Kennen wir uns? - Silke Weyergraf - E-Book

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Silke Weyergraf

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Beschreibung

Nach einem Autounfall erwacht Jenny aus einem beängstigenden Traum: An der Hand Adolf Hitlers war sie zum Traualtar geschritten. Zunächst verdrängt sie den Alptraum, steht sie doch im echten Leben vor den Trümmern ihrer Beziehung. Kurz vor der Hochzeit hat sich ihr Verlobter ausgerechnet für ein Leben mit ihrer besten Freundin entschieden. Als ihr aber beim Ausmisten der Wohnung alte Familienfotos aus Kriegszeiten in die Hände fallen, ahnt Jenny, dass der Traum eine tiefere Bedeutung haben muss. Sie wird von dem Wunsch gepackt, die nationalsozialistische Vergangenheit ihrer Familie aufzuarbeiten. Doch Jenny muss erkennen, dass der Weg dorthin sehr lang ist und neben Schweigen und Abweisung noch weitere erschütternde Begegnungen auf sie warten. Eine gefühlvolle Geschichte über die dunkle Vergangenheit einer Familie - und das Schicksal der Generation Kriegsenkel.

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Silke Weyergraf

Kennen wir uns

© 2016

1. Auflage März 2016

© 2016 OCM GmbH, Dortmund

Gestaltung, Satz und Herstellung: OCM GmbH, Dortmund

Verlag: OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-gmbh.de

ISBN 978-3-942672-46-7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt auch für die fotomechanische Vervielfältigung (Fotokopie/Mikrokopie) und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Nachwort

Über die Autorin

Für Tobit, Jakob, Carlotta und Lukas

Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, dann ist es auch nicht das Ende.

