10,99 €
An einem kalten Wintertag des Jahres 1321 wurde auf der Burg Auer ein Kind namens Francisk geboren. Seine Geschichte führt uns durch eine der dramatischsten Epochen der Stadt Bozen. Wer sie liest, wird Bozens Altstadt und die Burg Rafenstein nie mehr so sehen wie zuvor. „Der Ritter von Rafenstain“ ist ein spannender Mittelalterroman mit Tiefgang. Er führt den Leser durch eine gefühlsreiche Welt von Abenteuern, ritterlichen Idealen und Traditionen Tirols.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
CharlesvonRafenstain
DerRittervonRafenstain
EinBoznerMittelalterroman
Autor:CharlesvonRafenstain
Bilder:AnneGyritheSchütt,Arch.BennoWeber,PeterDaldos, AstridPraxmarer,ChiaraMasiero
Lektorat:MargarethLun,SabineRampold
Herstellung und Verlag: Effekt! - Buchverlag, www.effekt.it ISBN:979-12-5532-105-7
GefördertmitfreundlicherUnterstützung
DerRittervon
Rafen- stain
Ein Bozner Mittelalterroman
Es fühlt sich an wie die Erinnerung an die Kindergartenzeit. Die meisten können nichtgenaujedenTagwiedergeben,unddiewenigenErinnerungensindvon einem Schleier weiter Ferne belegt und ähneln somit einem Traum. Wenn man den Kindergarten jedoch mit offenerem Sinne wieder besucht, kommen jede Menge Erinnerungen auf: einzelne Szenen, Begebenheiten, Leute, Farben und Düfte. Genau dasselbepassiert,wennwirplötzlichFotosvondamalsvorAugenbekommen.Es tauchen vergessene Namen, Erlebnisse, Spielsachen und vieles mehr auf. Wir sind überrascht und zugleich fasziniert, dass all diese vergessenen Erinnerungen wieder andieOberflächegekommensind.
So fühlt es sich an, das Aufwecken der Seele. Wenn dieses seelische Bewusstsein erwacht, erinnert man sich an das frühere Leben, und die bisher so einfache Gegenwart verändert sich für immer. Erinnerungen können uns als Menschen verändern. Unsere Wahrnehmung wird tiefer, und das Bewusstsein hat Auswirkungen auf unser tägliches Leben.
Entweder hat man den Mut, dieses Bewusstsein anzunehmen, oder man versucht, es zu unterdrücken. Ich selbst habe viele Jahre gezögert, habe aber schließlich den Mut gefunden, meine Geschichte zu erzählen.
Wieso? Diese Frage wurde mir oft gestellt, und die Antwort darauf ist einfach: aus Liebe, und um diese Liebe zu verewigen, damit sie nie mehr in Vergessenheit gerät. Ich erzähle diese Geschichte aber auch, um den darin vorkommenden Seelen und Ereignissen ein Denkmal zu setzen. Und schließlich erzähle ich sie für alle, die bereit sind, tiefer nachzudenken und dadurch zu Erkenntnissen über das eigene Leben zu kommen.
Dies ist meine Geschichte. Und sie beginnt wie viele andere mit dem Schrei eines Neugeborenen.
So sehr ich mir auch wünsche, mich an meine sorglose Kindheit zu erinnern, meine erste eigentliche Erinnerung ist das Kratzen von Leinenwindeln auf meinem Popo. Es war unbehaglich, und mein Geschrei weckte die ganze Burg. Nicht einmal die frische Nachtluft der Alpen konnte mich beruhigen. Wie es das Schicksal so wollte, wurde ich im Jahre unseren Herren 1321 als Winterkind auf der Burg Auer geboren. Die Burg liegt inmitten des gleichnamigen Dörfchens, westlich der schönen Jodocus-Kapelle am Dorfplatz. Auer liegt etwas südlich von Botzen, gemütlich und ungestört, in einem nicht allzu schattigen Tal. Die Burg meiner Vorfahren war aber auch ein eiskaltes Loch, und genau deshalb war meine Kindheit von zahlreichen Krankheiten geprägt. Ab und zu herrschten sogar Zweifel, ob ich es überhaupt schaffen würde zu überleben.
Meine Mutter war sehr besorgt, mein Vater allerdings weniger. Ich war sowieso nur der dritte Sohn meines Geschlechts und somit in der Erbpolitik meiner Familie außen vor. Der Herrgott muss mich aber geliebt haben, denn ich überlebte. Damals hatte man eine ganz andere Einstellung gegenüber Krankheiten. Man versuchte zu überleben, und wenn dies nicht gelang, dann war es halt so.
Ich kann mich daran erinnern, dass es auch für mich als kleines Kind im Gebirge ganz natürlich war, über den Tod zu sprechen, weil er Teil des täglichen Lebens war. Als sich die Leute trafen, redeten sie gerne darüber, wen es „g’steckt“ hatte. Selbstverständlich waren dramatische Neuigkeiten genauso spannend wie heutzutage, aber damals starb selten jemand alleine. Heute stirbt man allzu oft in Todesangst einsam in einem Krankenhaus, damals hingegen wurde man von Familie und Freunden am Sterbebett mit so viel Wärme begleitet, dass es viel leichter wurde loszulassen.
Die Zeit verstrich, und schon bald war ich fünf Jahre alt. Wo Bauernknaben lustig und unbeschwert draußen vor der Burg spielten, war meine Realität eine ganz andere. Eines Tages stand mein Vater an der Tür und neben ihm ein Mönch des Dominikanerklosters. Ich war so klein, dass ich nichts verstand. Plötzlich hieß es, weg von zuhause und hinein ins Kloster nach Botzen, um lesen und schreiben zu lernen. Ich konnte nicht begreifen, was mir geschah und fing gleich an zu weinen. Dieser Mönch sah für mich in seiner schwarzweißen Kutte und mit seinem strengen Antlitz bedrohlich aus. Ich blickte zu meinem Vater empor und fragte ihn voller Angst, wieso ich in Gottes Namen lesen und schreiben lernen musste. Wieso durfte ich nicht einfach wie die Bauernkinder draußen spielen? Mein Vater war nicht nur adelig, sondern auch Richter. Er diente, wie auch schon mein Großvater Tridentinus, den Herren von Enn, die als ein hochrangiges Adelsgeschlecht galten und in der nahegelegenen Burg lebten.
Mein Vater kannte die Wichtigkeit einer guten und langjährigen Ausbildung, aber leider nicht die Liebe von einem Vater zum Sohn. Er war sehr oft abwesend, und wenn er sich dann einmal auf der Burg aufhielt, durfte ich ihn nicht stören, weil er zu müde war. Darum lernte ich schnell alleine zu spielen und schuf mir meine eigene Welt, geschützt und zurückgezogen hinter einer unsichtbaren Festung der Fantasie. Diese Festung wurde aber in einem Augenblick, wie ein Blitz vom heiteren Himmel, vom bösen Antlitz des Mönches zerstört, und ich saß verteidigungslos da, allein gelassen und verzweifelt über diese Veränderung in meinem Leben.
