Kein Land in Sicht - Günter Klebingat - E-Book

Kein Land in Sicht E-Book

Günter Klebingat

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Beschreibung

»Kein Land in Sicht« aus vielerlei Gründen im Nordosten Deutschlands. Hauptkommissar Hans Lehner ist nach seiner Behandlung in einer Berliner Psychiatrie auf das Fischland zur Rehabilitation geschickt worden. Als dort wenige Wochen später ein Kapitalverbrechen die Ostsee-Anwohner aufwühlt, nimmt der angeschlagene Ermittler trotz Krankschreibung eine heiße Spur in das innerste Wesen Mecklenburg-Vorpommerns auf, wo das Bauernland längst wieder in Junkerhand und von Gott und der Welt verlassen ist. Hier wird selbst der Kommissar rückfällig und folgt seiner unterdrückten kriminellen Ader, die sich sein Kurschatten Lisa frauenschlau zu Nutze macht. Nach dem Erfolg des satirischen Romans »Endlich abgedreht!« über die unglaublichen Machenschaften einer TV-Produktionsfirma und deren öffentlich-rechtlichem Auftraggeber in »Unserem Osten« legt Günter Klebingat jetzt noch eine Schaufel nach: Ein bösebissiger, aber auch liebevoller Blick in die offene Wunde des untergegangenen Stasistaats, um dessen Fell sich die neuen-alten Raubritter mit allen Mitteln balgen.

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Impressum

1. Auflage September 2017

Copyright © 2017 by Ebozon Verlag

ein Unternehmen der CONDURIS UG (haftungsbeschränkt)

www.ebozon-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung: media designer 24

Coverfoto: Andrea Kurschus

Herausgeber: Lektorat Andrea Kurschus

Layout/Satz/Konvertierung: Ebozon Verlag

ISBN 978-3-95963-455-7 (PDF)

ISBN 978-3-95963-453-3 (ePUB)

ISBN 978-3-95963-454-0 (Mobipocket)

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors/Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Veröffentlichung, Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Das Buch

»Kein Land in Sicht« aus vielerlei Gründen im Nordosten Deutschlands. Hauptkommissar Hans Lehner ist nach seiner Behandlung in einer Berliner Psychiatrie auf das Fischland zur Rehabilitation geschickt worden. Als dort wenige Wochen später ein Kapitalverbrechen die Ostsee-Anwohner aufwühlt, nimmt der angeschlagene Ermittler trotz Krankschreibung eine heiße Spur in das innerste Wesen Mecklenburg-Vorpommerns auf, wo das Bauernland längst wieder in Junkerhand und von Gott und der Welt verlassen ist. Hier wird selbst der Kommissar rückfällig und folgt seiner unterdrückten kriminellen Ader, die sich sein Kurschatten Lisa frauenschlau zu Nutze macht.

Nach dem Erfolg des satirischen Romans »Endlich abgedreht!« über die unglaublichen Machenschaften einer TV-Produktionsfirma und deren öffentlich-rechtlichem Auftraggeber in »Unserem Osten« legt Günter Klebingat jetzt noch eine Schaufel nach: Ein bösebissiger, aber auch liebevoller Blick in die offene Wunde des untergegangenen Stasistaats, um dessen Fell sich die neuen-alten Raubritter mit allen Mitteln balgen.

Der Autor

Günter Klebingat, TV-Produktionsleiter und Landwirt, lebte und arbeitete von 1990 bis 2012 in der ehemaligen DDR, bevor er sich entschied, doch besser auszuwandern. Zusammen mit seiner Frau bewirtschaftet er seitdem eine kleine kanarische Finca zur Selbstversorgung mit viel Obst, frischem Gemüse und jeder Menge Lebensfreude.

Günter Klebingat

KEIN

LAND

IN

SICHT

Ein Ostsee-Krimi

Ebozon Verlag

Autor und Herausgeber haben sich um zuverlässige Angaben bemüht, eine Garantie kann jedoch nicht gegeben werden.

Alle hier beschriebenen Personen und Begebenheiten wurden frei ersonnen, wenn auch Orte und Landschaften (noch) realexistieren.

Die Namen der handelnden Personen sind willkürlich gewählt und jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen, deren Vorfahren oder Nachkommen ist rein zufällig, ebenso die Ähnlichkeit mit deren Vorgehensweise, Motivation oder Raffgier.

Günter Klebingat

Puntagorda, September 2017

Kein Land in Sicht

Immer wenn der Sturm sich gelegt hat

Kommen die kleinen Fische mutig an die Oberfläche

Immer wenn der Sturm sich gelegt hat

Ist nur stinkendes Meer ringsherum wie vorher

Aber immer noch kein Land in Sicht

Aber immer noch kein Land in Sicht

(Gerhard Gundermann, 1990)

Nach einem ausgiebig genossenen Duschbad am Ende des erfolgreichen Arbeitstages hängt Graf Wilhelm Friedrich Karl Fels von Felsenstein seinen kobaltblauen Brioni-Anzug ordentlich zu den anderen im begehbaren Kleiderschrank seines Penthouses über den Dächern Berlins am Käthe Kollwitz Platz im Prenzlauer Berg. Er überlegt kurz und entscheidet sich spontan für einen Freizeit-Look von Ralph Lauren. Das rosa Poloshirt zu der cremefarbenen Chinohose, ein dunkles seidenes Halstuch und eines seiner leichten, marineblauen College-Sakkos, die alle auf der Brusttasche, aus der ein weinrotes Einstecktuch lugt, das uralte Wappen der Familie eingestickt bekommen haben und mit wirklich goldenen Knöpfen versehen sind. Tradition eben.

