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Ein Mann erwacht in einem Keller, ohne Gedächtnis und ohne Identität. Er weiß nur eins: Er muss hier raus - so schnell wie möglich. Er dürfte überhaupt nicht hier sein. Wenn sie ihn hier drin erwischen, dann wird er nie wieder das Tageslicht sehen. Und der Entsorger ist bereits unterwegs, um ihn zu holen. Er versucht, aus dem Keller zu flüchten, doch er findet den Ausgang nicht. Stattdessen verirrt er sich in einem Labyrinth voller Todesfallen. Naturgesetze besitzen hier keine uneingeschränkte Gültigkeit mehr. Und er ist nicht alleine hier unten. Außer ihm existieren noch weitere Menschen in der Kellerwelt. Jeder einzelne ohne Gedächtnis. Jeder einzelne ohne Hoffnung, den Keller jemals wieder zu verlassen. Und je weiter ihn seine Reise durch die Korridore der Kellerwelt führt, desto deutlicher spürt er die Präsenz eines unheimlichen Wesens. Eines Wesens, das er nicht kennt und das er nicht kontrollieren kann. Ein Wesen, das zu unvorstellbarer Grausamkeit fähig ist, wenn man es von der Leine lässt. Dieses Wesen ist er selbst. Bewaffnet. Und gefährlich.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Titelseite
Impressum
Und los!
Vernichtungsauftrag
P 226
Zum Loch
Automatische Waffen
Feige Sau
Katakomben
Orakel
Knochenkauer
Kein Durchgang für Entsorger
Zeit für ein Nickerchen
Kloake
Wie ein Korken aus der Flasche
Gespenster
Kühe
Spinnen
Siedlung
Einzelgänger
Kartenhaus
Waffenkammer
Im großen Stil aufräumen
Wenn es läuft, dann läuft es
Feindkontakt
Menschenvernichtungsmaschine
Sein wahres Gesicht
Bombentrichter
Letzter Ausweg
Treppenwelt
Todesfragen
Krawattenträger
Hinterhalt
Nahkampf
Schwarz wie die Nacht
Endstation
Druckwelle
Epilog: Identität
Über den Autor
EDRS - Die Erste Deutsche Raumstation
Menschliche Einzelteile
KELLERWELT
Ein Roman von
Niels Peter Henning
Impressum
© 2015, 2020 Niels Peter Henning
Autor und Umschlaggestaltung:
Niels Peter Henning
Finkenweg 25
35440 Linden
E-Mail: [email protected]
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Und los!
Aufwachen.
Er riss die Augen auf.
Verdammt!
Was sollte das hier sein?
Ein kleiner Raum. Wände aus Beton und eine schwere Feuertür. An der Decke führte eine Arbeitsleuchte einen nahezu aussichtslosen Kampf gegen die Dunkelheit.
Und Feuchtigkeit. Überall Wasserflecken. An den Wänden tränten Auswaschungen herab. Ein Tropfen fiel von der Decke und landete in einer Pfütze in der Mitte des Raumes. Außerdem bedeckte eine Art Schmiere große Flächen der Wände.
Er befand sich offenbar in einem Keller. In einem ziemlich heruntergekommenen Keller, um genau zu sein. Er hatte hier geschlafen, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Doch weswegen hatte er das getan? Normalerweise schlief er nicht in einem Keller. Normalerweise schlief er … woanders. Wo? Das fiel ihm nicht ein. Woanders eben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem Bett.
Er hätte gerne noch weiter über seine Schlafgewohnheiten nachgedacht, doch stattdessen blitzte ein anderer Gedanke in seinem Kopf auf: Er musste hier raus.
Er musste raus, und zwar schnell. Auf der Stelle. Sofort.
Weswegen? Das wusste er nicht. Doch er fühlte sich hier drin nicht wohl. Er sollte nicht hier sein. Jemand suchte nach ihm. Wenn dieser Jemand ihn erwischte, dann würde er nie wieder das Tageslicht erblicken.
Er stutzte. Das waren reichlich dramatische Gedanken. Doch sie fühlten sich irgendwie richtig an. Auch wenn er nicht wusste, wo er sich gerade befand - er steckte in einer ziemlich üblen Lage. Und deswegen musste er verschwinden.
Also los, aufstehen!
Gar nicht so einfach. Seine Beine waren eingeschlafen. Sie spielten nicht mit und ließen ihn zunächst wieder auf sein Hinterteil plumpsen. Doch er gab nicht auf und kämpfte sich auf die Füße. Dabei kam er sich vor wie ein alter Mann.
Er fragte sich, wie er wohl in diesen Keller gelangt war. Hatte er sich nach einer Sauforgie hier verkrochen, um seinen Rausch auszuschlafen? Oder war er vor jemanden weggelaufen und hatte sich hier versteckt?
Eine Horde Kopfschmerzen galoppierte durch seinen Schädel und zertrampelte alle Gedanken. Besser, er stellte sich zunächst keine Fragen. Besser, er akzeptierte die Situation einfach, wie sie war. Er musste nur einen Ausgang finden. Sobald er wieder an der frischen Luft war, würden die Kopfschmerzen nachlassen. Und dann würde sich alles aufklären.
Zunächst einmal musste er ein Treppenhaus finden. Oder einen Aufzug. Und dann nichts wie weg, ab nach draußen. Sie durften ihn auf keinen Fall hier drin erwischen.
Nur vier Schritte bis zur Tür. Er stieg über die Pfütze in der Mitte des Raumes hinweg. Für einen Augenblick schaute er dabei nach unten und erblickte sein eigenes Spiegelbild. Er blieb wie angewurzelt stehen und sah genauer hin. Er sah genau das, was er erwartet hatte - sein Gesicht. Und doch war ihm die Visage, die sich in der Wasseroberfläche spiegelte, völlig fremd.
Es handelte sich eindeutig nicht um eine optische Täuschung. Wenn er zwinkerte, dann zwinkerte die Visage in der Pfütze zurück. Alles war so, wie es sein sollte. Dennoch hatte er das Gefühl, sich selbst nicht zu erkennen.
Doch er hatte keine Zeit, sich über sein Aussehen Gedanken zu machen. Er musste auf schnellstem Weg hier raus. Also löste er sich vom Anblick seiner Visage und drückte den Türgriff nieder.
Abgeschlossen.
Er stutzte. Welcher Idiot hatte ihn eingesperrt? Dann sah er den Schlüssel im Schloss. Offenbar war er selbst der Idiot gewesen.
Als er den Schlüssel drehte, fühlte es sich an, als sei das Schloss mit einer Mischung aus Sand und Öl gefüllt. Das passte zu dieser Ekelatmosphäre hier unten. Doch weswegen hatte er sich eingeschlossen? Sein Gehirn lieferte auch darauf keine Antwort. Es lieferte lediglich Kopfschmerzen. Dieses verdammte Gehirn!
Er riss die Tür auf. Sie mündete in einen Korridor. Auch hier sah er Beton, Dreck, Schmiere und Feuchtigkeit. Und auch hier kämpften Arbeitsleuchten mit mäßigem Erfolg gegen die Dunkelheit an und tauchten den Korridor in eine schmutzige Mischung aus Orange und Braun. Wasser tropfte ebenfalls - zwar nicht in Sichtweite, doch er hörte das Plätschern, wenn ein Tropfen den Boden erreichte. Ansonsten herrschte Stille. Totale, atemlose Stille.
Sollte er sich nun nach rechts oder nach links wenden? In welche Richtung er auch blickte, der Korridor verlor sich bereits nach wenigen Schritten in der Dunkelheit. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich willkürlich für eine Richtung zu entscheiden. Er wandte sich nach rechts und marschierte los. Es dauerte nicht lange, dann mündete der Korridor in einen anderen Korridor ein.
Er schaute um die Ecke. Zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Er sah nichts. Nur einen weiteren leeren Korridor mit Pfützen, Dreck und Finsternis. Keine Wegweiser, keine Hinweisschilder.
Also entschied er sich für die andere Richtung. Er ging zurück, vorbei an der Tür, hinter der er aufgewacht war. Dann weiter, bis er erneut eine Einmündung erreichte. Auch hier schaute er in beide Richtungen. Wieder nichts. Wieder keine Hinweisschilder, wieder keine Wegweiser. Nur das Übliche: Dreck, Feuchtigkeit, Bernsteinlicht.
Was war das hier für ein Gebäude? Es musste doch irgendwelche Hinweisschilder geben, oder nicht? Zumindest die Fluchtwege hätten ausgeschildert sein müssen. Grüne Schilder mit Strichmännchen, die auf ein weißes Rechteck zuliefen. Oder Schilder, die auf Feuerlöscher hinwiesen. Irgendetwas in dieser Art. Doch hier gab es keine Schilder. Hier gab es nichts außer Dreck.
Hatte der Bauherr auf die Schilder verzichtet? Waren sie ihm zu teuer gewesen? Oder lief er in einer nur halb fertig gestellten Bauruine herum? Wenn ja, was tat er dann hier? Und wo sollte sich diese Bauruine befinden? Er erinnerte sich nicht daran, jemals von einer solchen Ruine Notiz genommen zu haben.