Kurz und schmerzlos wurde ich dem Mönch übergeben und ohne großen Abschied weiterbefördert. Als wir im Karren am Dorfplatz vorbeirollten, blickten mich die Bauernkinder an. Viele von ihnen waren gleich alt wie ich, aber ihre Blicke waren irgendwie anders. Schmutzig und verrotzt spuckten sie auf den Boden und lachten uns aus.
Der Mönch ließ sich nicht provozieren und drehte sich zu mir, um meine Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Dann sagte er etwas, das ich nie mehr vergessen werde:
„Wisse, junger Francisk: Die sind nicht wie wir. Bauern sind wie Vieh und dementsprechend zu behandeln. Mein Name ist Pater Lorenz und ich bin dein Lehrer.“ Sein Blick hatte etwas Beängstigendes, Undefinierbares, und mir lief es kalt den Rücken hinunter. Als er mich so anstarrte, überlegte ich, wieso Bauern eigentlich nicht wie wir waren. Sie sind ja schließlich auch Kinder Gottes. Ich zögerte, fand aber schließlich den Mut es zu sagen. Er ließ mich nicht einmal fertig ausreden und unterbrach mich mit einer Watsche. „Silentium est aurum“, fügte er dann hinzu. Es herrscht kein Zweifel, dass die Watsche wehtat, aber was noch mehr schmerzte, war die bittere Erkenntnis der Ungerechtigkeit und die Angst vor der Einsamkeit.
Watsche um Watsche erlosch das Licht in meinen jungen Augen, und im Laufe einiger Monate wurde ich apathisch und schließlich ganz verschlossen. Bauern wurden zu Vieh und meine Familie zu Fremden, die weit entfernt wohnten. Allerdings erinnere ich mich gerne an meine ersten Eindrücke der Dominikanerkirche und des Dominikanerklosters. Als ich damals ankam, konnte man schon von weitem sehen, dass die Kirche noch nicht vollendet war. Als man vorbei am Heiliggeist-Spital in östlicher Richtung den Kirchplatz überquerte, stand man vor dem Haupttor der zehn Fuß hohen Ringmauer, die das ganze Klosterareal mitsamt der Kirche schützte. Im Innenhof Richtung Norden befanden sich das Torgglhaus und der Friedhof, wo die einfachen Leute begraben wurden. Am Friedhof vorbei erblickte man schon den Eingang zur Kirche, dessen Hauptschiff im Gegensatz zu vielen anderen Kirchen mit dem Eingang nach Norden und nicht nach Westen gerichtet war. Das Hauptschiff war ganz ohne Übertreibung imposant. Allerdings fehlte noch das Gewölbe im Chor, und man war dabei, die Nikolauskapelle an der Ostseite des Langhauses zu errichten. Ebenfalls wollte man die ganze Johanneskapelle am südlichen Ende der Westseite mit Fresken ausschmücken. Es ist unbeschreiblich beeindruckend, was der Mensch zur Ehre Gottes zustande bringen kann.
In der Luft lag das Knarzen von Holzkränen, die schwere Steine emporhievten, und das beinahe musikalische Hämmern der Steinmetze an perfekten gotischen Bögen, ergänzt vom Klatschen des Mörtels an den Wänden und dem Plaudern der Maurer, die sich gegenseitig mit typischen Handwerkermärchen unterhielten. Es vergingen keine zwei Tage, da wurde mir schon die Bedeutung der wichtigsten Adeligen der Stadt Botzen eingetrichtert. Als Kind lernt man schnell, und ich fand es faszinierend, die damaligen sozialen Zusammenhänge zu verstehen. Der erste Name, den ich lernte und der dann maßgeblich mein Leben beeinflussen sollte, war Botsch.
Botsch war eine Verdeutschung des florentinischen Namen Bocci, und dieses Adelsgeschlecht wurde damals vom Herzog nach Botzen eingeladen, um die Pfandleihanstalt und den Zoll zu verwalten. Eine Pfandleihanstalt ist der Vorgänger der heutigen Banken, und man konnte dort mit günstigem Zins Geld leihen. Dieses Geschäft ging so gut, dass die Botsch bald unvorstellbare Summen an Geld verdienten und daher reich wurden. Sie finanzierten also nicht nur den Großteil der Dominikanerkirche, sondern auch die Barfüßleinkirche (die einige Franziskaner-Kirch nennen) und die kleinere Sankt-Johann-Kirche im Dorf. Überall konnte man das waagrechte schwarz-weiß gestreifte Wappen erblicken, und schon bald galt dieses Wappen als ein Zeichen der Macht. Natürlich waren andere lokale Adelsgeschlechter sehr an einer gemeinsamen Familienpolitik mit den Botsch interessiert, weil diese eine stabile ökonomische Zukunft sicherte. So geschah es eben, dass der gute Boccio de Rossi, wie der Botsch auch genannt wurde, sich mit der feinen Gerviga von Niedertor vermählte und, um dies zu feiern, die Johanneskapelle vollständig mit den schönsten Fresken von Botzen ausschmücken ließ. Allein die Farben waren unbeschreiblich stark und voller Harmonie, um nicht von den biblischen Motiven zu reden. Mein Blick wanderte empor, und die Kapelle erschien mir ohnegleichen. Jedem blieb der Atem stehen, so wunderschön war sie. Dies erschien mir wie ein Zeichen, dass sich mein Schicksal später auch mit dem der Niedertor kreuzen würde.
Im Vergleich zur Kirche war das Kloster karger ausgeschmückt. Man erreichte es durch die westliche Tür der Johanneskapelle, und von dort gelangte man durch den wunderschönen Kreuzgang hinüber zum Refektorium und zu den Schlafgemächern. Diese waren zwischen Geistlichen und Laien streng getrennt. Gott sei Dank, denn da hatte ich zumindest Frieden von Pater Lorenz und konnte in Ruhe meinen Interessen nachgehen.
Am liebsten weilte ich in der Bibliothek und im Scriptorium, welches sich im südlichen Flügel befand. Ich liebte es nämlich, Bücher zu lesen. Die geistlichen Werke waren zwar Pflichtlektüre, aber was ich richtig spannend fand, waren Bücher mit Geschichten über andere Orte und Kulturen, philosophische Texte und Werke über Kunst und Natur. Ich konnte davon nie genug bekommen, und als ich alle Bücher gelesen hatte, fing ich wieder von vorne an. Meine Vorliebe für Bücher war eindeutig die Folge meiner Einsamkeit, denn so etwas wie Freunde gab es nicht, und in den späteren Jahren verstand ich auch weshalb.
