Endlich abgedreht! - Günter Klebingat - E-Book

Endlich abgedreht! E-Book

Günter Klebingat

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Beschreibung

Ralf Krupsch ist Oberstudienrat, mit Rita verheiratet, Vater eines Gymnasiasten und stolzer Hausbesitzer. Was will er mehr? Noch weiß er es nicht. Aber eines Tages flattert ihm ein Zettel und im Anschluss ein ganzes Filmteam ins Haus. Es wird gedreht und sein Alltag ist nicht mehr wie zuvor... Was passiert, wenn eine ahnungslose Familie im Strudel von Film-Dreharbeiten untergeht? Wer sind die Verantwortlichen für das dabei produzierte, tödlich langweilige TV-Programm? Wohin verschwinden die Abermillionen aller abgabegezwungenen deutschen GEZ-Gebührenzahler?

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2. Auflage Oktober 2017

Copyright © 2017 by Ebozon Verlag

ein Unternehmen der CONDURIS UG (haftungsbeschränkt)

www.ebozon-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung: media designer 24

Coverfoto:Andrea Kurschus

Herausgeber: Lektorat Andrea Kurschus

Layout/Satz/Konvertierung: Ebozon Verlag

ISBN 978-3-95963-465-6 (PDF)

ISBN 978-3-95963-463-2 (ePUB)

ISBN 978-3-95963-464-9 (Mobipocket)

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors/Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Veröffentlichung, Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil oder strafrechtlich verfolgt werden.

Das Buch

Ralf Krupsch ist Oberstudienrat, mit Rita verheiratet, Vater eines Gymnasiasten und stolzer Hausbesitzer. Was will er mehr? Noch weiß er es nicht. Aber eines Tages flattert ihm ein Zettel und im Anschluss ein ganzes Filmteam ins Haus. Es wird gedreht und sein Alltag ist nicht mehr wie zuvor…

Waspassiert, wenn eine ahnungslose Familie im Strudel von Film-Dreharbeiten untergeht?

Wersind die Verantwortlichen für das dabei produzierte, tödlich langweilige TV-Programm?

Wohinverschwinden die Abermillionen aller abgabegezwungenen deutschen GEZ-Gebührenzahler?

Der Autor

Günter Klebingat arbeitete von 1981 bis 2008 als Aufnahme- und Produktionsleiter für deutsche Fernsehproduktionen öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten im In- und Ausland. Parallel baute er zusammen mit seiner Frau nach dem Mauerfall in der ehemaligen DDR einen Landwirtschaftsbetrieb auf, der 2012 - ausgezeichnet in der regional-touristischen Vermarktung an der Ostsee etabliert - erfolgreich verkauft wurde. Mit der Auswanderung im selben Jahr siedelten sich die Ehepartner als „landwirtschaftliche Wiedereinrichter im EU-Ausland“ auf den kanarischen Inseln an und bewirtschaften seitdem eine klassische kleine Bergbauern-Finca in Selbstversorgung.

Günter Klebingat

Endlich

abgedreht!

Ein satirischer Roman

Ebozon Verlag

Alle hier beschriebenen Personen

sowie alle Begebenheiten und Orte

sind selbstredend frei erfunden.

Die Namen der handelnden Personen

sind willkürlich gewählt.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen

oder deren Vorfahren

sind rein zufällig und unbeabsichtigt,

ebenso deren Ähnlichkeit mit Fischen.

Kein Tier kommt zu Schaden,

kein Lebewesen wird verletzt, gequält oder getötet.

Günter Klebingat

Puntagorda

STAB- & BESETZUNGSLISTE

ENDLICH ABGEDREHT!

(6. Fassung)

90-Minuten/16mm/TV

für: Unser Osten, Leibniz

STAB:

Produktion:

Elegant Film- und Fernsehproduktionsgesellschaft mbH, Leibniz

Buch:

Günter Klebingat und Dietrich Dietrichsen

Redaktion:

Paul Anders

Produzent:

Heinz Heiner Bonert

Geschäftsführung:

Leif Lund

Producer:

Jon Schmuse

Herstellungsleitung:

Michael Kitt

Produktionsleitung:

Aaron Aumann

Produktionssekretariat:

Kirsten Seitenast

Aufnahmeleitung:

Michael Mücke

Regie:

Hans Jochen Mieß

Regieassistenz:

Matti Hantelmann

Kamera:

Charly Brügge

Licht:

Neffe, Rainer, Gregor

Ton:

Andreas Leihmann, Detlef Tanner

Ausstattung:

Reinhard Meyer

Requisite:

Henry Koburski

Baubühne:

Kall, Bernte, Hans, Hassan

Kostüm:

Wencke Joppe

Maske:

Unser Udo, Chrissi Wagner

Schnitt:

Juliane Birnstamm, Andrea Kurschus

Pressearbeit:

Elena Orlosska

Standfotos:

Jost Vulkanon

Technik:

Cintec, Martin Albers

BESETZUNG:

Obermeier:

Ralf Krupsch

Herr Lehmann:

Mario del Monte

Frau Lehmann:

Iris Behrenfeld

in weiteren Rollen:

Rita Krupsch

Robert Krupsch

Anton Schmidtkowski

Eleonore Bach

Georg Götze

Wolfram Schulte

Jacob Blauberg

Frank Herzthal

Martha Lösch

Fernando Mbangotubila

Wladimir Medinow

Zivko Zamic

Lionel Randman

Chiel de Bure

Kevin Umland

Carmen Lieblich

Marcus Lächelmann

Bill Wilson

Ed Briggis

John King

Leo Zahl

John Don Long

Wung Lee

Taktak

u.v.a.

Es war ein Zettel, der unter unserer Haustür durchgeschoben wurde. Mit dem fing alles an:

»Die Elegant Film- und Fernsehproduktionsgesellschaft sucht für eine neue Serie das Hauptmotiv. Wir haben Ihr Haus ausgewählt. Um einen Besichtigungstermin zu vereinbaren, werden wir uns in den nächsten Tagen bei Ihnen melden.«

So, so, dachte ich und vergaß das Briefchen. Im Flur auf unserem kleinen Schuhschrank fand es später mein Sohn Robert.

Hätte ich den Zettel sofort weggeworfen, dann wären mir viele Erfahrungen entgangen und auch erspart geblieben. Mein Leben wäre nicht derartig aus der Bahn geraten, wie ich es mir zu jenem Zeitpunkt nicht in den kühnsten Träumen hätte vorstellen können.

