Katzenjammer - Uwe Kling - E-Book

Katzenjammer E-Book

Uwe Kling

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Beschreibung

Nach einer Bruchlandung auf der Erde mit einem altersschwachen Raumschiff ohne Aussicht auf Rettung, stehen Lea und ihre Eltern vor dem Problem sich ein neues Leben in einer fremden Welt aufzubauen. Die Meinungen, wie das zu bewerkstelligen ist, werden in der Familie sehr kontrovers diskutiert. Lea sucht den direkten Kontakt zu Menschen, was ihr Vater David deutlich missbilligt. Er zieht es lieber vor abzutauchen, um nicht Gefahr zu laufen entdeckt zu werden. Das schafft ihm die nötige Ruhe und Freiheit, seine Experimente mit künstlichen Lebensformen durchzuführen. Kompliziert wird es, als Leas neue Liebe, Leonhardt, unbedingt ihre Familie kennen lernen möchte, wovon David nur mit Hilfe der unorthodoxen Überredungskünste seiner Frau überzeugt werden kann. Als die fröhliche Familienzusammenführung beginnt ins Chaos abzurutschen, fühlt David seine schlechten Erwartungen bestätigt. Fast wäre er versucht sich seiner Schadenfreude offen hinzugeben, wären da nicht seine künstlichen Lebensformen, die an dem ganzen Durcheinander nicht ganz unschuldig sind. Weitere Infos, auch zum Autor, gibt's unter katzenjammer-der-roman.de

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Seitenzahl: 312

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Impressum:

Katzenjammer

von Uwe Kling

Copyright 2011 by Uwe Kling

Kapitel 1

Ausgeliefert!

Nur langsam kämpfte sich ihr Geist durch die Nebel der nachlassenden Reise-Stasis, die bleischwer auf ihrem Gehirn lastete. Das Gefühl verursachte ihr Übelkeit. Der Eintritt in die Atmosphäre dieses Planeten machte sich durch heftiges Rütteln bemerkbar, was ihr zwar half aus der Betäubung aufzutauchen, aber nicht gerade zur Linderung ihrer rasenden Kopfschmerzen beitrug. Hilflos versuchte sie sich aus dem Stasis-Schlauch zu befreien, doch mit jeder Bewegung schien sich dieser Schlauch aus speziell gezüchteter Bantawi-Haut enger um sie zu schnüren und nahm ihr die Luft.

Nie hätte sie sich auf diesen Trip mit ihrem Vater einlassen sollen. Noch dazu in einer altersschwachen Schrottkiste mit einem zwielichtigen Piloten, der, immer wenn er ihre Füße erblickt, geiferte, als habe er die letzten zwanzig Jahre in einem Strafgefangenenlager auf irgendeinem öden Asteroiden abgesessen.

Jetzt war es zu spät.

Wie ein flacher Kieselstein, den man über eine Wasseroberfläche springen lässt, stieß das Raumschiff immer wieder von der Oberfläche des Planeten ab. Trotz der Stasis-Schläuche, in denen die Insassen normalerweise sicher eingeschlossen sind, wurden sie bei jedem Aufprall schmerzhaft zusammengestaucht. Die anschließende, kurze Schwerelosigkeit, machte den nächsten Aufprall nur um so härter. Endlich, nach vier oder fünf dieser Stöße, schrubbte das Schiff auf dem Boden entlang. Es ächzte unter dem Trommelfeuer der vielen Objekte, die während ihrer Rutschpartie von außen auf die Hülle einschlugen. Immer tiefer werdendes metallisches Kreischen begleitete das Ende ihres Höllenritts. Dann war es still.

Die Stasis-Schläuche lösten sich und sie wurde auf den Boden des Schiffs gespuckt. Vorsichtig versuchte sie sich zu bewegen. Arme und Beine bereiteten kaum Schwierigkeiten. Als sie den Kopf auf die Seite legt, zuckte sie unwillkürlich. Dieser Schmerz würde sie noch eine Weile begleiten, fürchtete sie. Sonst schien sie aber keinen ernsthaften Schaden davon getragen zu haben.

“Na, war doch halb so wild”, murmelte der Pilot vor sich hin. Dann drehte er sich vorsichtig um. “Alle noch am Leben?”

“Stümper!”, fauchte sie und stellte befriedigt fest, dass auch er bleich war.

“Lea, bitte”, ein kleiner, dünner Mann neben ihr hatte sich ebenfalls aufgerichtet.

Sie funkelte ihn grimmig an. “Du musst still sein, Papa. Wer ist denn schuld, dass wir hier sind?”

“Wir hatten uns diesen Ausflug alle ein wenig anders vorgestellt.” Die Frau unter dem letzten Schlauch versuchte, noch ein wenig benommen, zu lächeln.

“Ach, Mutter”, irritiert schüttelte sie den Kopf. “Irgend etwas in meinem Bauch hat mir von Anfang an gesagt, ‚lass diesen Trip lieber sein‘. Ich hätte auf das Gefühl hören sollen.“

“Das ist doch jetzt völlig egal.” David schüttelte den Kopf. “Wir werden uns doch von dieser kleinen Panne nicht aus dem Konzept bringen lassen.”

Lea sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

“Schließlich sind wir Allimá. Ich bin sicher unser Pilot hat schon einen genauen Plan, wie wir vorgehen müssen um uns aus dieser misslichen Lage zu befreien.”

“Papa, ich glaube du verstehst nicht, wie ernst unsere Lage ist.”

“Lea, bitte”, ihre Mutter sah sie beschwichtigend an.

“Danke, Aurora. Es ist schön zu wissen, dass wenigstens ein Familienmitglied meiner Meinung ist.” Er wendete sich an den Piloten. “Was gedenken Sie denn jetzt zu tun?”

Keine Reaktion. Lea konnte ein verächtliches Schnauben nicht unterdrücken. Der Pilot saß mit geschlossenen Augen auf dem einzigen Sitz in der Mitte des Raums. Er hatte sich eine mit Gel gefüllte Haube übergestülpt, in der sich rötliche Schlieren umher bewegten.

David räusperte sich. “Entschuldigung.”

Er öffnete die Augen.

“Ich fragte Sie gerade, was Sie nun zu tun gedenken.”