Der Graf betrachtet sich selbstverliebt im Spiegel. Preußisch adelig ist nicht nur sein Gardemaß von Einsneunzig, sondern auch seine immer noch tadellose Figur mit fast unsichtbarem Bauchansatz, der nicht nur von Disziplin beim Dinieren und mäßigem Genuss von Zigarren der Marke Cohiba zeugt, sondern viele andere männliche Wesen seines Alters, die ihm begegnen, automatisch auf ihre Plätze verweist. Wenn er dann mit seinen achtundfünfzig Jahren auch noch gemeinsam Arm in Arm mit der achtundzwanzig Jahre jüngeren Tita von Trapp, die er einfach nur Püppi nennt, denn Titti entspräche nicht seinem Stil, bei einem der obligatorischen Wohltätigkeitsbälle in Berlin auftaucht, beginnen die weißhaarigen Bauchbinden-Opas in ihren schwarzen Fräcken trocken zu schlucken. Einfach herrlich.

Fels von Felsenstein schwebt zurück in sein wohnzimmergroßes Bad und sprüht sich noch eine Ladung Paco Rabanne Invictus, den Duft der Sieger, in das frisch geföhnte und geschickt nachgefärbte, dunkelblonde volle Haar, das er seit ewigen Zeiten halblang im Popperstil trägt. Denn die Straffungsnarben hinter seinen Ohren werden durch diese Frisur perfekt versteckt. Er zieht den vergrößernden Rasierspiegel noch etwas näher zu sich heran, um die zahntechnische Meisterleistung seines strahlend weißen und perfekt geformten Gebisses zu bestaunen, das durch den Kontrast zu dem ganzjährig gebräunten Teint des Trägers dieses edlen Gesichtes noch besser zur Geltung kommt. Zur Gänze gesättigt vom Wunder der eigenen Erscheinung schreitet er zu dem hallenartigen Entrée der Maisonette-Dachwohnung. In seinem begehbaren Schuhschrank hält der Graf nach passender Fußbekleidung Ausschau. Er entscheidet sich für ein Paar auf Maß und von Hand genähte butterweiche Mokassins, die ihm in verschiedenen Farbnuancen zur Verfügung stehen und die man bequem mit und ohne seidene Socken tragen kann. Wie er nun so dasteht, so jugendlich schön und so wunderkindlich, und auf seinen schlanken beschuhten Fuß schaut, steigt in ihm die Vision einer an seinem großen Onkel nuckelnden Püppi auf und ein bekannt wohliges Kribbeln geht durch sein adeliges Membrum virile. Jetzt wird es aber höchste Zeit, um sich aufzumachen, in das sehr gut verdiente Wochenende!

Der Graf geht entschlossen zum Fahrstuhl, der direkt von seinem Penthouse zur Tiefgarage führt. Wenn sein Schlüssel in der Tastatur der Kabine steckt, kann kein anderer Hausbewohner zusteigen. Karl Fels von Felsenstein oder KFF, wie ihn die Mitarbeiter hinter vorgehaltener Hand nennen, muss kurz die vor Anstrengung leicht geröteten Augen zukneifen, bevor er in den nagelneuen 7er BMW steigt. Er will zügig vom tiefen Stellplatz in Berlin zum hohen Ufer seines Anwesens im Künstlerdorf Ahrenshoop mit freiem Blick auf die frühsommerlichen Ostseewellen.

Die A24 ist zu dieser nächtlichen Stunde ab dem Autobahnkreuz Hamburg leer und KFF kann jetzt davon ausgehen, bis zur Abfahrt Rostock auf der linken Spur mit einer angenehmen Reisegeschwindigkeit von 200 km/h durchzurauschen. Auch bei diesem Tempo ist im Wageninneren nicht viel mehr als ein seidiges Rauschen zu vernehmen. Er regelt die Klimaautomatik noch etwas kühler und tippt dann auf einen Knopf am Lenkrad. Unvermittelt dringt aus dem Bose-Soundsystem Beethovens Fünfte Symphonie. Dass diese allgemein auch als Schicksalssymphonie bekannt ist, sollte ihm zu denken geben. Doch dem müden Mann, der bei zu lauter Musik gegen einen drohenden Sekundenschlaf ankämpft, fällt jetzt nichts Besseres ein, als laut und falsch, aber aus Leibeskräften mitzusingen: »Tatatataa, tatatataa, tatatataaa ...« Eines der vielen Mecklenburger Wolfspaare beobachtet aus dem dichten Unterholz hinter einem Drahtzaun, der vor gefährlichem Wildwechsel schützen soll, den wie ferngesteuert in die Morgendämmerung dahinrasenden Wagen. Die Nebelschwaden über der Recknitz-Flussniederung lösen sich im wärmenden ersten Sonnenlicht auf.

