß der Stellvertreter des Herzogs von Tirol, in dessen Namen er sein Amt ausübte. Dieser Stellvertreter war der berühmte Hauptmann von Tirol, Herr Heinrich von Rottenburg − ein Mann mit Format und mit Feingefühl für heikle Angelegenheiten. Heinrich, der selbst kein überzeugter Anhänger des gierigen Bischofs war, zog sich geschickt aus der Affäre, indem er seinerseits einen Stellvertreter einsetzte. Und dieser war kein Geringerer als Arnold von Niedertor, ein alter Freund von Franzisk.

Ganz bewusst wurde dieses Gericht so inszeniert, um dem Bürgertum zu zeigen, dass sich der Adel in Botzen nicht so einfach den Wünschen des Bürgertums fügte. Obwohl sich Daniels Vater bei diesem Richter sicher sein konnte, gute Karten zu haben, war diese Botzner Gerichtsverhandlung in der Geschichte Tirols ein historisches Ereignis, zumal es zum ersten Mal vorkam, dass das Bürgertum einen Adeligen vor Gericht brachte und nicht umgekehrt. Das war so unerhört, dass sich die Nachricht vom Prozess wie ein Lauffeuer in der ganzen Stadt und darüber hinaus verbreitete. Der Adel reagierte natürlich entsetzt darauf. Sollte das ein Fanal für die Zukunft sein? Die soziale Ordnung, wie man sie kannte, würde wohl nie mehr dieselbe sein: Die Welt war in Veränderung.

Es war der fünfte Tag im März, im Jahre des Herren 1385. Der kalte Wind aus dem Sarntal brachte frischen Schnee mit sich, und selbst hinter der Ringmauer des Barfüßlein-Klosters war es empfindlich kalt. Die Franziskaner beeilten sich, die Türen des Refektoriums zu öffnen, um den vielen Menschen, die draußen im Freien auf die Gerichtsversammlung warteten, Schutz vor der Kälte zu gewähren. Unter ihnen waren schließlich viele hochstehende Leute, und dem Bettelorden lag es am Herzen, seinen guten Ruf zu bewahren.

Normalerweise traf sich der Botzner Adel immer bei den Dominikanern, aber weil es diesmal die Bürger waren, die dieses Gerichtsverfahren herausgefordert hatten, waren die Franziskaner eine symbolische Wahl und zugleich Mittel dieses Machtspieles. Das über zweihundert Jahre alte Refektorium des Barfüßlein-Klosters war eigens für dieses Ereignis geräumt worden, und der karg eingerichtete Saal, in dem der Angeklagte zur Schau gestellt wurde, glich eher einem Verlies.

Auf einer Seite versammelten sich die wichtigen Bürger der Stadt und auf der gegenüberliegenden die Adeligen. Die zwei Gruppen begrüßten sich zwar gegenseitig, aber dennoch lag eine große Anspannung in der Luft. Auch für die Bürger war es beeindruckend, so viele Edelmänner auf einmal zu sehen. Anwesend waren Herr Marghard, Komtur des Deutschen Ordens, Herr Paul von Zwingenberg, Herr Heinrich von Chäle, Herr Hartmann von Schaim, Herr Hans von Villanders, Herr Volkmar von Maretsch mit seinen Rittern, Herr Lienhard von Boymont, Herr Raicher von Liebenberg, Herr Heinrich vom Thurn, Herr Jacomel von San Can, Diener zu Königsberg, Herr Christoff Fuchs von Eppan, Herr Blas von Perneck, die Herren Heinrich, Hans und Christoff von Botsch, Herr Hans von Weineck, Herr Nicklaus Vintler und Herr Pertle von Luntzer, Hauptmann auf Burg Stein am Ritten. Dieses große Aufgebot an Adeligen verunsicherte die Bürger zwar, aber sie fassten gleich wieder Mut, als Oswald, der Stellvertreter des Bischofs, seinen Auftritt hatte. Auch wenn er nur bezeugen und beobachten durfte, fühlten sich die Bürger doch gleich stärker.

Die Bürger wussten im Übrigen, dass Herr Arnold von Niedertor der Richter war, und warteten nur auf einen einzigen Fehler desselben, um diesen zu ihrem Vorteil zu nutzen. Arnold von Niedertor musste somit sehr vorsichtig sein, denn er durfte einerseits nicht offen Partei für Franzisk ergreifen, andererseits wollte er ihn aber sicher nicht den Bürgern zum Fraße vorwerfen.

Daniel erinnerte sich noch sehr gut an den Prozessauftakt. Der Blick seines alten Vaters schien leer zu sein und in die Ferne zu schweifen, als wolle er den Eindruck erwecken, dass ihn das alles kalt ließ. In Wirklichkeit litt er aber sehr darunter. Genau er, der einst selbst Richter gewesen war, musste in seinen alten Tagen so eine Schmach erleben. Anwesende, die ihn gut kannten, konnten seine Enttäuschung gut nachvollziehen und ärgerten sich noch mehr über diese frechen Bürger.

Als die Anklage verlesen wurde, wurde Daniel zum ersten Mal bewusst, dass dies der Ruin für sie alle sein konnte: für seinen Vater, für ihn und für alle Bauern, für die sie verantwortlich waren. Die Anklage enthielt nämlich die Forderung, dass Franzisk die zu schuldende Handelssteuer auf zehn Jahre zurückgerechnet zahlen müsse: Das war ein Gesamtbetrag von 20 Mark Berner!

Daniel stockte das Blut in den Adern, als er von dieser riesigen Summe hörte. Einige der Bürger lächelten schadenfroh zu ihm herüber, was wiederum ihre Respektlosigkeit unterstrich. Sein Vater hatte allerdings jahrelange Erfahrung mit Gerichtsverfahren, welche er nun zu seinem Vorteil nutzen konnte. Als er zu seiner eigenen Verteidigung aufgerufen wurde und er nun ruhig vor Herrn Arnold stand, wurde es im Refektorium totenstill.

Er wartete noch einen Augenblick, bis er die volle Aufmerksamkeit der Anwesenden hatte, und fing schließlich mit seiner Verteidigungsrede an.

„Meine Burg, welche ich zu Lehen erhalten habe, steht außerhalb der Stadt Botzen. Rafenstain, dort lebe ich. Weder ich noch meine Vorfahren waren je verpflichtet, Steuern zu zahlen. Aber wenn der Aufruf des Herzogs erfolgt, werde ich ihm mit Schild und Speer dienen wie jeder andere Ritter und Knecht.

Sollte ich dazu zu alt sein, werde ich meinen Sohn an meiner statt schicken, und das gibt mir das Recht, keine Steuern zu bezahlen. Ich möchte hier auch klarstellen, dass ich in meinen beiden Häusern in der Stadt den Wein nur lagere. Wenn allerdings das Lager voll ist, gebe ich gut und gerne einige Fässer weiter als Geschenk.“

Als er das sagte, ging eine Welle der Empörung durch die Reihen der Bürger, und der Stellvertreter des Bischofs warf dem Richter einen strengen Blick zu. Herr Arnold ließ sich dabei nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Er bat Franzisk zu warten und teilte allen mit, dass er sich zuerst mit anderen Richtern beraten wolle, um ein gerechtes Urteil fällen zu können. Einige Bürger protestierten zwar laut, aber dies wurde einfach ignoriert.

Nach einiger Zeit kam Herr Arnold von Niedertor zurück und nahm wieder Platz. Im Saal wurde es sofort still, und alle Aufmerksamkeit richtete sich auf ihn. Einige Adelige begannen unruhig zu werden, denn die Anspannung war kaum auszuhalten. Der Richter blickte in die Runde, zögerte einen Augenblick und holte dann tief Luft, um das Urteil zu verkünden.

 

Daniels Erinnerungen wurden plötzlich vom Rufen einer Eule unterbrochen. „Oh Gott, es muss schon so spät sein!“, dachte er müde. Schritt für Schritt schleppte er sich zum Bett hinüber. Er fühlte sich bleischwer. Dieser Tag hatte ihm körperlich und vor allem seelisch sehr zugesetzt. Er konnte nicht einmal um seinen Vater weinen. Nicht, weil er ihn nicht geliebt hatte, sondern weil der Schmerz, an ihn zu denken, so unglaublich groß war. Da lag er nun im Bett, allein, in Gedanken an seine unsichere Zukunft.

Draußen war es still, und der Mond tauchte die Landschaft sanft in silbrig-milchiges Licht.