“Rausgehen und mir den Blecheimer mal von außen ansehen.” Er zog die Haube von seinem kahlen Schädel und hielt sie David hin. “Wenn irgend etwas schief geht, wissen Sie was Sie zu tun haben.”

David schluckte. Er nahm die Haube und nickte.

“Was hast du zu tun?” Lea spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten.

David hatte die Haube bereits aufgesetzt und schüttelte angespannt den Kopf. “Nicht jetzt.”

“Basisstation, hier Feuervogel 1. Das Ding hat eine zwölfspurige Autobahn in den Wald gefräst. Over.” Der Mann im Hubschrauber schüttelte den Kopf, als er die Verwüstung sah, die das Schiff hier angerichtet hatte.

“Feuervogel 1, hier Basisstation. Kannst du das Objekt schon sehen? Over.” Die Stimme aus den Kopfhörern klang näselnd.

“Nein. Over. Halt, doch. Da vorn ist es. Over.”

“Wie sieht es denn aus? Over.”

“Also, ein Meteor ist das ganz sicher nicht. Dazu ist die Oberfläche viel zu gleichmäßig. Zumindest von dem Teil, der noch aus der Erde heraus ragt. Over.”

“Was heißt gleichmäßig? Over.”

“Na, gleichmäßig halt. Schön rund und glatt, wie der Arsch von Amanda. Over.”

Es knackte in den Kopfhörern, dann war eine weibliche Stimme zu hören.

“Halt dich zurück, Charlie, oder du schiebst mehr Wochenend-Dienst als du Dir vorstellen kannst.”

Der Mann im Hubschrauber grinste, wurde aber gleich wieder ernst. “Jedenfalls ist das Ding kein Meteor.”

“Bist du dir sicher? Over.”

“Völlig sicher. Oder habt ihr schon mal einen Meteor mit Blinklichtern gesehen? Over.”

“Blinklichter? Hast du gesoffen, Charlie? Over.”

“Wenn ihr mir nicht glaubt, fliegt doch beim nächsten mal selber. Over.”

“Charlie, du bleibst wo du bist. Keine Experimente! Beobachte das Ding aus sicherer Entfernung. Ich alarmiere das Militär. Over.”

“Ach, Scheiße, immer wenn’s spannend wird. Over.”

“Du unternimmst gar nichts und bleibst in sicherer Entfernung, ist das klar? Over.”

“Was ist los? … Hallo? … Ich verstehe euch nicht …”

” Charlie? … Charlie, mach keinen Scheiß! … Charlie?!!”

David kauerte auf dem Sitz des Piloten mit seiner Haube und hatte die Augen geschlossen.

“Was passiert denn da draußen?”, fragte Lea ungeduldig.

“Moment.” David öffnete die Augen um sie mit einem ungehaltenen Blick zu strafen. “Ich muss mich mit dieser Steuerung erst zurecht finden.” Er schloss die Augen wieder und lehnte sich zurück. “Aha, da geht die Tür auf. … So. … Und wo kann ich jetzt die Umgebung sehen? … Ah, hier.”

Der Pilot stieg vorsichtig aus dem Raumschiff und sah sich um. Er stieß einen leisen Pfiff aus, als er die breite Schneise sah, die das Schiff in den Wald geschlagen hatte. Dann drehte er sich um. “Ach du Scheiße!”

“Er hat ‚ach du Scheiße‘ gesagt”, informierte David seine Familie.

“Wie vulgär”, meinte Aurora.

“Muss uns das beunruhigen?” Leas Magen war gerade bis zu ihren Kniekehlen durchgesackt.

Er zuckte mit den Schultern. “Mit den optischen Einheiten kann ich nur die Umgebung und nicht das Schiff sehen. Moment. Ich glaube, er stellt ein paar mobile Einheiten außerhalb des Schiffes auf. Wenn er die angeschlossen hat, kann ich mehr sagen.”

Angespannt tupfte Aurora den Schweiß von der Stirn ihres Mannes.

“Ach du Scheiße”, sagte David.

“Hat er das jetzt schon wieder gesagt?” Aurora schüttelte den Kopf.

“Er hat gar nichts gesagt”, antwortete David tonlos. “Ich kann jetzt unser Schiff von außen sehen.”

“Oh.”

“Was denn, ist es so schlimm?” Lea begann ihre Hoffnung auf ein baldiges Ende dieses katastrophalen Ausfluges zu begraben.

Charlie war mit seinem Hubschrauber auf einer Lichtung in der Nähe gelandet und auf den nächsten Hügel geklettert.

“Ich glaub’s nicht”, entfuhr es ihm, als er den Piloten in seinem gelben Overall durch sein Fernglas beobachtete, wie er verschiedene … Charlie versuchte sich die Dinger genauer anzusehen. “Spanferkel auf Stativen?”, ungläubig nahm er sein Fernglas herunter und starrte auf die Linsen. “Wollen die jetzt ein Picknick machen?”

Vorsichtig schlich er näher und entsicherte seine Schrotflinte. Als er bis auf zehn Meter heran gekommen war, blieb er stehen. Der Pilot schien ihn noch nicht bemerkt zu haben.

“Ähm, schöner Abend, dieser Abend?”, rief Charlie dem Piloten zu.

Dieser hielt in seiner Bewegung inne und drehte sich langsam um.

“Ach du Scheiße”, sagte David.

“David!” Aurora war empört.

“Es ist zum Kotzen, dass dieser Kahn hier nur eine einzige Kommandoeinheit hat. Was ist so schlimm an einem schönen, elektronischen Display, wo alle etwas sehen können?” Lea rüttelte am Arm ihres Vaters. “Sag schon, was ist los, Papa?”

“Wir haben Besuch.”

Lea und Aurora schluckten.

“Ich dachte immer, ET sieht ganz anders aus.”

Der Pilot bewegte sich nicht. Er sah Charlie nur an.

“Kannst du mich verstehen?”

Keine Reaktion.

“Unglaublich. Holzt mit einem blinkenden Blecheimer den halben Wald ab, kriegt die Zähne aber keinen Millimeter auseinander.” Charlie runzelte die Stirn. “Falls du überhaupt Zähne hast.”