Der Graf beschließt, ein knuspriges warmes Croissant zu einem Café Olé (wie man hierzulande sagt) in einer Ostgastraststätte einzunehmen. Er hält auf dem gähnend leeren Parkplatz, steigt aus und geht frohen Mutes zu der einladenden Drehtür des Restaurants. Blockiert. Er rüttelt ärgerlich daran und starrt durch die Glasscheiben zu der müden Dame, die in ihrem schmucken weißen Plaste-Kittel den ungeliebten Arbeitsalltag vorbereitet. Die üppige Frau in den sogenannten besten Jahren schüttelt ihren stabil gesprayten und rotsträhnig frisierten Schopfkopf in seine Richtung und deutet energisch auf ein Schild: 06:00 bis 22:00 Uhr. KFF wirft einen Blick auf die IWC-Portofino-Platinum, die an seinem Handgelenk leider erst 05:50 anzeigt! Wutentbrannt macht der so brüsk abgewiesene Mann kehrt und marschiert im annähernd preußischen Stechschritt zu seinem BMW. Er will sofort von dannen ziehen, zur freien Fahrt für freie Grafen, ohne Zeit- und Tempoeinschränkungen. Alsbald kommt die Bundesstraße 105 in Sicht. Er ist erleichtert und seine Müdigkeit wie weggeblasen. Der weiße VW-Bus, der sich aus der nächsten Nothaltebucht direkt hinter ihm einordnet, fällt ihm nicht weiter auf, denn er denkt jetzt nur an die Zukunft. Nach dem postkoitalen Tiefschlaf will er mit Püppi auf seiner tennisplatzgroßen Terrasse sitzen, einen frisch gepressten Orangensaft schlürfen und den freien Blick auf die sanften Ostseewellen und die braungebrannten Schenkel seiner zweiten stellvertretenden Pressesprecherin genießen. Die Vorstellung der nahenden Freuden macht ihn nicht nur ungeduldig, sondern lenkt ihn auch von diesem zu dicht auffahrenden Fahrzeug ab.

Die einzige Ampel weit und breit, die sich gerade jetzt in Betrieb setzen muss, löst in ihm einen wuchtigen Groll aus. Widerwillig stoppt er seine Luxus-Limousine. Weil er sich nur auf das widerliche Stopprotlicht konzentriert, sieht er im Innenspiegel nicht die beiden Männer in schwarzen Overalls aus dem Transporter steigen. Plötzlich wird seine Fahrertür aufgerissen. Die Stahlkugel am Ende der Spiralfeder eines Totschlägers trifft seinen Schädel auf den Punkt. Rasender Schmerz versetzt das aufgekratzte Bewusstsein in Dunkelheit und Fels von Felsenstein kippt nach vorn. Aus der klaffenden Wunde an seinem Kopf läuft Blut mit einem leichten Blaustich. Die Overall-Männer sind entsetzt.

»Raus mit dem Schwein, der versaut uns noch die Ledersitze.«

Taiminen, finnischer Schläger und gelernter Grundschullehrer, drückt sein Opfer brutal auf die andere Seite, um es möglichst schnell aus dem gepflegten Wageninneren an den Straßenrand zu befördern. Und Mussekin, arbeitsloser Rostocker Werftarbeiter und gelernter DDR-Bürger, öffnet die Beifahrertür, zerrt von der anderen Seite und binnen Sekunden liegt der Graf Fels von Felsenstein wie ein Blauer Sack in dem tiefen und morastigen Straßengraben. Taiminen klemmt sich hinter das Lederlenkrad des BMW und Mussekin sprintet zurück zum VW-Bus. Die Edelkarosse jagt mit durchdrehenden Reifen über die Kreuzung, gefolgt von dem Bus, und ehe sich ein anderes Auto nähern kann, verschwinden beide Fahrzeuge nach rechts in die Oberhäger Straße, die nach Vogsthagen ins tiefste Mecklenburg führt. Der bauchkompakte Taiminen und sein schlaksiger Passmann Mussekin freuen sich über den BMW, der ihnen wie gerufen ins Netz gegangen ist. Dieses Modell ist aus Estland bestellt worden. Genau in der Farbe und so wunderschön wie dieser anbrechende Frühsommertag!

Hans Lehner macht sich vor der Zufahrt zur Helios-Klinik am nördlichen Ortsrand des Künstlerdorfes und Kurortes Ahrenshoop an der schönen ostdeutschen See bereit für seine morgendlichen Laufübungen. Er lauert katzenartig im hoffnungsvoll strahlenden Lichte der frisch aufgegangenen Sonne vor dem strammstehenden roten Fußgänger-Ampelmännchen und wartet fünfminutenlang geduldig, dass dieses Männchen sich grün verfärbt und endlich losgeht. Denn er will auf der anderen Straßenseite mit den gemessenen Trabschritten eines Rekonvaleszenten dem kombinierten Radwanderweg in der Mitte des Deiches folgen und seinen Tag sportiv beginnen. Lehner hat etliche Kilo abgenommen und ist im Vergleich zu wenigen Wochen davor kaum wiederzuerkennen. Er trägt nicht mehr die halblange Mittelscheitel-Fönfrisur eines historischen Fernsehkommissars, sondern Bürstenhaarschnitt, und ist mit dem modernsten Jogging-Outfit seiner neuen Lieblingsmarke Puma ausgerüstet. Er hat sich ganz fest vorgenommen, nicht nur ein gesünderer, sondern auch ein erheblich besserer, kurz gesagt, ein Gutmensch zu werden.

Denn Hans fragt sich immer und immer wieder, wie es nur möglich war, durch einen so kurzen Dialog so komplett und total die Nerven zu verlieren:

»Was wollen Sie denn, Sie unrasierter, verwahrloster Stinker?«

»Wollen Sie sich nicht endlich vernünftige Teppiche kaufen?«

»Ich kaufe doch von einem rumänischen Zigeuner keine Teppiche an der Tür!«

An diesem Tag, vor gut neun Wochen, hatte er nur noch rotgesehen! Rot. Rot. Rot. Deshalb trommelte er unversehens mit beiden Fäusten gegen die nachbarschaftliche Tür. Der angestaute Frust und die neuesten Demütigungen im ungeliebten Polizeidienst hatten sich mir nichts dir nichts in eine rasende Aggression gegen die verschlossene Wohnungstür seiner Nachbarn über ihm verwandelt. Bamm, Bamm, Bamm! Aber die einbruchsichere Doppeltür, mit zusätzlicher Stahleinlage und drei Sperrriegeln, wollte nicht ohne weiteres nachgeben. Der herbeigerufene psychiatrische Notdienst hatte kurz darauf einen angeblichen Hauptkommissar, der sich weder beruhigen noch ausweisen wollte und heftigsten Widerstand leistete, in einer schicken weißen Zwangsjacke und nach einer intramuskulär verpassten Injektion Haloperidol in die Station G abtransportiert.

Der neue Hans trägt jetzt einen Schrittzähler an der Hüfte und einen Pulsfrequenzmesser am Handgelenk. Er ist leicht gebräunt und sieht nach seinem katastrophalen Nervenzusammenbruch in Folge eines lang verschleppten Burn-outs und dank naturtrüber Weizenbier-Abstinenz in der Psychiatrie tatsächlich besser aus. Hans überquert die Dorfstraße und springt mit unglaublich leichten Schritten die Steintreppe zum Deichweg hinauf, um sofort in den geplant lockeren Trab zu fallen.

Eine hennarot gelockte Frau mit, für ihr Alter, auffallend guter Figur, in schwarzen knallengen Radfahrer-Leggings und quittegelbem, formbetonendem Top kommt Lehner im Dreivierteltakt aufsetzender Stöcke, die eher an Wintersport erinnern, entgegen.

»Guten Morgen, Herr Lehner. Zehntausend Schritte im Nördlichen Gehen sind absolviert. Das macht satte fünf Kilometer. Da wird mir aber heute die Scheibe Vollkornbrot mit halber Tomate am Feldsalatblatt und einem hartgekochten Bio-Ei besonders gut schmecken.«

»Liebe Frau Schmidt-Schiller, Sie sind doch jetzt schon so schön schlank und sehen aus wie ... fünfundzwanzig.«

»Zweiundfünfzig, lieber Herr Lehner, aber in einen Walking-Dress Größe 38 gequetscht.«

»Ich habe die fünf Kilometer noch vor mir, aber wir sehen uns spätestens bei den Anwendungen.«

»Sie hatten mir versprochen, dass wir gemeinsam in die Pilze gehen! Nicht vergessen! Der Sommersteinpilz ist schon da.«

»Ich werde Sie in einen Zauberwald entführen, meine Liebe, wie der Hänsel seine Gretel, die genauso wenig zu beißen hatten wie wir, laut dem bescheuerten Diätplan hier.«

Lehner setzt sich wie ein Bajazzo lachend in Bewegung. Die schöne Dame schwebt wie eine exotischbunte Feder die Treppe hinunter zur Fußgänger-Ampel und blickt sich kurz zu dem davonlaufenden Berliner Charmeur um. Der könnte ihr gefallen. Der Mann hat das gewisse Etwas. Aber aus leidvoller Erfahrung weiß sie nur zu gut, dass Stiesel in diesem Alter meist eher den jungen Dingern hinterher glotzen.