Die meisten gehörten dem Stadtadel an, einige dem hohen und sehr wenige dem niederen Adel. Ergo, die meisten gaben sich nicht mit mir ab, und obwohl es paradox klingt, waren genau sie es, mit denen ich im späteren Leben zurechtkommen musste. Pater Lorenz versuchte sein Bestes, um mir Latein beizubringen, aber er weckte nie die für meinen Intellekt notwendige Begeisterung. Ich fand Latein ziemlich elitär und es erinnerte mich an die kalte, hässliche Landschaft südlich von Auer bis zur Bischofsstadt von Trento, wo mehr und mehr Leute italienisch sprachen.
Die „Welschen“, wie wir sie damals nannten, hatten einfach einen anderen Lebensstil und taten sich auch viel leichter mit Latein. Ich blickte schon als Kind in Richtung
Norden. Erstens, weil die Landschaft dort viel einladender aussah, und zweitens, weil unser Geschlecht dem Herzog von Tirol diente und dieser deutsch sprach. Erinnerungen an Orte und Leute, die mein Herz im pochenden Rhythmus mit einer Art Heimweh erfüllen. Wenn ich nur daran denke, wie Botzen damals aussah, verfalle ich in Wehmut. Die Stadt und ihre Umgebung waren schlicht und einfach behaglich. Jeder Weg, jede Schenke war umgeben von unberührter Natur und wilden Flüssen, traumhaft wie in einer romantischen Malerei. Die Stadt war viel kleiner, aber fast so aktiv wie heute. Stockenden Verkehr gab es schon damals, erzeugt durch eine Menge von Fuhrwagen, Reitern, Bauern mit Vieh und ungeduldigen Handwerkern. Schreiende Kramer, tobendes Gsuff. Auch Bettler gab es schon damals, an denselben Ecken derselben Häuser, wo wir sie heute noch antreffen.
Worüber Botzen damals aber verfügte, war merkantile Stärke und Talent für Handel - eine Folge der geografischen Lage der Stadt.
Am besten lässt sich das mit den Lauben erklären. Diese Kaufmannshäuser waren das Herz der Stadt. Pater Lorenz erklärte mir, dass die eine Seite als welsche und die entgegengesetzte als deutsche Lauben bezeichnet werden. Die deutschen Kaufmänner kamen nach Botzen, um italienische Waren zu kaufen und umgekehrt, wobei man beide Sprachen verstand. Als Pater Lorenz bemerkte, dass er meine Aufmerksamkeit gewonnen hatte, vertiefte er das Thema Geschichte und setzte voll Begeisterung fort. Vor über hundert Jahren hatte Botzen eine Stadtmauer, die allerdings schon im Jahr des Herrn 1277 abgerissen wurde. Im Inneren der alten Stadtmauer entstanden somit die Lauben, und weil es an Platz mangelte, waren die Fassaden meistens nicht breiter als zehn Fuß. Der Handel florierte, und aufgrund des Platzmangels in der Breite wurden die Häuser zunächst nach hinten und dann nach oben erweitert.
Dies geschah nach dem Abriss der Stadtmauer, als die Hausbesitzer das Recht dazu erhielten und es möglich war zu erweitern.
Pater Lorenz wurde von einem vorbeieilenden Adeligen gegrüßt und verlor den Faden. Seine Gedanken versuchten eine Fortsetzung zu finden, während sein Zeigefinger Zeichnungen in die Luft malte. „War das alles zur Geschichte von Botzen?“, fragte ich, auf Erlösung hoffend. „Nein! Ganz und gar nicht, junger Francisk! Da gibt es viel, viel mehr! Um Gottes Willen. Der Adelige beispielsweise, der gerade an uns vorbeiging, war einer deren von Obertor. Niedertor kennst du ja schon.“ Er setzte somit seinen Unterricht fort und erzählte, dass der untere Teil der Lauben, genau dort, wo der Fleischmarkt ist, zum Niederen Tor führt. Daher der Name dieses angesehenen Adelsgeschlechtes. „Am gegenüberliegenden Ende der Lauben, wo sich der obere Markt befindet, hört die Stadt mit dem Oberen Tor auf, und daher kommt das Adelsgeschlecht von Obertor.“
Botzen war aber nicht nur durch Kaufleute und Stadtadel groß geworden, sondern auch dank des Klerus. Es herrschte kein Zweifel daran, dass es eine herrschaftliche Stadt war, die mehr und mehr mit dem zunehmenden Einfluss der Herzöge von Tirol konkurrierte.
Es gab nicht nur das Dominikanerkloster, sondern auch das „Barfüßleinkloster“ des Franziskanerordens, die Pfarrkirche Maria Himmelfahrt, die Kirche der Deutschordensritter sowie den Bischofspalast am „Chorenmarkt“ auf dem Kornplatz.
Obwohl man damals nur dort mit Getreide handeln durfte, denn dort befand sich die Waage, war der Platz vor der Dominikanerkirche auch ein sehr wichtiger Ort für den Handel und die internationalen Geschäfte. Hier wurden auch oft Märkte und Versammlungen abgehalten. Als ich ab und zu das Kloster in Begleitung der Mönche verlassen konnte, war es für mich immer sehr aufregend, andere Sprachen zu hören und dank der vielen Reisenden von anderen Orten und Kulturen zu erfahren. So erfuhr ich als kleiner Knabe etwas über die Hügel von Mähren und die Berberey südlich von Arabien, über die Griechen und deren Tempel sowie die faszinierenden Sagen der nordischen Länder.
Botzen wurde mehr und mehr zu einem vertrauten Ort, und ich fing langsam an, die Stadt als ein zweites Zuhause in mein Herz zu schließen. An jeder Ecke der Stadt sammelte ich Erlebnisse, und sogar der Geruch der gekalkten Steinmauern und der feuchten Kellergewölbe wurden zu einem vertrauten Teil meines Lebens. Je schöner und faszinierender die Stadt Botzen für mich wurde, desto langweiliger und konservativer war das Leben als Laie im Kloster. Pater Lorenz war ein strenger Lehrer, aber es gab dort auch andere Mönche.