Ich bin Gymnasiallehrer. Anfang Fünfzig. Sehe aber deutlich jünger aus! Ich bin Einsachtzig groß und leider zweiundneunzig Kilo schwer. Mit meiner bisherigen Lebensleistung bin ich sehr zufrieden und kleide mich gern in englischen Kombinationen. Um nicht noch weiter zuzunehmen, fahre ich Rad. Meine Frau Rita hat mir davon abgeraten, einen Bart wachsen zu lassen. Das Argument, der Bart würde mich älter erscheinen lassen als ich bin, hat mich letztendlich überzeugt. Bei meinem Sohn ist es genau umgekehrt. Robert ist Vollbartträger und will unbedingt älter wirken. Und er ist ein echter TV-Junkie. Zu meinem Bedauern kommt auch noch das Internetfernsehen hinzu. Da weiß man nicht mehr, ob er für die Schule arbeitet, auf YouTube Videos guckt oder sich die neueste Scripted Dokusoap auf seinem Multimediacomputer reinzieht.

Beim Abendessen zaubert er – Überraschung! – das Stück Papier aus der Tiefe seiner Hosentasche und liest es seiner Mutter vor. Rita ist begeistert.

Meine Frau ist ja immer so schnell zu begeistern, wenn es um ihren lieben Sohn geht.

»Das ist doch unheimlich wichtig für den Jungen, so eine Erfahrung zu machen! Du willst doch auch, dass er seine künstlerischen Talente entwickeln kann. Wann hat er solch eine Chance denn noch einmal?«

Robert tutet in dasselbe Horn: »Genau. Rita hat absolut recht. Vielleicht will ich ja zum Fernsehen. Als Schauspieler, oder so. Ist doch wahnsinnig spannend, mal live zu sehen, wie ein Film gedreht wird. Voll fett, so die Schauspieler hier zu haben. Da sieht man auch, wie die privat sind, oder so.«

Jetzt kennt Ritas Begeisterung keine Grenzen mehr. Ich wollte, sie wäre mal wieder von mir so begeistert. Ohne diese Harry-und-Sally-Vorführung.

»Ralf, das Fernsehen gehört doch heutzutage zum Kulturgut. Und dann auch noch bei uns, in unserem Haus! Die Chance müssen wir einfach nutzen. So etwas passiert doch echt selten. Ich kenne niemanden, bei dem zu Hause schon einmal ein Film gedreht worden wäre. Das liest man sonst nur in der Zeitung. Wenn in einem Schloss oder in einem Museum gedreht wird, erscheinen manchmal Artikel über die Filmaufnahmen. Und jetzt wollen die zu uns kommen, um in unserem Haus zu drehen. Wahnsinn – ich glaube es kaum!«

Ich bin tolerant und aufgeklärt. Sagen wir: ein Kumpeltyp als Vater, weshalb Robert nicht Papa sagt, sondern einfach: Ralf. Ich fühle mich wohl in meiner Haut. Jedenfalls weitestgehend.

Also ganz der Allesversteher: »Ok, überredet. Wir lassen die Besichtigung erst einmal zu. Ob dann überhaupt bei uns gedreht wird, ist ja gar nicht sicher. Die haben bestimmt noch viele andere Häuser zur Auswahl.«

Und so nimmt das Schicksal seinen Lauf. Zwei Tage später meldet sich ein sogenannter Aufnahmeleiter. Michael Mücke ist die Liebenswürdigkeit in Person. Sein Charme tropft durch das Telefon.

»Das ist ja nur ein erster Termin, völlig unverbindlich. Ich schaue mir alles an und mache ein paar Fotos, so wie Sie es mir genehmigen. Alle Fotos in Absprache und nie, niemals ohne zu fragen.«

Wie angekündigt steht er um Punkt Elf am nächsten Tag vor der Tür.

Rita bittet ihn herein. Er ist zuvorkommend und charmant. Ein schlanker Tanzlehrertyp, dessen Collegesakko perfekt sitzt und gut zu seinen Bluejeans passt. Ein junger Mann, dem man auch gerne das neue Auto mit diesem einmaligen Sonderrabatt abkaufen möchte.

»Ihr Haus ist unter hunderten ausgewählt worden und wirklich ganz etwas Besonderes. Es ist immer sehr schwer, in der Realität das zu entdecken, was in einem Drehbuch beschrieben wird. Oft vergehen Monate, bis die richtige Location für ein Hauptmotiv gefunden wird.«

Natürlich ist Rita sehr angetan. Auserwählt.

»Schauen Sie sich alles in Ruhe an, Herr Mücke. Darf ich Ihnen etwas anbieten, einen Kaffee vielleicht?«

Michael Mücke hat seinen Scanner-Blick aufgesetzt und macht sich eifrig Notizen.

»Das ist ausgesprochen nett von Ihnen. Über einen Kaffee würde ich mich sehr freuen, aber nur, wenn es Ihnen keine Umstände bereitet.«

Rita eilt dienstbeflissen in die Küche. Mücke wirft einen Blick in alle Zimmer und schaut sich dann den Garten an. Auf der Terrasse serviert Rita den Kaffee und sie nehmen gemeinsam Platz.

»Dass hier eine glückliche Familie lebt, merkt man sofort an der ganzen Ausstrahlung Ihres Heimes. Diese geschmackvolle und auch sehr liebevolle Einrichtung besticht mit jedem Detail.«

Rita lächelt geschmeichelt.

»Wir haben uns mit der Renovierung viel Mühe gegeben und bei der Einrichtung alles aufeinander abgestimmt.«

Mücke nippt an der Kaffeetasse.

»Eine gelungene Mischung aus Antik und Modern. Es sieht alles fantastisch aus. Sind Sie Innenarchitektin?«

Rita errötet leicht.

»Nein, ich habe bloß ein paar Semester Kunstgeschichte studiert, bin aber nach Roberts Geburt zu Hause geblieben. Es war halt die traditionelle Aufgabenteilung in einer Ehe: der Mann geht arbeiten und die Frau kümmert sich um Kind und Heim. Dadurch hab ich leider den beruflichen Anschluss verloren. Robert ist jetzt siebzehn. Der wird bald seiner eigenen Wege gehen, spätestens nach dem Abitur. Wissen Sie, er träumt von einer Filmkarriere.«

Um ein Haar hätte Rita gefragt, ob Mücke etwas für Robert tun könnte.

Aber der kennt diese Geschichten bereits zur Genüge und kommt ihr zuvor. Er beugt sich gekonnt vertraulich zu seinem Opfer.

»Unter uns gesagt: bei Ihrer Begabung für Ausstattung werden wir mit Sicherheit Ihren Rat einholen, sollten wir hier drehen. Und vielleicht kann ihr Sohn erst einmal als Kleindarsteller mitwirken. Aber ich will ehrlich sein – wir müssen noch mindestens zwei weitere Häuser besichtigen. Hans Jochen Mieß, der Regisseur, will generell aus drei Möglichkeiten wählen können. Das macht er bei jedem Motiv so und manchmal sogar bei den Rollen. Da lässt der für jede Rolle drei Darsteller vorsprechen und entscheidet sich erst danach.«

Mücke wird verschwörerisch.

»Wenn es nur nach mir ginge, wäre der Fall klar, liebe Frau Krupsch. Aber so oder so müssen wir noch einen großen Besichtigungstermin mit den wichtigsten Köpfen des Teams vereinbaren. Erst danach ist eine endgültige Entscheidung möglich. Aber glauben Sie mir: ich bin von Ihrem Haus überzeugt und ich drücke beide Daumen, dass die anderen im Team es genauso sehen.«

Als ich von der Schule nach Hause komme, ist Rita völlig von der Rolle.