Charlie wagte sich weiter vor, bis der Lauf seiner Schrotflinte nur noch einen halben Meter von dem Außerirdischen entfernt war. Der Pilot blickte auf die Waffe und streckte neugierig die Hand danach aus. Erschrocken drückte Charlie ab. Die Schrotladung riss ein handgroßes Loch in den Bauch des Außerirdischen. Er war sofort tot.

David schrie auf.

Lea und Aurora sahen ihn entsetzt an.

“Wir müssen verschwinden”, David war bleich. “Sofort!”

Charlie sah entsetzt auf die blutige Leiche vor ihm. “Du blöder Arsch!”, er konnte seine Stimme nur mühsam unter Kontrolle halten. “Du kannst doch nicht erst Salzsäule spielen und dann versuchen mich zu entwaffnen. Scheiße, Scheiße, Scheiße!”

Vor ihm begann es zu blubbern und zu schmatzen. Erschrocken sah er auf.

“Was ist denn jetzt los?”

Das Schiff begann zu tropfen. Es schien zu schmelzen wie Schnee in der Sonne. Außerdem breitete sich bestialischer Gestank aus. Charlie drehte sich um und rannte los.

Kapitel 2

“Autsch!”

Lea war mit ihrem rechten Stöckelschuh umgeknickt. Schnell beugte sie sich nach unten um ihren Knöchel zu reiben und bereute es sofort. Der Saum ihres sehr knappen Kleids, das sie sich nach einer Empfehlung von „Dr. Smooth - Lebens-und Liebesberatung im Internet” für ihr bevorstehendes Blind-Date besorgt hatte, war beim Vorbeugen ein Stückchen höher gerutscht, als für ein Mini-Kleid normaler Weise üblich. Der Mann, der ihr seit zehn Minuten folgte, atmete deutlich hörbar durch die Zähne ein.

Lea richtete sich sehr schnell wieder auf und verlor beinahe erneut die Balance.

“Scheiß Absätze”, fluchte sie.

Sie zupfte ihr Kleid zurecht, fuhr mit der Hand durch ihre lockigen Haare und blickte sich um. Etwa hundert Meter weiter war ein Brunnen auf einem kleinen Platz. Auf den konzentrierte sie sich und stelzte wieder los.

Eigentlich hielt sie nichts von solchen mehr oder weniger anonymen „Beratungen“ aus dem Netz. Aber ein Blind-Date hat sie noch nie ausprobiert und schlimmer als sonst konnte das auch nicht werden, da alle ihre bisherigen Verabredungen ohnehin eher in Katastrophen geendet waren.

Dr. Smooth hatte ihr in seiner letzten e-mail Anweisungen übermittelt, die sich so interessant anhörten, dass sie einen Versuch wert waren, hatte sie überlegt. Obwohl ihr die Interpretation einzelner Details doch einige Schwierigkeiten bereitet hatten.

‚Mach dich schön. Zeige ihm deinen exquisiten Geschmack.‘

‚Was ist schön?‘, dachte sie und blickte auf ihr Kleid. ‚Ist so eine ‚Wurstpelle‘ wirklich schön? Zumindest scheine ich den Perversen hinter mir beeindruckt zu haben‘, seufzte sie. ‚Und was ist exquisit? Ist Schmuck aus Computer-Bausteinen exquisit genug?‘, sie schüttelte den Kopf. ‚Es ist wahrscheinlich einfacher, wenn man diese merkwürdigen Regeln und Rituale von klein auf trainiert.‘ Sie überlegte, ob ihre Füße einen ernsthaften Schaden von diesen Schuhen davon tragen könnten. ‚Was muss da versprochen werden, um die Hälfte der Menschen dazu zu bewegen sich ein Leben lang freiwillig einer solchen Folter zu unterziehen?‘

Endlich erreichte sie den Brunnen.

“Uff”, pustete sie erleichtert.

Was für ein Gefühl festen Halt zu spüren.

Wieder musste sie an die e-mail von Dr. Smooth denken. ‚Sei nicht zu früh. Es macht sich gut, wenn du mindestens zehn Minuten zu spät kommst.‘

Lea schielte auf ihre Uhr. Zehn Minuten zu früh. Sie war auf ihren Stöckelschuhen schneller als sie befürchtet hatte.

Bei Dr. Smooth war es, wie auf vielen ähnlichen Sites, üblich sich mit einem Nickname, einem Pseudonym, anzumelden und anderen gegenüber auszugeben. Sie hatte sich angemeldet als ‚Alien Woman‘, ihr Date hatte sich ‚Terminator‘ genannt.

‚Terminator‘. Sie schüttelte den Kopf. ,Hoffentlich steht jetzt nicht gleich so ein Kleiderschrank vor mir, der drei Köpfe größer ist als ich.’ Sie hasst es, wenn sie an jemandem hochsehen musste.

“Hasta la vista, Baby.”

Lea schreckte herum, als sie die kieksende Stimme hinter sich hörte. Da stand ein spindeldürrer, junger Mann mit einer dicken Brille, einem für seine Verhältnisse mindestens 3 Tage alten Bart, einem zu großen Hemd und einer zwar sauberen, aber sicher schon oft getragenen Jeans.

“Du bist bestimmt Alien Woman?” Es war mehr eine Frage als eine Feststellung. Er blickte sie unsicher an, bereit zur Flucht, falls Lea ihn auslachen oder nach ihm schlagen sollte.

Lea war verwirrt.

“Terminator?”

Ein Lächeln huschte über das Gesicht des jungen Mannes. “Na ja, der Name ist vielleicht ein bisschen hoch gegriffen. Ich heiße Martin, aber das klingt so …”, er überlegte kurz, “… gewöhnlich.” Lea wollte etwas erwidern, aber Martin ließ sie nicht zu Wort kommen. “Na ja, und wenn man dann noch so aussieht wie ich, hat man praktisch keine Chance, dass irgendeine Frau mit einem ausgeht. Und schon gar nicht so eine wie du.”

Sie sah ihn fragend an. “Wie meinst du das?”

“Na, so eine Wahnsinnsfrau wie du würde doch normalerweise nicht im Traum daran denken mit einem Martin auszugehen, der so aussieht wie ich oder?”