Sein Vater hatte Daniel oft erzählt, wie sehr seine Mutter Katrine das Mondlicht geliebt hatte, weil es ihrer Seele so gut tat. Weiß Gott, wie oft seine Eltern diesen Anblick gemeinsam genossen hatten...

Daniel entschied sich trotz der Kälte noch einmal aufzustehen und das Fenster ein wenig zu öffnen, um dieses faszinierende Mondlichtschauspiel zu beobachten. Vielleicht tat es auch seiner Seele gut. Er hätte sich so gewünscht, seine Mutter kennenlernen zu dürfen, aber sie war bei seiner Geburt gestorben. Umso mehr Vaterliebe hatte Franzisk von Rafenstain seinem Sohn geschenkt − aber die Wärme einer Mutter hatte ihm trotzdem immer gefehlt.

 

••

 

„Nein, nein und nochmals nein! Jetzt ist die Zeit reif, und du musst zuschlagen, Alphard!“ Georg von Goldeck blickte herausfordernd auf seinen jüngeren Bruder, während sich Wilhelm, der Jüngste der drei, mit einer Grimasse von den beiden abwandte.

Alphard war ein ehrgeiziger Mann, der seine Machtstellung stärken wollte − allerdings nicht unter jeder Bedingung. Georg hingegen hatte das weniger nötig, da er ja als Erstgeborener bereits den Großteil der Besitzungen der Goldecker in seinen Händen hielt.

„Er hat leicht reden“, dachte sich Alphard, aber die Situation war wirklich sehr heikel. Er kratzte sich am kahlen Kopf und wägte die Situation noch einmal für sich ab. Die Machtverhältnisse im Land Tirol hatten sich in den letzten Jahren sehr verändert, und nichts war mehr wie vorher. „Was ist denn nur mit unserem Land passiert, Bruder?“, fragte Alphard niedergeschlagen.

Georg lehnte sich zurück auf seine Eckbank, nahm einen Schluck Lagrein zu sich und starrte nachdenklich in die Ferne.

„Sempach war es, mein Bruder… Sempach… Durch diese schreckliche Schlacht ist nichts mehr so wie früher“, murmelte er traurig, während vor seinem inneren Auge schreckliche Bilder heraufkamen und in seiner Erinnerung wieder der Geruch von Leichen und von Asche nach einem gewaltigen Brand aufstiegen. „Leere Häuser.

Verzweifelte Frauen und schluchzende, verstörte Kinder, die in der Dämmerung bei den Leichen ihrer Lieben stehen. Erloschene Zukunftsträume, erloschene Hoffnungen, erloschene Herzen. Alles zerstört.“

Sempach, diese verdammte Schlacht… Obwohl es nun schon fast zwei Jahre her war, fühlte es sich an, als wäre es erst gestern gewesen.

Die Schlacht fand am 9. Juli im Jahre Unseres Herren 1386 statt, und der Grund dafür war, dass die Schweizer Eidgenossen mit ihrer Expansionspolitik zu weit gegangen und mehrmals im Habsburgerreich eingefallen waren. Bereits ein Jahr zuvor wurde über Angriffe auf Rotenburg, Cham, Wolhusen und Rapperswil berichtet. Diese führten allerdings nie zu einer direkten Kriegserklärung, wohl deshalb, weil die Angreifer nicht ausgebildete Krieger waren, sondern Bauern, welche ohne jegliche Taktik kämpften. Der Habsburger Herzog Leopold hatte nur mehrere Briefe nach Luzern schicken lassen, aber umsonst.

Im Januar des Jahres 1386 provozierte Luzern schon wieder und überfiel Reichensee, Willisau, Meienberg, Entlebuch und Sempach. Herzog Leopold musste schlussendlich darauf reagieren. Eine lokale Söldnertruppe schaffte es, die Eidgenossen bei Meienberg zu besiegen, was aber dazu führte, dass Luzern die Unterstützung der restlichen Konföderation erhielt. Man einigte sich auf einen Waffenstillstand, um den sich aber niemand scherte. Währenddessen organisierten sich beide zu großen Streitmächten und bereiteten gegenseitige Kriegserklärungen vor.

Die Habsburger schickten aus all ihren Gebieten gut 20 Kriegserklärungen an die Eidgenossen, welche diese durch 23 Gegenkriegserklärungen erwiderten. Das Ganze war die Ankündigung einer Katastrophe, mit deren Ausmaß niemand gerechnet hatte. Das gigantische Heer, welches Herzog Leopold bei Brugg sammelte, bestand nicht nur aus Tirolern, sondern auch aus Schwaben, Elsässern, Aargauern, Thurgauern, nebst Bürgeraufgeboten aus mehreren italienischen Städten. Mit dabei waren auch französische und deutsche Söldner. Die Tiroler Adeligen fühlten sich angesichts einer solch beeindruckenden Streitmacht unbesiegbar, insbesondere, weil bezüglich des Gegners nur die Rede von „Bauerngesindel“ war. „Diesem Lumpenpack werden wir schon eine ordentliche Niederlage verpassen“, dachte man. Von Hochmut geblendet, rüsteten sich hunderte Adelige zum Streitzug nach Westen, in falscher Vorfreude auf den Ruhm und der Erwartung, nach einer lockeren Klappjagd am Langtisch des Herzogs zu tafeln. Das Ganze artete in einen Schaulauf absurder Machtdemonstration aus, welche unglaublich dumme Entscheidungen nach sich zog. Vielfach wurden die Rüstungen festlich geschmückt, als wolle man zu einem Turnier reiten oder gar an einem Prachtumzug teilnehmen. Schlimm war das zum Beispiel bei den drei Brüdern Botsch, die alle drei in den Krieg zogen. Ja, mit sogenannten Poulaines, also Schnabelschuhen an den Füßen, ritten sie durch die Straßen von Botzen. Allein dies verriet so einiges über ihre völlig falsche Einschätzung der bevorstehenden Schlacht.

So überzeugt auch das Heer der Habsburger war, der Einzige, der wirklich die Siegesfackel erhoben hatte, war der Teufel selbst, und der marschierte mit. Unsichtbar und hinterlistig, gut versteckt zwischen den auf Hochglanz polierten Rüstungen und den schönen Mägden, die dem Ritter eine Blume mit auf den Weg gaben, und seine gespaltene Zunge getarnt im stolzen Prahlen der kriegsmutigen Männer. Wahrlich ein Fest für ihn!

So ritten sie los in endlosen Kolonnen, und als sie weg waren, füllte sich Botzen mit einer merkwürdigen Leere. Sogar die Kaufleute hatten ein mulmiges Gefühl, weil die Stadt nun nahezu schutzlos war. Wer sollte sie nun gegen einen unerwarteten Überfall schützen und verteidigen? Wie damals, im Jahre 1347, als Karl von Luxemburg Meran, Botzen und viele Dörfer niederbrannte?

Anfangs kamen täglich Boten an und hielten alle auf dem Laufenden, aber je weiter die Tiroler Streitmacht nach Westen zog, desto seltener wurde die Berichterstattung. Schließlich kam die Nachricht, dass der Herzog sein Heer in Brugg versammelte, um dann von Norden aus in Zofingen und Willisau einzufallen.

Willisau wurde erfolgreich eingenommen, geplündert und niedergebrannt.

Von dort aus bewegte sich der Herzog mit seinen Truppen weiter in Richtung Süden, was auf einen Angriff auf Luzern hindeuten sollte. Es schien, als würde der Plan funktionieren, denn die Eidgenossen hatten die Lage tatsächlich falsch eingeschätzt. Als sich das Heer in Brugg versammelt hatte, dachten die Anführer, das eigentliche Angriffsziel sei Zürich. Als aber offensichtlich wurde, dass Leopold Luzern im Visier hatte, machten die Eidgenossen kehrt und eilten sofort dorthin. Im Laufschritt ging es über den Fluss Rüüss bei Gisikon in Richtung Sempach, wo das Heer des Herzogs zuletzt gesichtet worden war.

Und dann wurde es still, es kam keine Nachricht mehr.

In Botzen wusste niemand, was los war, und das Warten in der Ungewissheit war bald nicht mehr auszuhalten. Irgendetwas stimmte nicht. Vielleicht waren sie gerade im heftigsten Gefecht und konnten daher keine Boten losschicken, oder vielleicht wurden diese gar gefangengenommen?

Die Stimmung in Botzen wurde immer angespannter, die Nerven lagen blank.

