Keine Heilige - Kate Rapp - E-Book

Keine Heilige E-Book

Kate Rapp

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Beschreibung

Jessica Marple hat eine Ehekrise und einen pubertierenden Sohn. Sie ist keine Amateurdetektivin, sondern Krankenschwester am King´s College Hospital in London. Natürlich ist sie nicht verwandt mit Agatha Christies blaustrümpfiger Miss Marple, sondern genervt davon, ständig mit dieser fiktiven Spürnase in Verbindung gebracht zu werden. Das ändert sich, als eine schwer verletzte junge Frau, der nach einer Vergewaltigung beide Brüste abgeschlagen wurden und die nun ihr Gedächtnis verloren hat, auf ihre Station kommt. Sie beginnt, den ermittelnden Inspector bei seiner Arbeit zu unterstützen und versucht herauszufinden, wer diese junge Frau ist. Nebenbei entdeckt sie, dass ihre Verbindung zu Agatha Christie weniger zufällig ist, als sie dachte.

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Seitenzahl: 632

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Kate Rapp

Keine Heilige

Jess Marple ermittelt

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

KEINE HEILIGE

Prolog

LONDON 2012

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Impressum neobooks

KEINE HEILIGE

Jess Marple ermittelt

Marple. Miss Jane Marple – der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.

Agatha Christie, „16 Uhr nach Paddington“

Prolog

Dana hielt sich die Augen zu. Granaten explodierten in den Häusern. 

Dana zitterte so stark, dass ihre Hände immer wieder verrutschten und die Sicht auf das Unbeschreibliche freigaben. Sie sah sie rennen, wie Kaninchen. Drei Frauen und zwei Männer. Die Männer fielen zuerst hin. Als sie zögerte, hatte die eine der Frauen schon verloren. Die andere rannte weiter, sie bekam eine Kugel ins Bein. Dann lagen sie vor den Soldaten im Schmutz. Dana konnte sie wimmern hören. Sie kniff die Augen zusammen und trotzdem konnte sie die Bilder nicht loswerden. Sie hatten sich in ihre Netzhaut gebrannt wie die Magnesiumlichter an Silvester, die sie auch dann noch hatte sehen können, als sie nach dem Feuerwerk mit geschlossenen Augen glücklich in ihrem Bett gelegen hatte. Ihr Bett war gerade in die Luft geflogen. Und das Gefühl, dass sie in diesem Moment überkam, war kein Glück. Dana hatte sich noch nie so gefühlt. Innerlich kalt und schmerzhaft wund, sie fühlte sich fiebrig vor Angst und gleichzeitig war ihr speiübel. 

Aber sie hatten sie nicht entdeckt. 

Es hatte zweimal laut gekracht, da hatte ihre Mutter sie vom Stuhl gerissen, auf dem sie gesessen war, um am Tisch ihre Hausaufgaben zu machen. Obwohl seit Wochen die Schule ausfiel, hatte ihre Mutter darauf bestanden, dass sie weiterhin die Buchstaben übte. Jeden Tag einen neuen. Sie hatte das Alphabet schon zweimal durch und heute war sie wieder bei K angelangt. Viele Wörter mit K kannte sie noch nicht. Katze. Kaninchen. Kohl. Kaffee. Krieg.

Krieg! Krieg! Krieg!

Es hämmerte in ihrem Kopf, dieses Wort, dass sie gar nicht aufgeschrieben und trotzdem in den letzten Minuten unaufhörlich gedacht hatte, während sie darauf wartete, dass ihre Mutter zu schreien aufhörte, dort draußen.

„Lauf weg, schnell! Versteck dich!“, hatte sie ihr zugerufen und sie aus der Hintertür geschubst, während sie selber die Vordertür nahm in dem Moment, als das Nachbarhaus explodierte. Kurz darauf war auch ein Geschoss in ihr Zuhause eingeschlagen. 

Geschoss, das schreibt man mit G, dachte Dana und überlegte, ob es von jedem Buchstaben gute und schlimme Worte gab, oder ob einer unter ihnen vielleicht ungefährlich war. Ein Buchstabe, mit dem es nur wenige Wörter gab. Der so unbedeutend war, dass man mit ihm einfach keine schlimmen Worte bilden konnte. Vielleicht das X?

Xylophon. X-Beine. 

Es war plötzlich sehr still da draußen. 

Dana öffnete die Augen und spähte zwischen ihren Fingern hindurch. Sie sah die breiten Rücken der Männer, die leblose Körper hinter sich herzogen und unterdrückte ein Schluchzen. Sie stopfte ihre Faust in ihren Mund, als das Weinen nicht aufhören wollte, denn eines hatte sie verstanden, obwohl sie noch nicht lesen und noch kaum schreiben konnte: diese Männer würden sie töten. Genauso, wie sie ihre Mutter (sie musste in ihre Knöchel beißen, um nicht zu schreien) und alle aus ihrem Dorf getötet hatten. 

Dana dachte schnell an den letzten Sommer. Als die Luft weich und warm und sicher war. Bis abends um zehn Uhr blieb es hell und sie durfte mit ihren Freundinnen Verstecken spielen, bis die Dunkelheit leise heran kroch. Sie war immer die letzte gewesen, die gefunden wurde, die unbestrittene Prinzessin des Versteckspiels. Ihre Freundinnen waren dann nach und nach alle weggezogen, nur ihre Mutter blieb und wartete auf den Vater, der manchmal da war und häufig fort.

Dana konnte die Männer nicht mehr sehen. Sie zog das rechte Bein zu sich heran. Sie hatte darauf gesessen und es war eingeschlafen und kribbelte ganz fürchterlich. Vielleicht könnte sie kurz aufstehen, es ausschütteln.  Da hörte sie wieder Schüsse. Ein empörtes Gackern erstarb in der nächsten Salve und Dana wusste, nun waren auch die Hühner tot. Erschöpft sank sie zurück. Natürlich hätten die Hühner sie auch nicht retten können. Sie waren keine Super-Hennen, die plötzlich Zauberkräfte entwickeln und die Männer mit einem Bann belegen oder zu Stein erstarren lassen würden. Sie waren keine verwunschenen Krieger einer höheren, großzügigen Hühnermacht, einer Königshenne, die Mitleid mit den Menschen und mit ihr, Dana, im Besonderen hatte. Die sie adoptieren und in ihre Hühner-Magie einweihen würde. Nein, von den Hennen war nie mehr zu erwarten gewesen, als Gegacker und auch das konnten sie nun nicht mehr. Dana schniefte leise und erstarrte. Hatten Sie sie gehört? Sie biss sich auf die Lippen und zählte in Gedanken langsam bis zwanzig. Sie würde hierbleiben, sich nicht von der Stelle rühren und zwanzig Mal bis zwanzig zählen. Sie konnte sich einfach nicht mehr an die weiteren Zahlen erinnern. Aber das musste reichen. Es war alles, was sie tun konnte. Zählen. Warten.

Das Zittern ließ allmählich nach. Die Männer waren in eines der unversehrten Häuser gegangen und bereiteten sich gewiss einen Festschmaus. Danas Magen war leer und fühlte sich flau an. Sie legte den Kopf auf die Knie und schloss wieder die Augen.

Da fühlte sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter. Ein fester, zupackender Griff und sie spürte, wie vor Schreck ihr Schlüpfer feucht wurde. 

Sie war entdeckt worden.

„Psst, Dana! Da bist du ja!“

Die Freude, die sie in seiner Stimme hörte, ließ ihr eigenes kleines Herz fast bersten. Darius, ihr großer Bruder Darius, der mit dem Rad im Nachbarort gewesen war, hatte sie gefunden! Er lebte! Er war ihnen nicht vor die Flinten gelaufen!

„Wir müssen hier weg!“, kommandierte er flüsternd.

„Sie haben auch die Hühner erschossen“, sagte Dana.

Sie merkte, dass sie wieder zu zittern begann. Ihre Wangen waren plötzlich nass und fühlten sich kalt an.

„Ich weiß, ich weiß, aber jetzt müssen wir abhauen.“

Darius nahm ihre Hand. Gebückt krochen sie unter den Holzscheiten hervor und rannten los. In den Wald hinein. Danas Hose war klamm und scheuerte zwischen ihren Beinen. Sie schämte sich dafür und schwor sich, dass so etwas nie wieder vorkommen würde. Sie war jetzt kein kleines Mädchen mehr. Immerhin, sie war schon sechs.