“Hm, das mag schon sein…”, begann Lea vorsichtig. Martin zuckte zusammen und sprach schnell weiter. “Ich war so aufgeregt, dass ich schon seit über einer Stunde hier bin. Du bist die erste Frau, die hier auftaucht und RISK-Chips als Ohrringe trägt. Da dachte ich, das muss sie sein.”

“Ja”, Lea nickte zögernd. Martin war das krasse Gegenteil von dem, was sie erwartet hatte. Sie überlegte, ob sie enttäuscht oder erleichtert sein sollte.

“Sollen wir dann gleich rein”, er sah sie erwartungsvoll an, “oder möchtest du noch etwas spazieren gehen?”

‚Bloß das nicht‘, dachte sie entsetzt. ‚Meine Füße halten diese Schuhe keine hundert Meter mehr aus.‘

“Nein, nein, lass uns mal reingehen und sehen, ob unser Tisch schon frei ist.”

Sie betraten ein nobles, französisches Restaurant, das Dr. Smooth als Treffpunkt vorgeschlagen hatte. Der Eingangsbereich war mit dunklem Teppichboden und Teakholz-Vertäfelung an Wänden und Decke ausgestattet. Die leise Musik und das dezente Klappern von Besteck hörten sie erst, als die Tür hinter ihnen den Straßenlärm ausschloss. Neben einem großzügigen Durchgang, der von zwei mächtigen Topfpalmen eingerahmt wurde, befand sich ein Stehpult, über dessen Rand hinweg die beiden die Stirn und den schütteren Haaransatz eines kleinen Mannes sahen, der gerade telefonierte.

“Aber sicher, Herr Minister.” Er machte eine leichte Verbeugung und sein Kopf verschwand hinter dem Pult. “Natürlich, keine Frage.” Er lauschte kurz, dann erschienen entsetzt ein Paar Augenbrauen auf seiner Stirn, “mais non, mais non, mais non! Alles wird wie immer zu Ihrer Zufriedenheit sein. Ich werde mich persönlich dafür einsetzen.” Wieder machte er eine Verbeugung. “Ihre Gattin liebt noch immer Orchideen? Ja…”, er lauschte wieder. “Selbstverständlich Herr Minister.” Seine Verbeugungen wurden immer tiefer. “Ja…, ja…, nein…, ich persönlich…, Maurice wird sich persönlich darum kümmern, selbstverständlich. Vielen Dank, Herr Minister.”

Behutsam legte er den Hörer auf und nahm einen goldenen Füller von der Ablage des Pultes. Er schraubte ihn auf, blätterte in seinem Buch eine Seite weiter und machte eine Eintragung. Dann schraubte er den Füller wieder sorgfältig zu, legte ihn sachte auf das Pult zurück und strich sein Jackett glatt. Er streckte sich und sah über das Pult.

Seine Augen verengten sich unmerklich, als er Martin erblickte, dann sah er zu Lea auf und näselte mit hochgezogenen Augenbrauen, “Sie hatten reserviert?”

“Ja, Lea Anders.”

Der Maître seufzte und blätterte umständlich in seinem Buch. “Ah ja, tatsächlich.” Er räusperte sich. “Aber leider …”, der Versuch ein bedauerndes Gesicht zu machen, endete in einer seltsam anmutenden Grimasse, “… bei uns ist Krawatte vorgeschrieben.”

Martins Schultern sanken herab.

“Sie haben doch für solche Fälle sicher eine, die Sie uns leihen können oder?”, Lea machte große Augen.

“Äh, …nun ja, es ist…”

“Na wunderbar, vielen Dank Maurice.”

Er richtete sich auf soweit er konnte. “So ist das eigentlich nicht gedacht.”

“Ach”, Lea versuchte so überrascht wie möglich auszusehen. “Jetzt bin ich aber enttäuscht. Mein Vater, der Herr Minister, mit dem Sie soeben telefoniert haben, hat Sie mir so sehr ans Herz gelegt.”

Maurice stutzte etwas und überlegte. “Mademoiselle”, begann er zögernd, “was ich damit sagen wollte, ist…”

“Nein, nein, ich verstehe schon. Wenn es eben nicht geht, aber mein Vater wird sicher enttäuscht sein, wenn ich ihm erzähle…”

“Was ich damit sagen wollte ist …”, er atmete tief durch, “… wenn bei uns Krawatte vorgeschrieben ist, dann bedeutet das natürlich auch ein entsprechendes Jackett.”

Martins Schultern sanken noch tiefer herab.

“Aber selbstverständlich haben wir beides hier, um besonderen Gästen aus einer eventuellen Verlegenheit helfen zu können. Wenn der junge Mann mir bitte folgen möchte.”

Der Maître öffnete eine Tür in der Vertäfelung neben seinem Pult und die drei gingen in ein sehr großes Ankleidezimmer. In einem riesigen Wandschrank sahen sie eine Reihe sehr teurer Anzüge, die sehr ordentlich nebeneinander auf der Stange hingen. Maurice sah Martin abschätzend von oben nach unten an, wobei die Augenbrauen noch höher zu wandern schienen, griff nach dem dritten Jackett auf der rechten Seite und half Martin hinein. Es passte tadellos und Martins herabhängende Schultern waren nicht mehr zu sehen. Der Maître nickte zufrieden, öffnete eine Schublade und holte eine Schachtel mit einer Krawatte heraus. Er hielt sie an Martins Brust. Wieder nickte er zufrieden. “Wenn Sie die vielleicht probieren möchten, mein Herr?”

Martin schielte unsicher zu Lea hinüber, dann beugte er sich zu Maurice. “Äh, entschuldigen Sie bitte”, raunte er ihm zu und wird rot, “aber ich habe noch nie eine Krawatte gebunden.”

“Mon dieu”, entfuhr es Maurice und er verdrehte die Augen zur Decke. Mit geübten Handgriffen, nicht ohne einen gequälten Seufzer, band er ihm die Krawatte und zog sie zu. Martin schluckte schwer über die ungewohnte Enge. Der Maître trat zurück und nickte zufrieden.

“Sehr schön, Maurice”, sagte Lea. “Mein Vater hat Sie nicht umsonst so sehr gelobt.”

Er dankte mit einem dezenten Nicken. “Mademoiselle, wenn ich Sie nun zu Ihrem Tisch führen darf?”

Er wies mit der Hand hinaus und sie verließen den Raum.