Gottfried zum Beispiel war bestimmt nicht ganz − wie soll ich das am besten formulieren − nicht ganz im Gleichgewicht mit sich selbst, er wurde allerdings von allen geduldet. Gottfried war kein böser Mensch, ganz im Gegenteil. Ich musste öfters mein Lachen unterdrücken, weil er so lustig war. Sogar in der Dunkelheit beim Nachtgebet im Kreuzgang konnte man ihn erkennen. Er war leicht nach vorne gebeugt und murmelte unverständlich vor sich hin, wobei er ständig mit halbausgestrecktem Arm seinen Rosenkranz im wahrsten Sinne des Wortes durch die Finger springen ließ. Unverständlich, dass dieser dabei nie zu Bruch ging. Beim Anstimmen der Lieder in der Kirche aber, da verwandelte sich das Gemurmel in ein absolut unmusikalisches Geschrei, oft so laut, dass er die anderen Brüder übertönte. Wenn man ihn dann noch ganz unbeobachtet mit einigen Stichworten provozierte, dann schrie er die am strengsten verbotenen Wirtshauslieder durch die Gegend, sodass es sogar dem Prior zu peinlich wurde. Sein Geschrei über Huren und Bumsen bis hin zur Huldigung der Penisbäume dröhnte durch die Kapellen der Kirche, worauf er schnell in seine Zelle abtransportiert wurde. Dort erhielt er dann ein Getränk, welches sogar ein verwundetes Wildschwein zur Ruhe bringen konnte. Auf meine Frage, welche Heilpflanzen dafür verwendet wurden, nannte man mir den blauen Eisenhut und die schwarze Tollkirsche. Beide, Aconitum napellus und Atropa Belladonna, waren in mehreren Werken als sehr giftig angeführt, und nur ein kleiner Löffel zuviel konnte sogar den Tod verursachen. Das waren allerdings nur zwei von Hunderten von Heilpflanzen. Das beeindruckte mich so sehr, dass ich ab dem Zeitpunkt die Wissenschaft der Herbalisten mit Ehrfurcht respektierte.
Armer Pater Gottfried. Es dauerte Wochen, bis er wieder der alte wurde, aber abgesehen von solchen Ereignissen ging im Kloster alles seinen gewohnten Gang. Jede Gebetszeit im Kreuzgang, vertieft in Gedanken, ohne Anfang und ohne Ende. Jede Mahlzeit, jeder Tag, jede Woche. Der Sommer verging und der regnerische Herbst zog ins Land, gefolgt vom weißen Winter. Immer und immer wieder im selben Zyklus der Jahreszeiten.
Eines Tages erblickte ich Pater Lorenz am Eingang des Klosters, gefolgt von einem jungen Knaben, der in etwa so alt war wie ich damals bei meiner Ankunft. Da wurde mir bewusst, dass ich bereits vierzehn geworden war und ganze acht Jahre bei den Dominikanern verbracht hatte. Was sollte nun mit mir geschehen? Würde ich in meinem Leben Erfolg haben, und wenn ja, wie und wo? Eine Menge Fragen und Zweifel überfluteten meine Sinne, und ich entfernte mich gedanklich von der unmittelbaren Gegenwart, die unaufhaltsam um mich herum weiter tobte. Ich erinnere mich sehr gut an genau diesen Augenblick. Ich saß im Garten des Kreuzganges, als ich Schritte hörte, die meine Gedanken unterbrachen. Aus dem Kreuzgang kam mein Vater, und meine einzige Reaktion war eine halblaute Feststellung: „Ja, die Gegenwart hat mich eingeholt.“
Mein Vater schaute streng auf mich herab und ersparte sich die Begrüßung. Er teilte mir kurz und bündig mit, dass meine Lehrzeit bei den Dominikanern zu Ende sei und dass ich schnell mein Hab und Gut packen solle, um sofort aufbrechen zu können. Die Reise ging zurück zur Burg Auer, und je mehr ich versuchte, mit meinem Vater zu kommunizieren, desto mehr kam er mir fremd vor. Dieses Gefühl wühlte meine Seele auf, und ich fragte mich, wieso ich so unerwünscht war. Als wir in der Nähe der Burg Auer waren, hielt mein Vater auf einem Hügel an und ließ seine Augen über die Landschaft gleiten. Sein Blick verlieh den Eindruck von tief gehender Melancholie. Es wehte ein milder Wind, und wir badeten unsere Gesichter im goldenen Sommerlicht des Sonnenuntergangs. So ein Gefühl von Ruhe und Unendlichkeit hatte ich in der Gegenwart meines Vaters noch nie erlebt. Er schaute in die Ferne, ohne auf mich zu blicken.
Sein Verhalten wurde allerdings von seufzenden Atemzügen begleitet. „Ich habe ein ganzes Leben lang dem Herzog gedient, und dass wir hier heute so friedvoll leben dürfen, ist die Frucht meiner Anstrengungen. Diese Frucht dient jedoch nicht dir zum Genuss, sondern den Menschen, die unter unserem Schutz stehen. So war es schon für meinen Großvater, meinen Vater und so wird es eines Tages für deine Brüder sein.“
Ich blickte enttäuscht zu Boden und versuchte meine Gefühle wie die Zügel eines Pferdes im Zaum zu halten. Über meine geballte Faust kullerten Tränen, und die Worte blieben mir im Halse stecken. Mein Vater war offensichtlich nicht glücklich darüber, mich so enttäuschen zu müssen, und legte seine Hand auf meine Schulter.
„Francisk. Höre bitte, was ich dir sagen will. Dein Schicksal wird sich nicht hier bei uns vollziehen. Du bist der dritte Sohn und damit nicht der Erbe der Burg und deren Rechte. Dein Schicksal liegt in deinen Händen, in deinen eigenen Händen, und alles, was ich machen kann, ist, dir eine gute Erziehung angedeihen zu lassen, mitsamt einer würdigen Summe Geld, wenn ich sterbe. Ich weiß, dass ich nicht der beste Vater bin und dich allzu selten in meine Arme genommen habe, aber so ist es nun einmal. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwierig es ist, über andere Menschen zu entscheiden und deren Leben durch Gesetz und Gewissen für ewig zu verändern.“
Ich fragte ihn verletzt, warum er lieber Richter als Vater sei und ob er sich damals nicht schlicht meine Geburt habe ersparen können. Der Wind wehte plötzlich zwischen uns hindurch, als wolle gar die Natur uns trennen, und ich fühlte mich wie in einem Alptraum, gefangen zwischen Tag und Nacht in der Dämmerung meiner Seele.
Sein Gesicht, schon halb in der Dämmerung, die funkelnden Augen feucht von Tränen, nahm er den Mut zusammen und sprach die einzigen Worte, zu denen er in diesem Augenblick fähig war. „Es ist nicht so einfach, mein Sohn. Ich kann nicht beides gleichzeitig sein. Mein Amt als Richter ist nicht vereinbar mit dem Dasein eines herzlichen Familienvaters. Jedenfalls hätte ich ohne das Richteramt keine Familie gründen und ernähren können. Du bist noch zu jung, um dies zu verstehen. Familienoberhaupt zu sein, bedeutet unbeschreiblich große Verantwortung zu tragen. Es ist meine Pflicht, für euer tägliches Wohlergehen sowie für eure Zukunft zu sorgen.“ Dann hielt er kurz an. „Sag nie wieder, dass mir deine Geburt erspart hätte bleiben sollen, mein Kind. Ich liebe dich aus ganzem Herzen und werde es immer tun. Egal, was passiert, verstehst du? Du hast seit deiner Geburt etwas in dir, das dich einzigartig macht. Du bist nicht wie all die anderen Knaben und auch nicht wie deine Brüder. Deine Mutter sagt, dass sich bei deiner Geburt der Himmel verdunkelt hat und ein Unwetter hereingebrochen ist, und plötzlich war alles still. In den Wolken entstand ein Loch, durch welches die Sonne mit ihrer ganzen Stärke hindurch schien und alles so mystisch wurde, dass deine Mutter zu Maria Magdalena betete. Ich glaube, dass das Leben für dich etwas bereithält, das unsereinem nicht vergönnt ist. Mache das Beste daraus!“ Er glitt aus seinem Sattel und umarmte mich, einfach so, von ganzem Herzen. Ich spürte, wie seine warmen Arme mich umschlangen und ich zögerte einen Moment.