»Die kommen am Freitag nochmal, am frühen Nachmittag, mit großer Besetzung! Dann bist Du ja schon wieder zu Hause und Robert auch und wir können den Filmleuten alles gemeinsam zeigen. Stell Dir vor: wir sind in der engeren Wahl! Herr Mücke sagte aber, dass noch zwei weitere Häuser besichtigt werden müssen, weil der Regisseur immer Alternativen sehen will.«

Ich ziehe mir die neuen, furchtbar engen Schuhe aus und habe eine Eingebung.

»In den nächsten Tagen rufe ich mal den Paul Anders an. Der arbeitet doch als Redakteur beim Fernsehsender Unser Osten. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Der soll mal sagen, was da auf uns zukommen kann mit diesen Dreharbeiten.«

Aber in der Schule sind mal wieder Konferenzen und Unterricht so eng terminiert, dass ich nur von Raum zu Raum hetze und die Filmleute einfach vergesse.

So geht alles sehr schnell.

In dieser Woche ruft immer wieder irgend jemand von der Elegant Film an. Einer fragt nach Stromanschlüssen, ein anderer interessiert sich für die Parksituation in unserer Straße oder die Entfernung zum Wohnhaus auf dem Nachbargrundstück. Noch bevor die große Besichtigung durchgeführt wird, haben wir mit etlichen Filmleuten offen über unsere persönliche, allgemein häusliche und direkte nachbarschaftliche Lebenssituation gesprochen.

Dann ist es soweit: wie angekündigt klingelt es am frühen Freitagnachmittag an unserer Haustür. Rita hat sich herausgeputzt und dezent aufgebretzelt. Sie ist eine sehr sportliche kleine Frau von siebenundvierzig Jahren, die sich heute in knallenge Jeans gezwängt hat, um mit einem körperbetonten Stretchtop und aufgesteckten Haaren als Enddreißigerin durchzugehen.

Warum wollen wir ab einem bestimmten Alter immer jünger erscheinen, als wir sind?

»Hallo! Schön, dass Sie gekommen sind!«

Michael Mücke ist an der Spitze der Besatzungstruppe.

»Hallo, Frau Krupsch, darf ich Ihnen unser Team vorstellen? Allen voran unser Regisseur, Hans Jochen Mieß. Sie haben ja bestimmt schon von ihm gehört!«

Herr Mieß zwingt sich ein kurzes Lächeln ab, gibt eine schlaffe Hand und geht weiter mit dem Satz: »Wo sind wir ?«

Einer kennt die Antwort.

»Motiv Eins auf der Liste.«

Herr Mücke stellt die anderen Filmleute vor. Der Ausstatter Reinhard Meyer ist ein drahtiger, nervöser Mensch, dem die Haare zu Berge stehen.

»Sagen Sie einfach Meyer, großes M und keine Eier – also Ypsilon.«

Herr Mieß verdreht die Augen, die anderen grinsen peinlich berührt. Mücke nennt weitere Namen und die jeweilige Funktion. Von Beruf ist keine Rede. Alle lächeln symphatisch, geben artig die Hand und sind ausgenommen freundlich.

Robert kommt betont cool die Treppe herunter, wie fast immer ganz in Schwarz gekleidet. Durch seinen Vollbart und die langen Haare wirkt er wie ein Student der Achtundsechziger Zeit.

»Hi, folks!«

Mücke gibt Robert Fünf, mit zweimal Faust.

»Der Junior, zukünftiger TV-Star!«

Die anderen begrüßen Robert auf eine sonderbar vertraute Art, als würden sie ihn schon länger kennen. Dann ich. Ich trete vom Arbeitszimmer kommend in gemessener Eile auf, die Lesebrille auf der Nasenspitze, den Rotstift noch in der Hand. Was gibt es überhaupt Wichtigeres in dieser unserer Welt des allgemein Profanen, als Abiturklassenarbeiten zu korrigieren?

Mücke kommt mir entgegen.

»Ah, der Hausherr! Oberstudienrat Krupsch.«

Händeschütteln, Lächeln.

Ich zeige mich von meiner geduldigen und wohlwollenden Seite, denn Schüler sind oft aufgeregt, wenn ein neuer Lehrer den Klassenraum betritt. Aber die Filmleute haben ihre Schulzeit wohl schon lange vergessen und zeigen sich unbeeindruckt. »Na, dann schauen Sie sich mal in Ruhe um, meine Frau wird Ihnen alles zeigen. Ich bin mitten im Korrekturstress. Die Arbeiten meiner Abiklasse.«

Kehrt marsch und zurück in mein Arbeitszimmer. Hans Jochen Mieß blickt mir verdutzt nach. Am Auffallendsten an ihm sind diese wulstigen, aufgeworfenen Lippen.

Ich schließe die Tür und lausche.

Michael Mücke heizt erst einmal die Stimmung an:

»Wundervolles Haus und so geschmackvoll eingerichtet! Mit einem paradiesischen Garten. Und dann diese Lage! Praktisch Waldesruhe. Und das mitten in der Stadt!«

Der Regisseur schaut Mücke angewidert an.

»Tempo bitte, wir haben noch ein paar andere Motive auf dem Zettel für heute.«

Das ist ein klares Signal. Schluss mit lustig. Hier sagt nur einer, wo es langgeht. Der Ausstatter Meyer strafft sich und holt den Skizzenblock aus seiner Umhängetasche.

»Also im Grunde müssten wir die Wand zwischen Küche und Esszimmer rausreißen, weil wir das sonst nicht wie im Buch beschrieben bespielen können. Die Küche ist zu klein.«

Das ist für mich das Stichwort, die Besichtigung besser doch nicht aus den Augen zu lassen. Ich schleiche mich wieder aus meinem Arbeitszimmer. Meyer führt weiter aus.

»Aber – wir haben ja ein sehr begrenztes Budget. Geht also nicht. Deshalb schlage ich vor, das Wohnzimmer zum Esszimmer mit großem Tisch und Platz für die ganze Familie Lehmann zu machen. Das jetzige Esszimmer wird zur Küche und hinter die kleine Originalküche bauen wir den Wintergarten. Wir tapezieren und nehmen Gelb als Grundfarbe. Die Möbel räumen wir komplett aus. Da in die Ecke kommt der Flügel. Die Treppe nach oben decken wir mit einer Stellwand ab und machen daraus einen Flur. Die Haustür bauen wir aus und montieren ein spitzes kleines Vordach an die Fassade.«

Ich glaube, ich höre nicht richtig: Haustür ausbauen?Tapezieren und streichen? Treppe weg und Stellwand davor?  Vordach?

Sind diese Leute noch bei Sinnen? Ich verspüre den unbändigen Impuls, die ganze Bande sofort hinauszuwerfen.