Endlich saßen die beiden am Tisch. Er war perfekt gedeckt. Sechs verschiedene Gläser für entsprechende Getränke, fünf verschiedene Gabeln, sechs Messer, acht Löffel, in der Mitte des Tisches ein riesiges Blumenbouquet mit zehn Kerzen. Lea versuchte Martin anzusehen, schaffte es aber erst, als sie sich ein wenig zur Seite beugte um an den Blumen vorbeisehen zu können. Martin hatte sich in die Ecke seines geliehenen Jacketts zurückgezogen und versuchte unbehaglich mit dem Finger den Hemdkragen zu weiten. Lea verschwand wieder hinter den Blumen und musste lächeln.

Ein kleiner, aber sehr würdevoll aussehender Ober kam, um ihre Wünsche entgegenzunehmen. Sie bat ihn, zunächst das Blumenbouquet zu entfernen, damit sie ihr Gegenüber ansehen konnte. Er blickte unsicher zu Maurice, der sich noch in der Nähe befand. Als dieser mit einem Seufzen nickte, fasste er nach den Blumen und stellte sie ächzend beiseite.

“Einen Apéritif vielleicht?”, der Ober sah von einem zum anderen.

Lea entschied sich für einen doppelten Wodka, Martin fragte nach einer Cola ohne Eis. Der Ober wollte etwas erwidern, aber da Maurice wieder nickte, entfernte er sich um ihre Wünsche zu erfüllen.

Martin setzte sich räuspernd auf. Da kam der Ober zurück und reichte die Getränke. Martin sankt wieder zurück. Er beobachtete die Kohlensäureperlen in seiner Cola, bis der Ober wieder gegangen war und richtete sich erneut auf. Dr. Smooth hatte Lea geraten ihrem Date die Initiative zu überlassen. Das sei für das Ego eines Mannes sehr wichtig. Martin holte tief Luft, da übergab ihm der Ober die Karte und er atmete schwer seufzend aus. Die Karte war riesig. Er klappte sie auf und war nicht mehr zu sehen. Lea öffnete schnell auch ihre Karte, um ihr Lächeln zu verbergen.

Nach einer Weile legte Lea ihre Karte hin und nippt an ihrem Wodka. Auch Martin legte seine Karte zur Seite, wobei er sein Glas traf. Es kippte um und schubste zwei der sechs zu seinem Gedeck gehörenden Gläser vom Tisch, die mit lautem Klirren auf dem Boden zersprangen. Augenblicklich verstummte das leise Klappern der Bestecke um sie herum. Nur noch die säuselnden Streicher aus den Lautsprechern waren zu hören. Martin wurde bleich und starrte entsetzt auf den dunklen Cola-Fleck, der sich sehr schnell auf der weißen Tischdecke ausbreitete. Maurice schloss die Augen und seufzte. Wie aus dem Nichts waren zwei Ober zur Stelle, entfernten die Scherben und deckten den Tisch neu. Das Ganze dauerte höchstens drei Minuten. Langsam begann das Klappern der anderen Bestecke wieder und auch in Martins Gesicht kehrte ein wenig von seiner alten Farbe zurück.

“Ich hätte nicht auf diese blöde Beratungs-Seite hören sollen.” Lea sagte das mehr zu sich als zu Martin.

“Wie meinst du das?”

“Na ja, so ein nobler Schuppen wie dieser hier ist normalerweise nicht so mein Ding und die Sache mit meiner Aufmachung hier …”, sie blickte an sich herunter und seufzte. “Die Stöckelschuhe drücken mich wahnsinnig und ich habe das Gefühl, dass mich alle wegen dieses hautengen Etwas von einem Kleid anstarren. Außerdem zieht es bei so wenig Stoff überall durch.”

Martin sah erleichtert aus. “Na ja, dass so ein Laden auch nicht mein Ding ist, hast du ja sicher schon gemerkt. Ich dachte mir, wenn eine Frau mit mir in so einen noblen Schuppen geht, dann wird das entweder ein Hauptgewinn oder ein komplettes Desaster. Bei einem Desaster hätte ich mir immer noch sagen können, dass die Sache einfach eine Nummer zu groß für mich gewesen ist.”

Lea lächelte. “Und warum hast du dir diesen bescheuerten Nickname ‚Terminator‘ gegeben?”

“Ich dachte mir, dieser Name macht was her. Da denken die Frauen an Muskeln, Stärke, den Mann ihrer Träume eben. Mit so jemandem wollen sie ausgehen.” Er zuckte die Schultern. “Bei Rumpelstilzchen clickt jede gleich weiter. Warum heißt du ‚Alien Woman‘?”

“Weil ich eine Außerirdische bin.”

“Ha, ha, netter Witz.” Martin lächelte unsicher. “Nun sag aber mal, warum ‚Alien Woman‘?”

“Weil ich eine Außerirdische bin, wirklich.” Lea sah Martin fest in die Augen.

Der wusste nicht so recht was er davon halten sollte. Prüfend blickte er sie an, als suche er etwas Bestimmtes. “Sind Aliens normalerweise nicht irgendwie…”, er verzog das Gesicht und meinte vorsichtig, “… schleimiger?”

Lea grinste. “Du hast mich noch nicht sabbern sehen.”

Er grinste zurück.

“Und dein Vater, der Minister, ist jetzt einer derjenigen von euch, der unsere Regierung unterläuft, um dann die feindliche Übernahme der Erde so einfach wie möglich durchführen zu können.”

“Quatsch, mein Vater ist kein Minister.”

“Ah ja, stimmt”, Martin hob abwehrend die Hände, “der ist ja in Wirklichkeit ein Alien.”

“Alien schon, aber kein Minister. Ich habe vorhin nur genutzt, was ich von dem Telefonat mitbekommen habe. Dabei habe ich fest die Daumen gedrückt, dass dieser Minister wirklich eine Tochter hat und Maurice das auch weiß.”

“Oh”, Martin wirkte beeindruckt. “Das war aber sehr überzeugend.”

“Na ja, wenn man seit knapp dreißig Jahren auf der Erde festsitzt, lernt man so einige Sachen. Und übernehmen wollen wir die Erde schon gar nicht. Wir sitzen hier einfach fest, weil wir eine Bruchlandung gemacht haben.”