LONDON 2012

1

Hoffentlich ist Mrs. Oliver endlich tot, dachte Jess und bremste. Der alte Fiat ächzte ein wenig, als er an der roten Ampel zum Stehen kam, ein Seufzen, das klang, als käme es geradewegs aus Jess` Brust. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie nicht wirklich geseufzt hatte. Sah sich um, als säße jemand neben ihr. Aber sie war allein. Natürlich war sie allein. Die Straßen waren noch leer, sie schienen im Halbschlaf da zu liegen, hatten sich noch nicht gestreckt und die Nachtlichter ausgeknipst, sich nicht zurecht gemacht für die Menschen, die auf sie hinausströmen und mit ihrer Hektik das Pflaster beleben würden. Ein graues, winterdunkles Betonlabyrinth, dass sie ins heftig pulsierende Herzen Londons führte. Jess fuhr die Strecke mit einer schlafwandlerischen Sicherheit. Sie kannte jede Kurve, jede Ampel, jeden Fußgängerüberweg. Sie wusste, wann sie beschleunigen konnte und wann es sich nicht lohnte, da die Ampel ohnehin gleich umschalten würde. Sie erahnte die Straßenführung auch im Dunkeln und schnallte sich jedes Mal automatisch ab, wenn die Reifen auf das Kopfsteinpflaster trafen, einige Sekunden, bevor sie auf den Parkplatz einbog, die Schranke sich hob und hinter ihr wieder schloss, sodass sie sich manches Mal fühlte, als tappe sie in eine Falle. Seit Jahren fuhr sie diese Strecke täglich, auch am Wochenende, wenn sie Dienst hatte, oder spät abends zur Nachtschicht.

Sie stieg aus und vergaß, die Autotür abzuschließen, bevor sie auf das altmodische Backsteingebäude des King`s College Hospitals zu ging und in einem Seiteneingang verschwand.

„Wieder kein Exitus heute Nacht!“

Hank strahlte sie an, wie Jesus höchstpersönlich. Als habe er einen ihrer Patienten gar auferstehen lassen. Nimm dein Bett und gehund so weiter. 

„Nicht der geringste Hinweis auf ungeklärte Todesfälle, Miss Marple.“ Er feixte. Mit seiner blondierten Strähne und einem Kinn, spitz wie ein Handspaten, sah er aus wie ein eifriges Streifenhörnchen.

„Mrs. Marple, wenn überhaupt. Ich bin verheiratet, wie du wissen dürftest. Und für dich immer noch Schwester Jessica.“

Es war wirklich nicht mehr komisch. Es war nur eine Namensgleichheit und sie hätte daran gewöhnt sein müssen. Immerhin war es ihr Mädchenname, sie trug ihn seit sechsunddreißig Jahren. Und es gab unzählige Marples in England. Ob sie sich alle ihr Leben lang diesen Mist anhören mussten? Vielleicht lag es auch einfach nur an Hank. Daran, dass er es einfach nicht lassen konnte, sie damit aufzuziehen. Danke Agatha, dachte Jess nicht zum ersten Mal (die Queen of Crime war für sie mittlerweile so etwas, wie eine ermüdende alte Verwandte, die sie widerwillig beim Vornamen nannte) und ging sich umziehen.

Hank war, abgesehen von seinen unpassenden Witzen, ein netter Kerl mit einer offensichtlichen Phobie vor Sterbenden. Er gehörte zu der Sorte Kollegen, die anscheinend riechen konnten, wenn eine der Patientinnen kurz davorstand, sich für immer zu verabschieden (wie diese Hunde, die sich Todkranken zu Füßen legten oder die Katzen, die zu Sterbenden ins Bett sprangen). Allerdings mied er im Gegensatz zu den Tieren die Todgeweihten und ging auf Distanz. Er tauschte seinen Dienst unter fadenscheinigen Ausreden und staunte am nächsten Morgen bei der Übergabe, wenn es wieder einen erwischt hatte. Seine gute Laune, weil er in dieser Nacht alle seine Patienten erfolgreich und noch sehr lebendig durchgebracht hatte, umgab ihn wie eine Wolke aufdringlichen Parfüms. Hochmütig und selbstzufrieden, ein erfolgreicher General nach siegreicher Schlacht, stand er neben dem Kurvenwagen.

„Wie geht`s Mrs. Oliver?“, erkundigte sich Jess und zupfte ihren Kittel zurecht.

„Stabiler Kreislauf, aber ihre Lunge läuft voll. Sie haben die Lasixdosis erhöht und ich hab sie regelmäßig absaugen müssen.“

„Shit!“

„Ich dachte du kannst es gar nicht erwarten, dass sie endlich stirbt?“

Jess schnitt ihm eine Grimasse. 

„Sie quält sich doch nur. Und ihr Mann hat längst eine Neue. Hast du bemerkt, wie eilig er es immer hat? Er wird eine pompöse Einäscherung organisieren, und danach werden er und der Rest der Welt sie vergessen. Sie wird anstandslos in der Bedeutungslosigkeit ihres Urnengrabes verschwinden. Ich hoffe nur, sie hat ein paar Freundinnen, die ihrer weiterhin gedenken.“

„Hat sie jemals Besuch bekommen?“

„Nein“, gab Jess traurig zu.

„Keine Liebe in dieser Welt“, jammerte Hank theatralisch und schlug sich kurz darauf an die Brust. „Aber dafür aufopferungsvolle Pfleger, die keine Anstrengung scheuen, ein Leben zu retten.“

„So wie du?“

„Genau“, gab Hank zurück. „Viel Spaß im Einsatz, Mrs. Marple“, sagte er und tippte sich zum Gruß an die Stirn, als verabschiede er sich von einem militärischen Vorgesetzten. Dann drehte er ihr seinen dreieckigen Rücken zu und marschierte davon. Dabei machte er erstaunlich kleine Schritte, und sein schmaler, fester Hintern in der engen weißen Hose (ihre Freundin Dolly würde von Knackarsch sprechen) bewegte sich kaum dabei. 

Als Jess an das Bett trat, röchelte Mrs. Oliver. Ihr Atem schlug den Schleim zu Schaum und ließ ihn aus ihrem Mund quellen. Als hätte sie einen Schluck Halo genommen oder Ariel oder wie sie alle hießen, diese Waschmittel, die gegen Flecken und Grauschleier eingesetzt wurden. Es sah aus, als versuchte die arme Frau, sich von innen selbst zu reinigen. Und nun erstickte sie beinahe bei dem Versuch, mit weißer Weste vor ihren Schöpfer zu treten. Jess steckte einen Katheter auf und saugte schnell den Schleim aus Mrs. Olivers Rachen ab. Ihre Patientin war Fünfundvierzig, keine zehn Jahre älter als sie selbst und deshalb fühlte sich Jess irgendwie schuldig. Gleichzeitig überlegte sie, was sie selbst wohl bereuen würde oder zu bereinigen hätte, wäre auch sie todkrank und müsste bereits gehen. Die Bilanz war niederschmetternd. Ihre Ehe war gescheitert, soviel war klar. Da gab es nicht wirklich etwas zu bereinigen. Wie sollte man all die kleinen und großen Streitereien, die Missverständnisse und ungeduldigen Vorwürfe nur aus der Welt schaffen? Sie hatten sich zu einem riesigen Müllberg aufgetürmt. Jess hatte das Gefühl, unter all dem emotionalen Sondermüll zu ersticken, wenn sie sich nicht hin und wieder mit einigen scharfen Keifereien den Weg freischnitt. Dann führte sie sich auf, wie früher ihre eigene Mutter. Ja, das hatte sie längst und verbittert erkannt. Aber sie war machtlos dagegen. Wann immer sie mit Andy sprach, klang ihre Stimme unwirsch und mindestens eine Terz zu hoch. Wie eine meckernde Himmelsziege (ein aussterbender Zugvogel, wie ihr Naturforschender Sohn Vincent ihr begeistert erklärt hatte). Kein Wunder, dass sie Andy kaum noch sah. Offensichtlich versuchte er, ihr aus dem Weg zu gehen. Er hatte Konflikte schon immer gern vermieden. Sie konnte ihn verstehen, sie würde sich auch nicht mit sich selber anlegen wollen. Und das, was sie beide früher verbunden hatte, existierte nicht mehr. Es war in den Jahren vertrocknet und zu Staub zerfallen, dieses Gefühl, nur gemeinsam etwas schaffen und sich dem Abenteuer des Lebens stellen zu können. Doch da gab es Vincent. Der wichtigste Posten auf ihrer Haben-Seite. Das Einzige, das ihr und Andy wirklich gelungen war. Der Hauptgrund dafür, dass keiner von ihnen sich eingestehen wollte, dass ihr Leben nur noch aus Routine bestand und sie in ihrer Ehe vollkommen alleine waren. 