Meyer läßt noch einmal seinen Dreihundertsechziggradblick schweifen.

»Alles in allem ein perfektes Motiv. Was meinst Du, Hans Jochen?«

Hans Jochen schaut nachdenklich zur Decke.

»Könnte sein. Vielleicht. Sieht irgendwie so aus. Aber ich weiß nicht ... Ich kann noch keine ‚Lehmanns‘ fühlen. Was meinst Du, Charly?«

Der Kameramann Charly Brügge, von Herrn Mücke als Charly macht die Kamera vorgestellt, wiegt den Kopf nachdenklich hin und her.

»Irgendwie könnte das schon funktionieren, aber gelbe Wände? Geht gar nicht! Das ist einfach Scheiße. Grau ist gut. Gut für mich. Gut für das Licht. Gut für die Darsteller. Keine Reflexionen, aber viel mehr Tiefe.«

Henry Koburski, ein korpulenter Ringertyp und Außenrequisiteur, bezieht seine Position schützend neben Meyer, der jetzt rot anläuft. Es bricht wie Vulkanasche aus dem Ausstatter heraus, als er explodiert.

»Alles grau anstreichen, ja? Und graue Möbel? Graue Kostüme, ja? Alles, alles scheißgrau, ja? Ja?«

Hans Jochen Mieß schaut derweil grübelnd auf den Teppich im Wohnzimmer.

»Kinder, Kinder. Ich habe vor dreißig Jahren den Film ‚Gelbe Sonne‘ gemacht. Das war ein Riesenerfolg, wie Ihr sicher wisst. Die Farbe Gelb spielte eine zentrale Rolle und ich zitiere gerne aus meinen früheren Werken.«

Charly wechselt sofort die Spur.

»Natürlich kann auch Gelb eine sehr schöne Farbe sein! Gibt so etwas Offenes, Warmes und könnte auch gut zu unseren ‚Lehmanns‘ passen.«

Henry will einmal Ausstatter werden, Ausstattung machen wie Mücke sagt, und er wittert die Chance, sich durch einen klugen Beitrag profilieren zu können.

»Meyer hat doch den soziokulturellen Status der Protagonisten allein durch seine Colourstrategy auf den Punkt gebracht.«

Das ist nun auch Charly völlig klar.

»Also, Gelb sollte unbedingt die Main Colourline der Farbkomposition des Filmes bestimmen, der Look ist dann absolut mainstreamig.«

Während Meyer nun in seinem Stolz anschwillt, grübelt Hans Jochen weiter.

»Oder Weiß lassen ... Aber wenn ich so in den Garten schaue ... Habt ihr schon mal über Lindgrün nachgedacht?«

Matti, der Regieassistent und schönlinghafte Modeltyp, beschließt, bei seinem Herrn und Meister Punkte zu machen. »Genial! Lindgrün als Synonym für Hoffnung und Wachstum. Heilung für die Familie in einer Farbe ausgedrückt.«

Ich glaube, genug gehört zu haben. Das ist ja wie in einer meiner freestyle Improvisationsstunden, wenn die Schüler den Unterricht selbst gestalten sollen ...

Da muss ich eingreifen:

»Meine Herren, hier ist alles Weiß und ich denke, das wird auch so bleiben!«

Mücke ist alarmiert.

»Lieber Herr Krupsch, Sie können sich darauf verlassen, dass alle potentiellen Veränderungen wieder rückgängig gemacht werden. Wir verlassen einen Drehort immer genau so, wie wir ihn vorgefunden haben. Das heisst, er wird professionell in den Ursprungszustand zurückversetzt. Mein Ehrenwort! Das steht auch im Motivvertrag. Ist auch alles versichert. Sie werden sogar von allen Ansprüchen Dritter freigestellt. Sie bekommen von uns sozusagen das Rundumsorglospaket!«

Ich bin etwas verlegen wegen meines kleinlichen Einwandes und in Mückes Stimme schleicht sich etwas Flehentliches. »Alles genauso wie vorher, Herr Krupsch. Versprochen!«

Hans Jochen Mieß sieht mich mit einem angriffslustigen Funkeln in den Augen an.

»Immerhin wollen wir noch zwei weitere Häuser anschauen und da könnte eines dabei sein, das mir mehr ‚Lehmann‘-Gefühl gibt ...«

Rita sieht ihre Träume zerplatzen. Schade, schade. Sie tritt nah an Hans Jochen heran, so nah, dass der alternde Regisseur ihren Parfümduft inhalieren kann.

»Verehrter Herr Mieß, ich bin ein großer Fan Ihrer Filme. Sie sind doch einer der wenigen wirklichen deutsche Filmkünstler. Sie dürfen hier natürlich alles machen, was Sie wollen.«

Das klingt in meinen Ohren merkwürdigerweise wie: Sie können mit mir alles machen, was Sie wollen.

Rita setzt nach:

»Verändern Sie das Haus ganz nach Ihren Vorstellungen! Unsere ganze Familie freut sich so sehr auf Ihre Dreharbeiten.«

Meyer, der schon die ersten Kulissenentwürfe zeichnet, blickt von seinem Skizzenblock auf.

»Aber Sie werden doch gar nicht hier sein.«

Jetzt bin ich echt schockiert.

»Nicht hier sein?«

Das rutscht mir viel zu laut heraus und meine ansonsten geübte Stimme überschlägt sich leider. Meyer versucht mich sanft zu belehren.

»Üblicherweise werden die Bewohner eines Hauptmotives für die Dauer der Dreharbeiten in einem Hotel untergebracht.«

Robert ist enttäuscht.

»Da kriegen wir ja gar nix mit.«

Mücke muss löschen.

»Meyer, das habe ich diesmal anders geplant.«

Er zwinkert Rita und Robert verschwörerisch zu.

»Die Familie Krupsch wird oben im ersten Stock wohnen. Wir bespielen doch nur das Erdgeschoss. Sie können dann die Dreharbeiten jederzeit beobachten.«

Mücke wendet sich direkt an mich:

»Aber wenn Sie wollen, können Sie selbstverständlich auch in ein Hotel ziehen.«

Ich überlege kurz, ob ich fragen soll, wie es denn mit den Seychellen oder Mauritius aussähe, aber vielleicht führt das ja in eine falsche Richtung.

»Also, wir bleiben in jedem Fall in unserem Haus. Ich bin Lehrer und arbeite naturgemäß sehr viel zu Hause. Ein eigenes Arbeitszimmer ist für mich unverzichtbar.«

Meyer bleibt skeptisch.