“Jetzt erzähl keinen Scheiß. Ich glaube an UFOs”, er nickte mit großen Augen. “Hast du ‚ID4‘ gesehen?”

Lea runzelte die Stirn.

“Ich bin der festen Überzeugung, sollten irgendwann irgendwelche Aliens hier auf der Erde landen, wird das garantiert in feindlicher Absicht sein.”

Sie versuchte sich ihr Grinsen so gut es ging zu verkneifen. “Ich kann dir versichern, dass wir garantiert keine feindlichen Absichten haben.”

Martin sah sie eine Weile schweigend an, dann legte er den Kopf auf die Seite. “OK. Du bist also ein Alien und wozu treffen wir uns hier? Machst du Feldstudien und nimmst mich gleich mit in dein Labor?”

“Ich fühle mich einfach einsam, immer allein hinter meinem Computer.”

“Das kenne ich”, er nickte. “Aber im Netz ist man nicht allein.” Lea sah auf. “Ich meine, du kannst mit Tausenden von Leuten kommunizieren, überall auf der Welt, jederzeit.”

“Du hast eine Schachtel mit Pizza auf den Knien”, ergänzte sie, “neben der Maus eine Flasche Wodka.”

“Na ja”, meinte er, “eher ein paar Dosen Cola.”

“Egal.”

“Jedenfalls fühle ich mich dort wohler als hier.” Martin nickte mit dem Kopf in Richtung Maurice.

“Dann lass uns doch dorthin gehen.” Sie sah Martin fragend an.

“Nichts lieber als das”, er stand auf und sofort war Maurice an ihrem Tisch.

“Ist irgend etwas nicht zu Ihrer Zufriedenheit”, wendete er sich an Lea.

“Doch, doch, Maurice. Alles ist bestens hier, genauso wie es sein soll. Nur wir sind hier fehl am Platz.” Damit drehte sie sich um und ging. Martin folgte ihr.

Maurice wirkte sehr irritiert. “Aber Mademoiselle, ich kann Ihnen auch einen anderen Tisch geben oder soll Sie vielleicht jemand anders bedienen? Soll ich das vielleicht persönlich übernehmen?” Maurice folgte ihnen bis zur Tür. “Äh, verzeihen Sie, aber ich hätte gerne…”

“Keine Angst”, Lea legte beruhigend ihre Hand auf Maurice’ Arm. “Ich werde meinem Vater nur das Beste von Ihnen berichten.”

“Das meinte ich nicht”, Maurice zog seinen Arm zurück.

“Ach ja, natürlich, Entschuldigung.” Lea gab Maurice einen Geldschein.

Er sah ihn an, sah dann zu Martin und hob die Augenbrauen. “Die Krawatte und das Jackett sind nur eine Leihgabe.”

“Oh”, Martin wurde rot. Er zog das Jackett und die Krawatte aus und hängte beides über Maurice’ Arm mit dem Geldschein. Dann öffnete er die Tür und atmete befreit auf. Der Straßenlärm überdeckte wieder die leise Musik und das Besteckklappern und Maurice war fast nicht zu sehen in dem großzügigen Durchgang zwischen den beiden mächtigen Topfpalmen mit dem Jackett, der Krawatte und dem Geldschein.

Kapitel 3

“Zu dir oder zu mir?” Martin wirkte sehr aufgedreht. “Mein Gott, ich habe immer davon geträumt, dass ich diese Frage einmal stellen kann.”

“Mir wurscht”, meinte Lea. “Was hast du denn für eine Anlage?”

“Och”, Martin zuckte verlegen mit den Schultern, “nichts Besonderes. Und ich wohne noch bei meinen Eltern, das heißt also, so richtig ungestört sind wir nicht.”

“Was fragst du denn dann so blöd.” Martin wurde rot, Leas Stimme klang wieder versöhnlicher. “Also zu mir. Ich bin gespannt, was du von meiner Anlage hältst.”

Sie gingen los und Lea hakte sich bei Martin ein, was für sie weniger eine vertrauliche Geste war. Sie brauchte einfach festen Halt wegen ihrer Stöckelschuhe, daher versuchte sie auch Martins glühende Ohren zu ignorieren. Unterwegs besorgten sei noch zwei Pizzas, ein paar Dosen Cola für Martin und eine Flasche Wodka für Lea.

Lea stellte die Dosen und die Flasche auf den Pizzaschachteln ab, die Martin trug, um ihre Wohnung aufschließen zu können. Er folgte ihr. “Da drüben ist das Wohnzimmer”, sagte sie mit einem Kopfnicken schräg über den Flur.

Er drückte die Tür mit der Schulter auf und betrat das, was Lea als Wohnzimmer bezeichnet hatte. Der Raum war von mehreren Monitoren spärlich beleuchtet. Er hörte das leise Surren vieler Lüfter. Auf einigen der Monitore liefen wilde Zahlenkolonnen, andere zeigten unterschiedliche, offene Arbeitsfenster, die ab und zu von selber umsprangen, wieder andere zeigten farbige Wabbelblasen, die immer wieder mit anderen Wabbelblasen verschmolzen und ab und zu von einem Monitor in den anderen hinüber glitten. Als sie das Licht anschaltete, konnte Martin auf einer schwarzen Schreibtischplatte an der Seite des Zimmers sechs offene Computergehäuse erkennen. Kabelstränge hingen heraus und schienen sich in einem gewaltigen Gewirr alle miteinander zu verflechten. Auf dem Boden neben der Platte lagen weitere Gehäuse, aus denen Kabel herausliefen und sich ebenfalls in dem Gewirr verloren. Alle möglichen Laufwerke, zum Teil offenbar gar nicht angeschlossen, aber dennoch surrend, waren zwischen den Kabeln verstreut. Außerdem lagen da noch mehrere Tastaturen, ein riesiges Pad und eine Unmenge an Mäusen.

Martin stand mit offenem Mund da. “Äh, hast du das alles zusammengebaut?”, fragte er ehrfurchtsvoll.

Lea war dabei einen Platz für ihre Verpflegung zu suchen. Mit dem Arm schob sie ein paar leere DVD-und Disketten-Hüllen vom Couchtisch, nahm die Dosen und die Flasche von den Schachteln in Martins Händen und stellte sie auf den nun freien Platz.