Schlussendlich entschied man sich, Boten von Botzen loszuschicken, um herauszufinden, was los war. Unterwegs stoppten sie Reisende, die aus dem Westen kamen, um sie nach Informationen zu fragen.

Oberhalb von Schlanders erhielten sie die ersten Nachrichten, und die schlimmsten Vermutungen bewahrheiteten sich. Diese vermaledeiten Schweizer Eidgenossen hatten anscheinend Herzog Leopolds Herr geschlagen und die Schlacht bei Sempach gewonnen! Einer der Boten ritt mit dieser Nachricht sofort zurück nach Meran und Botzen, auch wenn es sich noch um eine vage Auskunft handelte. Die übrigen Meldereiter preschten weiter in Richtung Sempach, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen.

Der Anblick, der sich ihnen bei der Ankunft bot, würde sie noch jahrelang bis in ihre nächtlichen Albträume verfolgen. Schon von Weitem nahmen sie den Geruch von verwesendem Fleisch wahr.

Als sie dann aber über den Hügel kamen und auf das Schlachtfeld blickten, stockte ihnen das Blut in den Adern, und keiner brachte mehr ein Wort über die Lippen. Vor ihnen lag die Wüste des Todes, grauenvoll und entsetzlich. Einer groben Schätzung zufolge lagen rund 2000 Leichen auf dem Schlachtfeld. Die toten Körper lagen kreuz und quer, teilweise gar übereinander. Zerstochen, verstümmelt, geschändet, entkleidet und beraubt. Die Adeligen lagen auf, unter oder neben ihren Schilden, welche durch das Wappen erahnen ließen, wer die Toten waren.

Die einst so lockeren Mäuler standen offen, die Gesichter waren zu Grimassen verzerrt. Die Leichen lagen zwar erst seit zwei Tagen dort, aber die Sommerhitze hatte den Verwesungsprozess beschleunigt.

Im Hintergrund erblickten die Boten einige Menschen, die neugierig und zugleich angewidert zwischen den Leichen umhergingen. Vermutlich Bettler, die hofften, doch noch irgendeinen Wertgegenstand zu finden.

Die entsetzten Meldereiter entschieden sich schließlich, auf das Schlachtfeld hinunterzureiten, in der Hoffnung, auf Augenzeugen zu stoßen, und tatsächlich fanden sie Reisende, die ihnen mehr Informationen geben konnten. Der Leichengestank war jedoch so penetrant, dass sie sich mehrere hundert Schritte vom Schlachtfeld entfernen mussten, um überhaupt ein Gespräch führen zu können. Einer der Reisenden schilderte aufgeregt und ehrfürchtig das Geschehen, während die anderen fast apathisch nickten und sich dabei mehrmals bekreuzigten.

„Wir sahen plötzlich, wie beide Heere zugleich auftauchten, beides Riesenheere, scheppernde Kolonnen, die schon von Weitem Angst einflößten. Vorerst hatte es den Anschein, als hätten sie sich gegenseitig noch gar nicht entdeckt. Wir standen wie versteinert da und konnten nicht einmal erahnen, was nun passieren würde. Dabei hatte unser Tag so friedlich angefangen wie immer. Wir spürten die Gefahr förmlich in der Luft, und so kletterten wir so schnell wir konnten dort auf diese hohen Bäume, um das Geschehen aus der Ferne beobachten zu können.

Die Eidgenossen waren zu Fuß und wurden von den Habsburgern überrascht, doch auch diese hatten nicht damit gerechnet, hier auf den Feind zu stoßen.

Die Ritter waren in Marschkleidung unterwegs und somit nicht kampfbereit. Sie hatten nicht einmal mehr die Zeit, sich zu rüsten. Wir beobachteten, wie sie panisch von den Pferden sprangen und zu den Wagen liefen, um ihre Rüstungen zu holen. Das verursachte ein derartiges Durcheinander, bei dem zusätzlich viele sogar über ihre Schnabelschuhe stolperten und einsehen mussten, dass es schon zu spät war.“

Er zeigte mit dem Finger in der Ferne. „Seht ihr dort die Lederreste? Das sind ihre Schuhspitzen, die sie sich in aller Eile abgeschnitten haben, um kämpfen zu können. Die meisten Kämpfer waren nur halb gerüstet, und offensichtlich verstanden sie nicht einmal ganz, in welch gefährlicher Situation sie sich bereits befanden. Der Herzog spornte seine Leute an, die Schlachtformation einzunehmen, und schickte dabei seinen Hauptmann, Freiherr Johann Ochsenstein nach vorne. Er selbst blieb hinter den Linien. Aber die Eidgenossen hatten sich in der Zwischenzeit schon längst aufgestellt, und ihre Armbrustschützen waren zum Angriff bereit.“

„Die Luft wurde schwarz von den vielen abgeschossenen Armbrustbolzen!“, griff nun auch der zweite der Augenzeugen aufgeregt in die Erzählung ein. „Wie Blitze zischten sie durch die Gegend und schossen gleich hunderte Menschen nieder − egal, welchen Standes, ob Ritter, Fußvolk oder Bedienstete. Einige starben sofort, andere lagen schwer verletzt da. Viele Verwundete krümmten sich vor Schmerz oder krochen schreiend aus dem Schlachtfeld. Um die Armbrustschüsse der Eidgenossen zu unterbinden, gingen die Habsburger zum Gegenangriff über. Eine Falscheinschätzung, wie sich später herausstellte.“

„Die vordersten Linien der Eidgenossen ergriffen die Flucht“, berichteten die Reisenden weiter, „und erstmals schien ein Durchbruch möglich. Dann aber griffen die Heerführer der Eidgenossen ein und befahlen vorzeitig ihre restlichen Truppen heran, die sich von Anfang an im nahegelegenen Wäldchen versteckt hatten. Sie griffen die Flanke von der Seite an, was die Habsburger nicht nur überraschte, sondern ihnen auch ihren großen Moment vermasselte.

Von da an ging es für den Herzog nur mehr bergab, und er verlor unheimlich viele Leute. Dann verschwand auch noch sein Hauptmann im Kampfgetümmel. Dieser tauchte nicht mehr auf, was zur Folge hatte, dass sich die führerlosen Einheiten rasch auflösten.“

„Wahrscheinlich wollte der Herzog zu diesem Zeitpunkt noch die Lage retten und entschied sich, persönlich in die Schlacht einzugreifen. Vielleicht wollte er dadurch sein Heer zum Gegenangriff ermutigen und am Ende doch noch siegreich dastehen“, vermutete wieder der erste der Reisenden.

„Wir sahen, wie er seinen Hengst anspornte und von dort hinten, vom Hügel herunter, wie ein Pflug durch die feindlichen Linien brach. In dem Moment stoppte das Waffenklirren und alles verstummte. Alle Augen richteten sich auf ihn, wie er mit erhobenem Schwert im Galopp den Angriff anführte.

Seine wunderschöne Rüstung ließ ihn wie einen Sagenhelden erscheinen, und sein Mut beflügelte ihn. Hinter ihm sammelten sich alle Habsburger, mit den Tirolern an der Spitze. Brüllend und voller Kampfesmut stürmten sie noch ein letztes Mal auf die Eidgenossen los.

Der Herzog schaffte es bis zur Mitte des Schlachtfeldes, wo er aber kurz darauf in einem Meer von Spießen unterging. Er verschwand wie ein Schiff im Sturm und tauchte im Kampfesgetümmel nicht mehr auf.

Von nun an veränderte sich alles schlagartig. Die Truppen der Habsburger standen desorientiert da. Die Erkenntnis, dass die meisten von ihnen im Getümmel gefallen waren, vernichtete all ihre Hoffnungen.“

„Wir dachten, dass die Sieger wie üblich die Adeligen gefangennehmen würden, um dann Lösegeld verlangen zu können, aber dem war nicht so. Ganz im Gegenteil, denn den Eidgenossen schien das egal zu sein. So viel blaues Blut ist noch nie geflossen! Und im Takt mit den vielen Habsburgern ist auch die Würde der Eidgenossen gestorben. Das waren keine Menschen, sondern blutrünstige Tiere, die nicht mehr mit dem Töten aufhören konnten!