Oscar Wilde

1

Leicht gedämpft erklangen die vollen Orgeltöne vor der schweren Eichentür der Bonifatius Kirche. Zum feierlichen Einzug ihrer seit mehreren Monaten bis ins kleinste Detail durchgeplanten Hochzeit hatte Jenny sich das „Ave Maria“ von Schubert gewünscht. Dieses von einer bekannten Sopranistin gesungene Lied hatte ihre vor drei Wochen verstorbene Oma väterlicherseits immer beim traditionellen Familientreffen am zweiten Weihnachtstag aufgelegt. Erst wenn die ersten Töne erklungen waren, durften die Enkel zur Bescherung unter einem festlich mit silbernem Lametta geschmückten Tannenbaum schreiten. Ob nun die ergreifenden Orgeltöne oder der wolkenbedeckte Sommerhimmel Auslöser war; Jenny fror in ihrem champagnerfarbenen, eng anliegenden Kleid und kurz überlegte sie, ob sie nicht doch auf die Empfehlung ihrer Mutter hätte hören sollen, ein langes, bis zum Boden reichendes Hochzeitskleid zu kaufen. Das Wetter ließ sich nun mal nicht beeinflussen, aber dieser unbeherrschbare Faktor war auch der einzige, der einer perfekten Hochzeit im Wege stand. Die schwere Eichentür öffnete sich langsam und die stimmungsvolle Musik schwappte wie eine Welle über Jennys Gefühle. Sie spürte Nicks warme Hand, die das Zittern ihrer kalten Finger mit leichtem Druck zu beruhigen suchte. Ihr Blick war starr in den dunklen Innenraum der eher tristen Großstadtkirche gerichtet. Eigentlich hatte sie sich einen romantischen Rahmen, vielleicht in einer idyllisch liegenden, kleinen, romanischen Kirche, für den schönsten Tag ihres Lebens gewünscht, aber nach langen Diskussionen hatten sich Nick und sie doch für die praktische Lösung entschieden. Der katholischen Kirche schloss sich direkt anliegend ein Gemeindehaus mit großem Saal zum Feiern an. Diesen konnten sie nach der Trauung für den Sektempfang nutzen. Hinter der nun geöffneten Tür stand Markus, Jennys älterer Bruder, in dunklem Anzug und mit unbeweglicher Miene. Neben ihm standen seine beiden Töchter, die hübsch hergerichtet in ihren weißen Kleidchen wie kleine Engel wirkten. Anna und Marie setzten sich ohne Worte in ihren blank geputzten Lackschühchen in Bewegung. Die beiden Mädchen trugen lächelnd ihre Blumenkörbchen und strahlten dabei eine Gewissenhaftigkeit aus, die Jenny eine erleichternde Sicherheit gab. Langsam schritten ihre vier und sechs Jahre alten Nichten, weiße Blüten verstreuend, den langen Gang zum Altar vorweg. Eine plötzliche Aufregung überkam Jenny und ließ die Orgeltöne nur noch als undefinierbares Klangpolster erscheinen. Ein erster Blick über die Bankreihen, in denen Familienangehörige, Freunde oder sonstige an der Feier interessierte Menschen saßen, zog nun Jennys Aufmerksamkeit auf sich. Die Bänke waren nicht voll, aber gut besetzt. Von ihren fast zwanzig Arbeitskolleginnen konnte sie nur drei entdecken, aber immerhin war ihr Chef dabei, der ihr verhalten lächelnd zuzwinkerte. Beim Anblick ihrer Freundin Thea, mit der sie annähernd wöchentlich ausufernde Telefonate führte, wurde ihr warm ums Herz und ihre innere Anspannung schwand. Sie sah in die Gesichter der ihr zugewandten Menschen, die ihren Blick alle, so schien es ihr, merkwürdig ausdruckslos erwiderten. Langsam näherte sich der feierliche Tross den ersten drei Bankreihen, in denen, wie gewöhnlich, die Familien der baldigen Ehepartner saßen. Elfriede, Nicks verwitwete Mutter, saß neben ihrem ältesten Sohn und dessen hübscher, südländisch anmutenden Freundin in der dritten Bankreihe links und trocknete sich mit einem bereits ballförmigen Taschentuch die Tränen von der Wange. Wo nur steckte Marla? Ihre beste Freundin, mit der sie schon die Grundschulzeit verbracht hatte, wollte doch als Trauzeugin an ihrer Seite stehen. Auf Marla war bisher immer Verlass gewesen und es war nicht ihre Art, sich zu verspäten. Sicherlich hatte Jenny sie nur übersehen und Marla saß irgendwo, verdeckt von anderen Kirchenbesuchern, in einer Ecke hinter einer Säule. In diesem Moment setzte Jenny ihren Fuß auf die Höhe der zweiten Bankreihe, in der ihre Eltern und ihr jüngerer Bruder erwartungsvoll standen. Ihr fiel auf, dass alle Gäste ihren Blick auf Nick gerichtet hatten. Um sich von dem Unzufriedenheit auslösenden Gedanken, nicht beachtet zu werden, abzulenken, schaute sie die letzten Meter durch den Gang stur geradeaus auf den mit wunderschönen Blumengestecken verzierten Altar. Ohne dies vorher abgesprochen zu haben, löste sich Nick von ihrer Hand und drehte sich abrupt um. Er stellte sich steif vor die erwartungsvolle Gemeinde, die plötzlich gemeinschaftlich, wie elektrisiert auf ein stilles Kommando, die Hand mit gestrecktem Arm in Richtung Nick hob. Jenny sah nur den ebenso ausgestreckten Arm des Mannes, an dessen Seite sie in die Kirche geschritten war. Ein ohrenbetäubender „Heil ­Hitler“-Ruf, der im kalten Kirchraum gespenstisch widerhallte, riss sie aus ihrer vernebelten Wahrnehmung. Ihr Blick glitt den Arm des neben ihr stehenden Mannes entlang, bis er angsterfüllt auf den Schnäuzer eines in ihr Schauer auslösenden Gesichtes stieß. Starr und machtvoll hatte Adolf Hitler die ausschließlich ihm zugewandte Besucherschar in seinen Bann gezogen. Hilfesuchend schaute Jenny zu ihren Eltern, doch die starrten regungslos auf den angsteinflößenden Diktator. Ihr Blick fiel auf den Boden vor der ersten Bankreihe, wo zwei Menschen, unbeirrt vom lauten Hitler-Ruf der Verwandelten, engumschlungen ihren Wolllüsten nachgingen. Es traf sie wie ein Blitz, als Jenny erkennen musste, wer da vom Liebesspiel gefesselt zu ihren Füßen lag. Sie erkannte Marlas hochhackige rote Schuhe und Nicks abstehende Ohren neben dem dunklen Haaransatz. Ihre Gedanken überschlugen sich und die Kraft rann aus ihren Beinen. Sie wollte schreiend aus der Kirche fliehen, doch versagten sowohl Stimme als auch Füße. Sie stürzte zu Boden und stieß mit dem Kopf hart gegen die Kirchenbank. Nur noch schemenhaft sah sie unter aufkeimendem Tumult und panischem Schreien der Trauungsgäste ein aufgeschrecktes Reh durch den Gang Haken schlagen. Jenny landete weich und hörte noch das Splittern eines Glases. In Todesangst war das Reh durch ein tiefliegendes Kirchenfenster gesprungen, das mit großer Wucht kleine Splitter im Umkreis von mehreren Metern verstreute. Mit letzter Anstrengung öffnete Jenny noch einmal die Augen und sah über sich eine Baumkrone, die sich im Schwinden ihrer Sinneskräfte wie ein Karussell gegen einen regengrauen Abendhimmel drehte. Dann wurde es dunkel.