“Bitte? Ja klar. Die Kisten, die man so zu kaufen bekommt, sind doch irgendwie alle Mist. Meistens haben sich die Entwickler entweder selbst ein Bein gestellt oder sind faule Kompromisse eingegangen, um die Dinger besser verkaufen zu können. Da habe ich mir halt mein eigenes System aus den jeweils besten Komponenten zusammengestellt.” Lea zwinkerte Martin zu. “Außerdem ist diese Anlage sehr viel schneller als irgendeine, die du zu kaufen kriegst. Übrigens …”, sie deutete auf seine Schuhe, “wenn du die Pizzaschachteln nicht so schräg hältst, versaust du dir mit dem herab tropfenden Öl nicht so sehr die Schuhe.”

“Scheiße”, rutschte es ihm heraus. Er hielt die Pizzaschachteln wieder gerade und hob angewidert den rechten Fuß. “Bäh, die Pampe ist mir schon in den Schuh gelaufen und ich habe es nicht bemerkt.”

Sie grinste und er stellte die Schachteln auf ein paar leere CD-Hüllen auf dem Couchtisch.

“Mach dir’s bequem”, sagte sie und deutete auf einen kleinen Schrank in der Ecke neben dem Sofa. “Da drüben sind Servietten zum Abwischen. Ich geh schnell ins Schlafzimmer und ziehe mich um.”

Martin stand da und wusste nicht, was er zuerst machen sollte. Der verklebte Fuß schwebte immer noch in der Luft und seine Hände, über die ebenfalls etwas von der öligen Flüssigkeit gelaufen war, hielt er nach oben wie ein Chirurg, der sich gerade die Finger desinfiziert hat. Er begann ein paar Finger abzulecken, gab es aber gleich wieder auf und winkte mit den Händen hin und her. “Ach”, grunzte er, ließ sich rückwärts auf das Sofa fallen und angelte mit spitzen Fingern nach einer Serviette. Dabei fegte er den ganzen Stapel vom Schrank. Lea drehte sich grinsend um und verschwand im Flur.

Als sie wieder kam trug sie ein rot kariertes Schlabberhemd, das weit über eine graue Jogging-Hose hing. Ihre lockigen, roten Haare hatte sie, bis auf ein paar wenige Strähnen, unter eine schwarze Baseballkappe mit “NY” Aufdruck gesteckt. Außerdem war sie barfuß.

Martin hatte sich inzwischen auch die Schuhe ausgezogen. Seine Socken baumelten von den Pizzaschachteln herunter und er war gerade dabei sich letzte Reste des Öls mit einer Serviette von den Zehen zu wischen. Als er Lea sah, konnte er seine Enttäuschung nicht verbergen. “Du hast toll ausgesehen in deinem Kleid.”

“Es ist aber total unbequem”, antwortete Lea, ging zum Tisch, öffnete die Wodka-Flasche und trank etwa ein Drittel auf einen Zug aus. Martin rutschte die Serviette aus der Hand. “Alkohol wirkt auf unsere Körper wie Koffein auf eure”, erklärte sie ihm, als sie seinen Blick bemerkte. “Und umgekehrt.”

Unsicher sah er sie an. “Mach nur so weiter, wenn du mir Angst machen willst.”

Sie grinste und hielt ihm die Flasche hin.

Martin schüttelte den Kopf. Plötzlich grinste er und kniff ein Auge zusammen. “Möchtest du vielleicht eine Dose Cola?”

Lea zog eine Schnute. “Nein, danke.”

Sie setzte sich an eine der Tastaturen und begann zu tippen. Ein Monitor rechts vor ihr wurde schwarz und das obere Drittel des Bildschirms begann sich mit langen Reihen von Zahlen und Buchstaben zu füllen. Martin nahm sich einen Stuhl und setzte sich neugierig neben sie. Auf der Mitte des Bildschirms blinkte jetzt der Cursor hinter dem Wort “LOGON:”. Sie tippt den Namen “Alien-Force”.

Er stutzt. “Sag mal …”, begann er langsam. “… ich erinnere mich vage, dass vor einem Jahr eine Hacker-Gruppe mit dem Namen ‚Alien-Force‘ in die Computer von Shell eingedrungen sein soll.”

Sie tippte unbeirrt weiter.

“Angeblich sollen etwa eine Woche später anonyme Spenden von insgesamt 3 Milliarden Dollar auf den Konten verschiedener Umweltschutz-Organisationen aufgetaucht sein. Die haben die Hacker-Gruppe aber nie gefunden.”

Lea tippte weiter, während sie sprach. “Mhm, davon habe ich auch gehört. War ein Riesending, was die da durchgezogen haben. Mit denen habe ich aber leider nichts zu tun. Ich arbeite nur alleine und das System, das dort geknackt wurde, ist so kompliziert, dass es nur von einer ganzen Gruppe geknackt werden kann. Eine einzelne hat da keine Chance.”

Er wirkte nicht überzeugt.

Sie hörte auf zu tippen und sah ihn an. “Den Namen habe ich schon sehr lange und es ist einfach ein blöder Zufall, dass die den gleichen Namen wie ich benutzt haben. Ich gebe zu, die Aktion finde ich Superklasse. Ich bin der Meinung, wie ihr hier auf der Erde mit eurer Umwelt umgeht, ist eine Schande. Auf unserem Heimatplaneten ist das ganz anders. Wir haben gelernt mit der Natur zu leben. Wir versuchen zwar inzwischen den Schwerpunkt unserer Technologie weg von der biologischen, hin zu einer elektronischen Basis zu verschieben …”, sie seufzte. “Papa ist da zwar anderer Meinung, aber ich bin der festen Überzeugung, dass das der richtige Weg ist. Befürworter wie Gegner dieser Bestrebungen sind sich aber einig, dass Maßnahmen, egal in welche Richtung, nur im Einklang mit der Natur unseres Planeten getroffen werden dürfen.”

Martin konnte sich ein schräges Grinsen nicht verkneifen. “Ja, ja, auf deinem Planeten ist natürlich alles ganz anders.”

Sie seufzte. “Du glaubst mir immer noch nicht oder?”