Liebe bedeutet auch, vergeben zu können, dachte ich. Meinen Lippen entfloh „Vater“,
und auch ich legte meine Arme um ihn. So verblieben wir eine Weile. Ein Richter und sein Erbe. Ein Adeliger und sein Kind. Ein Vater und sein Sohn.
Auf einem Baum saß eine Eule und beobachtete uns, ohne einen Laut von sich zu geben. Der Wind streifte ihre zarten Federn. So viel Weisheit. Augenblicke, die ein Leben für ewig verändern.
Ritter Gottschalk von Botzen hatte gerade sein Testament abgegeben, als die Mönche bei der Vigil seines Sterbens anfingen zu beten. Das Schlafgemach war finster und der Geruch von Weihrauch verbreitete sich schauerlich mahnend, wie ein unsichtbarer Nebel von Traurigkeit.
Die ganze Burg Enn war in abwartende Stille gehüllt. Diener und Mägde huschten lautlos herum, die einen mit kaltem Wasser, die anderen mit schweißfeuchten Tüchern des sterbenden Herrn. Der Mond war sichelförmig, und sogar die Tiere der Nacht schwiegen, als wären sie wahrhaft ein Teil dieses letzten Aktes. Gottschalk rief seinen Notar zu sich und erbat als letzten Wunsch, dass an seinem Todestag genügend Brot und Käse an die Armen verteilt werden möge. Dann schwand sein Bewusstsein, und er gab leise, schluchzende Laute von sich, schweißgebadet im Delirium. Die Mönche begleiteten ihn ins Reich der Toten, ununterbrochen von Jesus Barmherzigkeit erbittend.
Gottschalk war ein guter Mensch gewesen, und er hatte sein Leben immer mit Respekt und Würde gelebt. Er erlangte kurz wieder das Bewusstsein, winkte den Priester zu sich und fragte, wie spät es sei.
„Es ist zwei Uhr morgens, mein Herr.“ Er nickte zustimmend und fragte, welcher Tag denn sei. Der Priester streichelte voller Mitleid seine Stirn und antwortete: „Es ist Sonntag, der sechste Tag des Monats Juni im Jahre des Herrn 1334.“ Gottschalks Blick suchte ängstlich jenen des Priesters, sodass dieser seine Hand nahm und die Stille unterbrach: „Es ist gut, Gottschalk. Es ist gut. Ihr seid ein Kind Gottes und könnt mit erhobenem Haupt loslassen.“ In Gottschalks Augen funkelten die Tränen.
„Lasst los, Gottschalk. Habt keine Angst, denn der Herr und die Engelschar warten auf Euch.“ Gottschalks Gesicht entspannte sich in Seligkeit, und er sprach seine letzten Worte. „Ich sehe sie! Ich sehe die Engel und das Licht! Ich…“ Sein Atem stockte, und sein Herz hörte auf zu schlagen. Der Priester merkte, wie schnell die Hand kalt wurde, und faltete sie zusammen mit der anderen über Gottschalks Brust. Die Mönche blickten sich traurig an, während der Priester die Tür öffnete. „Ein Zeitalter geht zu Ende“, meinte einer der Mönche dem Priester gegenüber. „Nein, es ist nie zu Ende. Es gibt immer jemanden, der so gut ist wie Gottschalk. Vielleicht nicht gleich und sofort, aber früher oder später bestimmt. Das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse darf nie zu Gunsten des Bösen ins Wanken kommen.“ Er verließ den Raum und begab sich noch vor Sonnenaufgang zurück ins Kloster.
Auf der im Tal gelegenen Burg Auer ahnten wir noch nichts vom Tod Gottschalks. Erst spät am Vormittag traf ein Bote ein. Meine Augen folgten den nervösen Schritten meines Vaters, als er die Nachricht entgegennahm. Da stand er alleine am Eingang und legte nachdenklich seine Hand ans Kinn. Er sah sehr betrübt aus, und ich wollte ihn nicht in seiner Einsamkeit verweilen lassen.
„Vater, was ist denn passiert?“ fragte ich bekümmert. Er blickte zum Fenster herauf und begab sich eilig durchs Tor, während er kurz antwortete: „Der Gottschalk ist tot. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“ Ich eilte die Treppen herunter, da diese schreckliche Neuigkeit für einen Jüngling wie mich eine erfrischende Abwechslung vom langweiligen Alltag war. Ich wollte schnellstens verstehen, was los war. Neugierig und naiv, wie ich war, dachte ich, dass eine tiefergehende Erklärung nur ein paar Augenblicke dauern würde und wir dann irgendwo hinreiten würden, vielleicht sogar in Rüstung. Zu meiner Enttäuschung aber rief mein Vater die ganze Familie zusammen, und wir sammelten uns im Hauptraum des Palas.