»Das organisierst du, Mücke. Ich brauche jedenfalls freie Bahn. Für den Vorbau habe ich ja nur vier Wochen.«

König Hans Jochen beobachtet die Situation zwischen Mücke und Meyer mit Genuss und gibt plötzlich – ohne Vorwarnung– seine erlösende Entscheidung bekannt:

»Das hier ist mein Hauptmotiv! Die Besichtigungstour ist beendet. Die anderen Häuser brauchen wir nicht mehr zu sehen. Danke.«

Rita fällt Herrn Mieß spontan um den Hals und Robert reckt die Faust in die Luft wie ein Handballer, der ins Tor getroffen hat. Alle sind überrascht von der unerwartet schnellen Entscheidung des Meisters und Mücke fühlt sich wie der Eroberer einer als uneinnehmbar geltenden Festung.

»Ich ruf gleich unseren Produktionsleiter an! Der wird sich ärgern,weil er nicht mitfahren konnte, und jetzt ist alles ohne ihn entschieden.«

Hans Jochen, Charly, Meyer, Henry, Matti und Mücke verabschieden sich höflich und gehen zu dem wartenden Minibus.

Rita und ich stehen wie betäubt in unserer Haustür und winken zum Abschied wie Oma und Opa, denen nach dem schönen Tagesausflug eine Heizdecke, zwei Pfannen und ein Porzellanservice sagenhaft günstig angedreht worden sind.

Am nächsten Tag rufe ich endlich Paul an. Er ist entsetzt:

»Was hast Du vor? Dein Haus als Drehort? Weisst Du überhaupt, was da auf Euch zukommt? Da sind im Nachhinein schon Prozesse geführt worden.«

Ich bin erschrocken. Paul fragt im Stakkato weiter.

»Welche Filmfirma? Wie ist der Titel des Filmes? Wie heißen die Leute, die bei Dir waren?«

Ich werde kleinlaut und unsicher.

»Der Regisseur heißt Hans Jochen Mieß und der Film ‚Unsere Lehmanns‘, glaube ich.«

Stille.

»Paul?«

»Heißt die Produktionsfirma Elegant Film?«

»Ja genau, so hat der sich vorgestellt. Michael Mücke von der Elegant Film.«

Plötzlich ist ein anderer Paul an der Strippe.

»Oh, das ist ja für uns ... Das ist natürlich etwas ganz anderes! Kein Grund zur Sorge. Das sind ganz seriöse Leute, mit denen Du da zu tun hast. In dem Fall kann ich nur gratulieren. Wenn Dein Haus tatsächlich als Hauptmotiv ausgewählt wurde, habt Ihr Euch unter Hunderten von Bewerbern durchgesetzt. Normalerweise werde ich ja auch noch in solch eine wichtige Entscheidung miteinbezogen, aber in diesem Fall sage ich: Topp! Supergut!«

Ich höre schon den Titel ‚Deutschland sucht das Superhaus‘, bin aber durch Pauls anfängliche Reaktion noch etwas verunsichert.

»Also kann man das bedenkenlos zulassen? Dreharbeiten?«

Der Euphoriker am anderen Ende der Leitung läuft jetzt richtig zur Höchstform auf.

»Absolut, absolut! ‚Unsere Lehmanns‘ und Unser Osten. Das ist unser wichtigstes Projekt. Heimatverbundenheit, Vergangenheitsbewältigung, Familienzusammenführung und Zukunftsglauben in einer Familienserie, die hier bei uns, in unserer Stadt, in unserem Bundesland, unter unseren Menschen spielt und unsere einzigartige Mentalität zum Ausdruck bringt!«

Paul legt noch eine große Schaufel nach, um mir die letzten Zweifel zu nehmen.

»Wollte Dein Sohn nicht mal ein Praktikum in der Redaktionsabteilung beim Fernsehen machen? Ich kann da was deichseln. Frag ihn mal.«

»Mensch Paul, da würde sich der Robert aber richtig freuen.«

»Das Beste für die Besten im Osten – alles klar?«

Paul gefällt mir. Diese Fernsehleute gefallen mir. Auf die kann man sich wirklich verlassen. All meine Bedenken haben sich in Luft aufgelöst.

Der nächste von der Elegant Film, den wir kennenlernen, heißt Aaron Aumann, der Produktionsleiter für ‚Unsere Lehmanns‘. Termin ist fünfzehn Uhr, und fünf Minuten vor der Zeit parkt ein silberner Mercedes vor unserem Haus. Aumann, in weitem Sakko und Jeans, ist ein zu beleibter Endfünfziger mit auffällig strahlendem Optimismus in den Augen.

Wir nehmen alle im Wohnzimmer Platz und bieten ihm Kaffee an. Aumann packt einen dicken Aktenordner auf den Tisch. Mit seinen auffällig großen Maurerhänden blättert er und entnimmt Formulare. Rita wirft mir einen fragenden Blick zu. Lebensversicherung? Rechtsschutz? Hausrat? Aumann justiert die Blätter schön akkurat Kante auf Kante.

»Sie werden das nie bereuen. Wo ich einmal gedreht habe, da kann ich immer wieder hingehen. Die Leute waren jedes Mal begeistert und etwas Geld haben sie obendrein noch bekommen, obwohl ja der Spaß an der ganzen Sache die Hauptsache ist. Der Sender bewilligt leider immer weniger für das Gesamtbudget einer Fernsehproduktion. Da ist für die Motivablösung auch nicht mehr viel drin. Aber die Möglichkeit, hinter die Kulissen eines Filmdrehs zu blicken, ist als Erfahrung doch sowieso unbezahlbar.«

Rita nickt entzückt. Ich versuche mich in neutraler Sachlichkeit.

»An was dachten Sie denn so, Herr Aumann?«

Aumann beginnt voller Inbrunst zu glühen.

»Ich will niemanden über den Tisch ziehen, das ist nicht meine Art. Wir reden ja auch nicht über irgendein Geschäft. Man macht keine Geschäfte mit unserem Sender. Unser Osten macht ja Programm für uns alle. Wie gesagt, der Spaß für die ganze Familie sollte im Vordergrund stehen. Doch ein kleiner finanzieller Anreiz ist schon möglich. Aber mehr als hundertfünfzig Euro pro Tag sind leider nicht drin.«

Pause. Enttäuschung macht sich bei mir breit.

»Das erscheint mir doch recht wenig.«

»Sagen wir: für die Vorbautage und Rückbautage. Für jeden Drehtag dann dreihundert Euro.«

Der Herr Aumann hat jetzt einen schmerzgepeinigten Gesichtsausdruck angenommen. Das schöne Geld soll für eine Motivablösung verjubelt statt in Schauspieler mit weiß strahlendem Gebiss investiert werden?

Doch, doch, da muss ich trotzdem nachhaken.

»Ich will ja nicht als Krämerseele erscheinen, aber wieviele Bautage und wieviele Drehtage erwarten Sie denn, Herr Aumann?«

»Nun, das ist zum jetzigen Zeitpunkt noch schwer zu sagen. Das ist vom Drehbuch abhängig und dann vom Drehplan. Aber warum sollen wir die Tage zählen? Ich mache Ihnen einen fairen Vorschlag: viertausend Euro pauschal für die Gesamtdreharbeiten inklusive Vor- und Rückbau. Wir drehen den Pilotfilm von neunzig Minuten zwischen Juni und August. Wieviel davon im Haus spielt, ist noch nicht genau klar. An den Büchern der Reihe wird noch gearbeitet. Aber die Viertausend bekommen Sie in jedem Fall. Die sind Ihnen dann jetzt schon sicher! «

Ich überlege. Rita nimmt meine Hand.