Als wir schon dachten, es könne nicht mehr schlimmer kommen, sahen wir, wie die Eidgenossen die letzten Überlebenden zu folgender Entscheidung zwangen: sofortige Hinrichtung, oder Selbstmord durch Ertränken im Sempacher See. Es war furchtbar! Wir zweifelten an unserem Gottesglauben. Wie konnte er so etwas zulassen?“ Die Reisenden hielten mit ihrer Erzählung inne, und die Meldereiter standen wie versteinert da. Mit einer Träne im Augenwinkel deutete einer von ihnen auf die vielen Toten.

„Ist jemandem die Flucht gelungen?“ Der eine blickte traurig zu Boden und antwortete mit zitternder Stimme: „Nur ganz wenige haben es geschafft, gegen Osten zu fliehen. Sie sind wahrscheinlich unterwegs in Richtung Arlbergpass. Möge Gott ihr Leben schützen!“

Der Bote versuchte mit Nachdruck, etwas mehr Informationen von den Augenzeugen zu erhalten.

„Habt ihr gesehen, ob sich unter den Flüchtenden auch Adelige befanden? Welche Wappen konntet ihr erkennen? Wo ist der Herzog hingebracht worden?“

Die drei Männer blickten sich fragend an.

„Hmm… ja… Einige unter ihnen waren schon Adelige, aber an die Wappen können wir uns leider nicht mehr erinnern. Das ging alles so schnell.

Die Leiche Herzog Leopolds wurde zum Kloster Königsfelden gebracht.“

„Königsfelden?“, fragte einer der Boten.

„Ja, Königsfelden bei Brugg. Dort sind sowohl Franziskaner-Mönche als auch Schwestern des Orderns der Klarissen zuhause. Die Äbtissin heißt Adelheid von Hallwyl.“ Die Reisenden sprachen vom Kloster, als würden sie es sehr gut kennen.

„Könnt ihr uns dort hinführen, während einige von uns hier am Schlachtfeld bleiben, um die Wappen der Gefallenen aufzuzeichnen?“

Nach kurzem Zögern stimmten sie etwas unsicher zu. Kein Wunder nach dem, was sie erlebt hatten. Binnen einiger Stunden hatte sich ihr Weltbild verändert.

Sempach hatte dem Tiroler Volk ein tiefgehendes Trauma verpasst, das dazu führte, dass das Habsburgerreich von einer expandierenden zu einer defensiven Macht wurde. Die Schlacht löste eine Kettenreaktion aus. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde über die Katastrophe bei Sempach bis in letzte Bauernstube. Das ganze Land war auf den Kopf gestellt. Gut 400 Ritter hatten bei Sempach ihren Tod gefunden. Unter ihnen alle drei Brüder Botsch. Die einst einflussreichste Adelsfamilie von Botzen, die beinahe alle Kirchen der Stadt gestiftet hatte und die die Geldleihanstalt des Herzogs leitete, war nun Geschichte.

Aber nicht nur sie, sondern auch andere hatten große Verluste zu beklagen, so die Adelsfamilien Brandis, Falkenstein, Greifenstein, Lichtenstein, Rotenburg, Schlandersberg, Schrofenstein, Tarant, Thurn und Toggenburg, um nur einige von ihnen zu nennen. Dies brachte natürlich auch Streitigkeiten um die jeweilige Erbschaft mit sich, und die Frage, wer nun Herzog werden würde.

„Bahh“, krächzte Georg von Goldeck. Er hatte schon wieder ein paar Becher zu viel getrunken. „Egal, wie sehr wir uns auch den Kopf zerbrechen: Man wird uns schon früh genug mitteilen, wer der neue Herzog ist!

Die drei Goldecker Brüder genossen im Land wenig Respekt und Ehre. Keiner der drei hatte an der fatalen Schlacht von Sempach teilgenommen, denn sie hatten sich mit Söldnern freigekauft.

Daniel von Rafenstain hatte zwar ebenfalls nicht teilgenommen, aber er war der einzige Sohn eines niedrigen Adeligen und hatte bereits eine tragische Familiengeschichte hinter sich. Während Daniel seine so jung verstorbene Mutter schmerzlich vermisste, fluchten die Goldecker respektlos über ihre Tante Katrine – vor allem Georg, der einen Becher Lagrein nach dem anderen in die Kehle schüttete, als könnte er damit die Eifersucht seinem Vetter gegenüber löschen, die ihn von innen auffraß.

„Unser Großvater hat damals eine schlechte Entscheidung getroffen! Sogar er hat sich von diesem Weib verhexen lassen!“

Alphard war zwar weniger besoffen, er konnte aber dem Gedankengang seines Bruders trotzdem nicht ganz folgen.

„Meinst du Tante Katrine?“ Seine dumme Frage heizte Georgs Gemüt noch mehr auf, und er schlug mit seiner Faust auf den Tisch. „Ja, wer denn sonst! Dieses miese Drecksweib! Möge sie in der Hölle schmoren, diese Hure!“

Wilhelm, der jüngste Bruder, bekreuzigte sich angesichts dieser unglückbringenden Aussage, was Georg noch mehr reizte. „Was jetzt, Wilhelm?! Willst du mir eine Moralpredigt halten? Du bist ja einfach erbärmlich, und sonst nichts! Wenn dieses verdammte Weib nicht diesen Unterlandler Falotten geheiratet hätte, hätten vielleicht wir Burg Rafenstain bekommen! Aber nein! Dann stirbt sie auch noch bei der Geburt von Daniel! Er hätte sterben sollen, das wäre noch besser gewesen! Hoffentlich hat sie zumindest einen qualvollen Tod erlitten!“ Er hatte sich wieder einmal vor Neid in Rage geredet, und der Lagrein hatte das Seinige dazu beigetragen, dass er ausfällig wurde und nur mehr derb fluchte.

Alphard konnte den überbordenden Hass seines Bruders nicht ganz nachvollziehen, war selbst aber viel zu betrunken, um vernünftig darauf zu reagieren und ihn zu besänftigen. Da hob Georg, der nur mehr brüllte, plötzlich seinen Kelch in die Höhe und verschüttete mit Absicht den ganzen Rotwein über den Tisch: „So hätte sie verbluten sollen, die Hure! Ja, verbluten!“

Der Weinfleck breitete sich langsam über das weiße Leinen aus, das über den schweren Eichenholztisch gebreitet war, und färbte es blutrot.

Wilhelm, der Jüngste, der die Szene zwar aufmerksam mitverfolgt, aber sich nicht eingemischt hatte, stand wie versteinert da und starrte entsetzt zuerst auf den Tisch und dann in eine dunkle Ecke des Raumes. Da wurde er plötzlich bleich wie ein Laken, und seine Pupillen weiteten sich vor Furcht. Er brachte kein Wort mehr heraus. Die anderen zwei wunderten sich über diese ungewöhnliche Reaktion und fragten ihn, was los sei. Da zeigte Wilhelm mit zitternder Hand mit dem Zeigefinger in die finstere Ecke. „Dort… Dort! Seht ihr ihn nicht?“ Als Georg lauthals zu lachen begann, wurde Wilhelm noch panischer. „Da ist dieser Hund! Reynard! Der Hund von Tante Katrine!“, flüsterte er in Todesangst.

Alphard riss ihn an sich und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. „Jetzt reiß dich gefälligst zusammen, Wilhelm! Du verlierst ja den Verstand!“ Katrines Hund ist ja seit Jahrzehnten tot!“

Wilhelm wirkte aber immer noch völlig verstört, und seine Augen starrten wie versteinert auf den großen roten Fleck auf dem Tisch.

„Es ist zu spät… Wir sind verdammt!“ Sein Flüstern war kaum hörbar.

„So ein abergläubischer Scheiß! Jetzt hast du uns die ganze Stimmung vermasselt! Da geh ich besser schlafen“, lallte Georg, der noch schnell auf den Boden rotzte, bevor er polternd den Raum verließ. „Ich hoffe, Katrine schmort in der Hölle und ihr gottverdammter Hund gleich mit!“, rief er noch zu den Brüdern zurück, während er auf wackeligen Beinen durch den dunklen Gang zu seiner Schlafkammer stolperte. Alphard schaute ihm wortlos hinterher, bis er verschwunden war, und wandte sich dann kopfschüttelnd an Wilhelm: „Stimmung vermasselt?! Welche Stimmung, ha?“ Wilhelm senkte seinen Blick zu Boden. Er war immer noch leichenblass. Dann wandte er sich mit dünner Stimme an Alphard:

„Bruder, hör mir zu… Ich will mit dem Rafenstainer nichts zu tun haben. Meinetwegen kannst du alles kriegen, wenn es soweit ist.“ Alphard schaute Wilhelm verblüfft an.