Nein, er durfte sich nicht mit diesen Fragen aufhalten. Er musste hier raus, ob mit Hinweisschildern oder ohne. Also marschierte er weiter. Er hielt sich links und wandte sich noch einmal nach links. Er tat dies ohne besonderen Grund, sondern nur, weil es ihm gerade in den Sinn kam. Hier musste doch irgendwo der Ausgang sein.
Er hatte es irgendwie in dieses Gebäude hinein geschafft, also würde er auch wieder einen Weg nach draußen finden. Schließlich konnte man sich in einem Keller nicht verirren. Zumindest nicht, soweit er sich erinnerte.
Eine Weile später änderte er jedoch seine Meinung: Man konnte sich durchaus in einem Keller verirren. Zumindest hatte es ihn nicht die geringste Mühe gekostet, sich hoffnungslos zu verlaufen.
Er fragte sich, wie lange er nun schon durch die Korridore irrte. Er warf einen Blick auf sein Handgelenk. Keine Uhr. Das fand er seltsam. Hatte er nicht immer eine Uhr getragen? Er wusste es nicht.
Seine Armbeuge juckte. Er rieb über den Stoff seiner Jacke und ging weiter. Anfangs hatte er Vorstöße in alle möglichen Richtungen gewagt. Er hatte Abzweigungen ausprobiert und war dann wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückgekehrt. Das hatte funktioniert, so lange er sich an den Rückweg erinnern konnte. Doch es hatte ihn keinen Schritt vorwärts gebracht. Bis auf eine Sackgasse hatte er überhaupt nichts gefunden. Die Korridore führten einfach weiter - und immer weiter. Und überall sah er nur Dreck und Verwahrlosung.
Dann, irgendwann, hatte er die Orientierung verloren. Anfangs war er kurz in Panik geraten, denn der kleine Raum mit der Pfütze darin stellte für ihn einen ruhenden Punkt dar - wie eine Konstante in einer Reihe von Zufallszahlen, die sich ständig veränderte. Doch seine Panik war schnell verflogen. Ob er sich in der Nähe des Raums befand oder nicht - es spielte keine Rolle. Er fand den Ausgang nicht.
Er fand überhaupt nichts.
So hatte er begonnen, ohne Plan und ohne Konzept durch die Korridore zu irren. Erreichte er Gabelungen, Abzweigungen oder Einmündungen, so wählte er seine Richtung willkürlich.
Dabei hatte der Drang zur Eile immer weiter nachgelassen. Der Drang hatte nur zugenommen, wenn er wieder zu seinem Startpunkt zurückgekehrt war. Zuletzt war er beinahe hysterisch geworden. Um ein Haar hätte er sich sogar in die Hose gekackt. Blieb er jedoch in Bewegung, dann machte ihm der Drang weniger zu schaffen. Natürlich wollte er dann immer noch so schnell wie möglich raus aus diesem Keller, doch er fürchtete sich nicht mehr davor, jeden Augenblick erwischt zu werden. Solange er nicht stehen blieb, konnte ihn sein Verfolger nicht aufspüren. Zumindest nahm er das an.
Und auch seine Kopfschmerzen gaben allmählich Ruhe. Sie hatten sich in seinen Hinterkopf zurückgezogen. Dort brummten sie noch immer vor sich hin, doch seine Gedanken klarten weit genug auf, um einige Überlegungen anzustellen.
Er erinnerte sich nicht an seinen Namen. Egal, wie sehr er sich anstrengte - er konnte sich einfach nicht erinnern. Er erinnerte sich an überhaupt nichts. Welche Frage er sich auch stellte, sein Gehirn antwortete mit weißem Rauschen. Allmählich hatte er das Gefühl, er schleppe ein kaputtes Radio in seinem Kopf herum.
Kein Name, keine Adresse, keine Kindheit, keine Vorlieben.
Nun gut, wenn sein Gedächtnis Urlaub eingereicht hatte, dann musste er zu anderen Mitteln greifen, um seine Identität wieder herzustellen. Schließlich trug jeder Mensch eine Reihe von Gegenständen bei sich, mit deren Hilfe er sich identifizieren ließ. Zum Beispiel einen Ausweis.
Der Gedanke, in seinem eigenen Ausweis nachzuschauen, um sich wieder an seinen Namen zu erinnern, wirkte zwar reichlich lächerlich, doch ihm blieb nichts anderes übrig. Er fragte sich, wie er diese Episode seinen Freunden und Bekannten erklären sollte. Wenn er ihnen erzählte, was er erlebt hatte, würden sie sich vor Lachen krümmen. Zumindest nahm er das an, denn er konnte sich nicht an seine Freunde erinnern. Er wusste noch nicht einmal, ob er Freunde hatte.
Er öffnete den Klettverschluss seiner Jacke und begann, in den Taschen nach einem Ausweis zu suchen. Er suchte - und suchte - und suchte … und fand nichts.
Diese Jacke musste über mindestens 200 Taschen verfügen. Hinzu kamen noch einmal 150 Taschen in den Hosen. Minimum. Wenn nicht gar mehr. Doch in keiner davon fand er einen Ausweis. Er fand kein Portmonee, keinen Schlüssel, keine Scheckkarte, kein Mobiltelefon. Er fand überhaupt nichts. Alle Taschen waren leer. Ein Abklopfen seines Oberkörpers mit beiden Händen bestätigte es. Er führte keinen einzigen dieser kleinen Hinweise mit sich, die eine Person beschrieben. Man hatte ihn komplett ausgeräumt.
Dann stutzte er. Hatte er da eben einen Klettverschluss an seiner Jacke geöffnet? Keinen Reißverschluss? Keine Knöpfe? Was trug er da eigentlich für eine Jacke? Und in welcher Hose steckte er? Er schaute an sich herunter. Schwarze Kleidung. Militärischer Schnitt. Robustes Material. Dazu geschnürte Stiefel. Sie passten wie angegossen und wirkten solide und strapazierfähig. Auch wenn er sich nicht daran erinnerte, jemals solche Stiefel besessen zu haben - er wusste, er konnte tagelang darin marschieren, ohne sich eine Blase zu laufen.
Es handelte sich eindeutig nicht um Straßenkleidung. Also überlegte er, zu welchem Beruf diese Kleidung wohl passen mochte. Möglicherweise gab ihm dies einen Hinweis auf seine Identität.
Er dachte an einen privaten Sicherheitsdienst. Doch das passte nicht. Auf deren Kleidung prangte meist ein Schriftzug. „Security" oder so. An seiner Kleidung konnte er keine Beschriftung erkennen. Dann dachte er an paramilitärische Einheiten. Doch er lebte nicht in einem Land, das paramilitärische Truppen unterhielt. Er lebte … woanders. Er wusste es nicht mehr. In jedem Fall fühlte sich die Idee mit den paramilitärischen Einheiten nicht richtig an.
Er zog die Jacke aus und begann, ihre Innenseite abzusuchen. Auch hier fand er nichts. Kein Etikett, das Aufschluss über den Hersteller gegeben hätte. Auch keine Hinweise, wie diese Jacke zu reinigen war.
Er nahm an, in den restlichen Kleidungsstücken würde er ebenfalls keine Anhaltspunkte finden. Deswegen verzichtete er darauf, in den Stiefeln nachzusehen oder die Hose fallen zu lassen. Er fasste aber kurz in seinen Nacken und tastete den Bund seines T-Shirts ab. Nichts. Kein Etikett.
Und er selbst? Trug er vielleicht irgendwelche Tätowierungen? Allmählich driftete diese Sache zwar ins Absurde ab, doch er warf einen Blick auf seine Unterarme. Keine Tätowierungen. Doch was er dort sah, ließ ihn wie angewurzelt stehen bleiben.
Er sah einen Einstich in seiner linken Armbeuge.
Er benötigte einen Moment, um diese Entdeckung zu verdauen. Dann setzte er sich wieder in Bewegung.
Immerhin wusste er nun, in welche Richtung sich sein Gedächtnis verabschiedet hatte. Keine Sauforgie, kein Filmriss, kein Unfall. Stattdessen hatte man ihn entführt und ihm irgendwelche Chemikalien in die Blutbahn gepumpt.
Danach hatte man ihn hier ausgesetzt, mit einem Kopf, so hohl wie ein aufgeblasener Luftballon. Das Zeug, das man ihm injiziert hatte, hatte sein Gedächtnis zugemauert. Vielleicht hatte es seine Erinnerungen auch geradewegs aus seinem Schädel gespült. Wenn es sich so verhielt, dann war alles verloren. Dann war seine Identität am Arsch, und zwar endgültig.
Doch weswegen hatte man ihm so etwas angetan? Was wurde von ihm erwartet? Weswegen wurde er verfolgt? Er wusste es nicht. Er wusste noch nicht einmal, woher er von seinem Verfolger wusste.