Mrs. Oliver hustete blasig. Jess strich ihr mit der linken Hand beruhigend über das Schotterfarbene Haar. Während sie mit dem Katheter in ihren Hals hinein und wieder hinausfuhr, wurde jedes Mal die Sauerstoffzufuhr unterbrochen. Die Patientin, das wusste sie, bekam keine Luft, während sie das tat. Sie litt die Anfangsqualen einer Erstickung, vor der Jess sie doch eigentlich bewahren wollte. Mehrmals täglich krümmte sich ihr Körper unter dem hinterhältigen Sauger und im besten Wissen, ihr zu helfen, fühlte Jess sich dennoch als Folterknecht. Letztendlich würde die Lunge ihrer Patientin irgendwann wegen der Metastasen versagen, wegen eines Ergusses oder Sauerstoffmangels. Es war nur eine Frage der Zeit. Das Brodeln ging in ein Zischen über, als die Ziffer der Sauerstoffanzeige wieder über 90 stand und sie den Silikonkatheter endlich herauszog. Ein gemeines, seltsam hinterhältiges Geräusch. Jess ließ die Luft, die sie unwillkürlich angehalten hatte, aus den eigenen Lungen entweichen, holte tief Luft und warf den benutzten Saugkatheter in den Müll. Dann sank sie erschöpft auf einen Hocker. 

Was willst du, Jessica Marple, eigentlich wirklich vom Leben, fragte sie sich matt. Krankenschwester, Mutter, Ehefrau (wirklich jetzt? Wie lange noch?), das waren ihre Rollen. Nicht zuletzt Namensvetterin einer berühmten blaustrümpfigen Detektivin, die allerdings reine Fiktion war. Wie vielleicht alles andere auch. War sie eine gute Mutter oder bildete sie sich das womöglich nur ein? Ihre Vorstellungen von sich als der hingebungsvollen Ehefrau und von der alles überdauernden Liebe waren offenbar auch ziemlich unrealistisch gewesen. Angenommen. Erfunden. Vorgetäuscht? Wo zwischen all dem Schein und Sein befand sie sich, bitte schön, denn nun wirklich?

Sie sah auf ihre grünen Gummiclogs und zählte die Löcher darin. 

Der ganze Tag lag hellgrau summend vor ihr, wie ein Laufband, von dem sie nicht wusste, wann es anhalten würde. Ob überhaupt. Sie konnte die Mäuse verstehen, die ununterbrochen in ihren Rädern liefen, immer weiter, weil sie sonst nichts Anderes konnten, weil sie den Käfig nicht spüren und nicht sehen wollten, weil sie den Stillstand nicht ertrugen. Genau darum machte sie ihren Job. 

Sie stand auf. 

Die Visite führte sie von Bett zu Bett. Danach Medikamente richten. Essen austeilen. Ein hektischer Verbandswechsel zwischendurch, dann weiter, mit quietschenden Sohlen. 

Am Nachmittag konnte eine junge Frau nach ihrer Krebsoperation wieder auf ihre Station verlegt werden. Jess holte sie aus dem Wachzimmer ab. Als sie die Papiere auf das Fußende des Bettes legte, das schon auf dem Flur zum Abholen bereitstand, und die Patientin, noch ganz benommen von der Narkose, wimmerte wie ein kleines Kätzchen, musste sie unwillkürlich lächeln. Sie legte ihre Hand auf den zerstochenen Handrücken der Patientin und flüsterte in ihr Ohr, um das sich einige verschwitzte Haarsträhnen kringelten: „Alles wird gut.“

Einen Moment glaubte sie selber daran. 

Dann musste sie wieder zu Mrs. Oliver zurück.

Es dämmerte schon, als sie aus dem Seiteneingang trat. Sie musste sich beeilen, sie hatte versprochen, Vincent so rechtzeitig bei seinem Freund abzuholen, dass er sich noch das Fußballspiel im Fernsehen ansehen konnte. Erst als sie am Steuer saß, merkte sie es: Das portable Navigationsgerät mitsamt Kabel und Saugnapfhalterung an der Windschutzscheibe war verschwunden. Sie hatte Bildschirmfreie Sicht auf ihre Scheibenwischer, die Kühlerhaube und die vor ihr parkenden Autos der Kollegen.

„Shit“, fluchte sie zaghaft und versuchte, sich an die Adresse des Freundes zu erinnern. Einmal war sie bisher nur dort gewesen, die Familie wohnte irgendwo im East End. Die Kupplung beschwerte sich kreischend bei ihr über den unsanften Start, Jess trat das Gaspedal durch und schoss über das Kopfsteinpflaster. Ein Blick auf die Uhr verstärkte ihr schlechtes Gewissen: das Fußballspiel hatte bereits begonnen.

Jess nahm das Handyklingeln erst nach einer Weile wahr. Sie hatte in Gedanken auf das Lenkrad getrommelt und sich ihren Weg durch das unübersichtliche Straßengewirr gesucht. Es war erschreckend schnell dunkel geworden und sie irrte in ihrem Kleinwagen durch die Nacht, wie ein ausgesetztes Kind im Märchen. Das abendliche London war der große, schwarze Wald und auch die riesigen Leuchtreklamen änderten nichts daran, dass sie sich verloren fühlte. Sie hatte gerade die Tower Bridge hinter sich gelassen. Hatte sie sich wirklich so restlos und vollkommen verfahren? In einer holperigen Sackgasse wendete sie und griff dann nach ihrem Handy, das empört tutete. Es zeigte Vincents freches Teenagergrinsen.

„Ich bin gleich da.“

„Mum, du bist viel zu spät! Wo bleibst du überhaupt? Schon auf der Cambridge Heath??“

„Ja, Nein. Ich meine, ich weiß nicht.“

Anscheinend war sie eine zu früh abgebogen. Jess kurbelte mit einer Hand am Lenkrad und fädelte sich schnell hinter einem der roten Doppeldecker-Busse wieder in die Hauptstraße ein. Ein gedrungenes Taxi bremste hinter ihr und hupte.

„Ich glaube ich bin noch auf der Whitechapel Road.“

„Ist das weit von der Cambridge Heath?“

„Muss ich die rechts oder links runterfahren?“

„Mensch, Mum! Du hast ja überhaupt keine Peilung!“

Nein, die hatte sie nicht. Hätte sie aber gerne. So ein Peilsender wäre sogar genau das, was sie schon immer haben wollte. Sie hätte ihn Vincent bereits als Säugling unter die Haut pflanzen sollen, damit sie immer wüsste, wo er sich aufhielt. Dann hätte sie niemals Angst haben müssen, wenn er allein zur Schule und spät nachmittags wieder nach Hause ging. Hätte niemals an Kindesentführung und große böse Männer denken, sondern einfach nur auf ein beruhigendes Blinken auf irgendeinem Monitor blicken müssen. Und sie hätte ihn jetzt, verdammt noch mal, schneller gefunden, in diesem Straßengewirr! Aber für ein Handy mit GPS-Funktion war einfach nicht genug Geld da. Vielleicht sollte sie etwas mehr Geld in die Sicherheit ihres einzigen Kindes investieren und sich selbst einfach ein paar Bücher weniger kaufen? 

„Mum, hörst du mich? Du musst die Whitechapel Road weiter runter und dann links in die Cambridge Heath. Nach circa einem Kilometer wieder links und gleich die nächste rechts.“

Das hörte sich einfach an. Das würde sie schaffen.

„Hast du mich verstanden, Mum?“

„Ja, hab ich.“

„Und wie lange brauchst du noch?“

„Kann sich nur noch um Lichtjahre handeln“, versuchte Jess zu scherzen, als sie endlich richtig abbog.

„Noch neun Komma fünf Billionen Kilometer?“

Woher hatte der Junge das nur? Wer wusste schon, wie lang (oder weit?) ein Lichtjahr war? Wie um Himmels Willen konnte er sich nur so ein Zeug merken?