„Wie… alles? Willst du nicht zumindest die beiden Häuser des Rafenstainers am Oberen Markt übernehmen?“ Wilhelm schüttelte den Kopf. Er schien fest entschlossen zu sein. „Nein, mein Bruder. Behalte alles du!“

Überrascht über diese Entscheidung versuchte Alphard die Stimmung ein wenig aufzulockern.

„Es ist ja noch nicht einmal sicher, ob wir es überhaupt schaffen, uns die Burg und all die anderen Besitztümer von Daniel unter den Nagel zu reißen. Alles hängt vom neuen Herzog ab… Aber darüber soll sich Georg den Kopf zerbrechen!“

Als sie im Begriff waren, ebenfalls die Kemenate zu verlassen, um schlafen zu gehen, hielt Alphard plötzlich ruckartig inne. Wilhelm sah ihn fragend an.

„Ich überlege nur, ob wir einen Bediensteten zum Aufräumen rufen sollten… Ach, egal, lass uns jetzt schlafen gehen.“ Das war die erstbeste Ausrede, die ihm einfiel, und Wilhelm hatte ihm glücklicherweise geglaubt.

In Wirklichkeit hatte Alphard die nasse Spur einer Hundepfote auf dem Boden entdeckt.

 

2.

DieBieneundderSkorpion

 

 

 

„Bum, bum, bummm.“ Der Lärm von dumpfen Kriegstrommeln. Ein Schlachtfeld!

Feuer und Steine! Todesangst! Verzweifelte Schreie aus der Dunkelheit!

Dann endlich das befreiende Erwachen… und damit die Erlösung vom Albtraum, der ihn schon so oft heimgesucht hatte. Und von dem er einfach nicht sagen konnte, woher er rührte. Dankbar, dass alles vorbei war, aber immer noch benommen, blinzelte er in das Licht der warmen Sonnenstrahlen, die durch das offene Fenster fielen, sanft und friedvoll.

Es fühlte sich an, als wäre nur eine Nacht vergangen, in Wahrheit aber waren inzwischen gut neun Jahre verstrichen. An jenem Morgen im Jahre des Herren 1396 wunderte sich Daniel von Rafenstain wieder einmal, wo all die Jahre geblieben waren. Seine Augen glitten noch etwas müde über den bewaldeten Bergrücken, als sie in der Ferne einen mit dem Wind spielenden Wanderfalken entdeckten. Es wäre so ein schöner Morgen gewesen, hätte ihn nicht schon wieder sein Elend eingeholt. Aber die vielen Aufgaben, die auf ihn warteten, bedrückten ihn und führten ihm aufs Neue vor Augen, wie unsicher er war und wie oft er sich überfordert fühlte.

Als er sich gerade noch einmal für einige Augenblicke unter dem Laken verkriechen wollte, um so zumindest ein bisschen die Außenwelt zu vergessen, klopfte es an die Tür. Er seufzte laut. „Ja, was ist denn los?“, rief er mit leicht gereizter Stimme.

„Mein Herr, Ihr seid spät dran. Der Herr von Thurn erwartet Euch schon bald in Botzen!“

Daniel ärgerte sich, dass er das wieder einmal aus seinem Gedächtnis verbannt hatte, musste seiner Bediensteten aber Recht geben.

„Geht schon gut, Sigrid! Ich bin gleich fertig.“

Wieder war es die zierliche, musterhafte Sigrid, die ihn auf ein Neues davor bewahrte, eine schlechte Figur zu machen. Sigrid war viel jünger als ihr Herr. Trotz ihrer 18 Jahre hatte sie aber eine unübertroffene Gabe, auf der Burg alles zu planen und zu organisieren. Daniel konnte sich voll auf sie verlassen − und machte davon auch reichlich Gebrauch.

„Ist mein Pferd bereit?“ Anstatt ihrem Herrn zu antworten, stellte ihm Sigrid eine Gegenfrage: „Darf ich Eure Kemenate betreten, mein Herr?“ Daniel hastete sofort zum Stuhl und zog sich die Bruche an, denn ohne seine Unterhose konnte er ihr unmöglich gegenüberstehen.

„Ja… nur einen Augenblick, Sigrid!“ Seine Stimme verriet eine gewisse Hektik, und kaum hatte er sich notdürftig bekleidet, ging auch schon die Tür auf und Sigrid trat ein. Als sie sich zum Gruß verneigte, nutzte sie die Gelegenheit, sich rasch umzusehen. Ein paar Augenblicke reichten.

„Ich fühle mich beobachtet, Sigrid“, erfasste Daniel sofort die Situation. „Was trägst du auf dem Herzen?“

Die Magd musterte ihn mit wachem Blick und öffnete ihre mit der Hand zusammengeraffte Schürze, um ein Bündel Unterwäsche herauszuholen.

„Euer Unterhemd hat mehrere Löcher, also habe ich Euch ein neues mitgebracht.“ Daniel wollte schon aufatmen, als es dann doch kurz peinlich wurde.

„Ach ja, und hier eine saubere Unterhose, mein Herr. Reines Leinen duftet einfach besser, und Ihr werdet wahrscheinlich mehrere Stunden in Anwesenheit des Herrn von Turn verbringen.“ Sie trat Daniel entschlossen gegenüber, kniete sich vor ihm nieder und zog ihm die schon seit längerer Zeit getragene Bruche aus. Zwar war Daniel nicht ganz wohl dabei, aber er übte sich in Selbstkontrolle und ließ seine Dienerin zunächst einfach machen. Aber sogleich wurde ihm bewusst, dass sich ihre Nase nicht gerade weit entfernt von seinem Becken befand. „Ich glaube, ich muss mich vielleicht doch zuerst waschen, Sigrid…“, meinte er nun doch ein bisschen peinlich berührt. Sie aber schien sich nichts daraus zu machen und meinte fröhlich: „Dafür habe ich schon gesorgt. Unten im Zimmer wartet ein Zuber mit warmem Wasser auf Euch, und ich kümmere mich darum, dass Ihr sauber werdet. Folgt mir, mein Herr!“ Daniel wollte schon erwidern, dass die Zeit dafür nicht reichen würde, aber ihre Entschlossenheit schien keine Widerrede zuzulassen. Offensichtlich hatte sie alles von langer Hand vorbereitet.

„Ich habe Euch extra drei Stunden früher geweckt, mein Herr.“ Ihr Blick weilte herausfordernd auf seine Lippen. „Du hast aber behauptet, ich wäre spät dran!“, erwiderte Daniel fast trotzig.

„Seid Ihr auch“, lachte sie, „denn ein Bad dauert mindestens zwei Stunden! Ich lasse nicht das ganze Wasser umsonst so lange erhitzen, damit Ihr nur kurz darin eintaucht! Also folgt mir, mein Herr!“ Daniel konnte ihr nicht mehr widersprechen, denn Sigrid hatte ja keine Uhrzeit genannt, sondern nur gesagt, dass er spät dran war. „Sehr schlau von dir...“ Sie zwinkerte ihm anerkennend zu und sammelte die Kleidungstücke hinter ihm ein.

Sigrid hatte diesen Plan schon Tage zuvor geschmiedet. Sie merkte genau, dass es ihm nicht gut ging und dass er begonnen hatte, sich zu vernachlässigen. Außerdem hatte er seit Tagen kaum mehr etwas gegessen, wie ihr das Küchenpersonal verraten hatte. Die Magd begann sich ernsthaft Sorgen zu machen und überlegte, wie sie ihrem Herrn beistehen und ihn wieder zu mehr Tatendrang und Lebensfreude verhelfen konnte. Da die Burg schon seit mehreren Jahren keinen Verwalter mehr hatte, war im Grunde genommen sie es gewesen, die diese Aufgaben übernommen hatte. Ohne dass darüber geredet wurde, war sie einfach auf natürliche Weise in diese Rolle geschlüpft. Die kluge und umsichtige Adelige stammte von der Leiterburg in Auer und hatte trotz ihrer Jugend eine natürliche Autorität. Die Burgleute hörten auf sie, weil sie schon oft bewiesen hatte, dass sie Probleme lösen konnte und bei Schwierigkeiten den Überblick bewahrte, und auch ihr Herr wusste, was er an Sigrid hatte und dass er ihr vertrauen konnte.