Er zog seine Jacke wieder an und beschleunigte seine Schritte. Die Entdeckung des Einstichs machte die Sache kompliziert. Würde er es wirklich nach draußen schaffen? Irgendjemand hatte ihn zu einer Laborratte degradiert. Dieser Jemand würde ihn wohl kaum nach draußen spazieren lassen, damit er die Polizei verständigen konnte. Im Gegenteil: Dieser Jemand würde alles tun, um ihn abzufangen, bevor er den Ausgang erreichte. Vielleicht war genau deswegen ein Verfolger hinter ihm her.
Doch er würde einen Ausweg finden. Natürlich würde er einen Ausweg finden. Schließlich war noch niemand in einem Keller verloren gegangen - jedenfalls nicht, soweit er sich erinnerte.
Vernichtungsauftrag
Aufwachen.
Er riss die Augen auf.
Dann sprang er auf und sah sich um. Er hatte einen Albtraum gehabt. Es war um Dreck gegangen. Dreck und Unordnung. Das konnte er überhaupt nicht leiden. Dreck und Unordnung machten ihn stinksauer.
Als er sich umsah, entdeckte er nichts davon. Er sah nur Fliesen. Weiße Fliesen. Dazwischen die rechten Winkel der Fugen. Ordnung und Sauberkeit.
Alles klar, nur ein Albtraum. Kein Grund zur Aufregung.
Doch das stimmte nicht. Das war nicht nur ein Albtraum gewesen. Diesen Dreck und diese Unordnung gab es tatsächlich. Außerhalb dieses Raumes herrschte das Chaos. Verfall und Verwahrlosung.
Er hatte keine Ahnung, woher er das wusste. Im Grunde genommen erinnerte er sich an überhaupt nichts. Er wusste nicht einmal seinen eigenen Namen. Doch das war ihm egal. Sein Name war nicht wichtig.
Einige andere Dinge wusste er. Er wusste beispielsweise, dass die Dissidenten schuld an all diesem Dreck waren. Sie trieben sich dort draußen herum. Menschlicher Abfall, der sich aufführte wie ein Rudel nackter Affen.
Er ballte seine Fäuste. Diese Dissidenten machten alles kaputt. Sie zerstörten alles, was sie sahen. Wenn er an die Dissidenten dachte, dann war er kurz davor, einen Koller zu bekommen. Gerade in diesem Augenblick war es wieder soweit. Wäre jetzt ein Dissident in diesen Raum spaziert, dann wären die Fetzen geflogen. Zuerst hätte er dem Dissidenten einen Schwinger in die Magengrube verpasst. Dann hätte er sein Knie in die Höhe gerissen und dem Kerl die Nase gebrochen. Und dann hätte er ihm mit den Daumen die Augen in den Kopf gequetscht.
Ein schöner Gedanke.
Doch es kam niemand in den Raum spaziert. Er stand hier, ganz alleine. Und er wusste nicht, was er mit seiner Wut anfangen sollte. Er musste irgendetwas zerschlagen. Zerstören. Entsorgen.
Doch in diesem Raum gab es nichts, was er hätte zerstören können. Es gab nur die Liege, auf der er aufgewacht war. Eine mit schwarzem Leder überzogene Liegefläche, die auf einem soliden Metallgestell ruhte. Er hätte bestenfalls auf das Polster einprügeln können, doch dies hätte ihn nicht befriedigt. Polster bluteten nicht.
Also blieben nur noch die Wände. Er hätte einige Fliesen zertrümmern können, doch auch das machte keinen Sinn. Fliesen bluteten ebenfalls nicht.
Gerade als er dabei war, komplett die Fassung zu verlieren und mit dem Kopf voran gegen eine Wand zu rennen, fiel sein Blick auf die Tür.
Hoppla. Eine Tür. In seiner Raserei hatte er sie glatt übersehen. Er zwang sich, für einen Augenblick still zu stehen und seine Wut zu zügeln. Da hatte er einen Fehler gemacht. Er hätte sich zunächst einmal seine Umgebung etwas genauer anschauen müssen, bevor er einen Koller kriegte
Wenn er seine Aufgabe erfüllen wollte, dann durfte er sich solche Nachlässigkeiten zukünftig nicht mehr erlauben. Ansonsten würde er blindlings in einen Hinterhalt laufen - und alle Kinder würden ihn auslachen.
Scheiß Kinder.
Während er die Tür betrachtete, überlegte er, ob sie da draußen auf ihn lauerten. Vielleicht hockten sie im nächsten Raum und machten sich über ihn lustig. Na, das würde er ihnen austreiben!
Er stieß die Tür weit auf und stürmte in den nächsten Raum, bereit, einige Knochen zu brechen. Doch dort lauerte niemand auf ihn. Keine Kinder. Keine Dissidenten. Er sah nur die gleichen weißen Fliesen und eine weitere Tür. Außerdem lagen einige Kleidungsstücke und ein schwarzer Rucksack auf dem Boden verteilt.
Diese Unordnung ließ ihn beinahe erneut ausrasten. Doch diesmal riss er sich zusammen. Es brachte ihm nichts, wenn er verrückt spielte. Besser, er suchte nach einer Alternative. Er konnte beispielsweise aufräumen. Die Ordnung wieder herstellen. Das war immer noch besser, als auszuklinken und irgendetwas zu Klump zu hauen.
Er schaute sich die Kleidungsstücke etwas genauer an. Auch wenn sie auf dem Boden lagen, sahen sie nicht aus, als seien sie schon einmal getragen worden. Besser, er packte sie zusammen, bevor sie schmutzig wurden.
Er bückte sich nach einer Unterhose und nahm sie vorsichtig mit den Fingerspitzen auf. Dann beugte er sich leicht nach vorne, hielt die Unterhose unter sein Gesicht und fächelte mit seiner linken Hand die Luft nach oben. Er roch nichts. Nicht die geringste menschliche Ausdünstung. Es handelte sich offenbar um eine fabrikneue Unterhose.
Er legte sie zusammen, drapierte sie in eine Ecke des Raums und begann, auch die restlichen Kleider einzusammeln. Als er etwa die Hälfte der Sachen zusammengelegt und in der Ecke aufgestapelt hatte, fielen ihm zwei Dinge auf. Erstens: Es handelte sich um Kleidung für genau eine Person. Zweitens: Er selbst trug überhaupt keine Kleidung.
Er war die ganze Zeit über splitternackt durch die Gegend gelaufen und hatte es nicht einmal bemerkt. Na, das hätte ein ziemliches Hallo gegeben, wenn ihm die Kinder hier irgendwo aufgelauert hätten!
Er zog die Unterhose aus dem Kleiderstapel und hielt sie vor seine Leistengegend. Wenn ihn nicht alles täuschte, dann würde ihm die Unterhose passen. Er versuchte es - und er behielt Recht. Ebenso verhielt es sich mit den Socken. Auch das T-Shirt passte wie angegossen. Und nun verstand er, was es mit diesen Kleidern auf sich hatte: Sie gehörten ihm. Das Management hatte diese Kleider für ihn bereit gelegt.
Gut. Nun musste er seiner Aufgabe wenigstens nicht nackt nachgehen. Er dachte nach. Was war eigentlich seine Aufgabe? Musste er aufräumen? Ja, offensichtlich. Das Aufräumen hatte seine Wut verfliegen lassen. Er musste Ordnung schaffen. Darum musste es gehen. Er musste entsorgen.
Er nickte zufrieden. Das war seine Aufgabe. Er musste entsorgen. Er war ein Entsorger.
Nachdem er das geklärt hatte, fühlte er sich beinahe wieder rundum wohl. Nur die Gewissheit, außerhalb dieser Räumlichkeiten von Dissidenten umgeben zu sein, machte ihm zu schaffen. Es drängte ihn zur Eile. Er musste sein Refugium so schnell wie möglich verlassen, um mit diesen Dissidenten aufzuräumen.
Während er in die restlichen Kleider schlüpfte, türmte sich diese Aufgabe immer höher vor ihm auf. Es gab unzählige Dissidenten in dieser Welt. Wie sollte er die alle entsorgen? Er konnte unmöglich jeden einzelnen von ihnen aufspüren. Nein, das konnte nicht seine Aufgabe sein. Außerdem fühlte es sich nicht richtig an.
Es würde ihm zwar großen Spaß bereiten, Dissidenten zu entsorgen, doch es fühlte sich nicht richtig an.
Während er seine Stiefel schnürte, kam ihm ein neuer Gedanke: Es ging nicht um alle Dissidenten, sondern nur um einen. Er musste nur einen speziellen Dissidenten finden - seine Zielperson. Die Zielperson galt es zu entsorgen. Dann wäre das Management zufrieden mit ihm. Anschließend konnte er seine Freizeit gestalten, wie es ihm beliebte und ein wenig Spaß mit den übrigen Dissidenten haben.
Ja, das gefiel ihm. Bei solchen Aufgaben ging man mit Freude ans Werk. Er musste nur noch überlegen, wie er seine Zielperson aufspüren konnte.