„Nein, so weit bin ich wirklich nicht entfernt.“

„Gedanklich schon“, maulte Vincent, „mindestens.“

Dann legte er auf.

2

Das Licht war gedämpft und der dicke Teppichboden schluckte jeden ihrer Schritte. Trotzdem sah Jan hoch als sie eintrat, als habe er sie gewittert.

„Du bist zu spät.“

Er sagte das ganz ruhig. Doch unter seinem Blick stellten sich die Härchen auf ihren Unterarmen senkrecht. Natürlich war er schon da. Er war immer schon da, er hasste Unpünktlichkeit. Nervös warf Xenia einen Blick auf die Uhr. Sie war nur vier Minuten zu spät, aber nach seiner Miene zu urteilen waren das vier Minuten zuviel. 

„Tut mir leid, Darling.“

Sie lächelte, während sie ihm einen Kuss auf die Wange hauchte und hoffte, er würde ihren schnellen Puls nicht auf ihren Lippen spüren. 

„Setz dich“, sagte er, als sie sich zu ihm hinab beugte. 

Xenia hatte die oberen Knöpfe ihrer Bluse gerade weit genug aufgelassen, so dass er das Aufblitzen ihres roten BHs würde erkennen können. Er schmiegte sich perfekt an die vollen Rundungen ihrer Brüste, ein Anblick, von dem sie wusste, dass Jan gar nicht genug davon bekommen konnte. 

In ihrer Klasse in Belgrad war sie das erste Mädchen gewesen, das Brüste bekam. Richtige Brüste, nicht solche kleinen Mirabellen. Sie wuchsen schnell und Xenia entwickelte sich noch vor ihrer Cousine Roxana zu etwas, das ihr Onkel als „eine richtige kleine Frau“ bezeichnet hatte (wieder ein Grund mehr zur Eifersucht). Mithilfe dieses Busens gelang es ihr, ihre schlechten Kenntnisse in Algebra auszugleichen. Denn wenn Herr Kristic Xenia aufrief und sie wie immer ziemlich ahnungslos an der Tafel stand, hatte sie sich stets vorgebeugt, um sich am Knie zu kratzen oder ihren Strumpf hoch zu ziehen und ihm einen langen Blick auf ihre weichen, runden Brüste gewährt, die sie wie zwei große samtige Pfirsiche vor sich hertrug. Er hatte dann irgendwie wehmütig gelächelt, geseufzt und sie wieder auf ihren Platz geschickt. 

„Sehen Sie sich die Formel doch bitte noch einmal an“, hatte er gesagt und es hatte geklungen, als habe er einen Frosch verschluckt.

Xenia rang sich ein weiteres Lächeln ab und tätschelte Jans manikürte Hand. Sie musste gute Miene zum bösen Spiel machen. Das Essen, erstmal mussten sie essen, dachte sie und nahm geziert ihm gegenüber auf einem der rot gepolsterten Stühle Platz. Um sie herum viel vergoldeter Stuck, satte Teppiche und Stofftapeten die aussahen wie die Desserts, die hier serviert wurden: blumig, köstlich und wie von Puderzucker übersät. Dieses Restaurant hatte einen Stern oder eine Kochmütze, was wusste sie schon, es war jedenfalls sehr fein und man sollte besser nicht zu spät sein, wenn man sich dort mit Jan traf. Denn darüber konnte er sehr böse werden und das würde er ohnehin noch im Laufe des Abends. 

„Hast du schon gewählt?“

Ihre Stimme klang in ihren Ohren zu hell und sie musste einem Impuls widerstehen, aufzuspringen und auf die Toilette zu laufen. Vielleicht war ihr Make-Up verwischt, der Lippenstift abgeblasst. Sein Rot erinnerte sie immer an Blut, schmeckte aber weniger metallisch. Eigentlich nach gar nichts. Xenia kannte den Geschmack des Blutes. Sie presste nervös die Lippen aufeinander und stülpte sie nach innen, um die Farbe gleichmäßig zu verteilen. Sie wusste, dass sie gut aussah. Manche sagten sogar, sie sei schön. Jan sagte das auch. Er sagte es ihr jeden Morgen und jeden Abend und Jan musste es ja wissen. Er war Geschäftsmann und hatte beruflich viel mit Frauen zu tun. Er besaß einen Club. Und manchmal dachte Xenia, dass er sie wirklich liebte. Dass er sie brauchte und ohne sie nicht leben konnte, so wie er es ihr immer zuflüsterte, wenn er nachts an einer ihrer großen weichen Brüste lag und ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Er schniefte dann und jammerte und sie wiegte ihn in ihren Armen wie ein Baby und freute sich, dass er sich nicht scheute, ihr seinen weichen Kern zu offenbaren. Ihr wurde ganz warm ums Herz, wenn sie daran dachte. Und ein wenig mulmig. Vielleicht, überlegte sie und nahm das Glas Champagner, das der Kellner ihr reichte, sollte sie sich die ganze Sache doch noch einmal durch den Kopf gehen lassen. 

„Sieh dir die Karte an“, sagte Jan und faltete sie vor ihren Augen auseinander.

Xenia begann zu lesen, während der Kellner die Flasche Champagner knirschend in einen eisgefüllten Sektkühler stieß. Sie musste sich möglichst rasch eine solide Grundlage verschaffen, von der aus sie argumentieren könnte. Ein leerer Bauch diskutiert nicht gern. Oder anders: wenn er hungrig war, wurde Jan immer aggressiv. Und das galt es zu vermeiden. 

„Nicht so verbissen schauen, Honey! Die Karte ist doch nicht auf chinesisch geschrieben.“

Er hob sein Glas. 

„Auf unseren gemeinsamen Abend!“, sagte Jan und bleckte die Zähne.

„Auf uns!“, antwortete Xenia und strahlte. 

Sie war überrascht gewesen, als Roxana und sie ihm vor einem Jahr durch einen Freund ihres Onkels in Belgrad vorgestellt wurden. Sie wusste, dass er fünfundzwanzig Jahre älter war als sie selbst. Ein viertel Jahrhundert! Länger als sie überhaupt schon auf der Welt war. Und sie hatte sich diesen Ausländer wirklich, wirklich alt vorgestellt. Aber sein Haar war noch nicht grau, er wirkte sportlich und schlank. Damals fiel ihr seine gute Figur und vor allem der Porscheschlüssel auf, den er ungeduldig zwischen den Fingern drehte. Porsche gab es in ihrer Heimat nicht. Extravagante Sportwagen hatte sie bisher nur auf den Fotos gesehen, die ihr Bruder aus irgendwelchen Zeitschriften ausgeschnitten und über sein Bett gehängt hatte.

Es war ein schmales Bett gewesen und hatte im Keller des schäbigen Häuschens ihres Onkels gestanden. Der Keller war dunkel und feucht und Xenia fröstelte jedes Mal, wenn sie das Zimmer ihres Bruders aufsuchte, das nicht mehr war als eine Abstellkammer, an deren Wänden der Schimmel klebte (unter den Sportwägen, versteht sich). Sie sahen sich selten, ihr Bruder musste in einer Fabrik arbeiten, um zum Lebensunterhalt beizutragen.

„Oder wollt ihr wieder ins Waisenhaus?“

Diese Frage wurde Xenia und ihrem Bruder immer dann gestellt, wenn einer von ihnen dem Onkel oder der Tante widersprach. Seit sie sich erinnern konnte, lebten sie bei ihnen unter dem Damoklesschwert der Drohung, wieder in eines dieser Heime abgeschoben zu werden, in dem die Kinder autistisch im Takt ihres Herzens den Kopf gegen die Gitterstäbe ihrer Bettchen schlugen. Bettchen, die sie sich mit zwei anderen Kindern teilen musste. Bettchen, die sie auf ihren verkrüppelten oder entkräfteten Beinchen nie wieder würden verlassen können. Niemand kam in diese Heime, um die Waisenkinder zu adoptieren. Sie waren lebendige Tote, die sich nur in das stille Reich ihrer Köpfe zurückziehen und dort ein wenig Ablenkung finden konnten, bis sie an Typhus oder Ruhr, an Salmonellen, Blutvergiftung oder einfach nur an Einsamkeit und gebrochenem Herzen starben. Ihr Bruder hatte für Xenia gekämpft. Hatte gearbeitet, seit sie bei dem Onkel wohnten. Doch er konnte sie nicht vor allem beschützen.