Taiminen lenkt den geklauten BMW vor eine Einfahrt, die mit einem martialisch wirkenden Holztor versperrt ist. Rechts und links prangen vier Meter hohe Pfosten aus Eichenstämmen, die mit von der Sonne gebleichten Eberschädeln auf ihren Spitzen gekrönt sind. Die beiden Torflügel sind mit schweren eisernen Hängen an den Pfosten befestigt. Überraschenderweise öffnet sich das optisch der Slawenzeit entsprungene Tor automatisch und gibt den Blick auf eine gigantische Scheunenruine frei. Der Wagen fährt geradewegs darauf zu. Die Scheune ist innen komplett mit Kopfsteinen gepflastert, gut neunzig Meter lang und etwa dreißig Meter breit, aber nur zur Hälfte überdacht. Wie eine halb geöffnete Sprottendose steht das Resthof-Gebäude da, als sei es die vergessene Kulisse eines DDR-Kriegsfilmes. Der BMW hält in der überdachten Ecke des Platzes neben drei anderen Limousinen. Mussekin fährt den Bus auf die andere Seite der Ruine. Er steigt aus und öffnet eine schwere eichene Pforte, die den Blick auf eine weite Koppel mit schwarzgrauen Schweinen freigibt. Die Fläche ist derart zerwühlt, dass die vormalige Wiese einer Mondlandschaft gleicht. Neben der Pforte lehnt sich ein mit Biberschwänzen gedecktes Natursteinhaus an die Mauerreste der Scheune. Davor sitzt Meister Popper, der auch unter dem bürgerlichen Namen Drillich in der Gegend hier bekannt ist, in seinem Hot Tub. Ein holländischer Badezuber mit integriertem Holzofen für bis zu vier Personen, aus dessen Rohr der weiße Rauch des gut getrockneten Buchenholzes in die morgendlich klare Luft des Mecklenburger Landes quillt. Romantisch schön.

»Wir haben genau das richtige Siebener BMW-Modell geschnappt, das auf der Liste noch fehlte. Der Wagen kam wie bestellt von der Autobahn und steht jetzt neben den anderen. Die Fuhre ist komplett und bereit für den Abtransport.«

Meister Popper ist ein drei Zentner schwerer Catchertyp, der von ganzem Herzen gerne Schweine züchtet. Er starrt den Mann, der ohne Gruß vor ihn hingetreten ist, nachdenklich an. Die vollen Lippen unter den kleinen Augen mit dem stechenden Blick geben dem rasierten Wikingerschädel etwas Sinnliches.

»Morgen?«

»Nein, am besten heute noch.«

45-Zentimeter-Oberarme spannen sich auf dem Badezuberrand und Mussekin dämmert ein richtiges Morgen gerade noch rechtzeitig.

»Guten Morgen, Meister Popper!«

Fels von Felsenstein stemmt sich mit allerletzter Kraft hoch. Dabei rutscht die Brieftasche mit Papieren aus der Innentasche seines Sakkos und versinkt langsam im schlammigen Boden des feuchten Grabens, der beinahe zum gräflichen Grab geworden ist. Er torkelt am Straßenrand in Richtung Norden. Ein heranfahrendes Auto weicht ohne Bremsung nur haarscharf aus. Die Fahrerin macht mit der flachen rechten Hand eine kreisende Bewegung vor ihrer Stirn.

»Dass diese Leute hier im Osten bis zum Gehtnichtmehr saufen, ist doch wirklich mehr als ekelhaft. Aber die schöne, diese wunderschöne Landschaft, die ist immer noch eine Reise wert, oder Muckelhase?«

Der müde Beifahrer nickt zustimmend, ohne etwas gesehen oder gehört zu haben, denn der Muckelhase ist ein langjährig resignierter Gewohnheitszuhörer seiner Quasselstrippe.

»Und man hat ja auch im Urlaub mit diesen Ostmenschen sonst nicht viel zu tun. Die machen sauber, wenn man am Meer ist, und halten die Tür auf, wenn man dann später vom Strand ins Hotel zurückkehrt. Und am Abend stellen die einem das Essen auf den Tisch. Das war es auch schon mit direktem Kontakt und ...« … so weiter, armer Muckelhase.

Felsenstein läuft wie ferngesteuert im Zickzack am äußersten Rand der Bundesstraße 105 in den langsam stärker werdenden Berufsverkehr.

Meister Popper wickelt sich betont langsam und umständlich ein schneeweißes Frottee-Badehandtuch um den gewaltigen, aber muskulösen Bauch. So langsam, dass seinem Gegenüber genügend Zeit bleibt, das imposante Gemächte des Riesen zu betrachten. Mit dem glänzend polierten Schädel wirkt er wie ein Catcher alter Schule und deshalb nennen ihn auch alle Spießgesellen seit jeher Meister Popper, in Anlehnung an einen Werbespot aus dem alten Westfernsehen, das man hier mit haushoch gebauten Antennen über vier Jahrzehnte kristallklar empfangen konnte. Das kollektive Sehnsuchtsziel war Westfernweh zum Sehen und so glänzend sauber, dass man sich drin spiegeln konnte. Meister Popper richtet sich bedrohlich zur vollen Größe auf.

»Habt Ihr den Fahrer etwa liegen lassen? An der 105? Ist das letzte Bisschen, das von Eurem Spatzenverstand noch übrig war, bei dieser Aktion auch noch verloren gegangen?«

»Wir haben ihn in den Graben geworfen und sind dann sofort abgehauen. Der war doch sowieso fix und fertig und so satt, dass der von uns sicher nichts mehr mitbekommen hat.«

»Aber ich bekomme den ganzen Ärger an die Backe, weil ich den Wagen von dem Heini verkaufen will? Ihr nehmt den Bus und holt die Type her! Aber hurtig! Die Schweine haben Hunger auf Frühstückchen und weg ist der, kapiert?!«

Der blutüberströmte BMW-Fahrer hat es schon fünfhundert Meter weiter über die Abzweigung nach Vogtshagen hinaus geschafft, als der VW-Bus mit Taiminen und Mussekin den Grafen einholt.