Er sah an sich hinab. Weißes T-Shirt, weiße Hosen. Schwarze Protektoren an Unterarmen, Ellbogen, Knien und Schienbeinen. Dazu eine schwarze Level-IIIA-Kevlarweste und schwarze Stiefel. Er wirkte wie ein Gladiator in einer futuristischen Arena. Übertrieben martialisch, doch effektiv.
Blieb nur noch der Rucksack. Dessen Gewicht überraschte ihn. Er öffnete die beiden Schnallen und warf einen Blick hinein. Dort entdeckte er mehrere Wasserflaschen und Proteinriegel. Gute Marschverpflegung, die ihn bei Kräften halten würde. Außerdem eine Rolle Toilettenpapier - extrem wichtig.
Er nickte zufrieden und schwang sich den Rucksack auf den Rücken. Dann öffnete er die Tür zum nächsten Raum. Dieser entsprach in seinen Ausmaßen exakt seinen beiden Vorgängern, doch hier gab es weder eine Liege noch Kleidung.
Hier warteten vier Gegenstände auf den Entsorger: Ein AKS-74U-Sturmgewehr mit eingeklappter Schulterstütze, zwei Ersatzmagazine und das Sichtgerät.
Er nahm zuerst die beiden Ersatzmagazine auf - Kurvenmagazine mit einer Kapazität von jeweils 30 Patronen, Kaliber 5,45 x 39 mm. Bei beiden Magazinen drückte er auf die obere Patrone, um den Füllstand zu kontrollieren. Beide waren voll.
Die beiden Magazine verschwanden in den Beintaschen seiner Hose. Dann nahm er sich die Waffe selbst vor. Das AKS-74U stellte eine verkürzte Version des Avtomat Kalashnikova AK-74 dar - eine Waffe mit den Ausmaßen einer Maschinenpistole und der Feuerkraft eines ausgewachsenen Sturmgewehrs. Ideal für den Einsatz durch Sonderkräfte. Er betätigte die Entriegelung des Magazins und zog den Munitionsbehälter aus seinem Schacht. Auch dieses Magazin verfügte über eine volle Ladung von 30 Patronen. Er begann seine Aufgabe also mit insgesamt 90 Patronen. Die Waffe verfügte über eine hohe Kadenz. Bei Dauerfeuer reichte die Munition bestenfalls für drei Feuerstöße von jeweils kurzer Dauer aus. Damit konnte er zwar keinen Krieg gewinnen, doch es würde genügen, um das Primärziel zu entsorgen. Abgesehen davon würde er unterwegs weitere Munition finden. Das Management würde dafür sorgen.
Er kontrollierte das Patronenlager der Waffe. Dann schob er das Magazin wieder in den Schacht, ließ es einrasten und prüfte die Sicherung. Anschließend klappte er die Schulterstütze aus, hob das Gewehr an die Schulter und visierte probeweise die Tür am gegenüber liegenden Ende des Raums an. Effektiv konnte er die Waffe nur im Nahkampf einsetzen, doch etwas anderes als den Nahkampf würde er in dieser Welt ohnehin nicht erleben. Er klappte die Schulterstütze wieder ein und hängte sich die Waffe über die Schulter.
Zuletzt hob er das Sichtgerät auf. Er hielt den Apparat mit beiden Händen vor sich in die Höhe, als halte er eine heilige Reliquie. Ein schwarzes Kästchen aus Metall, gerade groß genug, um in eine Männerhand zu passen. Eine Deckfläche des Geräts wurde vollständig von einem Display eingenommen. An einer Längsseite befand sich eine versenkte Taste. Ein Dissident hätte darin nicht mehr als ein elektronisches Spielzeug gesehen. Ein tragbares Navigationssystem. Oder vielleicht einen Fotoapparat ohne Objektiv. Er hingegen kannte das wahre Potential des Sichtgeräts. Dieses Kästchen verband ihn direkt mit dem Management. Es zeigte ihm alles, was er sehen musste. Es sagte ihm alles, was er wissen musste. Doch er musste vorsichtig damit umgehen. Ein Download aus dem Sichtgerät verursachte Schmerzen. Außerdem musste er genau hinsehen, wenn er Daten anforderte. Das Sichtgerät offenbarte seine Geheimnisse nicht jedem x-beliebigen Idioten, der auf den Knopf drückte. Man musste schon wissen, wie man das Gesehene zu interpretieren hatte.
Er schob das Sichtgerät in seine rechte Hosentasche. Zeit, sich auf den Weg zu machen. Zeit, diesem Gesindel dort draußen Zucht und Ordnung beizubringen. In seinem Kampfanzug würde er über sie kommen wie ein monochromer Albtraum.
Er wurde schon wieder sauer. Doch diesmal versuchte er nicht, sich am Riemen zu reißen. Diesmal ließ er sich ordentlich auf Drehzahl kommen. Er stürmte zur letzten Tür und packte den Türgriff.
Halt!
Gerade während seines letzten Schrittes - hatte er da nicht etwas gehört? Hatte er nicht gerade das Lachen eines Kindes gehört, draußen vor der Tür?
Er hielt den Türgriff in der Hand, doch er drückte ihn nicht nieder. Was, wenn dort draußen die Kinder auf ihn warteten? Würde er seine Aufgabe dann noch erfüllen können? Oder würde er versagen, wie er es schon einmal versagt hatte?
Er wusste es nicht. Und er war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Doch er musste! Das Management würde kein Versagen dulden. Nicht noch einmal. Er schüttelte seinen Kopf, um die Angst zu verscheuchen. Er durfte sich nicht von ihr lähmen lassen.
Es funktionierte. Ein Teil seines Selbstvertrauens kehrte zu ihm zurück. Er würde nicht versagen. Diesmal nicht. Er würde sich nicht von einer Bande von Kindern aufhalten lassen. Er atmete noch einmal tief durch. Dann öffnete er die Tür und trat in den Korridor hinaus.
Genau, was er erwartet hatte: Dreck, Unordnung und Chaos. Der Anblick brachte ihn ordentlich in Rage und ließ ihn die Kinder beinahe völlig vergessen. Hier sah er aus erster Hand, was die Dissidenten anrichteten, wenn man ihnen keinen Einhalt gebot.
Doch genau damit würde er nun beginnen.
Er hatte ein Ziel. Alles, was er nun brauchte, war ein Weg.
Das Sichtgerät aus der Hosentasche zu ziehen gestaltete sich schwieriger, als er angenommen hatte, denn seine Hände zitterten vor Wut. Dann hatte er das Gerät endlich befreit und hielt es mit dem Display voran vor seine Augen. Er wusste, es würde wehtun, doch er benötigte taktische Daten, um sein Ziel ausfindig zu machen. Also biss er seine Zähne zusammen und drückte mit seinem rechten Daumen auf die Taste des Sichtgeräts.
Das Display flackerte wie ein Stroboskop. Er widerstand dem Drang, die Taste loszulassen oder seine Augen zu schließen. Stattdessen starrte er das Display an und ließ sich immer tiefer in dieses Flackern sinken. Seine linke Hand erschlaffte und das Gewehr polterte zu Boden, doch das nahm er schon nicht mehr wahr.
Der Download begann und ließ den Korridor mit all dem Dreck und all dem Chaos in gleißendem Licht versinken.
P 226
Weiter. Und immer weiter.
Kein Ausgang in Sicht.
In seinem Kopf herrschte Durcheinander. Ein Teil von ihm fühlte Angst und Hilflosigkeit. Sie hatten ihn entführt, unter Drogen gesetzt und er hatte nichts dagegen tun können. Er fragte sich, was sie ihm darüber hinaus noch antun konnten, ohne ihm eine Chance zur Gegenwehr zu lassen.
Ein anderer Teil fühlte Verwirrung. Wo war er hier gelandet? Welches Gebäude bot genug Platz für einen solchen Keller? Er wanderte bereits seit einer Ewigkeit durch diese Korridore, ohne einen Hinweis auf den Ausgang entdeckt zu haben. Und was wollten die von ihm? Was wurde von ihm erwartet? Niemand würde sich die Arbeit machen, einen Menschen zu kidnappen und ihn unter Drogen zu setzen, wenn er damit nichts erreichen wollte. Niemand würde ein solches Risiko einfach nur aus Spaß eingehen.
Neben Angst und Verwirrung fühlte er Ärger. Wie konnte es jemand wagen, ihn seiner Erinnerungen und seiner Identität zu berauben? Er wollte diesen Menschen nur zu gerne persönlich kennen lernen, von Angesicht zu Angesicht. Dann würde er einige ernste Worte mit ihm wechseln.
Zu diesem Thema hatten sich einige Gewaltphantasien in seinen Kopf geschlichen. Er hatte an das Gefühl gedacht, eine Faust in ein Gesicht zu schlagen. Pflatsch, genau auf die Zwölf. Ein schönes Gefühl. Er hatte auch an einen Fußtritt in die Weichteile gedacht. Dann, irgendwann, war ihm auch der Einsatz einer Schlagwaffe recht attraktiv erschienen.