Was Sigrid allerdings so besonders machte, war nicht nur ihr schlanker, harmonischer Körper, ihr Charme und ihre sympathische, umsichtige, herzliche Art, sondern auch ihre scharfsinnige Menschenkenntnis und ihre Gabe, Situationen richtig einzuschätzen. Auch deshalb war es nicht das erste Mal, dass sich Daniel schnell von ihr überzeugen ließ.

Als er die Tür zur Kemenate öffnete, fiel sein Blick sofort auf den einladenden Zuber, aus dem warmer Wasserdampf aufstieg, und auf die schön gefalteten, blütenweißen Handtücher auf dem Tischchen daneben. Die angenehme Atmosphäre im großzügig geheizten Raum, die Rosenblätter auf der Wasseroberfläche, die einen angenehmen, betörenden Duft verströmten, und nicht zuletzt die Vorfreude darauf, dass sich Sigrid nun um sein Wohlergehen kümmern würde, hoben schnell seine Laune und er ließ sich mit einem wohligen Seufzen ins warme Wasser gleiten.

„Besser als sich im Bett zu verschanzen, nicht wahr mein Herr?“, fragte die Magd mit einem spitzbübischen Augenzwinkern. Daniel nickte ihr nur zu und erwiderte ihr Lächeln. Er war Sigrid einfach dankbar. Was für ein wunderbares Mädchen…! Nun trat die Magd hinter ihn und nahm einen Waschlappen in die Hand. Daniel beugte seinen Kopf nach hinten und schaute sie fragend an. Die Magd tränkte den Waschlappen im Zuber und ließ ihn dann mit zarten Bewegungen von seiner Brust aus bis zum Hals gleiten, ohne dabei ein Wort zu sagen. Dann hob sie fast zärtlich zuerst einen, dann den anderen Arm und wusch hingebungsvoll seine Achseln, bevor sie sich ausführlich dem restlichen Körper widmete.

Daniel genoss es einfach. Es fühlte sich so fantastisch an. Leider verstrich die Zeit zu schnell, und er musste nach einiger Zeit doch wieder heraus aus dem Wasser. Obwohl nun wichtige Verpflichtungen auf ihn warteten, freute er sich schon auf die bevorstehende Brotzeit, auch wenn er zuvor gar keinen Hunger gehabt hatte. Sigrid reichte ihm das Leinen, mit dem er sich abtrocknen konnte, und brachte ihm schmunzelnd die frische Unterwäsche. „Wie fühlt Ihr Euch, mein Herr?“

„Wie neugeboren, Sigrid“, beteuerte er gut gelaunt. „Vielen, vielen Dank! Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde.“

Die Magd verneigte sich und begleitete ihn zu Tisch, wo eine kleine, aber schmackhafte Mahlzeit serviert war. Er setzte sich und nahm als erstes die Schale mit dicker Milch, Honig und getrockneten Früchten. Es schmeckte ihm so sehr, dass er von Sigrid lachend gewarnt wurde: „Nicht so schnell, mein Herr von Rafenstain, sonst bekommt ihr Bauchweh!“

Da er nicht darauf reagierte, fühlte sie sich etwas verunsichert, ob sie nicht doch zu weit gegangen war. Deshalb beeilte sie sich hinzuzufügen: „Ich bitte um Verzeihung, mein Herr. Es war nicht böse gemeint! Ich sorge mich nur um Euer Wohlergehen.“ Da endlich sah er sie wieder aufmerksam an und er streifte beruhigend ihre Hand. „Du bist eine gute Frau, Sigrid. Es hat nichts damit zu tun, dass du mich gerügt hast, sondern damit, dass du mich als ‚Herr von Rafenstain‘ betitelst. Ich komme damit noch nicht klar. Als würde ich immer noch im Schatten meines Vaters leben.“

Sigrid seufzte nachdenklich und ging zum Fenster. „Wisst ihr, mein Herr…“, begann sie zögernd. „Ich selbst bin erst spät auf die Burg gekommen, als Klara verstorben ist und Verena entlassen wurde. Ich habe Euren Vater leider nicht so gut gekannt, wie es mir recht gewesen wäre. Ich war damals zu jung.

Nun aber ist unsere Generation dran. Die Welt ist dabei, sich zu verändern. Der Handel floriert, und die Städte wachsen unglaublich schnell. Schaut hinunter auf Botzen… Die Anzahl der Bewohner hat sich in den letzten fünfzehn Jahren auf rund 6000 verdoppelt. Unglaublich, dass so viele Menschen dort unten wohnen!“ Daniel, der ja die Vorgeschichte von Rafenstain bestens kannte, erinnerte sich an Begebenheiten, von denen Sigrid nicht einmal etwas ahnte. Sie stand für Veränderung, und das war gut so. Er hatte fast kein Geld mehr, und es gab auch keine Aussicht darauf, dass er − wie einst sein Vater und sein Großvater − ein lukratives Amt in Botzen übernehmen konnte. Vielleicht würde es auch ihm gut tun, nach vorne zu schauen und nicht immer nur die Vergangenheit zu sehen.

„Hör zu, Sigrid. Ich werde heute dieses Treffen mit dem Herrn von Thurn schnell hinter mich bringen, und dann reite ich wieder hierher zurück! Du hast recht, das Leben muss jetzt weitergehen!“

Sigrid wandte sich vom Fenster ab und musterte Daniel von oben bis unten. Sein Tonfall hatte entschlossen geklungen, aber sein Blick verriet die Sorgen. Da fasste sie sich ein Herz, sie trat zu ihrem Herrn und umarmte ihn. Sie konnte es einfach nicht ertragen, dass er so litt. Der vollkommen überraschte Daniel war sprachlos, legte aber nach kurzem Zögern auch seine Arme um sie, und so blieben die beiden kurz stehen… wie zwei eng Vertraute.

„Ihr müsst jetzt los, mein Herr“, fasste sich Sigrid als Erste wieder. „Ihr habt jetzt Pflichten, die nicht vernachlässigt werden können!“

Sie hatte recht. Ohne ein weiteres Wort an sie zu verlieren, straffte Daniel seine Schultern und ging mit entschlossenen Schritten in den Burghof hinaus, wo sein Pferd bereits gesattelt stand.

Auf dem Ritt nach Botzen erfasste ihn plötzlich ein Hochgefühl. Das war es! Um seine Pflichten musterhaft erfüllen zu können, musste er endlich nach vorne schauen!

 

Eine dieser Pflichten war eben das Treffen mit dem Herrn von Thurn in Botzen. Noch zu Lebzeiten seines Vaters war das in der Grabenstraße ansässige Adelsgeschlecht bereits eng mit denen von Rafenstain befreundet.

Als Daniel durch das Sarner Tor ritt, blickte er nach rechts auf das Weiße Rössl und erinnerte sich zurück, wie es ausgesehen hatte, als er ein Kind war. Nun war es viel größer und noch besser besucht. Die vielen Pferde und Wagen versperrten fast die ganze Straße. Daniel warf noch einen Blick zurück auf die Torwächter, die gleichgültig dort standen und vor sich hin gähnten.

Er versuchte, sich durch die sperrigen Fuhrwerke hindurchzuschlängeln. Gott sei Dank befand sich die Grabenstraße nicht weit weg. Als er rechts um die Ecke bog, an der immer Bettler herumlungerten, konnte er schon den Ansitz seines Freundes Leonard ausmachen. Der Wohnturm war bereits einige Jahrhunderte alt und einst Bestandteil der alten Verteidigungsanlage gewesen. Vor der Stadtmauer befand sich damals der Graben, welcher bei der Erweiterung von Botzen aufgefüllt und nun zu einer Straße geworden war.

Schön, dass zumindest der Turm erhalten geblieben war. Vor einigen Jahren war das Gebäude sogar um ein Stockwerk erhöht worden und zählte nun mit seinem Keller, dem Erdgeschoss und den drei Obergeschossen zu den protzigsten Türmen von Botzen. Daniel band sein Pferd an einen eigens dafür in das Stallgebäude eingelassenen Eisenring und hämmerte dann mit der Faust an die alte Eichentür. Leonards Gehör war von Geburt an schlecht, aber ansonsten war er ein fantastischer Zeitgenosse mit einem ausgeprägten sozialen Sinn. Er kannte alle Menschen in der Umgebung und hatte die Gabe, die Leute untereinander zu vernetzen.

Kurz darauf hörte man dumpfe Schritte auf der Treppe und dann das Rasseln eines Schlüsselbundes. Die Tür ging auf und Leonard sprang neugierig auf die Straße.