»Ralf, es geht uns doch nicht ums Geld. Wir wollen sowas nur einmal miterleben, und wenn der Herr Aumann sagt, dass er nicht mehr ausgeben kann, sollten wir ihm das auch glauben.«

Aumanns Miene hat sich mit Ritas letztem Satz merklich aufgehellt.

»Wir können das gerne sofort fest machen. Die Vertragsvordrucke sind schnell ausgefüllt. Aber ich möchte Sie nicht drängen. Wenn Sie lieber noch überlegen wollen?«

Kunstpause.

Ich bin ahnungslos und Lehrer. Für Geschichte und Deutsch. Nicht für Mathematik.

»Also gut, wir sind einverstanden. Ich unterschreibe.«

Rita gibt mir einen Kuss auf die Wange. Aumann hat die Formulare schnell ausgefüllt. Wir unterzeichnen beide und ich bekomme ein Exemplar ausgehändigt. Ruckzuck ist der Appel geschält. Aumann verstaut eilig seine Unterlagen.

»Jetzt, wo wir das Geschäftliche – verzeihen Sie, ich meine: das Bürokratische – hinter uns haben, würde ich mir gerne Ihr Haus und den Garten anschauen. Bei der Motivbesichtigung war ich ja leider nicht dabei.«

Er lächelt Rita charmant an.

»Aber nur, wenn es Ihre Zeit zuläßt.«

Wir führen Aumann herum und ich erläutere möglichst professionell, welche Änderungen im Haus notwendig werden, damit ein vernünftiger Drehort daraus wird.

»Also, fangen wir beim Eingang an: die Haustür muss ausgebaut und darüber ein neues Dach angebracht werden.«

Aumamm bleibt abrupt stehen.

»Wie bitte? Wer erzählt denn so was? Das kommt überhaupt nicht in Frage! Von wegen Vordach dran und Tür raus. Alles völlig blödsinnige Träumereien, von denen keiner weiss, wie sie bezahlt werden sollen. Immer dasselbe: man lässt diese Bande einmal alleine und schon geht jedes vernünftige Maß verloren. Was haben die sich denn sonst noch so überlegt?«

Ich habe mir alles gut gemerkt.

»Die Küche ist zu klein. Die wird komplett entkernt, um als Vorraum für den dahinter zu errichtenden Wintergarten zu dienen. Die neue, größere Küche wird dann ins jetzige Esszimmer gebaut.«

Aumann läuft rot an und pochende Adern treten an seinen Schläfen hervor.

»Herr Krupsch, Sie machen Witze! Das ist doch jetzt nicht Ihr Ernst?«

Ich schaue ihn überrascht an. Ist der Herr Aumann dennnoch ahnungsloser als ich?

»Doch, doch. Das ist hier alles vor Ort vom Regisseur und seinem Ausstatter festgelegt worden.«

Ich habe mir auch die Funktionen der Leute gemerkt und Aumann scheint so tief beeindruckt zu sein, dass er leicht zu wanken beginnt.

»Ich glaube, ich werde verrückt ... Nicht aufregen! Bloß nicht aufregen! Diese Idioten wollen die Bank sprengen. Die wollen den Produktionsleiter fertig machen. Bauen,Bauen, Bauen! Wenn ich das schon höre. Warum bin ich bloß nicht mitgefahren? Das rächt sich jetzt. Ich sitze in der Falle.«

Rita hat den Helferkomplex:

»Wollen Sie sich kurz hinlegen, Herr Aumann?«

»Nein danke, aber ein Glas Wasser wäre nett. Nichts gegen Sie, Herr Krupsch, aber wenn ich das vorher gewusst hätte ... Dass die hier alles umbauen wollen ... Ich hätte das Motiv abgelehnt. Ganz klar. Da fährt man einmal nicht mit ... Und der Mücke hat das alles abgenickt?«

»Ja, der Herr Mücke war soweit mit allem einverstanden. Der war doch von Anfang an ganz begeistert von unserem Haus.«

Nun muss sich Aumann doch zumindest erst einmal hinsetzen und ich hole schnell ein Glas Mineralwasser. Er atmet schwer. »Wissen Sie, früher war das alles ganz anders. Da habe ich ein Motiv ausgesucht, das sofort und zwar so, wie es war, zu filmen gewesen ist. Ich habe mir das Drehbuch durchgelesen und dann wusste ich, was ich suchen musste. Ausstatter? Hatten wir gar nicht. Dafür war kein Geld vorgesehen. Nur ein Requisiteur, der sonntags über die Flohmärkte gestromert ist und für ein paar Groschen die Gegenstände zusammengekauft hat, die für den Film in der folgenden Woche gebraucht wurden. Ja, so war das: gut, schlicht und preiswert!«

Aumann schaut mit leicht umschleiertem Blick versonnen aus dem Fenster in den blühenden Garten seiner Jugend.

Ich will Sympathiepunkte sammeln.

»Herr Aumann, ich bin doch ganz auf Ihrer Seite. Mir wäre es auch lieber, wenn hier alles so bleiben könnte, das können Sie mir glauben. Aber auf der anderen Seite will ich natürlich kein Spielverderber sein.«

Aumann erhebt sich langsam, beladen mit der bedrückenden Last vieler Jahre sorgenvoller Filmproduktion auf den Schultern.

»Ich verstehe Sie. Es ist ja Ihr erster Dreh. Ist schon klar, dass Sie dabei kein Spielverderber sein wollen. Wollen wir ja alle nicht sein – schließlich drehen wir Spielfilme.«

Beim Abschied an unserer Nochhaustür legt mir Aumann freundschaftlich seine Pranke auf die Schulter.

»Wenn Sie irgendwo der Schuh drückt, rufen Sie mich an und sprechen Sie immer alles offen aus. Der Dreh soll auf jeden Fall zu Ihrer Zufriedenheit absolviert werden.«

Mir fällt die schlimmste Phrase unseres Werbezeitgeistes ein und ich spreche sie blöderweise auch noch offen aus:

»Ich freu mich drauf!«

Mir ist, als sähe ich einen Funken Mitleid in den Augen des altgedienten Produktionsleiters, bevor er sich schweren Schrittes zu seinem Wagen begibt.

Als Robert nach Hause kommt, ist er über die neuen Nachrichten völlig aus dem Häuschen. Ein Redaktionspraktikum beim Sender Unser Osten in Aussicht plus Dreharbeiten bei uns zu Hause bedeutet in der schulischen Coolnesskala Platz Eins und faktisch den Einstieg ins Filmgeschäft.