Wenn ihr Onkel nachts in Roxanas Zimmer kam, tat Xenia immer so, als ob sie schliefe. Er rüttelte sie wach und machte die Nachtischlampe an. (Was für einen gesegneten Schlaf unsere kleine Roxana doch hat, wurde er nicht müde zu beteuern, wenn das Thema auf die Nachtruhe kam.) Dann zog er einen Lolli hinter seinem Rücken hervor. Er zeigte Xenia, auf wie viele unterschiedliche Arten man an einem Lolli lecken konnte und als sie danach greifen wollte, hielt er ihre kleine Hand fest und legte sie in seinen Schritt. Er lehrte sie, ihn wie einen Lolli zu behandeln. Und erst wenn sein Stöhnen verebbte, bekam sie endlich die Süßigkeit. Sie drehte sich zur Wand und steckte den Lutscher schnell in den Mund, um den ekligen Geschmack, den der Onkel auf ihrer Zunge hinterlassen hatte, zu vertreiben.

Xenia stürzte den Rest ihres Champagners hinunter und fuhr sich mit der Zunge über die Schneidezähne. Kein Wunder, dass sie Karies gehabt hatte, als sie hier ankam. Der erste Gang mit Jan führte sie zum Zahnarzt. 

„An der Zahnhygiene zeigt sich, wie sauber der Mensch ist“, sagte Jan beinahe jeden Abend, wenn er die Zahnseide durch die Zwischenräume seiner Molare zog und dabei im Spiegel aussah, wie ein gefährliches Monster.

„Das Getränk der Götter“, unterbrach er ihre Gedanken und stellte sein ebenfalls leeres Glas ruckartig neben ihrem ab. Er musterte sie eingehend.

„Alles in Ordnung?“

„Natürlich, Darling.“

Sie warf noch einen schnellen Blick in die Karte und legte sie entschlossen zur Seite.

„Ich nehme Austern, sautierten Lachs, Kalbsmedaillon auf Safrankartoffeln und anschließend Champagnersorbet an warmem Nougatfondant.“

Jan nickte zufrieden und der Kellner entfernte sich mit einer angedeuteten Verbeugung.

Jan hatte sie da rausgeholt.

Zwölf Jahre lang war Xenia von Roxana gepiesackt worden („Sie ist wie eine Schwester zu ihr“, sagte die Tante, wann immer die Sprache auf die beiden Mädchen kam) und sie wusste ganz genau, wie Aschenputtel sich gefühlt haben musste.

An dem Blick, den sie ihr jedes Mal am nächsten Morgen zuwarf erkannte sie, dass Roxana damals in den Onkel-Nächten wach gewesen war und sich nur schlafend gestellt hatte. Es überraschte sie, dass sich darin kein Ekel spiegelte, sondern Hass und Eifersucht. Sie erkannte darin den Schmerz darüber, dass ihr Onkel Xenia der eigenen Tochter vorzog. Und eine wilde Wut auf diese Cousine, die sich in Roxanas Leben und in ihr Zimmer gedrängt hatte, die ihr die Liebe ihres Vaters raubte und seine nächtliche Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie vergalt es Xenia mit tausend kleinen Gehässigkeiten. Und einigen großen Gemeinheiten.

Zum Beispiel die Sache mit Krishna, ihrem Hamster. Xenia hatte sich so gefreut, als eine Freundin ihr das kleine Tier in einem Schuhkarton überreichte. Roxana liebte es, ihn ihr abzujagen und an einer seiner rudimentären Pfoten im Kreis zu schleudern. Sie drohte damit, ihn loszulassen, wenn Xenia ihr nicht jeden Wunsch erfüllte. Und als ihr an einem heißen Sonntagmorgen die Limo, die Xenia ihr brachte, zu warm war, ließ sie ihn fliegen. Krishna klatschte gegen die Hausmauer aus Beton und lag hechelnd am Boden. Bevor Xenia ihn aufheben konnte, trat Roxana einmal kräftig mit ihrem Absatz zu.

„Gnadentod“, sagte sie kalt. „Du brauchst mir nicht zu danken.“

Wäre ihr Bruder nicht gewesen, Xenia wäre vermutlich weggelaufen. Doch er machte ihr klar, dass ein Leben auf der Straße für Mädchen nichts Anderes als Gewalt, Drogen, Missbrauch bedeuteten. Sie hatte ihm nicht die Illusionen nehmen wollen, indem sie ihm vom Onkel erzählte.

Dass Jan sich Zeit mit der Weinkarte ließ, erleichterte sie. Es lenkte ihn von ihr ab und sie beobachtete ihn, wie er mit Kennermiene das Angebot unter die Lupe nahm, sich mehrere Flaschen kommen und entkorken ließ, den Weinkelch schwenkte, seine lange Nase hineinhielt, schnupperte und dann einen kleinen Schluck nahm, den er behaglich von einer Wange in die andere schob. Ein Wunder, dass er nicht mit dem Wein gurgelte, dachte Xenia. Sie fand ihn lächerlich. Doch sie blieb auf der Hut. 

Dabei war sie Jan wirklich dankbar gewesen. 

Dieser Freund eines Freundes schien ein guter Mann zu sein. Er sprach ihre Sprache, zumindest in groben Brocken, und er war Niederländer. Er suchte für gut bezahlte Jobs im Ausland noch junge Mädchen. Roxana sollte gehen, entschied der Onkel, und Xenia sollte sie begleiten. (Was hatte man nicht schon für schlimme Dinge gehört, die den Mädchen dort drüben widerfuhren.) Xenia freute sich auf dieses Land, zu dem ihr nur die Farbe Orange und die Tatsache einfiel, dass es dort eine Königin gab, die gern große Hüte trug. Natürlich war es eine Überraschung gewesen, als sie stattdessen nach England kam. Das Land war ihr fremd vorgekommen und düster und die Königin dort trug meist nur kleine Hüte. Die Sprache erschien ihr härter, als die paar Brocken Niederländisch, die sie gelernt hatte, die Blicke der Menschen auf den Straßen auch. Nur Jan war anders. Anfangs.

Er hatte Roxana und Xenia ein Glas Champagner nach dem anderen spendiert und irgendeinen amerikanischen Schriftsteller zitiert, der anzüglich aber bewundernd über Brüste schrieb. Er habe, so sagte Jan ganz begeistert, sogar ein ganzes Buch darüber verfasst, wie sich ein Mann eines Tages plötzlich in eine riesige, siebzig Kilo schwere weibliche Brust verwandelte. 

„Was für eine Vorstellung!“

Dabei hatte er ununterbrochen auf ihr Dekolleté gestarrt, das zugegebenermaßen sehr weit ausgeschnitten war, auf Rat von Roxana. Und Xenia hatte sich geschmeichelt gefühlt und seine Hand zugelassen, die sich bald um ihre Taille herum wand und auf der anderen Seite wie zufällig den unteren Rand ihrer linken Brust streifte.

„Was stocherst du so? Kein Appetit?“

Jan sah sie über die Austern hinweg an. Xenia hatte gar nicht gemerkt, dass sie noch immer den Zitronensaft in der Schale verrührte. Dem armen Tier musste schon ganz schwindelig sein. Aber egal, sein Dasein war ohnehin beendet, dachte sie grimmig. Sie musste sich zusammenreißen.

„Doch. Ich liebe Austern!“, sagte sie und schluckte kräftig. 

Anschließend verputzte sie die Hauptspeise bis auf den letzten Krümel. 

„Wenn du entschuldigst. Ich muss mich kurz frisch machen.“

Sie schaffte es gerade noch in die Kabine, bevor sie sich übergab. Sie fühlte sich schwach, aber sie kämpfte dagegen an. Sie hatte es versprochen. Also würde sie es durchziehen.

Schnell spülte sie den Mund aus, zog die Lippen nach und wischte einen Rest Lippenstift vom rechten Schneidezahn ab. Jetzt musste sie sich aber wirklich beeilen. Sie hatte sich schon seit Wochen vorgenommen, mit ihm zu sprechen. Sie hatte es nicht nur versprochen, es war auch ihre einzige Chance, von ihm fort zu kommen.