Als diese Phantasien immer drastischere Züge angenommen hatten, hatte er sich selbst gebremst. Solche Gedanken hatten in seinem Kopf nichts zu suchen. Er war schließlich kein Schläger. Er war nur ein normaler Mann von der Straße. Zumindest fühlte er sich so.
Und über allem lag der Drang, endlich einen Ausweg aus diesem Keller zu finden. Er durfte sich keinesfalls erwischen lassen - so lautete das Mantra, das sich in seinem Kopf wiederholte.
Doch wie sollte er sich orientieren?
Natürlich gab es allerlei Anhaltspunkte. Jeder Korridor sah anders aus. In einigen gab es Pfützen, in anderen liefen Rohre unter der Decke entlang. In wieder anderen flackerte das Licht oder Arbeitsleuchten an der Decke waren ausgefallen. In manchen Korridoren hätten vier oder fünf Männer nebeneinander gehen können, in anderen musste er seine Arme an den Körper pressen, um nicht an den Wänden entlang zu schrammen. Doch all diese Eigenschaften wiederholten sich immer wieder, in allen möglichen Kombinationen. Es gab offenbar nicht nur einen Korridor, bei dem Rohre unter der Decke verliefen, sondern unzählige davon. Und er konnte sich nicht jedes Detail merken. Wenn er einen Korridor betrat, hätte er nicht sagen können, ob er schon einmal hier gewesen war oder nicht. Ihm fehlte einfach ein eindeutiges Merkmal, das er sich hätte einprägen können. Ein Wasserfleck, geformt wie ein gigantischer Pimmel, wäre beispielsweise sehr hilfreich gewesen. Oder Graffiti an einer Wand. Oder so etwas wie diese Tür dort drüben.
Er blieb wie angewurzelt stehen.
Eine Tür?
War er etwa im Kreis gelaufen? War er wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückgekehrt? Obwohl er damit keinen Schritt weiter gekommen wäre, hätte er sich darüber gefreut. Immerhin stellte diese Tür die einzige Konstante in diesem Keller dar.
Doch als er die Tür öffnete und in den Raum hinein spähte, verpuffte seine Freude. Es gab in diesem Raum keine Pfütze. Er sah lediglich einen Haufen Bauschutt, der sich beinahe über die gesamte hintere Wand erstreckte. Backsteine - die meisten davon zerbrochen. Dazwischen kleineres Geröll. Beton und Mörtel. Es gab auch Holzstücke, die ihre Splitter wie Finger aus dem Haufen streckten. Die Krönung bildete aber ein Gartenstuhl, der oben auf diesem Schutthaufen thronte. Der Rost hatte einen Großteil des weißen Lacks aufgefressen, der das Metallgestell des Stuhles überzogen hatte. Sitzfläche und Rückenlehne bestanden aus einem Plastikgeflecht, das irgendwann einmal blau gewesen sein mochte. Inzwischen war die Farbe zu einem Pastellton verblasst. Einige Schnüre des Geflechts hatten bereits ihren Geist aufgegeben und hingen herab wie die Tentakel eines verendeten Tintenfisches.
Er tappte in den Raum hinein und erschrak, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Doch im gleichen Augenblick fühlte er Erleichterung. Er war nicht im Kreis gelaufen. Stattdessen hatte er Fortschritte gemacht und sich von seinem Ausgangspunkt entfernt. Damit hatte er auch gegenüber seinem Verfolger Boden gut gemacht. Vielleicht sollte er sich nun etwas Zeit nehmen, um sein weiteres Vorgehen zu planen.
Dieser Eingebung folgend, stieg er auf den Schutthaufen und drückte mit einer Hand auf die Sitzfläche des Gartenstuhls. Ob ihn das Ding wohl tragen würde? Er beschloss, es auf einen Versuch ankommen zu lassen und ließ sich vorsichtig auf dem Geflecht aus Kunststoffschnüren nieder, jederzeit bereit, sofort wieder aufzuspringen, falls die Schnüre reißen sollten. Sie protestierten zwar mit einem Knarren, doch sie schienen zu halten. Also wagte er es, sich zurückzulehnen und einen Augenblick auszuruhen.
Er musste nachdenken. Allerdings nicht über sich selbst. Seine gesamte Vergangenheit konnte er vorerst abhaken - dazu würde ihm ohnehin nichts einfallen. Sobald die Wirkung der Drogen nachließ, würden seine Erinnerungen von selbst wieder zurückkehren. Zumindest hoffte er das. Er sollte sich also darauf konzentrieren, den Ausgang zu finden. Er benötigte ein System, nach dem er vorgehen konnte. Einen Plan, um seinen Weg durch die Korridore zu markieren. Mit seinen eigenen Mitteln konnte er nichts erreichen, denn außer seinen Kleidern trug er nichts bei sich. Aber vielleicht konnte er diesen Schutt unter sich benutzen, um eine Spur zu legen.
Die Idee begeisterte ihn, doch im nächsten Augenblick sprang er auf. Der Stuhl kippte dabei um und kugelte von dem Schutt herunter.
Was glaubte er eigentlich, was er hier tat?
Der Gedanke, in diesem Schutt nach irgendwelchen Gegenständen zu suchen, kam ihm absurd vor. Wenn er sich mit solchen Dingen aufhielt, dann würde man ihn erwischen. Deswegen sollte er sich besser wieder auf den Weg machen und sich auf seine Intuition verlassen, anstatt irgendwelche wirren Pläne zu schmieden.
Er wandte sich ab und flüchtete aus dem Raum. Draußen schlug er sofort wieder die Richtung ein, in die er marschiert war, bevor er die Tür bemerkt hatte. Erst nachdem er einige Abzweigungen passiert hatte, gestattete er sich, sein Tempo ein wenig zu drosseln.
Er fragte sich, weswegen er seine Idee nicht weiter verfolgt hatte. Er hätte seine Hosentaschen mit kleinen Steinen und Betonbrocken füllen können. Damit hätte er eine Spur legen können. Doch in diesem Raum, auf diesem Stuhl, war ihm der Gedanke absurd vorgekommen. Er hätte keinen Moment länger ausharren können, ohne in Panik zu geraten.
Und je länger er über seine Idee nachdachte, desto dümmer kam sie ihm vor. Wenn er hier drin eine Spur legte, dann konnte man ihm bestens folgen. Man musste noch nicht einmal nach ihm suchen. Oh nein, da zog er es lieber vor, eine ganze Weile im Kreis zu laufen.
Was blieb ihm nun übrig? Nichts. Er würde nicht umkehren, auf keinen Fall. Abgesehen davon erinnerte er sich bereits jetzt schon nicht mehr daran, welchen Weg er an der vorletzten Abzweigung genommen hatte. Auf der Suche nach einem Rückweg würde er sich nur noch tiefer in diesem Labyrinth verirren - falls das überhaupt noch möglich war.
Es dauerte nicht lange, bis er die nächste Tür erreichte. Sie sah genauso aus wie die beiden anderen Türen, die er hier unten kennen gelernt hatte: Eine herkömmliche Brandschutztür. Diesmal befürchtete er nicht, er könne im Kreis gelaufen sein. Der Korridor, in dem er gerade steckte, ließ ihm kaum Platz. Die Korridore vor den anderen Türen waren weniger eng gewesen. Also hatte er es mit einem völlig neuen Raum zu tun.
Er öffnete die Tür einen Spalt weit und linste in den Raum hinein. Auch hier erblickte er etwas Schutt auf dem Boden. Backsteine, Mörtel, Beton, Holzsplitter, ein Stück von einer Eisenstange.
Zwischen den Trümmern blinkte etwas Blaues hervor und machte ihn neugierig. Er wollte sehen, was das war. Er betrat den Raum, ging vor dem Schutt in die Hocke, wischte Staub und Steine beiseite und zog das blaue Ding aus dem Schutt hervor. Dann wischte er es ab und begutachtete, was er da in der Hand hielt.
Erst auf den zweiten Blick identifizierte er dieses zerquetschte, in Plastikfolie eingepackte Ding als eine Art Nahrungsriegel. Ein Muster aus blauem Hintergrund und einer orangefarbenen Schliere verzierte die Verpackung. Sah irgendwie poppig aus. Doch er entdeckte keinerlei Beschriftung.
Der Riegel sah aus, als habe ihn jemand zu Boden geworfen und dann mit einem Fußtritt in den Schutt gestampft. Der Inhalt war jedoch an einem Stück geblieben. Er betrachtete den Riegel noch einen Moment lang und fragte sich, wann er wohl zuletzt etwas gegessen hatte.
Er wusste es nicht. Und er hatte keine Zeit zu verlieren. Er musste sofort hier weg. Deswegen verließ er den Raum und ging weiter. Unterwegs drehte er den Riegel in seiner Hand immer wieder von einer auf die andere Seite. Schließlich riss er die Verpackung auf, ließ sie achtlos fallen und begutachtete den Inhalt. Dieses Ding sah aus wie eine kleine Panzerplatte. Oder wie ein Grillanzünder.