»Ralf, das ist voll fett. Wir haben doch ein echt gutes Sohnvaterverhältnis und das, obwohl Du Pauker bist.«

Wir planen den Umzug ins Obergeschoss. Ein Provisorium: zwei Zimmer und eine kleine Kammer, vorübergehend, nur für kurze Zeit. Alles absehbar, denke ich, und auch bestimmt sehr spannend. Irgendwie eine Abwechslung von der täglichen Routine, wenn wir zu unserem Sohn nach oben ziehen. Wir bilanzieren das elterliche Resumée:

»Also wir haben zwei kleine Zimmer, das zweite Bad, die kleine Küche und die Abstellkammer mit den Schrägen, die als Arbeitszimmer durchgeht. Im vorderen Zimmer richten wir ein kombiniertes Wohnschlafzimmer für uns ein und auf der anderen Seite bleibt Roberts Arbeitszimmer, in das wir sein Bett stellen. Es ist zwar beengt, aber nur für die paar Tage, wenn die Leute bei uns arbeiten.«

Robert grübelt über meinen Vorschlag nach.

»Dann müssen wir aber die Klamotten aus der Rumpelkammer zu Euch stellen. Mit meiner Anlage, den Computern und dem großen Flatscreen ist mein Zimmer dann sowieso schon total überfüllt.«

Ich bin doch wohl etwas zu lax mit meinem Sohn.

»Robert, zeig mir doch mal einen Siebzehnjährigen, der schon seine eigene Wohnung hat. Also bitte! Wir werden doch wohl für kurze Zeit ohne große Probleme zusammenrücken können. Oder willst du plötzlich keinen Dreh mehr im Haus haben?«

Robert streicht sich bedächtig durch seinen Bart.

»Ralf, Du hast recht. Einer für alle, alle für Einen.«

Es wird geräumt und getragen, gestapelt und gestaut. Trotzdem landet vieles im Keller, bis wir das neue gemeinsame Domizil unter unserem Dach für alle bezugsfertig haben. Gerade rechtzeitig, denn die Baubühne unter der Leitung des Ausstatters rückt schon viel früher an als gedacht. Ich denke an den netten Herrn Aumann. Aber warumdenn Tage zählen? Indes ist Meyer völlig überdreht. Wie immer stehen ihm die Haare zu Berge, als stünde er wirklich unter Strom.

»Das sind meine Bauleute. Die sind geübt und sehr vorsichtig.«

»Isch bin de Kall.«

Ein breitschultriger Glatzkopf mit langem Ziegenbart hält mir seine Hand entgegen. Der Mann neben ihm, ein langhaariger Hippie mit Nickelbrille, lächelt herzerfrischend.

»Un ick bin da Bernte.«

Der hagere Dritte im Bunde wirkt etwas schüchtern:

»Hallo ... Hans.«

Nette Leute, wirklich.

Meyer schaut sich um.

Die Möbel, die wir nicht nach oben schaffen konnten und nicht in den Keller, weil dort nicht mehr genug Platz ist, stören ihn. »Dann werden die eben eingelagert und später nach den Dreharbeiten wieder ordentlich zurückgebracht.«

Zack, zack. Kall und Bernte machen sich ans Werk und schon schleppen sie den schönen antiken Sekretär zum LKW. Wir ziehen uns nach oben zurück. Rita macht Kaffee für alle und ich gehe in mein Notarbeitszimmer, um mich meinen schulischen Herausforderungen zu stellen.

Zwei Stunden später schaue ich mal unten vorbei. Hoppla! Das gesamte Erdgeschoss ist leer. Ich stehe wie ein Fremder in meinem eigenen Haus. Bernte steht auf einer Leiter und streicht die Decke. Hatten wir denn überhaupt über die Decke gesprochen? Er bewegt sich wie ein Artist auf Stelzen mit der Stehleiter in beeindruckender Geschwindigkeit durch den Raum, während er die Decke Stück für Stück bearbeitet. Er sieht mich und lächelt auf seine eigentümlich sympatische Art.

»Vor zwee Wochen ham wa ne Villa jemacht. So als Bordell, allet in son tiefet Bordauxrot, aba richtich. Der Rückbau is imma noch dranne. De Drehtaje fertich un dann det erste ma wieda Weiß. Denn da zweete Anstrich. Allet schön Rosa. Wird einfach ni richtich Weiß. Bein drittn Rückanstrich kommt denen de janze Decke entjejen. Ick meene den Putz, der da runter jekomm is.«

Bernte lacht aus vollem Herzen und köstlich amüsiert.

»Abba hier is ja nur Lindjrün, det jeht ja noch, keene Bange.«

Geht ja noch? Ich habe die ersten ernsthaften Zweifel, als es an der Tür ein ratterndes Geräusch gibt. Gehetzt schaue ich nach. Der hagere Hans hat die Haustür schon ausgehängt. Jetzt setzt er an, mit einem großen, professionell wirkenden Bohrschlagschraubmeißel den Türrahmen heraus zu stemmen. Abriss? Mein Haus? Mein Haus verändert sich! Was habe ich getan? Hans schaut mich zweifelnd an.

»Das ist doch alles mit Ihnen abgesprochen, oder?«

Ich haste nach oben und schnappe mir den Motivvertrag. Filmhersteller verpflichtet sich, die angemieteten Räumlichkeiten und Grundstücke nach den Dreharbeiten in den ursprünglichen Zustand zurück zu versetzen. Ich bin halbwegs beruhigt und beschließe, ein wenig an die frische Luft zu gehen.

Im Garten ist der nette Kall dabei, die Fundamentstahlhülsen für die Eckbalken des Wintergartens in den Boden zu rammen. Und schon wird das flaue Gefühl in meiner Magengegend wieder stärker.

Kall unterbricht sein Tun.

»Da sehe se net e klaa bissi, wann des wiedda abgerisse is. Des kann isch Ihne vasischern. Da kommt späta Rollrase druff un feddisch. Kaa Sosche net, am beste net hiegucke.«

Ich hake trotzdem nach.

»Sie machen das ja nicht zum ersten Mal und als Kulissenbauer haben Sie ja bestimmt sehr viel Erfahrung.«

Der nette Kall blickt auf und legt den Vorschlaghammer zur Seite.

»Isch bin ansisch Bildhauä. Hab an de Kunsthochschul ausgelennt. Bein Film abbeit isch so nebbeher. De Meyer ruft misch imma ma widder an, wennes ebbes bei seine Ausstattung zu Baue gibt. De Bernte is Mala, also Kunstmala. Mir habbe zusamme studiert, abber wer schaffts scho, von de Kunst zu lebe?«

Ich hätte nicht gedacht, dass beim Film alle – wirklich alle! – Beteiligten waschechte Künstler sind.

»Das ist ja sehr interessant.«

Ich überlege kurz, ob es nicht doch besser gewesen wäre, in ein Hotel zu ziehen, weil ich mir dann bestimmt keine Sorgen über die Statik eines Wintergartens gemacht hätte. Kall greift in eine Innentasche seines Overalls und holt Klappkarten mit Fotografien hervorher.