Da dieser Raum, die Kemenate, als einziger von einem Kamin beheizt war, nannten ihn die Leute vor meiner Zeit Kaminata, abgeleitet vom lateinischen caminus. Meine zwei älteren Brüder und meine Schwester unterhielten sich miteinander und quatschten klug durch die Gegend, ohne mich daran Anteil nehmen zu lassen, und jedes Mal, wenn ich es versuchte, wurde mir erwidert, dass ich zu jung sei, um dies zu verstehen. Also saß ich am Fenster auf dem Mauerbänkchen und hörte unermüdlich zu, was mein Vater erzählte, und lauschte den daraus entstehenden Diskussionen. Damals hatte ich kein besonderes Verständnis für lokale Politik, und mein Interesse war auch nicht von obsoleten Machtspielen und lukrativen Allianzen beeinflusst. Wahrscheinlich war es das niemals, und dies ist eine Ursache für meinen späteren Lebenslauf. Jedenfalls stellte es sich heraus, dass die Burg Enn bald neue Besitzer haben würde, da Gottschalk ohne Erben gestorben war. Die Burg wurde als Lehen an treue adelige Diener des Herzogs Heinrich von Kärnten und Tirol vergeben, und zwar, was damals für eine solche Burg typisch war, begleitet vom einflussreichen Amt eines Richters, mitsamt dem Zehnten aller Bauernhöfe, die zur Burg gehörten. Sogar ein Vierzehnjähriger wie ich verstand, dass damals mein Vater die Gelegenheit erblickte, dem Herzog meinen zweitältesten Bruder als neuen Herrn von Enn vorzuschlagen, denn dies war eine gute Gelegenheit, um Reichtum und Macht zu erlangen. Wie mein Vater das zustande bringen wollte, wurde folglich heftig diskutiert. Ich fing an, mich zu langweilen, und ließ meine Augen über die Täfelung der Kemenate wandern, genoss dabei den Geruch von Zirbelholz und die schönen Wandteppiche mit Jagdszenen und Bildern von romantischer Minne zwischen Mann und Frau. „Ja, aber die Herzogstochter Margarete ist ja erst ein heranwachsendes Mädel, nicht einmal drei Jahre älter als Francisk. Die ist ja schon seit vier Jahren mit dem dreizehnjährigen Johann Heinrich von Luxemburg verheiratet“, tobte mein ältester Bruder. Ich dachte, man spreche über mich, und wurde also wieder aufmerksam. Meine Mutter wollte auch am Gespräch teilnehmen und bereicherte dieses aus elterlichem Blickwinkel: „Die zwei sind noch Kinder, und das Einzige, was sie tun, ist, sich tagein, tagaus zu streiten. Die Ehefrau vom Beamten Arnoldus in Botzen hat erzählt, dass sich die zwei Kinder sogar gegenseitig anstänkern, beißen und schlagen. Aus denen wird nichts Gescheites!“
Entsetzt und ohne zu denken hüpfte ich von der Bank herunter, um die Aufmerksamkeit meiner Familie zu gewinnen. „Wieso kann Margarete nicht einfach selbst ihren Mann wählen? Einen, der sie liebt und umgekehrt? Margarete hat wohl auch Gefühle!“ Meine Schwester brach beinahe in Tränen aus und plärrte so laut, dass man sie auch außerhalb der Kemenate hören konnte.
„Francisk, du Trottel! Halt deinen Mund, du verstehst vom Ganzen gar nichts! Absolut gar nichts!“ Ich verstand damals wahrlich nichts davon. Erst recht kannte ich nicht die Ursache für ihre übertriebene Reaktion. Erst später fand ich heraus, dass mein Vater damals schon Vereinbarungen getroffen hatte, um sie mit einem Fremden zu vermählen, den sie überhaupt nicht liebte. Alles nur, um die Macht unseres Geschlechtes zu stärken.
Als ich dies erfuhr, traf mich diese Nachricht tief, und ich befürchtete, eines Tages ebenfalls in einer solchen Situation zu sein. An jenem Nachmittag aber war ich von Ungeduld und Neugier geplagt. Die Antwort auf meine Fragen bekam ich erst ein paar Stunden später, nach dem erfolglosen Ausgang des Zusammentreffens. Es wurde vereinbart, dass mein Vater und mein zweitältester Bruder den Herzog auf Schloss Tirol aufsuchen wollten. Sie wollten ihn gegen ein reichliches Geldangebot davon überzeugen, Burg Enn samt all seinen Rechten meinem Bruder als Lehen zu geben.
Wie vereinbart, ritten sie am nächsten Tag Richtung Meran, eine Reise, die gut zehn Stunden dauerte und viele Hindernisse bereithielt. Zuerst die Überquerung der Etsch in Richtung Kalterer See, von dort vorbei an Eppan in Richtung Nals und Schernag. Hier lauert Gefahr! Wegräuber und Muren, die mit gewaltiger Wucht in den Morast des Talbettes abrutschen und alles mit sich reißen konnten. Die Wälder dort sind geheimnisvoll, und man sollte sie schnell und ohne darin zu übernachten durchqueren. Wenn sie es dort vorbeischafften, dann mussten sie die Etsch nochmals bei Vilpian überqueren, um von dort auf der rechten Talseite nach Nordwesten bis nach Meran und schließlich weiter bis Schloss Tirol zu gelangen, das sich am Eingang des Vinschger Tales befand.
Der Vinschgau war eine besonders wichtige Strecke für den Herzog, denn es war die Handelsroute in die Schweiz, und von dort ging es weiter nach Frankreich. Hier wohnten auch die mächtigen Adelsgeschlechter von Matsch und von Tschengls, mit denen wir vom niederen Adel allerdings sehr wenig zu tun hatten.
Würde während der Reise etwas passieren, dann würden Tage verstreichen, bis wir Nachricht davon bekämen. Es war schlicht und einfach gefährlich, und wir erwarteten bekümmert ihre Heimkehr.
Die ersten paar Tage verstrichen, und wir begannen an den Fenstern Ausschau zu halten. Am vierten Tage endlich kreuzten die beiden in der Ferne auf. Wir waren so gespannt, dass wir Hals über Kopf hinausstürzten, um sie zu empfangen. Hinter ihnen liefen Bauernkinder her und schrien: „Dêr Herr isch wieder do! Dêr Herr!“ Einige von ihnen waren allerdings schlecht erzogen und schnitten Grimassen, um frech ihre Grenzen auszuloten. Ich schüttelte den Kopf. Bauern, verrotzt und dreckig. Dickschädel, trotzig und ignorant. Als ich diese Kinder allerdings genauer beobachtete, musste ich feststellen, dass ihre Lebensfreude bei weitem größer war als die meine. Sie lebten ihren Tag ohne große Pläne und mit erdnahen Verpflichtungen. Mein Philosophieren wurde plötzlich durch die Präsenz meines Vaters unterbrochen.
„Los, bring das Ross in den Stall! Steh nicht verträumt herum und mach schon, Herrgott nochmal!“ Mein Vater war schlecht gelaunt, und ich konnte daher die Antwort des Herzogs schon erahnen. Mein Bruder ging mit hängendem Kopf hinter ihm her, und ich fluchte, als sie in die Burg verschwanden. So, ich hatte also sehnsüchtig vier Tage lang auf seine Rückkehr gewartet, und als er endlich ankam, begrüßte er mich mit einer Rüge. Ich hatte mich wohl geirrt, als ich glaubte, es könnte nicht noch schlimmer kommen. Eine Erklärung bekam ich kurz darauf in der Kemenate, wo die ganze Familie nochmals zusammengerufen wurde. Als ich hereinkam, saß mein Vater wie immer am Tischende, mit sehr ernster Miene. Neben ihm saßen meine Mutter und daneben meine Geschwister. Mein ältester Bruder verriet für einen kurzen Augenblick seine Gedanken durch einen schadenfrohen Blick, fasste sich aber geschwind. Mein zweitältester Bruder hingegen sah sehr enttäuscht aus und saß, noch immer in seiner Reiterkleidung, da.