Er brach ein Stück davon ab und roch daran. Nichts. Schließlich fasste er sich ein Herz und steckte das Stück in den Mund. Er wollte diese Panzerplatte zwar nicht essen, doch er musste etwas zu sich nehmen. Schließlich wusste er nicht, wie lange er noch durch diesen Keller irren würde. Und das Ding war immerhin wie ein Nahrungsmittel verpackt. Zumindest nahm er das an, denn er erinnerte sich nicht daran, jemals etwas Vergleichbares gesehen zu haben.
Der Riegel schmeckte eigenartig. Interessant. Dieses Zeug schien alle Geschmacksnuancen zwischen süß und salzig in sich zu vereinen, ohne sich dabei auf einen bestimmten Geschmack festzulegen. Er zog vor Überraschung seine Augenbrauen in die Höhe und biss gleich noch ein Stück ab. Tatsächlich schmeckte es besser, als es der Anblick des Riegels hätte vermuten lassen. Bevor er sich weitere Gedanken darüber machen konnte, hatte er das Ding aufgegessen. Erst nachdem er ein Stück weiter gegangen war, fragte er sich, was er wohl tun sollte, falls ihm dieser Riegel auf den Magen schlug. Würde er dann rechtzeitig eine Toilette finden?
Und warum, zum Donnerwetter, hatte er die Verpackung einfach weggeworfen? Gerade hatte er noch daran gedacht, keine Spuren zu hinterlassen und nun hatte er es doch getan. Da hatte ihn wohl der Hunger zu sehr abgelenkt. Das durfte nicht noch einmal passieren.
Der Korridor bog im Rechten Winkel nach links ab. Dahinter wartete die nächste Tür auf ihn. In diesem Raum gab es keinen Schutt. Stattdessen sah er an der gegenüber liegenden Wand einen Tisch. Es handelte sich um einen niedrigen Campingtisch, den man bei Bedarf zusammenklappen konnte. Auf dem Tisch lagen eine Pistole und drei Magazine.
Er ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und ging zum Tisch. Dort nahm er die Pistole in die Hand. Eine SIG-Sauer P226 SL Black. Er überprüfte den Magazinschacht. Leer. Dann zog er den Verschluss zurück und warf einen Blick in das Patronenlager. Ebenfalls leer. Er führte den Verschluss wieder nach vorne und entspannte den Hahn. Dann legte er die Waffe auf den Tisch zurück und überprüfte nach und nach die drei Magazine. Er fand alle drei voll geladen vor - jeweils 15 Patronen, Kaliber 9 mm Para. Zwei Magazine steckte er in die Taschen seiner Jacke, eines schob er in den Munitionsschacht der Pistole. Dann zog er den Verschluss zurück, ließ ihn wieder nach vorne schnappen und beförderte so die erste Patrone in das Patronenlager. Anschließend entspannte er den Hahn erneut und sicherte die Pistole, bevor er sie hinten in seinen Hosenbund steckte. Dann ging er in den Korridor zurück und setzte seinen Weg fort. Der gesamte Aufenthalt in diesem Raum hatte nur wenige Atemzüge lang gedauert.
Er konnte zufrieden sein. Er hatte etwas Essbares und eine Waffe gefunden. Beides hatte ihn seinem Ziel zwar kaum näher gebracht, doch er hatte nun ein As im Ärmel. Falls er erwischt wurde, konnte er sich verteidigen. Dabei kümmerte es ihn nicht, ob der Besitzer der Pistole die Waffe vermissen würde. Wenn ja, dann konnte sich der Besitzer jederzeit vertrauensvoll an ihn wenden und versuchen, die Pistole zurückzufordern. Er würde den Besitzer dann vom Gegenteil überzeugen. Er hatte ein gutes Argument dafür. Ein Argument mit Kaliber 9 Millimeter.
Außerdem überlegte er, weswegen er in dem Raum mit dem Nahrungsriegel die Eisenstange hatte liegen lassen. Vielleicht hätte er etwas Klebeband auftreiben können, um damit einen Griff zu improvisieren. Damit hätte die Eisenstange eine recht gute Nahkampfwaffe abgegeben.
Als er schließlich realisierte, welche Gedanken er verfolgte, blieb er stehen, als sei er gegen eine Wand gelaufen. Er griff unter seine Jacke und zog die Pistole aus seinem Hosenbund. Woher wusste er, was er da in der Hand hielt? Und woher wusste er, wie man dieses Ding handhabte? Die Routine, mit der er diese Waffe geladen hatte, erschreckte ihn beinahe ebenso sehr wie der Gedanke, diese Waffe gegen einen Menschen zu richten. Doch vor einigen Augenblicken war ihm dieser Gedanke völlig normal vorgekommen. Und woher kam die Idee, eine Eisenstange zu einer Schlagwaffe umzufunktionieren? So etwas passte nicht zu ihm. Schließlich war er doch nur ein ganz normaler Kerl von der Straße. Er war doch nur ein armer, verängstigter Tropf, der den Ausgang suchte. Er wollte nur hier raus. Mehr wollte er nicht - soweit er sich erinnerte.
Zum Loch
Aufwachen.
Sie riss die Augen auf.
An der Decke glimmte eine Funzel vor sich hin. Sie blinzelte in das Licht dieser Funzel. Dann drehte sie sich um und schloss ihre Augen wieder. Sie wollte noch nicht aufstehen. Es gab nichts zu tun.
Sie wollte einfach noch ein wenig liegen bleiben. Aber es ging nicht. Sie konnte nicht mehr einschlafen. Sie fand keine bequeme Haltung und sie schaffte es auch nicht mehr, ihre Augen geschlossen zu halten.
Das konnte nur eines bedeuten: Sie hatte eine neue Aufgabe!
Keine Aufgabe, die ihr der Chef zugeteilt hatte, sondern eine richtige Aufgabe. Um sich zu vergewissern, warf sie einen Blick auf ihre linke Armbeuge. Tatsächlich: Ein Einstich.
Sie schlug den Lappen beiseite, den sie als Decke missbraucht hatte. Dann schwang sie ihre Beine von dem Tisch, auf dem sie geschlafen hatte. Ihre Kleider lagen am Boden verstreut. Sie sammelte sie ein. Während sie in die braunen Kleidungsstücke schlüpfte, die sie als Pfadfinderin kennzeichneten, verhedderte sie sich vor lauter Aufregung mehr als einmal.
Ihre Kleider rochen inzwischen ziemlich streng. Eigentlich wäre es an der Zeit gewesen, eine Quelle aufzusuchen, um die Klamotten zu reinigen. Vielleicht wäre es sogar an der Zeit gewesen, sich nach neuen Kleidungsstücken umzusehen, denn die alten wiesen bereits eine Vielzahl zusätzlicher Nähte und Flicken auf. Doch darüber machte sie sich in diesem Moment keine Gedanken. Sie hatte eine neue Aufgabe - das war viel interessanter.
Sie hüpfte auf einem Bein durch den Raum und versuchte dabei, mit dem anderen Fuß in einen ihrer Stiefel zu schlüpfen. Nachdem sie auf die Nase gefallen war, endete der Versuch, indem sie sich auf den Boden setze und den Stiefel mit Gewalt nach oben zog. Mit dem zweiten Stiefel verfuhr sie ebenso. Die Schnürsenkel mussten warten - die Stiefel hielten auch so.
Sie raffte noch ihren Rucksack ein, dann stürmte sie aus dem Raum. Sie musste unbedingt zum Chef. Er wollte sofort informiert werden, wenn jemand die Siedlung verließ, um eine Aufgabe zu erfüllen. Zuvor musste sie aber noch ein Geschäft erledigen.
Sie tappte zu dem Abschnitt der Siedlung, den sie als Latrine benutzten. Dort suchte sie sich einen Raum mit einem freien Loch im Boden aus. Über dem zweiten Loch in diesem Raum saß gerade eine Beschafferin und verabschiedete sich von ihrer letzten Mahlzeit.
Sie zog ihre Hose herunter und verrichtete ihr Geschäft so schnell wie möglich. Aus ihrem Rucksack zauberte sie ein Stück Stoff hervor, mit dem sie sich reinigte. Danach wanderte der Stoff in eine Plastikhülle, die sie sich aus Verpackungen von Nahrungsriegeln gebastelt hatte. Stoff war zu wertvoll, um ihn in die Latrine zu werfen. Sie würde ihn später an einer Quelle reinigen - zusammen mit dem Rest ihrer Klamotten.
Als sie die Latrine verließ, fragte sie sich kurz, womit sich die Beschafferin wohl reinigen mochte, nachdem sie ihre Mahlzeit losgeworden war. Die Frau hatte nichts bei sich getragen außer ihren Kleidern. Aber das sollte nicht ihre Sorge sein. Sie war eine Pfadfinderin. Sie hatte sich nicht um solche Dinge zu kümmern.
Ob sie wohl schon wusste, was sie zu tun hatte? Damals, als es noch regelmäßig etwas zu tun gab, war sie oft aufgewacht und hatte sofort gewusst, wohin sie ihr Auftrag führen würde. Doch manchmal wusste sie es nicht gleich. Dann fühlte sie einfach nur den Drang, etwas tun zu müssen. Erst nach einer Weile wurde ihr klar, was sie zu tun hatte. Das passierte meistens, wenn sie zu aufgeregt war, um sich zu konzentrieren - genau wie jetzt. Also blieb sie stehen und zwang sich, tief durchzuatmen und nichts zu überstürzen. Das war schwierig, doch sie musste wissen, wohin sie zu gehen hatte. Der Chef würde sie danach fragen und sie wollte eine Antwort parat haben.
Tief durchatmen und nachdenken. Was hatte sie zu tun? Was wurde von ihr erwartet? Sie ließ diesem Drang in ihrem Inneren freien Lauf und wartete ab, wo dieses Gefühl enden würde. Und plötzlich stand ein Gedanke glasklar hinter ihrer Stirn: Sie musste zum Loch.
Peng!
Damit verabschiedete sich ihre gute Laune. Der Drang blieb, doch die Freude verflog wie ein Furz im Sturm. Ausgerechnet das Loch. Sie war bereits zweimal dort gewesen, beide Male völlig umsonst. Beim ersten Mal hatte es ihre Zielperson nicht geschafft, beim zweiten Mal hatte sie einen echten Idioten aus dem Loch gezogen. Und nun musste sie wieder dorthin. In diesem Augenblick wünschte sie sich, sie hätte den Auftrag ablehnen können. Doch das konnte sie nicht. Das konnte niemand. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihren Weg zum Chef fortzusetzen und direkt im Anschluss zum Loch aufzubrechen.
Der Chef saß sicherlich wieder in der Kantine. Seit es nichts mehr zu tun gab, saß der Chef immer in der Kantine. Auf dem Weg dorthin musste sie den Zentralplatz der Siedlung überqueren. Als sie durch das Labyrinth der Materialstapel stapfte und verschiedenen Arbeitern auswich, gesellte sich ein Mann zu ihr und begleitete sie ein Stück. Olivfarbener Overall - ein Kartograph.
»Na, hast es wohl eilig, hm?«
Sie erkannte die Stimme. Dieser Kartograph hatte sie zwei- oder dreimal begleitet, als sie noch dabei waren, das Gebiet zu erkunden. Sie mochte den Kerl nicht. Er sah aus wie eine zu groß geratene Vogelscheuche. Außerdem redete er zu viel. Sie wunderte sich, weswegen er noch lebte. Sie hatte viele Typen wie ihn kennen gelernt. Keiner von ihnen hatte lange überlebt. Sie wunderte sich, wie es dieser hier geschafft hatte, bis jetzt am Leben zu bleiben. Eigentlich hätte er längst tot sein müssen.
Stattdessen lief er neben ihr her und überschüttete sie mit Text. Wie sehr er sich doch langweile und wie sehr er sich freue, eine alte Weggefährtin zu treffen. Es seien ja so viele alte Gefährten ums Leben gekommen und in der Siedlung gebe es so viele neue Gesichter.
Sie versuchte, das Geschwafel auszublenden. Wenn sie schon einem Kartographen begegnen musste, warum hatte es dann dieser Idiot sein müssen? Gegen das Panzerchen hätte sie nichts gehabt. Mit dem hätte sie sich wenigstens richtig unterhalten können. Aber nein, sie hatte ausgerechnet auf einen Dummschwätzer treffen müssen. Einen hässlichen Dummschwätzer.
Schließlich bog der Kartograph zwischen zwei Materialstapeln ab. »Entschuldige, aber ich muss hier drüben weiter. War schön, mit dir zu plaudern. Vielleicht können wir bald mal wieder gemeinsam losziehen.«
Sie hob kurz ihre linke Hand, um der Höflichkeit Genüge zu tun. Sie mochte diesen Typen zwar nicht, doch sie wollte ihn nicht verärgern. Am Ende musste sie tatsächlich irgendwann noch einmal mit ihm losziehen. Dann wollte sie ihn nicht zum Feind haben. Außerhalb der Siedlung musste man sich auf seinen Partner verlassen können.
Nach einigem Geschlängel zwischen den Materialstapeln und einem flüchtigen Gruß hier und dort erreichte sie schließlich die Kantine. Der Chef saß auf seinem Stammplatz und hielt eine Flasche in der Hand - wie immer. Ihm gegenüber hatte ein Beschaffer Platz genommen. Insgeheim beneidete sie die Beschaffer. Sie hatten immer etwas zu tun. Rückten immer wieder aus, um die Räume in der Nähe der Siedlung nach verwertbarem Material zu durchsuchen. Mussten sich dabei nicht einmal in Gefahr begeben, weil sie nur auf bekanntem Gelände unterwegs waren. Es gab Momente, in denen hätte sie gerne mit einem Beschaffer getauscht. Allerdings nicht mit diesem dort. Der schien nämlich ein Problem zu haben.
Der Beschaffer redete auf den Chef ein und gestikulierte dabei, als wolle er einen Mückenschwarm verscheuchen. Der Chef hörte zu und nickte von Zeit zu Zeit. Nebenbei lutschte er an seiner Flasche. Sie würde warten müssen, bis der Chef den Beschaffer abgefertigt hatte.
Es war nicht viel los in der Kantine. Die meisten waren bei der Arbeit. Deswegen musste sie nicht lange nach einem freien Tisch suchen. Sie mochte sich nicht zu einer der Gruppen setzten, die sich an anderen Tischen gebildet hatten. Sie kannte zwar viele Leute vom Sehen, doch ihr stand nicht der Sinn nach einer Unterhaltung. Sie brütete lieber alleine vor sich hin und verdaute die Enttäuschung über ihre neue Aufgabe.
Zum Zeitvertreib musterte sie die Leute. Ihr Blick blieb an einer Frau hängen, die direkt neben der Eingangstür saß und etwas aß. Die Kleidung der Frau mochte einmal gelb gewesen sein. Inzwischen hatte sich die Farbe jedoch so gut wie verabschiedet. Eine Arbeiterin. Und diese Arbeiterin aß Trauben.
Für einen Moment ließ sie dieser Anblick ihren Auftrag vergessen. Da saß eine Arbeiterin und aß Trauben. Echte Früchte. Eine Arbeiterin, die nichts anderes tat, als sich um die Instandhaltung der Siedlung zu kümmern und Material zu sortieren. Sie als Pfadfinderin hingegen hatte unbekanntes Gelände erforscht. Sie war voran gegangen und hatte den richtigen Weg gesucht. Sie hatte ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um die letzten Winkel dieser Welt zu erkunden. Und was musste sie essen? Diese Riegel aus Presspappe. Mit Fairness hatte das nichts mehr zu tun.
Sie spielte mit dem Gedanken, zu dieser Arbeiterin zu gehen und ihr die Trauben einfach wegzunehmen. Was hätte die Frau dagegen tun sollen? Doch dann nahm sie ihre Willenskraft zusammen und löste ihren Blick von den Weintrauben. Sie konnte diese Frau nicht berauben. Diebstahl wurde mit dem Ausschluss aus der Siedlung bestraft. Der Chef würde keine Ausnahme machen. Und wenn sie den Gerüchten Glauben schenken durfte, dann hatte sie auch außerhalb der Siedlung nichts mehr zu erwarten. Unter vorgehaltener Hand wurde rumort, Diebe und Verbrecher würden nach ganz unten verbannt, in die Katakomben. Dort würden sie zu Knochenkauern werden. So wollte sie keinesfalls enden.
Also konzentrierte sie sich wieder auf den Chef. Der Beschaffer hatte seine Arie offenbar zu Ende geredet, denn nun sprach der Chef. Dabei schürzte er oft seine Lippen, grinste viel und vollführte viele Gesten mit offenen Handflächen. »Aber natürlich«, schienen diese Gesten zu sagen, »aber sicher doch. Ich verstehe. Alles klar. Das können wir so machen.« Der Beschaffer hörte wie gebannt zu und nickte von Zeit zu Zeit. Dann zuckte der Chef mit den Schultern. Sie wusste, nun reichte er dem Beschaffer die bittere Pille. Und sie wusste, der Beschaffer würde diese Pille bereitwillig schlucken. Für solche Dinge hatte der Chef ein Talent.
Schließlich beendeten die beiden Männer ihr Gespräch. Der Beschaffer stand auf und verbeugte sich mehrmals leicht vor dem Chef. Dann ging er einige Schritte rückwärts, verbeugte sich noch einmal und rauschte hinaus. Als er ihren Tisch passierte, hörte sie, wie er leise vor sich hin murmelte. Sie sah ihm nach. Auch er würde nicht lange überleben, wenn man ihn in unbekanntes Gebiet schickte. Sie kannte solche Typen. Sie hatte oft mit ihnen gearbeitet.
Der Chef entdeckte sie und winkte. Sie stand auf, ging zu seinem Tisch und setzte sich auf den Stuhl, den der Beschaffer für sie angewärmt hatte.