„Grüß Euch Gott, mein Freund!“ Seine Begrüßung war warmherzig… und sehr laut. Leonard nutzte gleich die Situation, um sich umzusehen, aber die Vorbeigehenden waren wahrscheinlich doch nicht von besonderem Interesse, und so widmete er sich wieder seinem Gast.

„Siehst du diesen Torbogen da? Habe ich dir das eigentlich einmal erzählt? Diesem Torbogen haben wir es zu verdanken, dass wir beide heute überhaupt auf der Welt sind!“ Daniel reagierte mit einem fragenden Blick und forderte somit Leonard zur Erklärung auf. „Ja! Das ist kein Scherz! Du hast ja sicher davon gehört, dass es hier 1348 ein schreckliches Erdbeben gegeben hat und dass die Stadt Botzen besonders schlimm davon betroffen war. Die Erde bebte damals so stark, dass sogar mehrere Häuser eingestürzt und gar einige Leute zu Tode gekommen sind. Damals wurden unsere beiden Väter genau hier vom plötzlichen Beben überrascht. Mein Vater floh aus dem Turm, und wäre dein Vater nicht so geistesgegenwärtig gewesen, hätten beide unter einem herabstürzenden Kamin ihren Tod gefunden. Franzisk riss aber meinen Vater unter diesen Torbogen und hielt ihn dort fest. Das war nämlich der sicherste Ort. Gott sei Dank blieb der Turm unversehrt, und beide haben überlebt. Ja, dein Vater war wirklich ein guter Mann!“

Daniel hatte noch nie von dieser Tat gehört, vielleicht auch deshalb, weil sein Vater sehr bescheiden gewesen war. Leonard riss Daniel aber rasch wieder aus seinen Gedanken und erinnerte ihn voll Freude an das bevorstehende Treffen.

„Aber jetzt kommst du herein! Lass uns in die Kemenate gehen und ein Glas Wein trinken! Ich muss dir etwas Wichtiges über deine Zukunft erzählen!“

Der Rest der Straße wusste nun auch, was Sache war, da Leonard vor lauter Eifer seine Taubheit vergessen hatte. Daniel schüttelte aber nur lachend den Kopf und schob Leonard zurück in den Turm.

Auch dieser lachte, und kurz darauf saßen sie in der Kemenate im zweiten Stock und genossen die wunderschöne Aussicht auf die Lauben, wo es vor fleißigen Leuten nur so wimmelte. Entspannt genossen sie auf der gemütlichen Eckbank ein Glas Magdalener. Schließlich kratzte sich Leonard am Bart und suchte zögernd nach den geeigneten Worten. „Hmm… Mein Freund... Du bist jetzt 29, oder?“ Daniel nickte ganz überrascht und fragte sich, worauf Leonard hinauswollte.

„Normalerweise sind die meisten Stadtadeligen in deinem Alter schon durch Heiratsversprechen abgesichert, was ja gut ist − insbesondere, wenn man sich finanziell in einer Situation wie deiner befindet…“

Daniel verschluckte sich kurz und schaute Leonard dann empört an. „Aber Leonard! Meine Burgbesatzung ist nahe am Verhungern, und was hast du im Kopf? Heiratspolitik! Kannst du mich damit nicht in Ruhe lassen?“ Er ballte seine Hand zur Faust und schmetterte sie mit voller Wucht auf den massiven Tisch.

Leonard hatte Daniels Reaktion vorausgesehen. „Daniel! Jetzt beruhige dich doch“, meinte er lächelnd, „und lass mich weiterreden! Die Vettern deiner Mutter wollen Rafenstain für sich gewinnen, und sie sind bei Gott nicht die einzigen! Da draußen gibt es jede Menge habgieriger Menschen, schau dir bloß die Vintler an! Einst waren sie gewöhnliche Bürger, und jetzt sind sie plötzlich einflussreiche Mitglieder des Stadtadels. Was glaubst du, wie sie es geschafft haben, so viele Ämter zu übernehmen? Und das Haus vor dem Sarner Tor? Oder Burg Runkelstein? Bald Schloss Ried und wer weiß was noch? Rafenstain! Das würde ihnen perfekt passen, glaub mir!“ Daniel hatte offensichtlich gar nie ernsthaft daran gedacht, dass es andere Familien gab, die sich seine Burg unter den Nagel reißen wollten.

„Die Goldecker? Mensch, Leonard, das ist aber eine Verleumdung… Wir sind ja miteinander verwandt!“

Sein Freund blickte ihn ruhig an. „Weißt du, mein Freund“, gab er zu bedenken, „nur weil ihr verwandt seid, bedeutet das noch lange nicht, dass sie für dich das Beste wollen. Ganz im Gegenteil! Alle wissen, dass deine Mutter die schönste und liebreizendste Edelfrau der ganzen Gegend war. Die Herzen der Bauern schlagen heute noch für sie, aber jene ihrer drei Onkel hat sie nie gewonnen.“

Vielleicht hatte sein Freund recht. Leonard hatte keinen Grund, ihn zu belügen. Daniel hob nachdenklich sein Glas und nahm einen Schluck. „Also gut. Was schlägst du vor?“ Daniels Gegenfrage ließ Leonard vor Freude aufspringen, da er merkte, dass seine Worte auf fruchtbaren Boden gefallen waren. Leonard, der überzeugt war, eine gute Idee zu haben, schlug Daniel freundlich auf die Schulter. „Das wird sehr gut passen, mein Freund! Du kennst ja die schöne Dorothea von Botsch… Sie ist noch ledig, und ich könnte da etwas für dich einfädeln. Die Botsch haben nach der katastrophalen Schlacht von Sempach viel an Einfluss verloren und wissen genau, dass ihre Heiratspolitik nicht mehr so hochrangig weitergeführt werden kann. Die Zeiten haben sich eben auch für das einflussreichste Adelsgeschlecht von Botzen geändert!“

„Also würde ich in ihre Reichweite kommen…“, überlegte Daniel laut. Er fand Leonards Vorschlag gar nicht so übel, war sich jedoch noch über seine Gefühle im Zweifel. Leonard sah den nachdenklichen Ausdruck und versuchte ihn zu überreden.

„Dorothea ist eine wirklich schöne Frau, Daniel. Du bist ihr schon öfters begegnet! Dazu ist sie sehr aufgeschlossen, schlagfertig und selbstbewusst. Viele Männer würden neben ihr nicht bestehen, du aber schon, soviel ist sicher!“

Leonard brannte so sehr für diese Sache, dass er gar nicht merkte, wie laut er sprach. Da Daniel befürchtete, dass Leute auf der Straße alles mithören konnten, lief er rasch zum Fenster, um es zu schließen. In einer Ecke des Raumes war der Holzboden so gesunken, dass Daniel fast aufwärtslaufen musste, um zum Fenster zu kommen. Als er anschließend Leonard und sich noch ein Glas Wein einschenkte, trat eine Bedienstete mit Käse, Speck und Brot in die Kemenate ein.

Als sie wieder die Tür hinter sich geschlossen hatte, starrte Leonard erwartungsvoll auf Daniel, in Erwartung einer Antwort. Der aber kaute seelenruhig sein Brot zu Ende.

„Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, was Liebe ist. Ich habe so etwas noch nie verspürt. Vaterliebe und Freundesliebe ja, aber Liebe zu einer Frau noch nie...“

Leonard war entsetzt! „Stehst du auf Männer?“, brüllte er so laut, dass Daniel ihm die Hand vor den Mund halten musste.