2

Das durchdringende Geräusch einer Autohupe riss Jenny aus einem tiefen Schlaf. So sehr sie auch ihre noch schwerfälligen Gedanken bemühte, konnte sie den penetranten Ton, der ihren Puls schneller schlagen ließ, in keinen Zusammenhang bringen. Ihre Augenlider waren schwer und bereits die Vorstellung, sie gegen eine gefühlte Kilolast anzuheben, überstieg ihre Kräfte. Ein stechender Schmerz in der Stirn überlagerte die sie umgebenden Geräusche, welche nur noch leise im Hintergrund ungeduldig klopften. Wie ein ungebetener Gast, der bereits mehrere Minuten vor der Haustür verweilt und trommelnd auf Einlass hofft. Auch den Kopfschmerz konnte sich Jenny nicht erklären. Noch nie war sie mit solch zerstörerischen Schmerzen in der Nacht wach geworden. Angestrengt öffnete Jenny die Augen einen Spaltbreit, doch das grelle Licht, das einen Schmerz wie einen Blitz neben den Schmerz am Haaransatz einschlagen ließ, machten den Versuch, sich zu orientieren, zunichte. Reflexartig wollte sich Jenny mit der linken Hand an die Stirn greifen, doch zog ein Band, das an ihrem Handrücken befestigt zu sein schien, ihren Unterarm auf die weiche Unterlage zurück. Zu dem Hupgeräusch hatten sich nun aufgeregte Menschenstimmen gemengt und plötzlich gab es einen Knall wie von einem riesigen Elektrotacker. Der Geräuschecocktail erzeugte in Jenny Angst. Wo war sie? Und wer waren diese Leute, die sich hektisch Anweisungen zuriefen? Wieso konnte sie sich nicht normal bewegen und wann würde dieser stechende Schmerz enden?

Das Hupen brach abrupt ab und die zuvor nervös wirkenden Stimmen begannen, sich in ruhigem Ton zu unterhalten. Die Worte klangen sehr technisch und für eine private Kommunikation zu eintönig. Sie erkannte eine Männerstimme und zwei oder mehr Frauenstimmen. Zudem mischte sich nun ein rhythmisches Piepen zu den entfernteren Gesprächen. Da sich dieses Piepen aber gleichmäßig an ihren Herzschlag anpasste, hatte es eine beruhigende und einschläfernde Wirkung auf Jenny. Kurz wehrte sie sich dagegen, fiel dann aber erneut in einen tiefen Schlaf.

Jenny lag verkabelt und mit Sauerstoffmaske versehen in einem Krankenhausbett auf der neurochirurgischen Intensivstation der Universitätsklinik Münster. Umgeben von diversen medizinischen Geräten, dem Geruch nach Desinfektionsmittel und alarmierenden Tönen der die Körperfunktionen überwachenden Technik, befand sie sich wieder in einer tiefen Bewusstlosigkeit. