Steinerne Wacht - Charles von Rafenstain - E-Book

Steinerne Wacht E-Book

Charles von Rafenstain

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Beschreibung

Der Zweite Weltkrieg befindet sich in seiner entscheidenden Phase und die Wehrmacht ist bereits auf dem Rückzug aus Italien. Inmitten der dramatischen Ereignisse gelingt es einer Gruppe versprengter Wehrmachtssoldaten, auf einem Bauernhof Unterschlupf zu finden. Durch einen unerwarteten Zufall stößt die Stabshelferin Beata auf ein altes Geheimnis, von dessen Existenz bisher niemand etwas ahnte. Die Geschichte der Burg Velseck im Südtiroler Tiers zieht die Leser unweigerlich in das mittelalterliche Tirol des 13. Jahrhunderts – eine fesselnde Zeitreise, in der histori- sche Fakten, spannende Abenteuer, Mord und Mystik auf faszinierende Weise miteinander verwoben sind.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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CharlesvonRafenstain

 

 

SteinerneWacht

DieverloreneFestungVelseck

 

Autor:CharlesvonRafenstain

Bilder:OleksiiShekshueiv,AnetteMølholmfotografiundCharlesvonRafenstain

 

Lektorat:FranziskaPlaga

Herstellung und Verlag: Effekt! - Buchverlag, www.effekt.it ISBN:979-12-5532-066-1

 

 

GefördertmitfreundlicherUnterstützung

 

Vorwort

 

 

Südtirol ist eines der reichsten Burgenländer Europas. Viele Einheimische fahren täglich an ihnen vorbei und nehmen sie gar nicht mehr wirklich wahr, weil sie als ein natürlicher Teil der Landschaft betrachtet werden. Tatsächlich sind die Burgen Südtirols ein Schatz für Mittelalterbegeisterte aus aller Welt. Sogar auf der fernen Insel Gotland in Schweden habe ich Menschen über die Churburg und Schloss Runkelstein sprechen hören.

Einzigartig ist auch, wie gut die meisten Burgen in Südtirol erhalten sind. In Ländern, in denen Naturstein Mangelware ist, baute man fast ausschließlich mit Backstein, und als die Burgen im Laufe der Geschichte verlassen wurden, hat die Lokalbevölkerung die Steine für andere Bauten wiederverwendet. In ganz Dänemark gibt es zum Beispiel nur vier erhaltene Burgen aus dem Mittelalter, zwei davon sind Ruinen. In Südtirol hingegen gibt es Stein, so weit das Auge reicht, sodass abgetragene Burgen äußerst selten sind. Eine davon ist die Burg Velseck bei Tiers, von der nur noch ein Teil der mittelalterlichen Wasserzisterne erhalten ist und die gemäß Augenzeugenberichten früher noch einige unterirdische Stollen an der Hangseite besaß.

Die Frage ist: Was ist damals mit Velseck passiert? Was hat diese Burg zerstört? Da mir das keine Ruhe ließ, habe ich mich kopfüber in die Recherche gestürzt. Schon bald zeigte sich, dass die mittelalterlichen Quellen zwar karg, aber dafür alles andere als langweilig waren! Je tiefer ich recherchierte, desto mehr verstand ich, dass diesen Ort etwas Besonderes auszeichnete. Eine der Überraschungen war, dass es sich bei Velseck um eine sogenannte Ganerbenburg handelte, was in Südtirol mit Ausnahme der Burg Kasatsch beinahe ein Einzelfall ist. Eine Ganerbenburg ist eine oft größere Burganlage, die gleichzeitig von mehreren Familien bewohnt wird. Aber abgesehen von den mittelalterlichen Quellen, hatte ich das Gefühl, dass ein Schleier der Mystik über diesem Ort lag – ein Bauchgefühl, das ich nicht klar definieren und gleichzeitig nicht ignorieren konnte. So entschied ich mich, nach Velseck zu fahren, und da ich in Dänemark wohne, hatte ich mehr als sechzehn Stunden Zeit, im Auto über die Dinge nachzudenken.

Mir wurde bewusst, dass die Gegend im Laufe der Jahrhunderte zu einer der sagenreichsten in Südtirol geworden war und daher sicher nicht zu unterschätzen ist. Speziell auf Velseck gibt es die Sage vom goldenen Kegelspiel und dann die Legende von König Laurin am etwas weiter weg gelegenen Rosengarten. Am Schlern gibt es ebenfalls mehrere Geschichten über Hexen und das alles nicht ohne Grund, denn Sagen und Legenden tragen oft einen Kern von Wahrheit in sich. Und so fühlte ich mich wie ein Akrobat auf einer Abenteuerreise zwischen historischen Tatsachen und Mystik.

Als ich oben ankam, wurde ich vom Besitzer Friedrich Pircher mit offenen Armen empfangen. Er nahm sich viel Zeit für mich, zeigte mir jede Ecke und jedes Fleckchen und berichtete von Geschichten aus seiner Jugend, die weitere wertvolle Puzzleteile für meinen Roman lieferten – so zum Beispiel die Chronik der Familie Schroffenegger, die den alten Völseggerhof vor seiner Besitzübernahme von der Diözese Brixen gepachtet hatte. Die Kirche hatte also Velseck über achthundert Jahre in ihrem Besitz. Wieso?

Die letzten Spuren der ehemaligen Burg verschwanden bereits im 17. Jahrhundert, da man über dessen Fundamente den Hof baute. Wie es aber das Schicksal so wollte, schlug 1974 der Blitz ein und der Hof brannte vollkommen ab. Friedrich gelang es schließlich 2002, das Anwesen zu erwerben, alles Historische zu retten und gleichzeitig „Ansitz Velseck" zu errichten – eine traumhaft idyllische Hotelresidenz. Ihm allein haben wir das einzige Zeugnis der Existenz von Burg Velseck zu verdanken, da er die Ausgrabung und Erhaltung der mittelalterlichen Wasserzisterne verwirklicht hat.

Während meines Besuchs habe ich auch die Gelegenheit genutzt, meinem Bauchgefühl nachzugehen, und so sehr ich auch versucht habe, alles mit nüchternen Fakten zu erklären, dieser Ort hat einfach etwas Tiefgreifendes an sich.

Nach einem Jahr ist dann mein jetziger Roman entstanden und ich muss zugeben, dass mich das Abenteuer nicht nur auf belletristischer Ebene bereichert hat, sondern auch menschlich und philosophisch. Wir alle sind wie Schatten vor dem Sonnenuntergang und plötzlich werden wir selbst Teil der Geschichte. Nun aber wünsche ich euch viel Vergnügen beim Lesen. Lasst uns die Zeitreise beginnen!

 

1.

DiePuppenfee

 

 

 

Der milde Frühjahrswind wehte über die blumenbedeckten Bergwiesen und die Nachmittagssonne schien aus einem beinahe wolkenlosen Himmel. Nicht weit weg hörte man das vertraute Klingen der Kuhglocken und erblickte schon bald die entspannten Tiere, die ungestört frisches Gras rupften. Auf einem Stein nebenan saß ein Hirte und schnitzte gelassen an seinem Stab. Hätte man es nicht besser gewusst, wäre man der Annahme gewesen, man sei Teil einer lebenden Malerei, die von ihrem Rahmen befreit sich auf eine wunderschöne Landschaft ausbreitete, wie man sie nur in Südtirol erlebt. Auf einem Waldweg nebenan tauchte eine kleinere Gruppe Menschen auf und hielt an, um dieses idyllische Paradies auf Erden zu genießen. Einige von ihnen atmeten tief ein, als würde ihnen die reine Bergluft einen Augenblick lang alle Sorgen des Lebens nehmen. Der Frieden war so kostbar, so flüchtig. Kurz darauf hörte man mehrere Schüsse und alle Vögel verstummten. Die Kühe flohen in den Wald und der Hirte schrie erschrocken auf. Einer aus der Gruppe zuckte gelassen mit den Schultern und kaute an seinem Strohhalm weiter.

„Das sind sicher zwei, drei Flakgeschütze, nicht mehr als neun Kilometer in nordwestlicher Luftlinie von hier.“

Der Mann neben ihm packte eifrig eine Landkarte aus der Jackentasche und benutzte seine Fingerbreite als improvisiertes Lineal. „Laut Ihrer Einschätzung würden sich die Flakbatterien hier befinden, Herr Leutnant.“ Er reichte ihm die Karte, damit er sich einen Überblick verschaffen konnte. „Wie kann man bloß einen Berg

‚Ritten‘ nennen? Die Südtiroler sind ein Volk für sich.“ Er war gerade dabei, etwas hinzuzufügen, als die Flak wieder losböllerte – dieses Mal ununterbrochen und hektisch. Schon bald hörten sie Motorengeräusche aus dem Süden und erblickten einen größeren Verband von amerikanischen B-17 Bombern, die im Volksmund als „Fliegende Festungen“ bekannt waren. Obwohl sie ungefähr auf 3000 m Höhe flogen, konnte man alle Abzeichen klar erkennen.

Der Leutnant befahl die einzige Frau in der Gruppe zu sich. „Fräulein Wind, schnell! Sehen Sie den Buchstaben Y am Seitenruder?“ Die junge Frau nickte. „Sie haben letztes Jahr als Nachrichtenhelferin beim Kommando der Zehnten Armee gedient. Wissen Sie vielleicht, woher diese Bomber kommen?“

Die Frau nickte fröhlich. „Jawohl, Herr Leutnant. Es sind die Bomber der Fünfzehnten Air Force. ‚Y‘ kennzeichnet das fünfte Bombergeschwader. Laut den letzten Informationen haben sie ihre Basis in Foggia.“

Der Leutnant blickte überrascht auf seine Nachrichtenhelferin. „Foggia? Haben diese Bomber so eine Reichweite?“

„Ich kenne die technischen Aspekte nicht, tut mir leid, Herr Leutnant.“ Ihr mangelndes Wissen war ihr peinlich, aber schließlich war sie ein Blitzmädel im Heer und nicht in der Luftwaffe.

Im selben Augenblick bemerkten sie, wie einer der Bomber getroffen wurde, sich mit einem schwarzen Rauchschleier vom Geschwader entfernte und Richtung Westen abbog. „Ha! Der da wird zumindest keine Bomben ins Reich werfen können!“, jubelte einer der anderen Soldaten der Gruppe. Tatsächlich versuchte der beschädigte Bomber mit Ach und Krach die Schweiz zu erreichen, stürzte aber, wie sie später erfahren würden, an der Mutspitze ab. Dem Leutnant schien das Jubeln seines Feldwebels absurd, jetzt, wo alles um sie herum so auseinanderfiel. Sie selbst waren ein erbärmlicher Überrest der einst so glorreichen 334. Infanteriedivision unter der Leitung von Generalleutnant Böhlke, die seit letztem Jahr nichts anderes getan hatte, als sich mehr und mehr nach Norden zurückzuziehen. Zuerst Pescara, dann der Rückzug über den Apennin nach Perugia. Von dort dann wieder ein Rückzug nach Florenz, um kurz darauf sechs Monate lang in Imola und Faenza zu kämpfen, wo sie regelrecht dezimiert wurden. Der Führerbefehl lautete, die Stellung zu halten, aber gegen so eine gewaltige Kriegsmaschinerie, wie sie die Amerikaner hatten, war es reiner Selbstmord. Dass Böhlke dann trotzdem den Rückzug in die Voralpen befahl, wäre sicherlich vom Führerhauptquartier als Befehlsverweigerung betrachtet worden, blieb aber ohne Konsequenzen. Nichtsdestotrotz brach die ganze Logistik auseinander und die Nachschubkette wurde in Kürze von den Amerikanern der 5. US Army zerstört. Viele Einheiten der 334. Infanteriedivision wurden dadurch versprengt und irrten in der Südtiroler Berglandschaft umher. So auch die Gruppe von Leutnant Hassing, welche abgesehen vom Feldwebel Jansen und der Nachrichtenhelferin Wind aus weiteren vier Gefreiten bestand.

Als der spektakuläre Augenblick, der sich über ihren Köpfen entfaltet hatte, zu

Ende war, trat Feldwebel Jansen zu seinem Übergeordneten und bat ihn, unter vier Augen zu sprechen. Er willigte ein und sie gingen auf die Wiese nebenan, wo sie mit Sicherheit nicht belauscht werden konnten. Der Leutnant wusste schon, wo es langging, als sich die Miene seines Feldwebels verfinsterte.

„Herr Leutnant, darf ich fragen, wo wir hinsollen? Wir marschieren seit Tagen über diese gottverdammten Berge, ohne Essen und ohne Schlaf. Die Leute sind erschöpft und es grenzt an ein Wunder, dass Fräulein Winds Füße nicht schon längst versagt haben. Mit ihren Büroschuhen auf diesem Terrain ... Und Sie nehmen nichts davon wahr! Erklären Sie mir jetzt bitte endlich Ihren Plan!“

Der Leutnant war im Gegensatz zum jungen Feldwebel ein mehrmals erprobter Frontkämpfer und hatte bereits den Ostfeldzug und den Afrikafeldzug überlebt. Er nahm Jansens Reaktion ernst, ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen. „Wir suchen für heute Abend Zuflucht auf einem Bauernhof in der Gegend und lassen uns dort versorgen. Übermorgen marschieren wir dann weiter nach Norden.“

Die Antwort gefiel dem Feldwebel ganz und gar nicht. Er kochte vor Wut und ballte die Fäuste. „Was? Ist das alles?“ Der Leutnant nickte und wollte gerade weitergehen, als der Feldwebel sich ihm in den Weg stellte. „Wir haben laut Befehl vom Oberkommando die Pflicht, uns bei der nächsten Ortsleitung zu melden, um von dort den Kampf für das Vaterland und unseren geliebten Führer fortzusetzen! Das bedeutet, Abmarsch nach Bozen und nicht nach Norden, Herr Leutnant!“

Ohne dass es jemand der beiden bemerkt hatte, beobachtete sie Fräulein Wind im Abstand und fuhr erschrocken zusammen. „Sie streiten sich. Jansen will unbedingt nach Bozen.“

Einer der Gefreiten blickte sie überrascht an. „Woher kannst du Lippen lesen?“, fragte er verblüfft.

„Mein Schwesterchen Anna ist taub und ich habe es durch sie gelernt. Das kommt uns jetzt zugute.“

Die anderen nickten und hofften, dass Jansen mit seinem Vorhaben nicht durchkam. Der Leutnant packte den Feldwebel am Kragen und riss ihn verärgert zu sich.

„Haben Sie den Verstand verloren? Dort laufen wir direkt in die Hände des SS- Polizei-Regiments Bozen und was glauben Sie, was dann passiert? Die wenigsten von uns haben noch eine Waffe und es wird genau eine Minute dauern, bis uns die

‚Kettenhunde‘ wegen Fahnenflucht erschießen. Wer die Waffe nicht bei sich hat, hat sie ihrer Meinung nach auf der Flucht zurückgelassen. Keines dieser Schweine schert sich darum, ob wir sie im Kampf verloren haben oder was in Wirklichkeit passiert ist. Und Sie wollen sich bei denen melden? Das können Sie sich sofort abschminken! Meine Leute und ich marschieren nach Norden weiter!“

Bei dieser Aussage drehte der Feldwebel schließlich durch und zog wütend seine Pistole. „Sie sind unter Arrest, Leutnant Hassing. Ihre Feigheit ist eine Schande für das Reich! Und jetzt mitkommen, oder ich erschieße Sie an Ort und Stelle und den Rest dieser Deserteursbande gleich mit!“

Erst jetzt wurde den anderen die Ernsthaftigkeit der Situation bewusst und Fräulein Wind fing an, sich nach Fluchtmöglichkeiten umzusehen. Der Einzige, der noch seinen Karabiner bei sich hatte, war einer der vier Gefreiten, aber als der Feldwebel ihm drohte, ließ er die Waffe fallen und hob die Hände hoch. „Jansen, um Gottes willen, … wir haben seit dem 5. April keinen Kontakt mehr zur 14. Armee und das ist jetzt über zehn Tage her. Die Front ist zusammengebrochen und wir sind am Arsch, verstehen Sie das nicht? Es ist aus!“

„Es wird erst aus sein, wenn der letzte deutsche Soldat den Heldentod gestorben ist! Der Endsieg ist nah und der Führer wird uns nicht im Stich lassen! Zum letzten Mal: Ab nach Bozen, hier entlang!“ Als sich aber keiner der Beteiligten vom Fleck rührte, wurde dem Feldwebel klar, dass es keinen Ausweg mehr gab. „Ich werde euch alle erschießen, ihr Verräter!“ Er entsicherte seine Luger-Pistole und trat einen Schritt nach hinten, um sich nicht die Uniform mit dem Blut des Leutnants zu versauen. Hassing hätte leicht die Augen schließen können, aber er war so furchtlos, dass er Jansens Blick festhielt und keine Anzeichen von Unsicherheit zeigte. Diese Freude wollte er ihm nicht gönnen. Bevor der Feldwebel aber abdrücken konnte, wurde er von hinten mit einem unbekannten Gegenstand getroffen und fiel sofort um. Leutnant Hassing blickte sich um und sah, dass es der Hirte war. Er hatte sich von hinten angeschlichen und den Feldwebel mit seiner Steinschleuder verletzt. Das Geschoss traf Jansen mit solcher Wucht am Hinterkopf, dass er jegliche Motorik verlor und sich nur mehr in Spasmen auf dem Waldboden wälzte. Leutnant Hassing zog schnell seine Seitenwaffe und stach ihm direkt ins Herz. Es war kein Mitleidsmord, sondern die Furcht, dass Jansens Spasmen in Schreie übergehen würden. Man wusste nie, wer sich in der Nähe befand. Er setzte sich erschöpft hin und blickte kopfschüttelnd auf den alten Hirten. „Über vierzig Sturmeinsätze in Russland, Afrika und schließlich Italien. Ich habe die gefährlichsten Kämpfe überlebt und dann rettet ausgerechnet ein Hirte mein Leben. Wieso hast du das getan, guter Mann?“ Der Hirte wartete, bis sich die restlichen Mitglieder der Truppe zu ihnen gesellten, und setzte sich dann neben Hassing. „Ich habe den gesamten Ersten Weltkrieg mitgemacht – als Gebirgsjäger oben am Col di Lana, Pordoi, Lagazuoi. Sagen euch diese Namen was?“ Alle schüttelten den Kopf.

„Hatte ich mir gedacht. Nur auf Col di Lana sind 8.000 Soldaten gefallen. Es war ein furchtbares Gemetzel. Ich war einer der glücklichen Überlebenden und gründete nach Kriegsende eine Familie nicht weit weg von hier. Wir wurden mit drei Söhnen und zwei Töchtern gesegnet. Alle meine Söhne sind vor drei Jahre an der Ostfront gestorben und meine zwei Töchter haben mit ihren jeweiligen Männern für Deutschland optiert. Weiß Gott, wo die jetzt sind und ob sie noch leben! Die Russen haben sie sicherlich schon aus ihrem ‚neuen Lebensraum‘ verjagt, wenn nicht umgebracht. Ich hasse diese verfluchten, indoktrinierten Nazis und alles, wofür sie stehen. Euer Feldwebel soll in der Hölle schmoren.“

Leutnant Hassing verstand den alten Hirten nur zu gut, und obwohl er selbst kein Nazi war, blieb er ein Kriegsheld der Deutschen Wehrmacht. Es war ein schwieriger Augenblick und die Zukunft würde sicher nicht besser aussehen. „Mein einziges Ziel ist es, die letzten Leute meines Zugs hier lebend aus diesem Schlamassel zu führen.“ Der Hirte musterte eine Weile die Gesichter der Soldaten. „Von wo kommt ihr denn her?“, fragte er mit ruhiger Stimme. Die Männer stellten sich einzeln vor, und der Hirte merkte schnell, dass es eine bunte Gruppe war: München, Celle, Osnabrück, Dortmund und Schwarzwald. „Was für Gegensätze, du meine Güte!“, staunte er lächelnd und richtete dann seinen Blick auf die Nachrichtenhelferin.

„Und du? Wie heißt du?“

Sie merkte, wie seine unter den grauen Augenbrauen hindurchstechenden Augen ihre Unsicherheit aufdeckten. „Mein Name ist Beata Wind“, antwortete sie kurz angebunden.

Der Hirte schien es irgendwie erwartet zu haben. „Optisch ähnelst du zwar einer Deutschen, aber dein Name klingt nicht typisch deutsch.“

Seine Bemerkung überraschte sie. „Das stimmt. Ich bin wie ihr Südtiroler ebenfalls eine Volksdeutsche, stamme aber aus dem Sudetenland, aus der Nähe von Troppau.“ Ihre Antwort war sicherlich wohlgemeint gewesen, aber der Hirte fasste sie deutlich anders auf. Er ballte empört die Faust und fluchte sie so sehr auf Südtirolerisch an, dass er fast außer Atem geriet. Niemand verstand ein Wort davon – sehr zum Vorteil des Hirten. Als er sich ein wenig beruhigt hatte, erklärte er ihnen, welche Vorgeschichte Südtirol hatte und wie schlecht Hitler und Mussolini das Ganze gelöst hatten. „Hitler hat uns von Anfang an als Volksdeutsche betrachtet, aber wir sind dann trotzdem unter der Herrschaft von Italien geblieben. Unsere Rückkehr zu Österreich blieb infolgedessen aus. So viel zu den feinen Worten ‚Zurück ins Reich‘. Dieser vermaledeite Zoggler! Südtirol ist so ein uraltes Land … Es ist die Wiege der Habsburger Dynastie, der Minnesänger und besitzt die größte Anzahl mittelalter- licher Burgen in Europa. Noch früher lebten hier die Bajuwaren und vor ihnen die Breonen, Isarken, Seavaten und Venosten, die dann von den Römern unterdrückt wurden. Seht ihr? Es fing schon damals an!“ Er atmete tief durch und schüttelte brummend den Kopf. „Ach, was bringt dieses ganze Gequatsche eigentlich? Dieses Land ist euch fremd und außerdem habt ihr nicht den ganzen Tag Zeit. Wenn ihr der SS entwischen wollt, solltet ihr besser noch zwei Tage lang östlich marschieren und dann erst nach Norden abbiegen.“

Beata fühlte sich beschämt und verletzt, weil der Hirte mit nur wenigen Sätzen ihr Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Volksdeutschen zerstört hatte. Sie wusste gar nicht, wie sie ihm antworten sollte und hatte überhaupt keine Lust mehr, über die eigene Identität nachzudenken.

Leutnant Hassing hatte ihr Gemüt sofort durchblickt und schirmte sie ab, indem er selbst das Wort ergriff. „Elsass im Westen, Sudetenland im Osten, Schleswig im Norden und Südtirol im Süden. Alles Schmelztiegel einer guten Kultur zusammen mit der deutschen. In Kürze aber wird uns die ganze Welt verfluchen, also seid froh, dass ihr im Grenzgebiet lebt. Jetzt aber lasst uns nunmehr erdnah sein: Den Feldwebel werden wir gleich irgendwo begraben, wo man ihn nicht so leicht finden kann. Es wird nicht lange dauern und sobald wir fertig sind, wäre es uns eine große Hilfe, wenn du uns dann zu irgendeinem Bauernhof begleiten könntest, wo wir in Frieden die Nacht verbringen können.“

Der Hirte war selbst Kriegsveteran und verstand sofort den schwarzen Humor des Leutnants. Auch wenn das verrückt klingen mag, aber diese Art von Witzen half einem durch die Hölle der Schlacht. „Ja, der Feldwebel muss unbedingt mit den Füßen am Boden bleiben“, erwiderte er keck, um dem Leutnant zu zeigen, dass er ihn trotzdem mochte. „Ich werde euch zum Völseggerhof bringen. Dieser liegt an einem Berghang, etwas abseits der Hauptverbindungslinien der Wehrmacht. Dort seid ihr garantiert in Sicherheit. Während ihr buddelt, treibe ich die Kühe wieder zusammen und dann starten wir.“

Der Leutnant nickte und sie machten sich sofort an die Arbeit. Einer der Gefreiten blickte auf die neuen Stiefel des toten Feldwebels und dann auf die eigenen, die nur noch durch Stofffetzen zusammengehalten wurden. Er zog sie ab und probierte sie an. „Was für ein Glück! Diese Knobelbecher passen wie angegossen!“ Die anderen drei waren zurückhaltender, fingen dann aber auch an, die Leiche nach brauchbaren Ersatzteilen zu durchsuchen. Einer nahm sich das Feuerzeug und die Hosenträger, der andere die Armbanduhr und die Brottasche und der Letzte nahm sich die Uniformjacke und wurde somit sofort zum Unteroffizier.

Beata konnte alles andere nachvollziehen, aber die Wahl bezüglich der Jacke verstand sie wirklich nicht. „Spinnst du? Wenn die Gestapo dahinterkommt, bist du erledigt! Dein Wehrpass stimmt ganz und gar nicht mit deinem ‚neuen Rang‘ überein und außerdem ist die Jacke durchstochen und blutverschmiert.“

Der Gefreite erwiderte ihre Aussage mit apathischer Miene. „Wenn uns die Gestapo erwischt, sind wir sowieso erledigt. So habe ich zumindest höhere Überlebenschancen, falls ich in amerikanische Gefangenschaft gerate. Es ist allgemein bekannt, dass sie Unteroffiziere und Offiziere besser behandeln. Das Blut kann man abwaschen und der Bajonettstich ist leicht zu flicken. Dann sieht sie wieder wie neu aus.“

Leutnant Hassing bewunderte die Dreistigkeit des Gefreiten und obwohl es untersagt war, bat er um seinen Wehrpass, um die Daten zu ändern. „Ich habe es als Anmerkung mit der Begründung ‚mangelnder Stempel der Dienstleitstelle wegen Kontaktabbruch‘ notiert. Wenn die Amis das aber herausbekommen, riskierst du, dass sie dich wegen Fälschung verhören und vor ein Kriegsgericht stellen werden.“ Der Gefreite bedankte sich bei seinem Übergeordneten und machte eine verzogene Grimasse. „Dann habe ich einfach Pech gehabt. Ich versuche es trotzdem, Herr Leutnant.“

Hassing grinste kurz vor sich hin, während er den Gefreiten von oben bis unten musterte. „Na also, Feldwebel Fichter. Sorgen Sie dafür, dass die Leute spätestens in zwanzig Minuten abmarschbereit sind. Tempo, Tempo, Tempo!“

Die anderen lachten über das Schauspiel und besonders über Fichters Gesichtsausdruck. Er stand vollkommen verwirrt da, unsicher, ob er nun tatsächlich die Aufgaben des Feldwebels übernehmen sollte. Für Außenstehende mochte dieses Verhalten skurril erscheinen, aber es war ihr persönlicher Schutzmechanismus gegen die vielen furchtbaren Erlebnisse im Krieg. Sicherlich waren sie auch alle dadurch etwas abgestumpft, aber könnte man es ihnen übel nehmen? Sie lachten gerade miteinander, während die Leiche von Jansen noch nicht einmal kalt war.

Die Frage, die sich Beata währenddessen stellte, war, wie es wohl nach dem Krieg weitergehen sollte. Niemand von ihnen hatte diesen Gedanken zu Ende gedacht, weil sie sich sicher waren, nicht zu überleben. Jetzt war die Situation aber anders.

„Vielleicht … vielleicht schaffen wir es trotzdem“, überlegte sie hoffnungsvoll. Dabei fühlte sie sich so desillusioniert wie eine Gefangene bei der Aufschiebung der eigenen Todesstrafe und verbat sich sofort weitere Gedanken darüber. Hoffnung aufs Überleben würde Angst ums Sterben wecken. Und Angst würde sie bei einer Kriegshandlung mehr gefährden als der Feind selbst. Ihre Gedanken reduzierten sich schnell wieder zu jenen, die sie schon Monate lang hatte: Der nächste Wegabschnitt, die Sonne am Himmel, Essen und Schlafen. Nichts Langfristiges.

Mittlerweile war der Hirte zurückgekehrt und durchblickte sie sofort. „Oben bei den Schroffeneggers wirst du dich ordentlich ausruhen können. Vielleicht habt ihr die Möglichkeit, dort ein paar Tage zu bleiben und den Frieden zu genießen.“

Sie nickte und atmete einige Male tief durch, bevor sie sich dem Rest der Gruppe anschloss und dem Hirten folgte.

 

Der Weg war anfangs gut und gar nicht so steil, doch schon bald entwickelte er sich genau ins Gegenteil und sie verfluchte die glatten Sohlen ihrer Büroschuhe. Als sie 1937 noch im Bund Deutscher Mädchen war, fehlte es ihnen an nichts. Sie erhielten Wanderschuhe aus gutem Leder, Stiefel für schmutzige Arbeiten und sogar Turnschuhe, um ihre Füße während der Ertüchtigung zu schonen. Um sich von den Schmerzen abzulenken, blickte sie auf und schaute sich um. Auf ihrer rechten Seite ragte eine beeindruckende Bergkette aus den grünen Nadelwäldern empor.

„Wie heißt der Berg dort in der Ferne?“, fragte sie laut.

Der alte Mann drehte sich zu ihr um und sah, dass sie kämpfte, um mit ihnen mitzuhalten. Er hielt kurz an und breitete seine Arme in Richtung des Berges aus.

„Das, meine Damen und Herren, ist der Rosengarten. Dort lebt Laurin, der König der Zwerge! Weiter links befindet sich der majestätische Schlern, wo die Hexen ihre Treffen haben.“ Er stellte die beiden Berge so vor, als wäre er ein Kabarett-Dirigent, was die etwas trübe Stimmung erheblich auflockerte.

„Zwerge und Hexen … Was ist denn das für ein Land?“, brach Fichter aus.

Der Hirte drehte sich zu ihm um und schickte ihm einen mahnenden Blick.

„Wenn man lange in den Dolomiten gelebt hat, entdeckt man Dinge, die man wissenschaftlich nicht erklären kann. Sicherlich sind Sagen oft etwas übertrieben, aber das bedeutet nicht, das alles erfunden ist. An eurer Stelle würde ich mit Bedacht sprechen.“

Fichter rollte mit den Augen und wollte gerade antworten, als schon wieder Motorengeräusche zu hören waren. Kurz darauf donnerte die Flugzeugabwehrkanone auf dem Ritten wieder los und die Realität hatte sie eingeholt. Mittlerweile waren sie aber schon viel höher aufgestiegen und konnten von dort die zahlreichen Bombergeschwader besser beobachten. Es wurde immer deutlicher, dass das Dritte Reich schon bald Vergangenheit sein würde. Im Gegensatz zu seiner Truppe kam Leutnant Hassing bereits Jahre zuvor zu dieser Erkenntnis – nämlich als Hitler in Russland einfiel und der Zweifrontenkrieg begann.

Der Hirte schüttelte verbittert den Kopf. „Die Flak wird nur noch von Schulkindern betätigt und der Lehrer schleppt die Munitionskisten, weil sie für die Kinder zu schwer sind.“

„Ja … und die amerikanischen Bomberkapitäne sind oftmals nicht älter als achtzehn Jahre. Das ist wahnsinnig“, antwortete Beata mit entsetzter Stimme.

Der Hirte lenkte sie ab und zeigte auf den Hang vor ihnen. „Jetzt könnt ihr bereits die Dächer des Völseggerhofes sehen. Wir sind bald da.“

Als sie nach einer guten halben Stunde endlich oben ankamen, war der Himmel frei von Bombern und die Flak wieder ruhig. Es fühlte sich ein bisschen an wie ein Wunder – ein Eindruck, der vielleicht auch von der bezaubernden Lage verstärkt wurde. Der Hof mit Nebengebäude wirkte zwar protzig, jedoch war dies für die Atmosphäre nicht ausschlaggebend. Vielmehr herrschte gleichzeitig eine Stimmung von Mystik und Geborgenheit. Es wirkte, als wäre dieser Ort eine abgeschirmte Welt inmitten ungestörter Natur. Der Hirte hatte recht. Obwohl Bozen nicht weit weg war, lag es trotzdem so abseits, dass man das Gefühl hatte, in einem sicheren Versteck zu sein.

„Wartet hier, ich gehe erstmal rein und rede mit den Bauern.“ Der alte Mann lief zur Tür, öffnete sie und verschwand darin.

Währenddessen blickte sich Leutnant Hassing etwas um. Links vom Hauptgebäude befand sich ein Stadel, in dem bis vor Kurzem noch Vieh untergebracht war. Dahinter entdeckte er mehrere Gemüsegärten und einen sehr betagten Pflug. Das Wohnhaus schien ein paar hundert Jahre alt zu sein und hatte drei Stockwerke, was für eine normale Bauernfamilie eher außergewöhnlich war. Rechts von der massiven Eingangstür stand in gotischer Malerei der Name „Völsegg“. Das Gelände war flach, ungefähr zweihundert Meter lang und hundert breit. Auf der westlichen Seite endete der Grund auf einem sehr steilen Hang. Entgegengesetzt ging es auf der Nord- und Ostseite bergauf. Die Lage war einfach herrlich und sehr sonnig.

Nach einer Weile flog die Tür auf und der Hirte wurde mit einer Ladung Schimpfwörtern herausbefördert. Leutnant Hassing sah sich schon wieder im Wald übernachten, als der Hirte ihm in aller Eile mitteilte, dass er die Bauern überzeugt hatte. Es wirkte allerdings nicht so. Gleich darauf kam die ganze Familie Schroffenegger heraus – Vater, Mutter, zwei Kinder und ein Knecht. Mit halbherzigem Ton hießen sie Hassings Truppe willkommen und stellten sich kurz vor.

„I bin dr Ernst, des isch meine Frau Klara, geborene Ploner, und des sein meine Buabn: Herbert isch sieben und Martin fünf. Dr letzte isch inz Knecht Wolfgang.“ Nachdem Ernst fertiggesprochen hatte, wollte Hassing ebenfalls eine kurze Vorstellungsrunde machen, wurde aber sofort unterbrochen. Ernst meinte, dass es nichts bringe, aber Hassing verstand den Dialekt nicht und antwortete:

„Also Hassing ist mein Nachname. Mein Vorname ist Gerald.“

Die Kinder fingen an zu lachen und Ernst schmunzelte eine ganze Weile, bevor er die Soldaten von der peinlichen Situation befreite. „Wir können auch Deutsch sprechen, keine Angst. Ihr dürft bei uns übernachten, wir sind es eh gewohnt.“

Hassing blickte ihn etwas verwirrt an. „Was meinen Sie damit?“, fragte er vorsichtig. Ernsts Gesichtsausdruck änderte sich und passte nun im wahrsten Sinne des Wortes zu seinem Vornamen. „Ihr seid die fünfte Gruppe in zwei Wochen. Die anderen tauchten bei Einbruch der Finsternis auf und sahen noch erbärmlicher aus als ihr. Mit der Übernachtung ist es kein Problem, nur unsere Vorräte werden immer karger. Jetzt aber kommt erst mal rein und dann sehen wir, was wir euch zu essen geben können.“

Die kleine Truppe bedankte sich mit etwas niedergeschlagener Stimme und folgte der Bauernfamilie.

 

Im Haus war es angenehm und als sie sich im Flur die Stiefel ausgezogen hatten, wurden sie in die Stube eingeladen, in der sie sich am Kachelofen wärmen konnten. Klara saß währenddessen auf der Eckbank und musterte ihre Gesichter.

„Ganz schön kalt für April“, äußerte Beata, um die etwas unbehagliche Stimmung aufzulockern. Doch als sie bemerkte, wie Klara nur schweigend den Blick auf ihre Füße hinuntergleiten ließ, reagierte Beata sofort und band sich die Schuhe auf, um sie zu entfernen.

„Nein, nein. Lass sie nur an. Die machen mir nicht den Boden kaputt, aber die Hobnägel der Halbstiefel. Ich bin nur überrascht, dass du mit so einem Schuhwerk durch die Berge wanderst.“

Beata war so peinlich berührt, dass sie errötete und ihre Füße zu sich heranzog, bis ihre Schuhe nicht mehr in Sichtweite der Bäuerin waren. Aber Klara hatte sehr gute Augen und ein großes Herz, auch wenn das in diesem Moment nicht zum Ausdruck kam. „Wolfgang, sei so guat. Hol dein Schuasterwerkzeug und schaug, ob ihr die Sohlen flicken konnsch. Asou kimmt sie net weit.“

Beata verstand nur sehr wenig, aber „Schusterwerkzeug“ und „Sohlen“ genügten ihr. Die Bäuerin hatte sich von ihrer menschlichen Seite gezeigt. „Danke, Frau Schroffenegger, das ist sehr nett von Ihnen“, antwortete sie erleichtert.

„Dank lieber dem Wolfgang. Er macht die ganze Arbeit. Ich werde inzwischen etwas für euch kochen. Wenn es passt, machen wir einen großen Topf mit Kartoffelsuppe.“

Die Auswahl war eindeutig nicht groß, aber nach fast zwei Tagen ohne Essen war Kartoffelsuppe wie eine fürstliche Mahlzeit und alle nickten dankbar. Darauf verschwand Klara in der Küche und die Zurückgelassenen versuchten sich gegenseitig etwas besser kennenzulernen.

Leutnant Hassing bewunderte die schönen Dekorationen auf der Täfelung und wandte sich dann an Ernst, der mit verschränkten Armen dasaß und wortkarger als ein Stummer war. „Diese Bauernstube muss aus dem 18. Jahrhundert sein. Habe ich recht?“

Seine Annahme machte Ernst neugierig und so fing er endlich an zu sprechen.

„Ja, das stimmt. Dieser Hof wurde ungefähr um 1730 gebaut, gehört allerdings der Kurie. Wir haben ihn bloß seit 1936 gepachtet. Was vor uns hier oben passiert ist, weiß keiner von uns.“ Seine Antwort klang ein wenig geheimnisvoll, als würde er etwas Gravierendes verschweigen.

Hassing überlegte, ob hier etwas passiert sein könnte, das gegen die Interessen des Dritten Reichs verstoßen hatte. Er entschied sich für einen Themawechsel, was eine weise Entscheidung war. „Jetzt, wo meiner Nachrichtenhelferin geholfen wird, dürfte ich um Nadel und Faden bitten? Mein Feldwebel muss sich die Jacke reparieren.“

Ernst sah zu Fichter und bemerkte den großen Blutfleck an der Stelle, an der das Loch war. Er stand auf, ging zum Wandschrank hin und zog eine kleine Holzschachtel heraus. „Hier sollte alles vorhanden sein. Bitte nicht zu viel Faden verschwenden. Wir haben nur das.“ Er reichte die Schachtel an Fichter, der sich erleichtert die Jacke auszog. Ernst bemerkte, dass sein Hemd darunter sauber war, und verstand sofort, was passiert war. „Leute, ihr müsst unbedingt vorsichtiger sein. Das ganze Blut muss heute noch weggewaschen werden. Wenn die Kettenhunde dahinterkommen, seid ihr alle erledigt.“

Der fünfjährige Sohn Martin blickte seinen Vater fragend an. „Was sind Kettenhunde, Vater?“

Ernst schmunzelte und streichelte ihm dabei liebevoll den Kopf. „Das ist ein Spitzname für die Feldgendarmen und stammt von der Metallplakette, die sie mit einer Kette um den Hals tragen. Wehe aber, wenn du einen Feldgendarmen so nennst! Versprich mir, dass du es nie tun wirst, mein Sohn!“

Der kleine Martin nickte mit banger Miene und versteckte sich gleich hinter seinem größeren Bruder, welcher ihn beruhigte. Währenddessen fiel Beata ins Gespräch mit Wolfgang und zog damit auch die Aufmerksamkeit der anderen auf sich. Oder besser gesagt, von fast allen. Die drei anderen Gefreiten waren vor Erschöpfung bereits auf der Ofenbank eingeschlafen.

Beata beobachtete Wolfgangs geübte Handbewegungen und verlor sich für einen Augenblick in seinen schöngeformten, feinen Fingern. „Deine Hände sind nicht die eines Bauern.“

Wolfgang lächelte etwas verlegen. „Ich war Kunstmaler, aber wegen des Krieges bekam ich schon bald keinen Auftrag mehr und musste mein Lebensbrot anders verdienen. Und du? Wie heißt du eigentlich und woher kommst du?“

Beata stellte sich vor und erzählte ein wenig über Troppau und das Sudetenland. Wolfgang staunte nicht schlecht und betrachtete sie eine ganze Weile. Obwohl sie eine Volksdeutsche war, entsprach sie ganz dem arischen Ideal – blondes, schulterlanges Haar, blaue Augen und eine harmonische Gesichtsform. Gott sei Dank hatte sie aber viel mehr zu bieten als diese obsoleten Parameter. Ihr Blick war charmant und ihre Lippen so verführerisch ablenkend, dass er beinahe mit der Ahle abrutschte und sich den Daumen durchbohrte. Er wusste sofort, dass Beata keine indoktrinierte Nationalsozialistin war, sondern eine intelligente Frau, die durch Schicksalsschläge um ihr Überleben kämpfte. „Hast du studiert?“, fragte er interessiert.

Sie merkte sofort, dass sie ihm gefiel und war darüber sehr erfreut. „Ich habe nur die Oberschule abgeschlossen und später dann eine Ausbildung zur Nachrichtenhelferin beim Heer gemacht. Ich kann Deutsch/Tschechisch dolmetschen und habe eine Gabe fürs Entziffern. Rätsel sind meine Stärke und sogar die gekritzelte Schrift eines Arztes ist für mich keine Herausforderung. Lippenlesen, Zeichensprache und Verhaltenspsychologie gehören auch zu meinen Spitzenkompetenzen.“ Die letztgenannte Eigenschaft war eine dick aufgetragene Lüge, aber sie konnte nicht widerstehen. Seine Reaktion zu beobachten, war einfach zu reizvoll, und es war, als könnte sie in seinem Blick den Gedanken lesen: „Verdammt, jetzt weiß sie, dass ich sie unwiderstehlich finde.“

Wolfgang lächelte über die eigene Gefühlstransparenz und schaute kurz in Beatas Augen. „Ein Teil von mir hofft, dass es noch lange dauern wird, bis ich deine Schuhe repariert habe.“

Sie war von seiner direkten Art überrascht und konnte zugleich die eigene Neugier nicht zähmen. Mit einer zierlichen Bewegung lehnte sie sich nach vorne, bis ihre Stimme ihm zuflüstern konnte. „Und der andere Teil?“, fragte sie, währenddessen sie seinen Blick festhielt.

Er lehnte seinen Kopf etwas zur Seite und glich der lebenden Abbildung des Minnesängers Walther von der Vogelweide aus der Mannesischen Handschrift, nur in moderner Kleidung. „Der andere Teil von mir fürchtet sich davor, dass morgen der ganze Zauber vorbei ist und ich dich nie wiedersehen werde.“

In Friedenszeiten wären solche plötzlichen Erklärungen sehr unangemessen gewesen und noch mehr die Eile, mit der man sie äußerte. Hinzu kamen auch die unfreiwilligen Mithörer, die sich nur eine Ellenbogenlänge entfernt neben ihnen befanden. Die Situation war noch ein klares Beispiel dafür, was der Krieg den Menschen antat. Es gab keine Zeit zum Zögern, denn im nächsten Augenblick konnte alles schon vorbei sein. Beata und Wolfgang hatten sich wie zwei Jugendliche ineinander verliebt und ahnten nicht, wie es von jetzt an weitergehen sollte. Leutnant Hassing dagegen wusste es. Der Blick, den er Ernst zuwarf, sagte mehr als tausend Worte.

Der Bauer rollte mit den Augen. „Madoia, Porco cane! Nur eine Nacht, verstanden? Das ist kein Hotel.“

Hassing lehnte sich zufrieden zurück und schmunzelte Beata an, die sich mit Herzklopfen bedankte. Wolfgang überlegte sofort, ob er sein Zimmer aufgeräumt hatte und war unheimlich froh, dass es sich weit weg von den restlichen Schlafräumen befand.

Ernsts Geduld wurde heute auf eine harte Probe gestellt und bevor jemand weitere individuelle Wünsche äußerte, teilte er allen mit, dass sie in der Stube schlafen konnten. „Decken und Kissen haben wir genug und der Boden ist gut isoliert. Und ich verlange Ruhe nach 22 Uhr, verstanden?“ Nachdem er Hassings lächelnden Blick auf die schnarchenden Gefreiten neben sich bemerkte, begann er selbst zu schmunzeln. „Ihr seid echt ein lustiger Haufen. Gott möge euch heil durch diese Hölle führen, damit ihr in Frieden an diesen Abend zurückdenken könnt.“

„Frieden ist gerade so ein utopisches Wort“, antwortete Hassing mit niedergeschlagener Stimme.

Ernst konnte ihn gut verstehen, aber er war, wie schon zuvor erklärt, nicht der einzige Wehrmachtsoffizier, der mit seiner versprengten Truppe hier aufgekreuzt war. Was sollte er diesen armen Menschen sonst sagen? „Vielleicht kannst du bald wieder mit deiner Familie vereint sein …“, erwiderte er sachte.

Hassing aber schüttelte trostlos den Kopf. „Meine Frau und Kinder sind vor einem Monat bei einem Bombenangriff ums Leben bekommen und meine Eltern sind seit November verschollen. Mein einziger Bruder ist schon 1942 in Russland gefallen und mit Ausnahme von den Kleidern, die ich trage, habe ich absolut nichts auf dieser Erde.“ Fichter und Beata blickten vollkommen überrascht auf ihren Leutnant, der bis jetzt kein einziges Mal etwas über sein Privatleben erzählt hatte.

„So viel für Führer, Volk und Vaterland“, antwortete Ernst verbittert.

Fichter nickte und übernahm das Gespräch, damit sich Leutnant Hassing etwas sammeln konnte. „Tja, es fing eigentlich gut an. Obwohl uns die Waffen-SS mit dem Spitznamen ‚Brottaschen‘ verhöhnte, waren diese immer mit Essen gefüllt und unser Sturmgepäck das Beste der Welt. Dann kam die saublöde Entscheidung, in Russland einzufallen und ab 1941 ging es nur noch abwärts. Wegen Mangel an Wolle wurden unsere Feldblusen immer kürzer und so auch die Knobelbecher. Es gab nicht genügend Leder, bis wir schließlich mit diesen blöden Schuhen hier ausgestattet wurden. Bei den Stahlhelmen genauso! Zuerst waren sie gut ausgeführt, mit gebördelter Kante, mit Reichswappen auf einer Seite und dem Hoheitsabzeichen auf der anderen. Schon bald wurde die gebördelte Kante weggespart, dann verschwanden das Reichswappen und zum Schluss auch das Hoheitsabzeichen. Alles weggespart. Die Wintermäntel sind eine Seltenheit und den Rest könnt ihr euch leicht vorstellen, wenn ihr euch die Kürze unserer Feldblusen anguckt! Im Winter frieren uns die Eier ab!“

Ernst konnte Fichter gut verstehen und wollte die ganze Situation inhaltlich auch gar nicht diskutieren, doch störte ihn ein sprachliches Detail so sehr, dass er sich nicht zurückhalten konnte. „Hört bitte mit dem blöden Wort ‚gucken‘ auf! Das klingt so lächerlich in unseren Ohren! Guck mal hier, guck mal dort. Willst du dir das angucken? Kuckuck, Kuckuck, vallera!“

Fichter reagierte sehr empört auf Ernsts Nervenausbruch, während es Beata vor Lachen zerriss. Je wütender der selbst ernannte Feldwebel aussah, desto lustiger wurde es für sie. „Fichter, bitte … gucken Sie nicht so drein! Hahaha!“ Sie lachte und lachte, als hätte sie es seit einer Ewigkeit nicht mehr getan. Dabei musste sie sich mit beiden Händen den Bauch halten, so sehr taten ihr die Muskeln weh. Leutnant Hassing fing jetzt ebenfalls an zu lachen, gefolgt von Wolfgang und Ernst. Schließlich ließ sich auch Fichter anstecken und es wurde so viel gelacht, dass Klara verwundert von der Küche reinkam, um zu sehen, ob alles noch in Ordnung sei. Erst nach einer Weile beruhigten sich die Gemüter wieder und der Abend verlief normal weiter.

Als Wolfgang endlich mit Beatas Schuh fertig war, nahm er sich die Freiheit, ihn ihr anzuziehen. Sie ließ es zu und kam sich vor wie eine Neuausgabe von Aschenputtel. „Ein Nachrichtenputtel“, fügte Hassing hinzu, als hätte er ihre Gedanken lesen können. Sie genoss diesen Augenblick. Immer mehr sehnte sie sich danach, später mit Wolfgang allein zu sein. Ernst blickte auf ihre wohlgeformten Beine und errötete, als ihn Beata dabei erwischte. Sie entschied sich freundlicherweise, das Thema zu wechseln, um ihn aus der Situation zu retten. „Bei uns im Sudetenland sagt man das übrigens auch nicht.“

Ihre Aussage war die Einladung zu einer offensichtlichen Frage und Ernst nahm den Ball wie erwartet auf. „Was sagt man bei euch nicht?“

Leutnant Hassing kämpfte bereits um Anstand, nur Fichter hatte es noch nicht verstanden.

„Hingucken, natürlich!“, brach es aus Beata heraus und wieder zerriss es alle vor Lachen. Zum Schluss kam Klara ein zweites Mal in die Stube, dieses Mal aber mit einem großen Topf Kartoffelsuppe in den Händen.

Kurz darauf war es mucksmäuschenstill, nur die Löffel klapperten auf den Tellern. Die Suppe schmeckte köstlich und sie konnten endlich wieder das langersehnte Gefühl von Sättigung spüren. Das mitsamt der behaglichen Wärme des Kachelofens führte schon bald dazu, dass ihre Augen sehr klein wurden – natürlich mit Ausnahme von Beata und Wolfgang. Ihnen ging es nicht schnell genug und sobald die Brotzeit beendet war, zogen sie sich sofort zurück. In der Stube wurde währenddessen noch ein wenig geplaudert, bis letztendlich alle so müde waren, dass Klara mit Decken und Kissen für die Männer kam. Kurz darauf hatten sie es sich gemütlich eingerichtet. Hassing schlief neben Fichter auf der Holzliegestätte oberhalb des Ofens, zwei weitere auf den Sitzbänken darunter und der Letzte unter der Herrgottsecke auf der Eckbank nebenan. Nach so vielen Nächten im Freien war diese Stube der reine Luxus und mehrere von ihnen hofften, morgen etwas länger ausruhen zu dürfen.

 

Beata und Wolfgang schliefen nicht viel in jener Nacht und hätte sie ihn nicht zuvor gewarnt, hätten sie sicherlich die gesamte Familie Schroffenegger wachgehalten, obwohl ihr Zimmer sich am anderen Ende des Stockwerkes befand.

„Ich bin eine Schreierin“, beichtete sie mit gut gespielter Unschuldsmiene, während Wolfgang sie ungestüm neben sich auf die Bettkante zog. Ihre freimütige Einstellung zur Erotik entflammte ihn komplett, da er solch eine Art gar nicht kannte, und sein Herz schlug wie wild. Ihn überkam so ein starkes Begehren, dass er sich nichts anderes auf der Welt wünschte als sie – Beata Wind, die wunderschöne Nachrichtenhelferin aus dem Sudetenland. Ja, ihre Uniform reizte ihn, jedoch nicht der Abzeichen wegen, sondern weil sie so perfekt auf Maß geschneidert war und ihren harmonischen Körper auf eleganteste Weise betonte. Sie wirkte immer so gefasst, kontrolliert und überlegen, aber als er ihre Hand zu sich nahm und ihre Finger zu seinen Lippen führte, wurde ihre Atmung tiefer und ihre Augen durchbohrten die seinen. Er begann mit ihrem Daumen. Weiche Lippenbewegungen, so voller Lust, dass sie ihm fast machtlos gegenübersaß.