Das erste Mal, als ihm bei einem Streit die Hand ausrutschte, hatte er sich noch entschuldigt. Sie schmeckte Blut, salzig und metallisch und sie war erschrocken, wie sehr sie der Geschmack an daheim erinnerte. An das hässliche Haus in Belgrad, an die Ohrfeigen ihrer Tante und an ihre aufgeschürften Knie, wenn sie wieder lange vor ihrem Onkel hatte knien müssen. Sie hatte dann mit der Zunge über die feinen Blutperlen geleckt, die aus der Schürfwunde auftauchten wie kleine Rubine im Netz des Edelsteinsuchers. Das Blut vermischte sich mit den Tränen, die sie tapfer hinunterschluckte. Es war nicht viel anders jetzt, auch wenn sie kein Kind mehr war. Trotzdem hatte es sie überrascht. Sie hatte nach Luft geschnappt, das erste Mal. Danach hatte er sie immer öfter geschlagen. Als habe er Gefallen daran gefunden oder als habe er eine Maske fallen lassen, die ihm nicht länger zu passen schien. Das Blut im Mund verursachte ihr Übelkeit und ein wundes, rachsüchtiges Monster labte sich daran und wuchs in ihr heran. 

Sie stellte sich immer häufiger vor, wie sie Jan den Gürtel, den er sich wütend aus der Hose zerrte, entreißen und gegen seine Schläfe schleudern würde, anstatt seine Schnalle wieder und wieder auf dem Rücken, der Hüfte, den Schultern zu spüren. Sie überlegte, welches Geräusch es wohl geben würde, wenn er zu Boden ginge und sie mit einem Absatz ihrer hohen Stilettos zwischen seine Beine treten und seine Hoden zerquetschen würde. Ob überhaupt etwas anderes als sein Geheul zu hören wäre (vorausgesetzt, er würde nicht sofort in Ohnmacht fallen, man wusste ja, wie empfindlich Männer sein können).

Xenia schüttelte diese Vorstellung ab, atmete tief durch, strich sich die glitzernde Bluse über den Hüften glatt und verabschiedete sich von ihrem Spiegelbild. 

Als das Champagnersorbet an warmem Nougatfondant gebracht wurde, war ihre Kehle wie zugeschnürt. Denn der Nachtisch war genau der richtige Zeitpunkt, endlich damit herauszurücken. Sobald sich eine warme Süßspeise in seinem Magen ausbreitete, setzte Jan ein zufriedenes Grinsen auf und seine Aufmerksamkeit war weniger gespannt. Es war, als rollte sich sein inneres Alarmsystem wohlig zusammen und begänne zu schnurren. Dieser warme Nougatfondant war ihr einziger Verbündeter. Sie musste es wagen.

„Ich würde gern nach Hause, Jan. Nach Belgrad. Ich weiß, ich könnte dir nützlich sein dort. Ich kenne viele Mädchen.“

Jetzt war es heraus.

„Heimweh?“ Seine linke Augenbraue hob sich zackenförmig an, während er genüsslich weiterkaute.

„Ich bin nach England gekommen, um Geld zu verdienen. Vielleicht eine Ausbildung zu machen. Doch bisher liege ich dir nur auf der Tasche. Ich will dir das nicht weiter zumuten. Ich habe gedacht, ich könnte mich revanchieren. Ich bin nicht dumm. Ich weiß, du hast sehr viele Geschäftspartner. Wenn du mich lässt, könnte ich dir vielleicht bei deinen Geschäften helfen. “

„Du willst also Geld verdienen? “

Er lachte laut und einige Leute am Nachbartisch drehten sich kurz um.

„Warum hast du das nicht gleich gesagt? Roxana würde liebend gern mit dir tauschen, da bin ich sicher.“

Roxana arbeitete in seinem Club. Xenia war sich nicht sicher, was genau sie dort tat. Sie hatte sie dort tanzen sehen, das einzige Mal, an dem Jan sie mitgenommen hatte. Er hielt sie fern von seinem Unterhaltungsbetrieb, wie er den Club nannte. Er wollte sie ganz für sich. Vielleicht konnte sie das zu ihrem Vorteil ausnutzen.

„Sonst gehe ich fort, verstehst du?“

Er sah sie nur an. In diesem Moment erkannte sie an seiner Ruhe, dass sie ihn falsch eingeschätzt hatte. Vollkommen falsch.

„Ich glaube, du hast hier Einiges nicht ganz verstanden. Ich habe deinen Pass und ich habe das Geld. Ich werde dir nicht erlauben zu gehen.“

Er nahm die Stoffserviette von seinem Schoß und tupfte sich die Lippen ab. Er lächelte, als er sie wieder sinken ließ.

„Aber was deinen Wunsch angeht, ein wenig Geld zu verdienen, kann ich dir entgegenkommen. Ich hätte da ein paar sehr interessante und kurzweilige Aufträge für dich. Es wird dir gefallen. Vertrau mir.“

Er stand auf und blieb neben ihrem Stuhl stehen, bis auch sie sich erhoben hatte. Dann fasste er sie mit links am Unterarm und sein Griff schien bis auf den Knochen zu gehen. Mit der rechten Hand unterschrieb er im Hinausgehen die Rechnung. An der Garderobe half er ihr selbst in den Mantel, der ihr auf einmal wie eine Zwangsjacke vorkam. Vor der Tür stand schon sein Wagen. Aber er stieg nicht ein. Er nickte Omar, seinem Chauffeur, der stets ein elfenbeinernes Lächeln im dunklen Gesicht trug, zu und verdrehte Xenia den Arm, sodass sie ihm folgen musste, wollte sie sich nicht einen Unterarmknochen brechen lassen. 

In der nächsten Querstraße hielt Omar an und Jan öffnete ihr den hinteren Wagenschlag. Für einen kurzen Moment dachte sie, er hätte ihren Vorstoß nicht ernst genommen und alles ginge so weiter wie früher. Er würde ihr mit einer galanten doch etwas clownesken Bewegung in den Wagen helfen, einen taffen Spruch ablassen und sie zurück in seine Wohnung bringen. Doch dann traf sie sein Tritt in die Kniekehlen, während er sie gleichzeitig von hinten auf die Rückbank schubste. Wo hatte er nur plötzlich die Kabelbinder her? 

Xenia überlegte fieberhaft, was Jan sonst eigentlich mit Kabelbinder anfing (Leitungen fixieren? Andere Frauen fesseln?) als seine Faust ihre Gedanken zum Erliegen brachte. Es donnerte und dröhnte in ihrem Kopf und sie schmeckte wieder ihr eigenes Blut. Aber sie war noch bei Bewusstsein, als Omar mit quietschenden Reifen davonfuhr. 

Sie verhielt sich still, es war nur eine kurze Fahrt. Die pinke Leuchtschrift des Jasmin flirrte über ihrem Kopf in der Nacht, als sie vor dem Club anhielten. 

Jan und Omar verließen den Wagen. Xenia hob vorsichtig den Kopf. Sie sah durch die Scheibe Roxana an der Wand neben dem Eingang lehnen und eine Zigarette rauchen. Sie trug hohe Stiefel, einen zu kurzen Rock und sah aus wie eine durchschnittliche Prostituierte. Erst in diesem Augenblick wurde Xenia klar, wie naiv sie gewesen war. Tänzerin? Das erste Mal in ihrem Leben tat Roxana ihr wirklich leid. Aber Roxana war stark und sie war hier. Sie würde ihr helfen. Sie hatten schon zu viel gemeinsam durchgemacht. Sie waren eine Familie, zumindest das.

„Roxana!“, rief sie leise und klopfte mit ihrer Stirn gegen das Fenster, auf dem sie eine klebrige, dünne Blutspur hinterließ.

„Roxana!“

Ihre Cousine hob den Kopf und ihre Augen trafen sich. Sie würde herüberkommen und sie befreien. Sie würde ein gutes Wort für sie einlegen bei Jan, wenn er wiederkam. Sie würde irgendetwas tun, um sie aus dieser Situation zu befreien, von der nicht sicher war, wie Xenia daraus hervorgehen würde: tot oder lebendig.

Roxana rührte sich nicht. Sie lächelte ihr zu und machte eine kleine Bewegung mit ihrer Zigarette. Dann kamen Jan und Omar zurück.

„Hast du endlich erkannt, was für eine falsche Schlange sie ist?“, gurrte Roxana und streichelte das Revers von Jans anthrazitgrauem Unternehmer-Anzug.

Er stieß sie ohne Erwiderung von sich und stieg vorne neben Omar ein. Roxana sah dem Wagen beleidigt nach. Dann hob sie träge die Hand und winkte Xenia zum Abschied zu.

3

Die Musik in diesem Laden gefiel ihm. Sie kam aus einer alten Juke-Box und es standen nur Titel zur Auswahl, die auch sein Vater gehört hätte. Hätte er ihn gekannt. Thin Lizzie, Alice Cooper, Tina Turner. Nicht dieses moderne Gestampfe und auch nicht das optimistische Gedudel der Radiosender, die von täglich wechselnden, blutjungen Moderatoren mit immer fröhlichen und nervtötenden Sprüchen sowie Werbejingles verseucht waren. Edward Wolfe kannte seinen Vater aber nicht. Seine Mutter hatte alle Fotos von ihm verbrannt, nachdem er sie vor vierzig Jahren verlassen hatte. Damals war Wolfe fünf Jahre alt gewesen und hatte heute so gut wie alles, was seinen Vater betraf, vergessen. Das Einzige, woran er sich erinnerte, war ein Moment, als ihm jemand (und er war sich sicher, dass es sein Vater gewesen sein musste) einen braunen Cowboyhut auf den Kopf setzte und einen Revolver in die Hand drückte. 

„Ein richtiger Mann braucht einen Colt, Kleiner.“

Das Gesicht des Sprechers blieb ihm wegen der breiten Krempe des Hutes verborgen, aber sein Gefühl sagte ihm, dass dies sein Vater gewesen war. Das war am Weihnachtsabend, kurz bevor er sie verlassen hatte. Sylvester hatte der kleine Edward mit seinem neuen Revolver all seine Platzpatronen verschossen. Sein Vater hatte sich daraufhin nicht wieder blicken lassen, wie seine Mutter erklärte. Es klang immer ein wenig so, als habe er, der kleine Edward, Schuld daran gehabt. Sie hatte ihm keine neuen Patronen mehr gekauft, sodass er seinen Revolver nie wieder benutzen konnte. Und wenn er sie später nach seinem Vater fragte, hatte sie nichts weiter erzählt. In letzter Zeit sprach sie ohnehin so gut wie gar nicht mehr. Aber heute hatte sie eine Bemerkung gemacht, die etwas in ihm berührte. Und jetzt saß er über dem zweiten Bier und grübelte darüber nach, was er damit anfangen sollte. 

„Hallo Mutter“, hatte er gesagt.

Er war schon lange nicht mehr bei ihr gewesen, denn er hasste diese langen Sonntage. Außerdem hatte er häufig Wochenenddienst. Natürlich war das nur eine Ausrede. Er bekam Beklemmungen dort. Heute war es wieder so gewesen. Kaum war er nachmittags durch die gläserne Schiebe-Tür getreten, wollte er schon wieder umkehren. Er war ein gestandener Mann, groß und schlank, breitschultrig, trug meist einen Dreitage-Bart. Manche Frau hatte ihn schon mal mit einem Trapper verglichen. Und doch wollte er sofort fliehen von dort, wo die größte Bedrohung von den ausgeklappten Fußstützen zahlreicher Rollstühle ausging, über die er stolpern könnte. Die bleichen Alten, die darinsaßen, würden sich nicht zu einer Armee knochiger Geister formieren und ihn mit klappernden Gebissen angreifen. Sie ignorierten ihn, verströmten jedoch ihren Alte-Leute-Geruch wie Giftgas. Wolfe konnte kaum atmen hier und spürte trotz der Indifferenz der Kaffeeklatsch-Teilnehmer eine ungewohnte Panik in sich aufsteigen. Er kämpfte das Gefühl mit Mühe nieder und war danach so erschöpft, dass er zwei Stücke Kuchen aß, wovon ihm obendrein auch noch schlecht wurde. 

„Wer sind Sie?“, hatte sie geantwortet. 

„Was wollen Sie von mir? Wollen wir spielen?“

Ihre Stimme klang kindlich und eifrig, als wolle sie unbedingt mitmachen bei einem Spiel, dessen Sinn sich ihr entzog. Doch Dabeisein war alles für sie. Den Sinn hatte sie ohnehin längst vergessen. Die Frage danach auch.

„Gerne“, sagte Wolfe, der jegliche Form von Gesellschaftsspielen hasste. Er verließ sich darauf, dass die hinterhältigen Plaques in ihrem Hirn sowieso verhindern würden, dass sie im nächsten Moment noch wusste, wovon sie eben gesprochen hatten. Die letzten drei Jahre hatte sie bereits in diesem Heim verbracht, nachdem sie in ihrer Wohnung gestrandet war, wie auf einer fremden Insel. Sie hatte vergessen, wo die Toilette war und dass man den Herd wieder ausschalten musste. Sie wurde mehrfach desorientiert aufgegriffen, nur zwei Querstraßen von ihrem Haus entfernt, jedoch unfähig, sich an Rückweg oder Adresse zu erinnern, mit kleinen Schritten sich vortastend, auf dem Gehsteig und in Gedanken. Sie kam nie wieder bei sich an. 

Wolfe führte seine Mutter am Ellenbogen in eine stille Ecke des Aufenthaltsraumes, an dessen fröhlicher Pinnwand Ausflüge in den Zoo und gemeinsames Bingo angekündigt wurden. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es dabei mehr als vier aktive Teilnehmer gab.

„Du siehst traurig aus, alter Mann“, sagte das Mädchen hinter dem Tresen mit einem leicht ostischen Akzent und stellte ihm ungefragt das dritte Pint hin.

Er fühlte sich wirklich alt und war ihr deshalb kein bisschen böse. Vielleicht nicht ganz so alt wie die Heimbewohner von heute Nachmittag, aber irgendwie doch zu alt, um ein verlorener Sohn zu sein. Er lächelte schief, woraufhin sie strahlte, als habe sie gerade das schönste Kompliment ihres Lebens erhalten. Sie sah aus, als könnte sie seine Tochter sein, höchstens achtzehn, wenn man ihn fragte.

„Nicht viel los heute, was?“, sagte er, um Konversation zu machen.

„Nein. Ich meine, ja.“

Sie wischte mit einem sauberen Lappen den Tresen trocken.

„Seit es das Jasmin gibt, trinken die Leute ihr Bier lieber dort. Ist zwar teurer, aber dafür können sie auch noch Mädchen sehen. Halb nackt oder nackt, wissen Sie“, fügte sie irgendwie verschwörerisch hinzu.

Wolfe nickte. Die „Leute“ waren Männer, immer nur Männer. Und Männer wollten Mädchen. Es war das alte Lied. Wahrscheinlich hatte auch sein Vater seine Mutter wegen einer jüngeren Frau verlassen. Seine Mutter war dreißig gewesen.

Eine Frau im besten Alter, dachte er. So war sie mit ihrem Sohn in der kleinen Wohnung zurückgeblieben, und auch nachdem Wolfe ausgezogen war, hatte sie die Räume nicht verlassen. Bis sie sich darin irgendwann nicht mehr zurechtfand. Wolfe hatte durchaus registriert, dass ihr Gedächtnis Lücken bekam, dunkle Löcher mit gezackten Rändern, Mottenfraß im Gehirn. Zuerst konnte sie einfach komplexere Sachverhalte nicht mehr behalten. Die Maschen ihrer Gedanken fielen wie von einer Stricknadel herab und ribbelten ganze Gedankengebäude auf, sodass sie ins Stottern geriet und wütend verstummte. Natürlich hatte er, wie immer, die Schuld daran. Wenn er sie korrigierte, wies sie ihn herrisch zurecht.

„Was weißt du denn davon? Du hast noch nie etwas Anständiges zu Wege gebracht.“

Sie hatte Recht. Er war ein enttäuschend schlechter Schüler gewesen. Hatte die Schule abgebrochen („Versager!“) und sich mit Gelegenheitsjobs im Fitnesscenter und bei einer Sicherheitsfirma über Wasser gehalten, bis ihn eines Tages der Ehrgeiz packte. Er hatte das Abitur an der Abendschule nachgeholt („Abendschule?“ hatte sie mit einem Ekel in der Stimme gesagt, als spreche sie über Aids oder Lepra oder eine andere ansteckende Krankheit) und sich anschließend bei der Metropolitan Police beworben. 

„Du scheinst einsam zu sein.“

Das Mädchen stand wieder vor ihm und beugte sich über den Tresen. Wenigstens hatte sie nicht mehr „alter Mann“ zu ihm gesagt. Er lächelte, hob sein Pint auf ihr Wohl und starrte sie durch das gebogene Glas und den schlierigen Bierschaum darin an.

„Soll ich dir ein wenig Gesellschaft leisten?“

Wolfe stellte sein Glas abrupt wieder ab.

Sie war zu jung dafür. Viel zu jung, um solche Fragen zu stellen. War sie eine Professionelle? Verdiente sie sich ein Trinkgeld in dieser Bar und arbeitete nur unter dem Vorwand hier, um ihre Freier abzuschleppen?

„Nein“, nuschelte er, „Nein, besser nicht.“

„Komm, sei kein Frosch.“

(Welches junge Mädchen drückte sich heute noch so aus?)

„Laubfrosch oder Wetterfrosch?“

Sie lachte tatsächlich über seinen schwachen Witz und zog die flache Holzkiste eines Backgammon-Spiels unter dem Tresen hervor.

„Lass uns was spielen.“

Er grinste erleichtert darüber, dass ihr Angebot nicht zweideutig gemeint gewesen war. Wahrscheinlich war sie doch nur eine ausländische Studentin, die sich ihre Seminare in englischer Literatur und Kulturanthropologie durch nächtliche Arbeit verdienen musste. Aber warum, verdammt noch mal, wollten heute alle mit ihm spielen? Sie würde er nicht vertrösten können. Sie sah nicht so aus, als würde sie schnell vergessen. Sie hatte einen cleveren Zug im Gesicht. 

„Dann brauche ich eindeutig noch was zu trinken“, sagte er und nickte zufrieden, als sie eine Flasche Scotch aus dem Regal zog und zusammen mit zwei Gläsern vor sich hinstellte. Das erste Glas kippte er in einem Zug hinunter. Vielleicht konnte er auf diese Weise den Nachmittag bei seiner Mutter vergessen, so wie sie sich ganz allmählich selbst vergessen hatte.

Ganze Episoden aus ihrem Leben waren ihr plötzlich fremd geworden, als hätten sie nichts mit ihr zu tun. Sie vermied es, mit alten Bekannten zusammenzutreffen, die sie gut genug kannten, um in alten Zeiten zu schwelgen, doch nicht gut genug, um ihre Vertrauten zu sein. Anvertraut hatte sie sich zunächst niemandem. Hatte versucht, ihre Lücken zu verbergen, darüber hinweg zu reden, abzuwinken. Direkte Fragen brachten sie in Verlegenheit. („Hör auf damit, wir sind hier doch nicht bei einem deiner peinlichen Verhöre!“) Das war die Zeit der Frustration. Und sie hatte die Wut immer an ihm ausgelassen.

Dann kam die Angst.

Die Pin-Nummer ihres Bankkontos konnte sie sich noch aufschreiben, seine Telefonnummer auch. Doch sie dachte, sie sei ausgeraubt worden, als sie ihren Schmuck nicht mehr fand. Und als sie mehrfach in eine unverschlossene Wohnung mit weit offener Wohnungstür zurückkam, meinte, sie, Opfer einer Verschwörung geworden zu sein. Ihre Anrufe bei ihm waren vorwurfsvoll wie immer („Unternimm etwas! Irgendetwas wirst du für deine Mutter doch tun können, oder nicht?“) Aber dass sie ihn überhaupt um Hilfe bat, ihn, den sie immer nur schlechtgemacht und der ihre Erwartungen nicht erfüllt hatte, genügte ihm als Hinweis auf ihre Angst. Er baute neue Schlösser an ihre Tür („Wie viele Kilo Metall kann ich deiner Meinung nach an einem Schlüsselring mit mir herumschleppen?“), installierte einen Panikknopf („Stehen dann etwa plötzlich wildfremde Männer in meinem Flur?“) und er schenkte ihr ein Handy mit Ortungssystem. Aber als sie ihn das erste Mal fragte: „Wer sind denn Sie?“, wusste er, dass er den Kampf verlieren würde. Es schwang eine neue Unsicherheit in ihrer Stimme mit, wie ein Alarm. 

Er wollte ihr zu Hilfe eilen, indem er sagte, „Ich bin es. Edward, dein Sohn.“

Doch der verächtliche Blick, der ihn daraufhin traf, machte alles nur noch schlimmer. Er fragte sich, ob sie ihn auf diese Weise ansah, weil sie nicht wusste, wer er war oder weil sie es sogar sehr genau wusste. 

Er war niemals gut genug gewesen. Niemals so gut wie sein Vater.

„Welcher Vater?“, fragte sie manchmal arglos, als wäre sie wie die Jungfrau zum Kind gekommen. Als wäre sie nicht im Boden versunken, wenn jemand andeutete, dass sie eine alleinerziehende Mutter war. Sogar nachdem er im Alter von siebzehn Jahren ausgezogen war, schämte sie sich noch immer dafür. 

Sie hatte ihm erzählt, sein Vater sei nach Amerika gegangen, um sein Glück zu machen. Ende der Siebziger nach Las Vegas. Ob er dort als Zauberer auftrat, hatte sich Wolfe gefragt, oder Tiger zähmte? Ein Casino leitete oder dort Croupier war? Jemand, der mit Zahlen und Karten jonglieren konnte, der das Vertrauen seines Chefs genoss und hin und wieder schwere Geldsäcke in einen unterirdischen Tresor trug? (Er hatte eindeutig zu viele Hollywood-Filme gesehen, James Bond und Danny Ocean ließen grüßen.) Vielleicht war sein Vater auch Elvis-Imitator geworden. Es kräuselten sich ihm die Fußzehen bei dieser Vorstellung, aber solange er damit Geld verdiente... Er hatte auf sehr verschiedene Art an diesen fiktiven Vater gedacht, der unerreichbar war und ihn offensichtlich vergessen hatte. Bis heute. Bis seine Mutter in einer kurzen Anwandlung von Klarheit herausplatzte: „Dieser Mistkerl. Sitzt in Carlisle und schaukelt Enkelkinder auf den Knien.“

„Wieso in Carlisle?“, hatte er gefragt, völlig perplex. Ging es wirklich um seinen Vater?

„Wieso, Wieso, Affen-Po!“, hatte sie singend geantwortet und war wieder in die unergründlichen Weiten ihres allmählich zerfallenden Geistes abgedriftet.

Um halb sechs gab es Abendessen. Weich gekochte Hausmannskost, Roastbeef mit Kartoffelbrei und Erbsen in pappiger Mehlsoße. Alles sah gleich aus, auch Yorkshire Pudding (den sie hasste) oder Meat Pies. Es schmeckte auch alles gleich, aber sie aß es, Hauptsache es war püriert.

Früher lag in ihrem Kühlschrank fast immer eine Blutwurst. In jeglicher Form. Haggis mochte sie am liebsten. Zungenwurst, harte Blutwurst, Blutwurst mit Speck. Blutwürste und Leberwürste mit Erbspüree und Kartoffelstampf waren ihr Leibgericht gewesen. Er hatte schon im Alter von drei Jahren von ihr den schwierigen Umgang mit den Wurstpellen gelernt. Und sie hatte noch lange an dieser Vorliebe festgehalten, da wusste sie schon ihren Namen nicht mehr. Doch als er erlebte, wie sie verwundert und hilflos vor ihren Würsten saß und nicht wusste, was sie mit ihnen anfangen sollte, war ihm klar, dass sie wirklich nicht mehr sie selber war. Sie war zurückgekehrt zum Geschmack ihrer frühen Kindheit und bevorzugte wieder Kartoffelbrei und Bananen-Mus.

Die Flasche Scotch hatten sie halb geleert. 

Sie bauten nur noch Türmchen aus den Steinen, das Back-Gammon hatten sie aufgegeben. Das Mädchen hatte immer gewonnen (er hatte doch gewusst, dass sie clever war!) und bog sich immer noch vor Lachen. Sie war albern und sie war süß und hätte er eine Tochter gehabt, sie hätte so sein dürfen wie sie. Sie hieß Nadja. Nicht wirklich sein Fall, aber Namen waren nichts als Schall und Rauch. Namen konnte man ändern. Namen konnte man vergessen. So, wie seine Mutter sich nicht mehr an den Namen ihres Sohnes erinnerte. Wie sie vergaß, dass sie überhaupt einen Sohn hatte. Oder einen Mann. In diesen Momenten vermisste sie ihn zumindest nicht mehr und hatte ihre Enttäuschung und ihre Wut vergessen.

Vielleicht war es ja auch eine Gnade, dass Stücke ihrer Biografie sich vor ihren Augen auflösten. Irgendwann wü