Meine Schwester rückte ein wenig von ihm weg, da er von der langen Reise stank. Sie war verängstigt. Ich hingegen war ganz ruhig und beobachtete alle anderen, wobei ich ihre Körpersprache mit scharfem Sinn studierte. Ich blickte auf meinen Vater und wusste, er würde jetzt sprechen.
„In der Tat haben wir beim Herzog Audienz bekommen, allerdings ist mein Plan nicht gelungen. Der Herzog hatte schon vor dem Tode Gottschalks in aller Heimlichkeit die Burg und die dazugehörenden Rechte zwei Brüdern versprochen, und dennoch hat er mich in aller Öffentlichkeit angeklagt, die Burg des Gottschalk zu begehren, obwohl dessen Leichnam noch nicht bestattet war. In Wirklichkeit, glaube ich, hatten diese zwei Brüder einfach viel mehr Geld, als der Herzog von mir erwarten konnte, und deshalb entschied er wohl so.“ Als meine Mutter ihn fragte, wer diese zwei Brüder seien, antwortete er mit eifersüchtigem Tonfall: „Nikolaus und Peltram von Brünn heißen die beiden, die keiner kennt.“
„Sie erhalten, wie erwartet, ein Amt als Richter in Botzen. Ich kann da nichts mehr beeinflussen, nur das Beste daraus machen. Das bedeutet, dass mein ältester Sohn Burg Auer übernimmt und die zwei anderen weggeschickt werden. Der eine ins Kloster, um ein klerikales Leben zu führen, und der Jüngste nach Enn hinauf, um bei den neuen Burgherren die Ausbildung als Knecht zu beginnen. So ist es beschlossen, und ich werde gleich in der nächsten Woche die notwendigen Vorbereitungen treffen. Jetzt gebt den Dienern Bescheid, sie sollen Essen auftischen. Ich habe Hunger und bin müde.“
Wir saßen alle wie versteinert da. Kein Wort, keine Zankerei, nicht einmal ein Seufzen. Hatte ich richtig gehört? Ich sah fragend zu meiner Schwester hinüber und sie erwiderte meinen Blick mit Resignation. Ihr trauriger Blick wechselte zum Kamin und sie starrte ins Feuer, wo knisterndes Feuer diese bedrückende Stille unterbrach. Ich war fassungslos. Herrgott, wie kann man einfach derart über andere Menschenleben entscheiden? Dies wurde auch noch in dritter Person mitgeteilt, während wir Betroffenen im Saal anwesend waren. Ich fühlte mich wie der letzte Dreck und wusste gar nicht, was ich sagen oder tun sollte. Mein Bruder stand auf und setzte sich neben meine Schwester. Ich beneidete ihn nicht, denn wer kann und will schon ein Leben in Keuschheit verbringen? Ohne Frau und Kinder? Ohne Freiheit? Ich empfand ehrlich Mitleid für ihn und setzte mich ebenfalls vor den Kamin. Ich schaute ihn und meine Schwester an, während ihre Gesichter vom Licht des Feuers erhellt wurden. Ich beobachtete beide mit einem Hauch von Neugier und ließ meine Augen über ihre bereits reifen Gesichtszüge wandern.
Ich würde wahrscheinlich später ebenso aussehen und mit Sicherheit die gleichen Gedanken haben. Es tat mir aufrichtig weh, beide so zu sehen.
„Es tut mir furchtbar leid, dass ihr beide so gemein der Liebe beraubt worden seid. Ich wünschte, ich könnte etwas für euch tun.“ Während meine Schwester verbittert lächelte, schüttelte mein Bruder deprimiert Kopf. „Liebe?… Ach, Francisk. Was verstehst du denn schon von Liebe! Du hast keine Ahnung vom Ernst des Lebens, aber du wirst diesen noch früh genug kennenlernen, spätestens, wenn du deine Ausbildung als Knecht beginnst.“ Damals ahnte ich nicht, wie sehr mein Bruder Recht haben würde. Heutzutage wird der Begriff „Knecht“ wahrlich ganz anders interpretiert als damals. Der Begriff „Ritter“ wurde eigentlich selten verwendet.
„Knecht“ war die Bezeichnung – jedenfalls im Tiroler Raum. Im Englischen war es „knight“. Im Lateinischen hingegen waren „Miles“ und „Domini“ gebräuchlich, wobei die Adelsfrau als „Domina“ bezeichnet wurde.
Aber egal, ob es lateinische Bezeichnungen für Urkunden waren oder deutsche: Mein Schicksal wurde an jenem Abend für ewig besiegelt.
Während der Südwind draußen seufzte, flogen meine Gedanken dahin. Ich würde die Kunst des Reitens und Kämpfens lernen und meinem Herrn dienen. Ihn vielleicht schützen sollen oder mit ihm in die Schlacht ziehen. Ja, kämpfen und gewinnen, möglicherweise sogar an der Seite des Herzogs persönlich. Meine Gedanken bewegten sich in einer naiven Fantasiewelt, wie sie sich nur ein vierzehnjähriger Knabe vorstellen konnte. Ich war nicht mehr Kind, aber auch noch nicht erwachsen und so wurde ich auch von meinen Geschwistern damals wahrgenommen.
Es ärgerte mich, immer schulmeisterlich behandelt zu werden, und ich beschloss, meinem Bruder Paroli zu bieten. Ich blickte in die Flammen und merkte etwas unbeschreiblich Tiefes in mir, aber ich fand dafür keine Worte. Es war einfach da, und es musste endlich einmal heraus. Ich senkte stur meinen Kopf und sagte mit gedämpfter Stimme zu ihm. „Du sagst, ich verstehe nichts von Liebe? Du bist der Letzte, der sich dazu äußern kann. Deine Zunge sollte sich am besten hinter deinen Zähnen in Scham verstecken, denn du, Bruder, sprichst mit Hass und Bitterkeit eines gescheiterten Burgherrn, ohne den Mut zu haben, dein eigenes Leben in die Hand zu nehmen. Zu dir sage ich folgendes: Diese sollen heute meine letzten Worte an dich sein! Hass zerstört alles.“
Ich stand auf, blickte auf meine Schwester, die verblüfft dasaß, und nahm Abschied von den beiden. Mein Bruder sah wie paralysiert ins Feuer und sagte kein Wort. Die alten Bodenbretter knarzten unter meinen Füßen, als ich die Kemenate verließ. Als ich die Tür hinter mir zumachte, ließ ich meine Hand noch kurz auf dem Türgriff verweilen und mir wurde bewusst, dass ich bald nur auf mich selbst gestellt war, noch dazu in so jungem Alter. Im Vergleich zu vielen anderen fühlte ich kein Selbstmitleid, sondern eine Form von Gelassenheit, gemischt mit Neugier. Es war Zeit für ein neues Abenteuer, und ich wollte am liebsten gleich damit beginnen.