„Nein … Meine Hände sind dreckig, lass das lieber …“, flüsterte sie mit stockendem Atem. Ihm aber war das vollkommen egal und bei ihren Worten umschloss er ihren Daumen und ließ seine warme Zunge darüber gleiten. Sie erhob sich und setzte sich ohne lang zu zögern auf seinen Schoß.

„Dreckig …“, wiederholte sie, hatte diesmal aber etwas ganz anderes im Sinn. Ihre Dreistigkeit weckte sein Verlangen nach körperlicher Zweideutigkeit und er ließ ihren Daumen los. Mit einer sinnlichen Bewegung nahm er ihren Zeige- und Mittelfinger auf seine Zunge und umschloss sie mit den Lippen in sanften, erotischen Bewegungen. Diese unerwartete Anspielung reizte sie so sehr, dass sie fast das Gleichgewicht verlor und sich mit der anderen Hand an seiner Brust abstützen musste. Ihre Handfläche spürte seine starke Brust und darunter sein pochendes Herz. Völlig unbewusst begann sie, ihre Finger hin und her zu bewegen, während er diese gleichzeitig mit der Zungenspitze und seinen Lippen sinnlich umspielte.

„Ein Gentleman auf der Straße und ein Straßenknabe im Bett“, stöhnte sie mit einem letzten Hauch von Zurückhaltung. In Wolfgang steckte tatsächlich beides: die tiefe Sinnlichkeit eines Kunstmalers und die raue, etwas wilde Art eines Bergmanns. Sie hatte das Gefühl, mit Weiblichkeit und Männlichkeit gleichzeitig zu interagieren, und als sie sich dessen bewusst wurde, erkannte sie auf einmal, dass sie ebenfalls beide Seiten in sich trug. Kurz darauf vereinigte sie sich mit ihm und entdeckte die höchste Form der Dualität. Sie war Königin und Sklavin, er ihr Untertan und Meister. Alles verschmolz zu einer Myriade von Gefühlen, die sie schließlich mit solch einer Wucht zum Höhepunkt brachte, dass sie eine völlig neue Ebene der Ekstase erlebte. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie so viel genossen, was er kurz darauf mit einer liebevollen Bemerkung bestätigte.

„Ich bin froh, dass ich mein Handtuch in Reichweite hatte. Du hättest nicht nur die anderen geweckt, sondern auch alle Tiere im Wald.“

Sie lag neben ihm und ließ ihre Fingernägel über seinen Bauch gleiten, immer noch ganz im Bann der Überwältigung. Er blickte in ihre Augen und stellte fest, dass sich irgendetwas verändert hatte.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte er mit beruhigender Stimme. Ihre Antwort kam nicht in Worten, sondern in Tränen. Sie konnte nicht mehr aufhören, und obwohl er ahnte, um was es ging, blieb er still und umarmte sie einfach. Sie schmiegte sich an ihn, und er zog schützend die warme Decke über sie beide. So verblieben sie eine ganze Weile, bis sie endlich ihre Gefühle ausdrücken konnte.

„Ich weine nicht aus Trauer, sondern weil ich zum ersten Mal so intensiv fühlen konnte. Du hast mir heute eine völlig neue Lebenstiefe offenbart, so unbeschreiblich schön, dass ich auf einmal eine panische Angst vor dem Tod spüre. Ich habe von diesem furchtbaren Krieg so dermaßen genug, dass ich es nicht mit Worten erklären kann. Er hat mich verändert und zu einer abgestumpften, gefühlszerstörten Maschine gemacht. Ich hatte schon längst jede Hoffnung auf die Frau, die ich einst war, verloren. Du hast mir heute das Gegenteil bewiesen und daher habe ich eine Entscheidung getroffen.“

„Ja?“, fragte Wolfgang angespannt und blickte sie etwas erwartungsvoll an.

Beata küsste ihn mit einer unbeschreiblichen Leidenschaft, die sofort wieder seine Lust weckte. „Es ist Schluss mit meinem Dienst für das Dritte Reich. Ich will nicht mehr“, sagte sie selbstsicher.

Er starrte sie fassungslos an. „Willst du desertieren? Denn wenn du das vorhast, kann das fatale Folgen haben.“

Sie nickte gelassen und streichelte nachdenklich seine Brust. „Nicht wenn ich mich am richtigen Ort verstecke und warte, bis der Krieg vorüber ist. Das ist die beste Chance, die ich habe und ganz abgesehen davon: Wolfgang, ich bin einfach komplett verrückt nach dir.“

Als sie das sagte, entspannte sich sein Gesicht zu einem Ausdruck völliger Erleichterung. „Es geht mir genauso. Ich bin auch völlig verrückt nach dir, Beata. Wir haben uns vor nicht einmal zehn Stunden kennengelernt und ich wollte nicht den Eindruck von einem unseriösen Typen hinterlassen. Ich weiß, es ist alles so schnell passiert, aber der Krieg ist diesmal nicht schuld daran. Ich hätte auch in Friedenszeiten genau gleich reagiert. Es ist deine freche Art zu sein, zu sprechen und zu lieben.“ In seinen Gefühlen versunken, verfiel Wolfgang für einen Moment in zweideutige Tagträumereien. „Und sie ritten zusammen dem Sonnenuntergang entgegen …“ Doch sogleich besann er sich und setzte seine Überlegung fort. „Aber was passiert dann am nächsten Tag?“, fragte er leise. Beata wusste, worauf er hinauswollte, und blickte sich um. „Vergiss es. Die Schroffeneggers werden es nie zulassen. Andererseits können sie mich hier auf dem Hof nicht entbehren. Wenn ich sie überzeuge, würdest du mir eventuell mit der Arbeit helfen?“

Sie nickte gelassen und umarmte ihn voller Herzenswärme. „Für dich gehe ich sehr weit, mein schöner Mann, und abgesehen davon habe ich nach meiner Zeit beim Bund Deutscher Mädel zwei Jahre als Magd auf einem Bauernhof in Tölz gedient. Ich kann ohne Probleme anpacken.“

Wolfgang schüttelte überrascht den Kopf und war so erstaunt, dass er beinahe nicht mehr in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen. „Sag mal, was hast du schon alles erlebt? Das ist beeindruckend!“

„Das kam so selbstverständlich, dass ich am Anfang gar nicht mitbekam, wie sehr wir indoktriniert wurden. Mit vierzehn beim BDM, mit sechzehn beim RAD – also dem Reichsarbeitsdienst – und mit achtzehn kam ich auf die Heeresschule in Gießen und wurde zur Nachrichtenhelferin ausgebildet. Ich habe eine Gabe für Ver- und Entschlüsselung sowie Fremdsprachen und Schriftdeutung. Später wurde ich zur Unterführerin promoviert, aber kurz darauf wurde der Rückzug der gesamten 10. Armee nach Norden befohlen. Eine der letzten Meldungen, bevor wir den Kontakt zur Heeresleitung verloren, war, dass man die restlichen Regimente umgruppiert und diese als 14. Armee eingeteilt hatte.“

Wolfgang warf einen Blick auf ihre Uniformjacke, die sorgfältig über die Stuhllehne gelegt war, und entdeckte erst jetzt die Anzahl der Abzeichen. „Was bedeuten diese Abzeichen, wenn ich fragen darf ?“ Zwar schämte er sich ein wenig dafür, seine Unwissenheit preiszugeben, doch Beata war entzückt von seiner liebenswürdigen Offenheit und erklärte es ihm bereitwillig in aller Ruhe.

„Auf der linken Brust ist das Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse angebracht und darunter das Reichssportabzeichen in Silber.

---ENDE DER LESEPROBE---