»Das ist aber ein zähes Bürschchen. Ich hätte gedacht, dem wäre längst der graue Brei aus dem Eierkopf gelaufen.«

Mussekin entspringt dem Bus und packt den Schwerverletzten, drückt ihn durch die seitliche Schiebetür ins Wageninnere, schließt die Klinke und steigt wieder vorn in den Wagen. Der unauffällige weiße VW fährt anscheinend unbeobachtet weiter.

Unbeobachtet? Wo doch die gewohnte morgendliche Geschäftigkeit selbst in dieser Ecke des Landes schon eingesetzt hat? Von wegen. Franz Eckholm steht schon seit etwas mehr als einer geschlagenen Viertelstunde mit der Teetasse in der Hand in seinem Wintergarten am Fenster und dreht sich jetzt sehr langsam um. Er hat genug gesehen. Das Telefontischchen mit der blauen Zierdecke unter dem grauen Apparat kommt in Reichweite seines Armes und Eckholm nimmt den Hörer ab. Äußerst bedächtig wählt er den Polizeiruf 110. Seine Lieblingsserie übrigens, bei der Franz Eckholm auch nie langweilig wird. Denn er sieht sich nur und ausschließlich alle Wiederholungen der Sendungen von 1971 bis 1989 an. Wobei die 85 Folgen mit Peter Fuchs, der im Laufe der Jahre vom OL (Oberleutnant) zum HM (Hauptmann) und schließlich zum KHK (Kriminalhauptkommissar) befördert wird, zu Eckholms stabilem seelischen DDR-Gleichgewicht wesentlich beitragen. Aber jetzt sollte man mal schauen, was sich ein anderer voll brennenden Interesses gerade ansieht.

Meister Popper inspiziert das zuckende Menschenbündel genauer, während Graf KFF noch versucht, eine wichtige, aber geröchelte letzte Äußerung hervorzustoßen.

»Fell...schein.«

Seine Kraft reicht dann leider doch nicht für mehr aus und er rührt sich nicht weiter. Dieses völlig verzweifelte letzte Aufbäumen gegen die Bewusstlosigkeit zeugt vom eisernen Willen des Opfers. Wer läuft schon mit eingeschlagenem Schädel an der Bundesstraße 105 entlang? Und das wiederum hebt die Stimmung des Meisters und entfacht im hintersten Winkel seines seit Jahrzehnten gründlich verrohten Gemütes sowas wie eine bunte Mischung aus irrsinniger Experimentierfreude, ein ganz klein wenig Mitleid und eine Ostseewoge sadistischer Erregung.

»Da werde ich einfach mal versuchen, diesen Kerl zu verarzten. Meine Schweine können ihn ja später auch in tot fressen, sollte mein Eingriff nicht geklappt haben. Also, packen wir es an!«

Mussekin grinst.

»Wenn der auch noch Deine Behandlung übersteht, Meister Popper, dann sollten wir ihn vielleicht besser an den FSB verkaufen. Die Genossen haben doch immer Interesse an solchen Phänomenen.«

Popper überhört diese idiotische Bemerkung, denn er ist von einem ungewohnten kurativen Eifer gepackt.

»Zieht dem die blutigen Klamotten aus und verbrennt den Mist. Dann tragt ihn in die Schlachtküche und legt ihn dort auf den großen Stahltisch in der Zerteilstrecke. Ich hole derweil den Veterinär-Kasten aus dem Schweinestall.«

Lehner läuft ausdauernd und im schon gewohnten Trab auf sein Ziel zu, den Parkplatz Drei Eichen, als sein Handy in einer erstaunlich guten Tonqualität den bekannten Gassenhauer über die Berliner Luft anstimmt. Das Hinweisschild der Eichen kann Lehner schon sehen, aber auch die Berliner Telefonnummer auf seinem Display. Ärgerlich schaltet er auf Freisprechen.

»Welche Berliner Kanalratte stört mich? ... Entschuldigung, welcher Berliner Kriminalrat! Was kann ich für Dich tun?«

Lehner bleibt widerwillig stehen und schaut missmutig auf seinen Pulsfrequenzmesser.

»Bei mir in der Nähe? ... Vogtshagen? Kenne ich nicht. Du weißt aber, dass ich hier zur Reha bin? ... Ich soll einen Zweiundneunzigjährigen befragen, bei dem die Kollegen nicht weiterkommen, nur weil ich doch hier ... ... SCHON SEIT SECHS WOCHEN RUMHÄNGE UND DURCH MEINE STÄNDIGEN KNEIPENBESUCHE DIESE KOMISCHE MENTALITÄT DER EINHEIMISCHEN SICHER BESONDERS GUT KENNE UND VOR ZWANZIG JAHREN JA SCHON MAL HIER WAR??!!«

Lehner ist außer sich vor aufkommendem Ärger und prompt meldet sich der Alarm des Frequenz-Messgerätes an seinem Handgelenk.