„Nein, nein, du darfst mich nicht falsch verstehen, mein Freund! Aber wenn es so wäre, dann wäre es doch auch in Ordnung, finde ich.“ Leonard schüttelte entsetzt den Kopf. „Das sagst du! Das kann dich Kopf und Kragen kosten! Frag einmal die Kirche! Gott, Jesus, Maria und alle Heiligen würden sich bei so einer Aussage bekreuzigen!“

„Gott liebt alle guten Wesen, und zwar bedingungslos“, konterte Daniel aufgebracht. Mir ist es egal, ob Mitmenschen gleichgeschlechtliche oder ganz andere Verlangen haben. Solange nicht Kinder und Tiere daran zu Schaden kommen, sollen sie sich des Lebens erfreuen und ihr Dasein auf Erden genießen!“ Leonard war immer noch entsetzt. „Das, was du sagst, ist Ketzerei! Hüte deine Zunge, mein Freund! So etwas darfst du ja niemals in der Öffentlichkeit äußern!“ Daniel seufzte wissend und schüttelte den Kopf. „Ich weiß… Aber ich verurteile sicher niemanden!“

Leonard lenkte sogleich vom Thema ab. „Dann vertraue mir und versuch es mit Dorothea! Vielleicht entdeckst du durch sie, wie sich Liebe anfühlt.“

Obwohl immer noch große Zweifel an ihm nagten, willigte er schließlich doch ein. Als Daniel aufstehen wollte, um zu seiner Burg zurückzureiten, drückte ihn Leonard gleich wieder auf die Bank. „Nein, nein! Jetzt gehen wir gleich zu Dorotheas Diener und regeln das Ganze! In drei Tagen ist Sonntag, also gilt es keine Zeit zu verlieren!“ Leonard hatte offensichtlich vor, seine scheinbar bereits gut durchdachten Pläne sofort in die Tat umzusetzen. Ein erstes Treffen mit Dorothea sollte also bereits am darauffolgendem Sonntag nach dem Gottesdienst stattfinden. Leonard würde das mit Dorotheas Diener besprechen und diesem dabei die Wahl des Ortes überlassen. Daniel wurde plötzlich nervös. Das ging ihm nun doch alles viel zu schnell und er fühlte sich regelrecht überrumpelt. „Du meine Güte… Muss das wirklich jetzt sein?“ Aber Leonard, der einen ganzen Kopf kleiner war, nahm ihn, ohne zu antworten, einfach am Arm und beruhigte ihn: „Komm jetzt! Das ist ein Kinderspiel! Dorotheas Vater ist ja bereits verstorben, und ihre Mutter mischt sich sicher nicht in diese Angelegenheiten ein.“

Zögernd folgte Daniel schließlich seinem Jugendfreund, dem er ja auch sonst blind vertraute.

Ein kurzer Spaziergang durch die Lauben, und schon waren sie dort. Ihr Ziel war das viertletzte Haus an der rechten Laubenseite, die mit dem Wohnturm der Herren von Weineck endete. Daniel liebte es, das Treiben der Händler unter den Bögen der Laubengasse zu beobachten. Er staunte immer wieder über die Auswahl der Waren, die sich in den letzten Jahren stark verändert hatte. Die schönste Tuchwolle aus England, Zinn aus Böhmen und Safran aus dem Morgenland und gleich daneben feinste Keramik aus Faenza. Laut schnatterten alle durcheinander und boten ihre Waren feil. Dabei fiel auf, dass die italienischen Händler die deutschen weit übertönten. Im Grunde waren das nur gutmütige Plänkeleien inmitten des Kulturschmelztiegels, wo doch beide Seiten sich gut verstanden und gegenseitig weiterhalfen. Vieles konnte man den Botzner Kaufleuten nachsagen, aber nicht, dass sie erfolglos waren. Täglich flossen Unmengen von Münzen in die Geldkatzen, und wenn sie sich gegenseitig unterstützten, schaute noch mehr für jeden heraus.

Am Laubenhaus der Botsch angekommen, überkam Daniel wieder ein mulmiges Gefühl. Eigentlich würde er jetzt lieber die Marktstände auskundschaften, als sich mit diesem Treffen zu beschäftigen. Aber es blieb ihm nun wohl nichts anderes übrig, als sich zusammenzureißen und seinen Pflichten nachkommen. Und schon ging die Tür auf.

Heraus kam ein greiser Mann, der mindestens achtzig Jahre alt war. Sein dünnes, weißes Haar fiel ihm in einzelnen, armseligen Strähnen auf die Schulter. Seine lange, schmale Nase und der leere Blick standen in perfekter Harmonie zu seinem gekrümmten Körper und den grazilen, dünnen Fingern.

Er war zwar ein Diener, hatte aber eindeutig nie hart gearbeitet.

„Cosa volete?“, näselte er auf Italienisch.

Leonard kam Daniel zuvor. „Grüß Euch Gott, Dino! Dürfen wir kurz hereinkommen, um mit Euch ein Treffen zu vereinbaren? Mein Freund Daniel von Rafenstain möchte sich gerne mit deiner Herrin Dorothea treffen“, fiel er gleich mit der Tür ins Haus. Der alte Diener musterte Daniel von oben bis unten und wandte sich dann wieder Leonard zu.

„Dorotea! Senza la „h“! DO-RO-TEA, capito?“ Daniel musste sich anstrengen, den dreisten Diener nicht auszulachen. Natürlich spricht ein Florentiner „Dorothea“ wie „Dorotäa“ aus, also anders als ein Deutscher. Diese Kleinigkeit deutete darauf hin, dass Dino sich nach seinem Heimatort sehnte. Auch Leonard hatte das gleich durchblickt und nutzte diese Situation diplomatisch aus.

„Scio tu perveni de Firenze! Et civitas plena artis pulchra!“, versuchte Daniel ein paar lateinische Brocken zusammenzuklauben, da er kein bisschen Italienisch konnte. Dino schüttelte aber nur lachend den Kopf und meinte: „Dein Latein lässt etwas zu wünschen übrig, mein Freund. Sprich lieber nur Deutsch, dann blamieren wir uns weniger…“

Zumindest hatte Dino jetzt das Gefühl der Überlegenheit gewonnen und ließ die beiden Adeligen mit einer Geste, die seine Großzügigkeit zum Ausdruck bringen sollte, in das Laubenhaus eintreten. „Dai, entrate, dann wir sprechen zusammen wegen Treffen.“

Dino war zwar bereits als Jüngling nach Botzen gekommen, er hatte aber offensichtlich so gar kein Talent für Fremdsprachen, was ein ständiges Mischmasch von zwei, manchmal sogar drei Sprachen in einem Satz zur Folge hatte. Und Leonard und Daniel sprachen fast ausschließlich Deutsch und ein mehr schlechtes als rechtes Latein. Als sie sich im Eingangsbereich befanden, stellte Daniel fest, dass das Haus auch nur fünf Schritte breit war, genau wie die beiden, die er von seinem Vater am Oberen Markt geerbt hatte. Was seine Häuser allerdings nicht besaßen, war der atemberaubende, überwältigende Reichtum, der ihn mit offenem Mund dastehen ließ. Dino war an solche Reaktionen gewöhnt und legte seine Hand auf Daniels Schulter, als wolle er ihn beruhigen.

„Ehh, Firenze. So wir leben dort, wie du hier siehst. Nicht Holz, aber Marmor, Alabaster, Gold und Silber. Grandi Signori, weißt du.“ Daniel wusste, dass die Botschen sehr viel für Botzen getan und die Geldpfandleihanstalt mit großer Verantwortung geführt hatten. Diesen Reichtum hatten sie sich wohl verdient.

Dino bat die Gäste Platz zu nehmen und ließ sofort eine Magd mit Weißwein kommen. Die edle Gastfreundlichkeit entspannte Daniel, und so ergriff er kurzerhand das Wort.

„Deine Herrin ist eine sehr schöne Frau, Dino. Wusstest du, dass meine Familie bei den drei Brüdern Botsch sehr beliebt war? Sie hatten des Öfteren mit meinem Vater zu tun.“ Dino reagierte auf Daniels Aussage, indem er die Arme zum Himmel erhob und sich mehrmals bekreuzigte. „Pace all’anima loro! Dona eis pacem! Ja, gute Ritter alle drei!“ Dino taute im Gespräch mehr und mehr auf und entschloss sich sogar, kurz seine Herrin zu stören, um ihr Daniels Wunsch vorzubringen. Die beiden blieben im Gästezimmer zurück. Leonard lachte Daniel spitzbübisch zu. „Das hast du gut gemacht! Dino hast du jedenfalls überzeugt!“

Daniel hielt ihm wieder instinktiv die Hand vor den Mund. „Pssst! Jetzt rede doch leiser, Herrgott nochmal!“

Leonard, der genau verstanden hatte, was Daniel damit bezwecken wollte, lachte aber nur, er schob Daniels Hand weg und erhob mahnend den Zeigefinger: „Man soll nicht fluchen!“ Daniel verdrehte nur die Augen, wusste er ja, wie wohlwollend Leonard ihm gegenüber war.

Die darauffolgende Stille wurde durch Dinos Rückkehr unterbrochen. Die beiden Jugendfreunde wandten sich ihm gespannt zu und versuchten Dinos Gesichtsausdruck zu entnehmen, wie sich Dorothea entschlossen hatte.