“Lea”, er wurde ernst. “Du bist die tollste Frau, die je mit mir ausgegangen ist. Ich glaube dir alles, was du willst.”

Sie lehnte sich seufzend auf ihrem Stuhl zurück und schug die Beine übereinander. Nachdenklich begann sie, ihren Fuß zu reiben und verzog dabei das Gesicht.

“Tun deine Füße weh?”

“Ach, diese blöden Stöckelschuhe”, sie schüttelte den Kopf. “Dr. Smooth hatte genaue Anweisungen, wie ich mich aufdonnern sollte. Ich blöde Kuh habe das natürlich haarklein befolgt.”

“Soll ich dir vielleicht deine Füße ein wenig massieren?”, seine Augen begannen zu leuchten und er setzte mit tieferer Stimme nach, “ich bin extrem gut im Füße massieren.” Sie zuckte die Schultern und streckte sie ihm entgegen.

Er berührte sie sanft und wurde blass. Lea hatte an beiden Füßen sechs Zehen.

“Was ist denn los?”, fragte sie. Dann bemerkte sie seinen Blick. “Ach so. Das kannst du ja noch nicht wissen. Unserer Rassen sind sich, bis auf ein paar geringfügige Unterschiede, extrem ähnlich.” Sie nickte in Richtung ihrer Füße. “Einen dieser Unterschiede hast du gerade entdeckt.”

Er wollte etwas erwidern, aber sein Unterkiefer gehorchte ihm nicht.

Lea lächelte zufrieden. “Du darfst gerne anfangen”, forderte sie ihn auf.

Seine Hände bewegten sich widerstrebend auf ihre Füße zu.

“Keine Angst, die beißen nicht.”

Martin schloss die Augen und atmete tief durch. “Alles Quatsch, alles Quatsch, alles Quatsch, Quatsch, Quatsch”, murmelte er vor sich hin. Dann begann er sanft ihren rechten Fuß zu bearbeiten.

Lea lehnte sich zurück und schloss die Augen. Martin nahm sich zunächst die Ferse vor. Kräftig arbeitete er sich von unten bis zur Mitte der Fußsohle hoch. Er massierte den Ballen von Innen hin zu den beiden Seiten. Dann begann er die große Zehe vom Ansatz bis zur Spitze zwischen Daumen und Zeigefinger zu rollen. An der nächsten Zehe arbeitete er sich von der Spitze bis zum Ansatz hinab. Lea begann leise zu seufzen.

Als er zur sechsten Zehe kam, zuckte sie mit dem Fuß zurück.

“Entschuldigung”, Martin sah sie erschrocken an. “Ich wollte dir nicht weh tun.”

“Schon OK”, antwortet Lea. “Ich bin da nur …”, sie kniff das linke Auge zusammen, “… ziemlich empfindlich.”

“Gut”, er strich sanft über die Zehen. “Dann werde ich jetzt ganz vorsichtig sein.”

“Ja, bitte”, sie streckte ihr Bein wieder ganz aus. “Ja, so ist das angenehm.”

Martin rieb ganz vorsichtig an der sechsten Zehe von der Spitze zum Ansatz.

“Oh, ja”, Lea schloss die Augen wieder und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. “Sehr angenehm.” Sie legte den Kopf zurück und atmete hörbar durch den geöffneten Mund aus.

Er schluckte.

“Ja …” Sie atmete tief ein. “Genauso. Ja.” Ihre Augenbrauen wanderten nach oben. “Uuh!”

Schweißperlen traten auf seine Stirn.

Ein leises ‚Piep‘ war zu hören.

Er hörte es nicht. Die Auswirkungen der Massage ihrer Zehen, nahm seine ganze Konzentration in Anspruch.

Wieder ein ‚Piep‘.

Sie öffnete die Augen.

‚Piep‘.

Sie zog ihren Fuß zurück, er sah sie enttäuscht an.

‚Piep‘.

Drei der Monitore blinkten rot. Sie war sofort wieder hellwach und begann wild auf der Tastatur herumzutippen. Martin war irritiert. “Was ist denn los?”

Sie blickte von einem Monitor zum andern, während sie immer weiter tippte. “Das hatte ich aber schon lange nicht mehr.”

“Was hattest du schon lange nicht mehr?” Martin hob die Hand und winkte. “Hallo, darf ich auch wissen, was das Ganze zu bedeuten hat?”

Sie wendete den Blick nicht von den Monitoren, als sie zu ihm sprach. “Im Netz laufen für mich ein paar …”, nach einem kurzen Zögern lächelte sie, “na ja, ich würde sie ‚Hausierer‘ nennen.”

“Aha?!”, er verstand gar nichts.

“Ich habe im Netz ein paar Routinen laufen, die ständig neue Systeme suchen, anklopfen und versuchen eingelassen zu werden.”

“Mhm”, er verstand noch immer nichts.

“Also”, sie riss sich von den Monitoren los. “Ich habe ein paar Routinen programmiert, die ständig im Netz laufen. Sie können sich selbstständig von einem Server zum anderen schicken. Sie benutzen Suchmaschinen und Listen um neue Systeme zu finden und dergleichen mehr. Außerdem habe ich sie mit so viel Intelligenz ausgestattet, dass sie alle möglichen Verschlüsselungen und Sicherheitsstufen umgehen können.”

“Oh”, er begann langsam zu verstehen.

“Genau. Und falls sie dann mal auf ein System stoßen, das sie nicht aufkriegen, melden sie sich bei mir.”

“Wahnsinn”, Martin war beeindruckt.

“Und genau das ist gerade passiert.” Damit wendete sie sich wieder den Monitoren zu und ihre Finger rasten über die Tasten.

Er saß still daneben und sah ihr zu. Nach einer Weile ließ er die leise vor sich hin fluchende Lea an ihrer Tastatur alleine. Er machte sich über seine inzwischen halb kalte Pizza her, bis sie sich zu ihm umdrehte.

“Unfassbar”, sie schüttelte ihre Finger, die vom intensiven Tippen schmerzten. “So ein widerspenstiges Biest hatte ich noch nie.”

Martin legte seine Pizzaecke in die Schachtel und wischte sich die Finger mit einer Serviette ab. “Vielleicht gibt es ein paar Programmierer, die schlauer sind als du?”, meinte er undeutlich mit halb vollem Mund.