»Eins, zwei, drei, keine Keilerei. Ich bin ruhig, der Wald ist ruhig und still ruht die Ostsee, kein Wind geht und das Wetter ist schön ... Name, Anschrift und Telefonnummer bitte per SMS. Ich kümmere mich heute nach den Anwendungen darum, lieber Herr Kollege und Kriminalrat Potscheid.«

Der kranke Kommissar verstaut das Kommunikationsgerät in der Klettverschluss-Schlaufe an seiner Hüfte und starrt versonnen in den Darßer Märchenwald.

»Klack, klack, klack!«

Lehner zuckt schockiert zusammen und kann es für einen Moment nicht fassen. Klack, Klack, Klack? Das hatte genervt. Und wie Lehner das genervt hatte! Als er seine Wohnung damals kaufte, da war ja oben noch niemand. Nicht einmal die Wäsche wurde zu dieser Zeit auf dem Dachboden zum Trocknen aufgehängt. Nur die Brüder Tiriak, die ihm zu der Zeit alle Wände tapezierten, den Deckenstuck restaurierten und alle Holztüren abbeizten, die hatten da oben in ihren Schlafsäcken gepennt. Aber der ehrgeizige Inspektor, dessen Großvater noch Lehnescu hieß, verordnete immer um Punkt zweiundzwanzig Uhr Feierabend. Und Ruhe war! Muxmäuschenstill! Allerdings hatten die da oben gequalmt wie die Verrückten. Ansonsten waren beide Tiriaks pflegeleicht, anspruchslos und äußerst billig. Für fünf Mark cash Kralle hatte er eine spitzenmäßige Handwerksarbeit und noch freudestrahlende Gesichter obendrein bekommen. Ja, das waren noch Zeiten. Und niemand wäre im Traum auf die Idee gekommen, dass die geschmackvolle neue Wohnungseinrichtung erst komplett geklaut und anschließend von einem rumänischen LKW direkt in seine Hände gefallen war. Herrlich leben und sparen! Aber dann? Im Rahmen des Dachausbaus wurde ein Parkettboden über seiner Wohnung gelegt. Eine aufgetakelte Schabracke namens von Lewinski mit ihrem Männe, der halben Portion, hatte die Bude dann als Geldanlage gekauft. Als Unterwohnungseigentümer der ersten Stunde musste er nun ärgerlicherweise zur Kenntnis nehmen, dass diese neuen Oberwohnungseigentümer keine schalldämpfenden Teppiche in ihrer Behausung haben wollten. Und diese blöde Kuh zog in ihrer Wohnung nicht ihre Gucci-Schuhe aus. Wenn die westdeutsche Wagner-Walküre zwischendurch mal in Berlin die Oper besuchen wollte und zu diesem Zweck in ihrem, wie sie so überaus ekelhaft und hochtrabend sagte, eigenen Penthouse abstieg, dann hört er das Klack, Klack, Klack! Das nervte jedes Mal! Meinte die denn allen Ernstes, sie müsse in High Heels durch die Wohnung stöckeln!? Um Männe scharf auf den dicken Arsch seiner ehemaligen Schickse zu machen!? Klack, Klack, Klack! Sollte er etwa wieder mal erfolglos mit dem Besenstiel gegen die Decke kloppen!? Besser raus, nach oben und Sturm klingeln! Aufmachen, Polizei ...!

Klack? Er lauscht intensiver.

»Tack, tack, tack!«

Sein Blick wandert irritiert aufwärts und bleibt beruhigt am Stamm einer gigantischen alten Buche haften. Ein Schwarzspecht betreibt unbekümmert sein Tagwerk. Das Gefieder leuchtet in den schräg einfallenden Sonnenstrahlen und ein leichter Wind lässt die Blätter des Baumes leise rascheln. Lehner fällt nun auch der Chor der vielen anderen zwitschernden Vögel dieses Waldes auf. Nur die Ruhe und alles wird gut, denkt er sich, genau wie die Ärzte es ihm geraten haben.

Popper, in grünem landwirtschaftlichem Chirurgen-Kittel, ist über den Tisch gebeugt und reinigt mit einem in Jod getauchten Wattebausch das blutige Loch, das er vorher schön sauber freirasiert hat. Er nimmt die kurze Nadel mit der Angel-Sehne und beginnt die Wunde mit groben Stichen zuzunähen. Der vorher so schmale edle Eierkopf des Grafen KFF ist jetzt erheblich durch die seitliche Schwellung deformiert und der vorher gepflegte Haarschnitt ähnelt einer halbierten Punk-Frisur. Doktor med. vet. Popper greift eine Ampulle und hält sie gegen das Licht.

»Wenn ich dieses Antibiotikum einem meiner Schweine verpasse, ist nach drei Tagen Schluss mit allen Infektionen. Bei diesem Leichtgewicht hier reicht wahrscheinlich die halbe Dosis.«

Staunend betrachten Mussekin und Taiminen das Wirken ihres wie durch ein Wunder so plötzlich approbierten und promovierten Meisters, der gekonnt die Hälfte der Ampulle auf die Spritze zieht, kurz die überschüssige Luft aus der Nadel drückt und dann entschlossen eine intramuskuläre Injektion in die linke adelige Arschbacke setzt.