»Meine allerbeste Pfadfinderin.« Der Chef grinste und lutschte an seiner Flasche. »Lange nicht gesehen. Wie kann ich dir helfen?«
So begann der Chef immer. Er fragte, wie er helfen konnte. Sie fand das sehr geschickt. So kam sich niemand wie ein Bittsteller oder ein Untergebener vor. Doch nun kam sie besser zur Sache. Der Chef mochte es nicht, wenn man um den heißen Brei herum redete.
»Ich habe eine Aufgabe«, sagte sie. »Ich muss weg. Jetzt gleich.«
Der Chef zog seine Augenbrauen in die Höhe. »Du hast einen Auftrag bekommen? Jetzt noch? Das ist ja mal ganz was Neues. Und wohin soll es gehen?«
»Zum Loch.«
Der Chef senkte seinen Kopf und sah sie lange an. Dann atmete er tief ein und griff nach seiner Flasche. »Das gefällt mir aber überhaupt nicht.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Mir auch nicht. Da kann ich aber nichts machen.«
Er trank einen Schluck und schüttelte seinen Kopf. »Verlangt auch niemand.« Er stellte die Flasche wieder auf dem Tisch ab. »Wieder eine Rettungsaktion, wie bei diesen anderen Streunern?«
Sie zuckte erneut mit den Schultern. Sie wusste es nicht. Doch der Chef hatte bereits seine eigenen Schlüsse gezogen. »Natürlich wird das eine Rettungsaktion. Sonst gibt es ja nichts Interessantes beim Loch. Verdammt, dabei hatte ich gerade mit dem Gedanken gespielt, dich bei den Beschaffern einzusetzen. Die Beschaffer grasen einfach nur alles ab, aber du könntest die wirklich interessanten Räume finden, in denen richtig gutes Zeug liegt.«
Sie sah den Chef an. »Ehrlich? Du würdest mich mit den Beschaffern gehen lassen?« Der Gedanke brachte sie schier aus dem Häuschen. Endlich hatte die Langeweile ein Ende und sie konnte wieder einer geregelten Aufgabe nachgehen.
Der Chef nickte. »In letzter Zeit schleppen die Beschaffer nur noch Müll an. Besser, es geht jemand mit, der etwas Brauchbares aufspüren kann.«
»Mann, das ist toll«, rief sie aus. »Ich komme so schnell wie möglich wieder her.«
Der Chef grinste und nickte väterlich. »Ist ja schon gut. Sei bloß vorsichtig. Wenn ich mich recht erinnere, musst du durch mindestens eine Todeszone. Deswegen solltest du nichts überstürzen. Ach ja, und da ist noch etwas.« Er sprach sehr leise. »Du weißt genau, welche Idioten da draußen unterwegs sind. Denk nur an deinen zweiten Ausflug zum Loch. Hätte es dieser Kerl bis hierher geschafft, dann wäre das ziemlich hässlich geworden. Ich wäre garantiert mit diesem Schwachkopf aneinander geraten. Deswegen wäre es vielleicht gar nicht so schlecht, wenn der nächste Streuner im Loch bliebe. Und falls er es schafft, ohne deine Hilfe aus dem Loch zu kommen, dann könntest du ihn einfach erledigen. Hier, schau mal.« Er griff hinter sich und zog eine Pistole aus seinem Hosenbund. Er machte viel Ritschratsch und Klickklack, dann hielt er ihr die Pistole mit dem Griff voran hin. Sie nahm die Waffe und hielt sie vorsichtig in der Hand. Dabei achtete sie darauf, den Abzug nicht zu berühren.
»Normalerweise rücke ich meine Kanonen nicht raus, aber in diesem Fall würde ich eine Ausnahme machen. Das ist eine Baby-Glock. Du hast zehn Schuss im Magazin. Wenn dich jemand anmacht, dann lässt du ihn ganz nah an dich heran kommen. Dann drückst du ihm die Kanone in den Wanst und ziehst zwei- oder dreimal am Abzug. Wenn er umkippt, dann verpasst du ihm noch mindestens zwei Dinger in den Kopf. Dann ist Feierabend. Alles klar?«
Sie drehte die Waffe in ihren Händen und betrachtete sie von allen Seiten. Wenn der Chef die Pistole hielt, sah es aus, als sei sie ein Teil seines Körpers. Bei ihr hingegen eckte und kantete dieses Ding und passte überhaupt nicht richtig in ihre Hand.
»Was mache ich, wenn der Kerl noch steht und aus der Kanone kommt nichts mehr raus?«
Der Chef grinste. »Wenn du die Munition verballert hast, dann wirfst du einfach mit dem Ding.«
Sie grinste zurück. »Ich werde gleich damit werfen. Dann treffe ich wenigstens etwas.« Dann wurde sie wieder ernst. »Aber mal ehrlich: Was soll ich mit dem Ding? Ich kann doch nicht einfach so auf jemanden schießen.«
Der Chef zuckte mit den Schultern. »Nimm die Kanone einfach mit. Zur Sicherheit. Und wenn du tatsächlich einen Idioten aus dem Loch ziehst, dann würdest du mir einen Riesengefallen tun, wenn du ihn irgendwo loswerden könntest. Deppen haben wir hier genug, da brauchen wir nicht noch einen von außerhalb.«
»Da hast du allerdings Recht.«
Sie stand auf. Er nickte ihr zu. »Gehst du sofort los?«
Sie schüttelte ihren Kopf. »Nein. Ich muss noch zum Alten Arsch. Ich brauche Karten. Würde viel zu lange dauern, wenn ich den Weg selbst suchen müsste. Diesmal muss es wirklich schnell gehen. Außerdem will ich rasch wieder nach Hause.«
»Du willst noch zum Alten Arsch?« Der Chef schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Und ich Esel gebe dir eine geladene Knarre in die Hand!«
Automatische Waffen
Weiter. Und immer weiter.
Noch immer kein Ausgang in Sicht. Es gab zwar eine ganze Menge Kellerräume, doch er fand weder ein Treppenhaus noch einen Aufzug. Und wenn er einen Aufzug gefunden hätte, dann hätte das dumme Ding mit hoher Wahrscheinlichkeit überhaupt nicht funktioniert. Im Gegenteil: Die Kabine wäre vermutlich abgestürzt, sobald er auch nur einen Fuß hinein gesetzt hätte.
Stattdessen fand er mehr Nahrung, als er essen konnte. Inzwischen hatte er mindestens drei dieser Nahrungsriegel verputzt. Das Zeug kam ihm allmählich zu den Ohren heraus. Zwei weitere Riegel hatte er in der linken Beintasche seiner Hose verstaut. Dann hatte er eine Plastikflasche mit einer klaren Flüssigkeit darin gefunden. Die Flasche hatte zwar ausgesehen, als habe sie ein Schlammbad hinter sich, doch in der Flüssigkeit hatte er keinerlei Schwebeteilchen oder Verunreinigungen feststellen können. Also war er davon ausgegangen, es handele sich um Wasser.
Natürlich konnte man nicht vorsichtig genug sein - nicht, wenn man entführt und unter Drogen gesetzt worden war. Deswegen hatte er zuerst seine Fingerspitze in die Flüssigkeit getaucht und einen Tropfen abgeleckt. Danach hatte er sich überwunden, einen Schluck zu trinken. Dabei hatte er gezittert wie ein Presslufthammer und einen Teil der Flasche in seinen Ausschnitt gekippt. Tatsächlich enthielt die Flasche aber nichts als Wasser.
Er würde also weder verhungern noch verdursten.
Eigentlich hätte ihn dieser Gedanke beruhigen müssen, doch seine Überlegungen gingen in eine andere Richtung: Wenn er mit Nahrung und Wasser versorgt wurde, dann musste er wohl von einem längeren Aufenthalt hier drin ausgehen.
Seither war seine Frustration mit beinahe jeder Tür gewachsen, die er geöffnet hatte. Dabei hätte er sich eher wundern müssen, denn er hatte verrückte Dinge gefunden. In einem Raum hatte er einen Esstisch gesehen. Dazu vier Stühle. Jemand hatte den Tisch mit vier Blechnäpfen und vier Blechtassen gedeckt. In den Tassen fand er Salzwasser. Das Geschirr war am Tisch festgerostet.
Einen anderen Raum fand er beinahe völlig leer vor. Nur an einer Wand hing ein Bilderrahmen. Darin ein Passfoto. Jemand hatte das Glas des Bilderrahmens zerbrochen und das Passfoto mit schwarzer Farbe unkenntlich gemacht.
In einem weiteren Raum hatte jemand Wände, Decke und Boden mit Augen bemalt. Unzählige Comicaugen - Kreise mit Punkten darin, immer zwei. Das Augenpaar direkt gegenüber der Tür, genau in der Mitte der Wand, hatte geschielt.
Falls sich außer ihm noch jemand hier aufhielt, dann hatte dieser Jemand offenbar ein massives psychisches Problem.
Doch damit nicht genug: Zu seinem Erschrecken lernte er auch noch die Wechselwirkung zwischen den Nahrungsriegeln und Wasser kennen. Dieses Gemenge hatte sich in seinen Eingeweiden in Raketentreibstoff verwandelt.
---ENDE DER LESEPROBE---