In jener Nacht konnte ich nicht schlafen, und ich stellte mir vor, wie Burg Enn von innen aussah. Eine so große Burg im Vergleich zu unserer hatte gewiss auch eine Rüstkammer und ein Gefängnis. Vielleicht sogar Geheimgänge, eine Schatzkammer und wahrscheinlich riesige Ställe mit mindestens einem Dutzend Streitrösser. Ich kuschelte mich unter das Leinen und genoss den Geruch des frischen Kissenbezugs. Noch bevor ich mich besann, hatten sich meine Augen geschlossen, und ich glitt in die Welt der Träume.
Es war eine ruhige Nacht, und als ich am nächsten Morgen erwachte, fühlte sich die Luft anders an. Ich bildete mir ein, dass diese neue Luft mit neuer Lebenskraft zusammenhing. Und ich hatte mich nicht getäuscht, denn es wurde Spätsommer, und in der Morgenluft lag der Geruch des reifen Korns. Ich sprang aus dem Bett, ging zum Fenster und öffnete neugierig die hölzernen Fensterläden, die sich bereits warm anfühlten. Die Sonne war erst vor einer Stunde aufgegangen, und schon war es heiß. Am wolkenlosen Himmel flogen Schwalben, deren Zwitschern von einer sanften Brise Wind begleitet wurde. Vor mir offenbarte sich die schöne Landschaft mit ihren goldgelben Kornfeldern, am Horizont umrahmt von dichten Wäldern. Und dort rann ein kleines Bächlein vorbei, das sowohl Tiere als auch Bauernmägde zu sich lockte. Das Wasser schimmerte wie kleine Kristalle auf einer Krone, und Mutter Natur war ohne Zweifel die Königin, die sie trug. Weiter links erspähte ich eine Gruppe Bauern, die ihre Sensen rhythmisch im Takt gleiten ließen, gefolgt von weiterem Gesinde, das die Kornähren zu Bündeln zusammenrechte und diese dann mit geübter Hand aufstapelte. Ich beobachtete ihre schweißgebadeten Gesichter und erkannte auch einige von ihnen, die damals bei meiner Abreise ins Dominikanerkloster aus der Ferne Grimassen geschnitten hatten. Jetzt hatten sie nichts zu lachen, und ich empfand dies als gerechte Strafe.
Plötzlich klopfte es an der Tür, und eine Magd kam herein. Sie verbeugte sich kurz mit gesenktem Blick. Verlegen hauchte sie: „Grüß Euch Gott, Herr“, und stellte sogleich ein Brettchen mit etwas Brot und Milch auf den Tisch. Ich sah sie an und versuchte zu verstehen, warum sie errötete. Da erst fiel mir auf, dass ich nur in der Unterkleidung dastand. Ich fand die Situation lustig und fragte sie, was los sei. Da wurde sie noch verlegener und äußerte sich beschämt mit leiser Stimme: „Herr, Er ist… Er hat nur… also ich meine… die Beinlinge liegen dort auf der Truhe.“ Sie verneigte sich zum Abschied und huschte schnell wieder zur Tür hinaus. Ich holte mir dann die Milch und trank sie mit Freude. Das Brot glitt ebenfalls in den Magen, aber nicht sehr viel davon, denn ich dachte zunehmend nervös und angespannt über Burg Enn und meine Zukunft nach. Bald werde wahrscheinlich ich derjenige sein, der einem höheren Herrn das Frühstück ins Zimmer bringt, und möge Gott mir zum rechten Benehmen verhelfen.
Das Warten war einfach nervenaufreibend. Pater Lorenz hatte mich einst gelehrt, dass man über Dinge nicht zu viel nachdenken soll, und mir fiel plötzlich wieder seine Stimme ein. „Wenn eine Situation veränderbar ist, dann verändere sie. Wenn die Situation hingegen nicht veränderbar ist, kannst du sowieso nichts machen. Darum weile in deinem Intellekt und hör auf, dir darüber Gedanken zu machen. Gedanken können mit Heilpflanzen verglichen werden. In passenden Mengen tun sie gut, aber zu viel davon bringt Krankheit, und später den Tod mit sich. Die Kraft der Gedanken ist nicht zu unterschätzen.“ Ich sah wieder zum Fenster hinaus und gab Pater Lorenz recht. Dann zog ich meine Kleidung an und stieg die Treppen hinunter, begrüßte die Diener und begab mich zu den Bauern. Das Gefühl, durch ein Kornfeld zu gehen, ist wunderschön, einzigartig, und wer es nie getan hat, sollte es probieren, denn es sind genau diese unbezahlbaren Augenblicke, die uns Menschen bereichern. Die Wahrnehmung seiner selbst im Kontakt mit der Natur und das daraus entstehende Verständnis von Zyklus und Gleichgewicht. Eine Hand, die den leichten Wind über dem Kornfeld spürt, Finger, die um die weichen Kornachsen tanzen, Mikro- und Makrokosmos, die sich unaufhaltsam kreuzen und vereinen. Ja, eine höhere Stufe des Bewusstseins für jene, die es wagen, tiefer als in der täglichen Oberflächlichkeit zu leben.
Zu dieser Überzeugung kam ich genau in jenem Augenblick, in der Mitte des Kornfeldes unter der Sonne. Ich erinnere mich noch ganz klar daran. Meine Kleidung war blau und das Kornfeld golden. In diesem Moment stand mein Beschluss fest. Sollte ich eines Tages mein eigenes Wappen besitzen, dann würde dieses in den Farben Blau und Gold erstrahlen, um mich immer an diesen Augenblick zu erinnern. Da stand ich, alleine im riesigen Kornfeld. Die Bauern und das übrige Gesinde waren noch Hunderte von Schritten entfernt, aber sie entdeckten mich und hielten kurz inne. Sie schauten mich an und ich sie, ohne dass sich jemand regte. Was sie damals dachten, wird für immer ein Geheimnis bleiben.
Eine vertraute, warme Stimme von hinten unterbrach die Stille. Es war meine Mutter. „Francisk! Es ist Zeit! Komm, wir müssen jetzt los.“ Ich blickte in die unendliche Weite des Himmels und atmete noch einmal tief ein, um meine Lungen mit frischer Spätsommerluft zu füllen. „Ich komme, Mutter. Ich bin jetzt bereit.“ Ich machte kehrt und verschwand aus der Sicht der Bauern. Wichtige Veränderungen standen nun an.
Die protzige Burg Enn ragte im Nachthimmel empor, als ein lautes Fluchen durch sämtliche Räume des Palas als Echo ertönte. Es war so laut, dass man es sogar bis in den Küchentrakt hören konnte. Die alte Germana, die nach einem harten Tag endlich auf der Bank neben dem Herd eingeschlafen war, wachte auf und maulte missmutig
„Jo jetz, wos ischen dô!