»Im letzten Spätsommer, als die Sauen rauschig waren, da hatte sich eine von denen am Sperrgitter den Schädel aufgerissen. Die habe ich auch prima verarztet und sie hat später noch schön geferkelt, auch wenn ich die jetzt nicht mehr auf die Mecklenburgische Landwirtschaftsausstellung nach Mühlengeez geben kann. Aus dem Patienten hier wird auch kein Model mehr werden. Aber vielleicht noch so etwas wie das Monster von diesem ... wie hieß der noch?«

Von beiden Zuschauern kommt die Antwort wie aus einem Munde: »Frankenstein!«

Ein Hauch von Vokalen hallt aus dem komatösen Patienten nach. »Fe...se...ein.«

Taiminen glaubt sogar, etwas Wichtiges verstanden zu haben: »Fernsehen ein?«

Der neue Doktor ist von seinem großen Können selbst ergriffen und ehrlich entzückt. Jede weitere inhaltliche Interpretation dieser ersten Äußerung seines Patienten nach einem gelungenen Eingriff interessiert ihn jetzt nicht. Für ihn ist nur eines wichtig:

»Es kann sprechen!«

Die uralte Schiffsglocke am Eingang ruft und Franz Eckholm schlurft in seinen ausgelatschten Filzpantinen zur Haustür.

»Hauptkommissar Lehner aus Berlin. Herr Eckholm?«

»Ja.«

»Darf ich reinkommen?«

»Ja.«

Hans Lehner marschiert zielstrebig in den mit Sicht auf die Bundesstraße ausgerichteten Wintergarten.

»Herr Eckholm, was genau haben Sie heute Morgen beobachtet?«

»Ist alles schon ausgesagt.«

»Können wir uns nicht setzen?«

»Wo?«

»Na hier, auf die Eckbank.«

»Ist kaputt.«

»Dann bleiben wir eben stehen. Erzählen Sie mir bitte alles noch einmal. Bitte.«

»Was?«

»Herr Eckbank, äh ... Eckholm. Bitte!«

»Frühstück ist bei mir immer um Fünf. Dann kommt die Ostsee-Zeitung. Die lese ich mit dem ersten Rundstück und ...«

»So früh?«

»Ja ...!«

»Entschuldigung, Herr ... Eckholm, ich wollte Sie nicht unterbrechen.«

»Halbe Stunde, dann noch einen Tee hier im Wintergarten. Die Ampel wird um dreiviertel Sechs eingeschaltet.«

»Viertel vor Sechs also.«

»Dreiviertel Sechs.«

»Also gut, dreiviertel Sechs.«

»Manche fahren trotzdem drüber. Dieser Wagen aber nicht. Der bleibt stehen und direkt dahinter kommt ein weißer VW-Bus angerauscht. Zwei Gestalten springen raus, hauen dem Fahrer auf den Kopf, zerren ihn zum Straßengraben und fahren einfach mit beiden Autos weg. Ich trinke meinen Tee zu Ende, da taucht der Fahrer aus dem Graben wieder auf und geht zu Fuß weiter, als hätte er eine Flasche Kümmel intus. Hinter der Ampel wird der fast überfahren, weil er ja im Zickzack an der Straße langläuft. Dann kommt derselbe Lieferwagen wieder zurück und hält. Dieselben Gestalten wie vorher. Einer springt raus, packt den Mann und wirft ihn in den Laderaum. Klappe zu, Affe tot und ab geht die Post.«

»Dann haben Sie die Wache angerufen.«

»Punkt Sechs, weil danach ist ja Frühstücksfernsehen.«

»Das gibt es noch?«

»Ja, aber jetzt zu Westzeiten ohne Gymnastik-Übungen. Die mache ich trotzdem. Schau zu, mach mit. Weil, die kenne ich ja alle noch auswendig.«

Franz Eckholm beginnt mit einem vorbildlich durchgedrückten Kreuz, Kniebeugen vorzuführen. Lehner ist ehrlich beeindruckt.

»Zweiundneunzig?«

»Im Mai geworden. Am ersten. Das ist für mich ja immer ein doppeltes Fest. Zum Beispiel Neunzehnhundertfünfundsiebzig. Das war ja erst mein fünfzigster Geburtstag, aber dass die Genossen aus Damgarten den Egon Krenz extra zu mir geschickt haben, das war schon ein Ereignis und ...«

»Sie haben aber noch ein sehr gutes Zahlengedächtnis.«

»Ja ...!«

»Entschuldigung, ich habe Sie schon wieder unterbrochen. Hat Sie eigentlich einer meiner Kollegen nach dem Kennzeichen des gestohlenen Wagens gefragt?«

»Nein.«

»Haben Sie sich vielleicht etwas merken können?«

»Ja.«

»Darf ich mir das bitte mal aufschreiben?«

»Ja.«

»Und ...?«

»B, für Berlin, FF 777 und der ...«

»Entschuldigung, dass ich Sie schon wieder unterbreche, aber den genauen Wagentyp können Sie wohl nicht erinnern?«

»Was soll das heißen? Wen soll ich woran erinnern?«