»Des sin e paa von meine Wekke. Ich schweiss aus Eiseschrott Skulpture zusamme. Die Schlang hier, die hab isch aus ahle Radkette gemacht.«

Ich blättere die Karten durch und bleibe bei einer Figur – einem Torso, der sich zum Himmel reckt – hängen.

»‘Ohn Hand un Fuß‘ heiss des Wekk.«

Kall ist stolz auf seine Arbeit und greift voller Elan wieder zum dicken Hammer.

Es ist erstaunlich, wie schnell die kleine Truppe arbeitet. Meine tiefe, aber nur anfängliche Skepsis schlägt in Bewunderung um.

Als Meyer mir den fertigen Wintergarten zeigt, kann ich es kaum glauben.

»Das ist ja wirklich fantastisch und alles in so kurzer Zeit!«

Meyer rauft sich die Haare.

»Bei allem Respekt, Herr Krupsch, aber das ist nicht für die Ewigkeit gebaut. Es ist und bleibt Kulisse. Bespielbar: ja, bewohnbar: nein.«

Er beginnt, vor dem Wintergarten hin und her zu laufen.

»So wie der Aumann sich aufregt und mich dann auch noch zwingt, mein Budget zu unterschreiben. Mit dem Zusatz, dass Überschreitungen zu meinen eigenen Lasten gehen, das muss man sich mal vorstellen! Unglaublich!«

Er keucht vor Empörung.

»Jetzt reicht das Geld nur für Leichtbauweise. Da darf kein Sturm kommen, sonst ist Schluss! Drehschluss! Habe ich ihm genau so gesagt und da schreit der mich an, wir wären nicht in Hollywood!«

Meyer baut sich vor mir auf und wedelt mit dem Zeigefinger vor meinem Gesicht.

»Aber nachher, wenn sie alle den fertigen Film sehen, dann heisst es: guckt Euch das an! Die Wand im Hintergrund wackelt im Wind wie ein Lämmerschwanz! Der Meyer hat alles aus Pappe gebaut!«

Meyer schnaubt verächtlich.

»Es ist immer dasselbe. Alles soll unheimlich toll aussehen, darf aber nichts kosten. Ich bin Künstler und kein Kirmesschausteller! Aber warum rege ich mich auf, ich bin ja selbst schuld. Dem Aumann hätte ich sagen sollen, dass er die Ausstattung dieses grandiosen Filmwerkes einfach selbst machen soll! Und tschüss. Aber was macht man? Man versucht das Beste aus dem wenigen Geld zu zaubern.«

Meyer dreht sich von mir weg und stampft rechtschaffen empört davon.

Der Tag der – wie von Herrn Mücke angekündigt – großen Motivabnahme ist gekommen. Hans Jochen Mieß führt das Team an. Charly, Aumann, Mücke, Henry, Matti, Meyer – nervös wie immer – und ein Oberbeleuchter namens Neffe. Der ist der Neffe vom Produzenten, wie mir später Mücke sehr vertraulich und hinter vorgehaltener Hand erklärt. Hans Jochen steht da und schaut zur Decke.

»Hatten wir denn nicht von Gelb gesprochen? Jetzt ist die Decke aber so grün, so irgendwie lindgrün.«

Meyers Augen quellen fast über. Schweiß dringt aus den Poren seiner tief gefurchten Stirn. Hans Jochen geht im Raum umher.

»Und die Wände in Gelb. Warum? Hatten wir uns nicht für Grau entschieden?«

Langsam kommt der Regisseur richtig in Fahrt.

»Und die Möbel hat unser guter Meyer der Einfachheit halber alle auf einen Rutsch bei Ikebäh bestellt, oder was?«

Allseitiges betretenes Schweigen. Aumann zieht den Bauch ein und streckt seinen massigen Körper, um sich so gerade zu machen, dass er noch größer wirkt.

»Also ich finde, das alles passt ausgezeichnet zu unserer Familie Lehmann. In dieser Dekoration kann ich mir unsere Darsteller sehr gut vorstellen, ist doch richtig gemütlich hier.«

Meyer ist erleichtert ob Aumanns Zuspruch. Aber Hans Jochen Mieß ist ganz offensichtlich nicht seiner Meinung. »Gemütlich? Gemütlich?! Aumann, willst Du hier etwa einziehen?«

Jetzt denkt Meyer, er müsse Stellung beziehen.

»Wir hatten doch alles genau besprochen. Ich habe Dir die Fotos gezeigt und Du warst gerade von der Farbgestaltung und der Möblierung so total begeistert.«

Hans Jochen fährt herum.

»Ach so, der Film wird also vom Produktionsleiter unter Mithilfe des Ausstatters gemacht? Das ist mir jetzt aber neu. Wozu braucht man dann überhaupt noch einen Regisseur? Rein in die Bude, paar Lampen aufstellen, zwei, drei Schauspieler dazu, die ihren auswendig gelernten Text ablassen, und das Ganze mit Kamera und Tonband aufnehmen. Fertig ist der Film!«

Aumann versucht zu schlichten.

»Aber wir können doch über alles sprechen, Hans Jochen.«

Der Regisseur redet sich immer weiter in Rage.

»Sprechen? Wir sollen sprechen? Dann könnten wir ja gleich dazu übergehen, über alles abzustimmen. Wer ist fürGelb? Wer ist für Grau?«

Bei diesen rhetorischen Fragen geht Herr Mieß wütend auf und ab.

»Aber wisst Ihr was? Es gibt beim Film keine Demokratie! Der Regisseur sagt, was er will oder nicht will! Und ob Ihr es glaubt oder nicht: das ist die Diktatur der Kreativität! Punkt!«

Schweigen.

Hans Jochen Mieß gibt den bösen Bullen und ich bin völlig überrascht von dieser gereizten Situation. Also plappere ich drauflos.

»Ich persönlich bevorzuge schöne antike Möbel gemischt mit Moderne. Zum Beispiel Designerstücke aus Stahl und Glas und dazu restaurierte alte Holzmöbel.«

Hans Jochen schaut mich an.

Spannungsgeladene Stille.

Man könnte eine Stecknadel fallen hören. Hans Jochen wendet sich zur Seite.

»Charly, das waren genau Deine Worte bei der letzten Regiebesprechung, nicht wahr?«

Der Kameramann wittert wunderbar klare und frischeste Morgenluft.

»Exakt. Und die Wände passend in Edelgrau, wobei die Decke hätte weiß bleiben sollen.«

Meyer hat nichts mehr zu verlieren. Er scheint jetzt nur noch kurz vor einem ernsten Nervenzusammenbruch zu stehen.

»Es war doch alles besprochen. Alles, alles, alles! Es kann doch jetzt nicht sein, dass ...«

Hans Jochen fällt ihm mit Macht ins schwache Wort:

»Wände grau. Ein Drittel antike Möbel. Rest modern. Stahl und Glas. Decke weiß. Fertig.«

Aumann spielt den Joker aus.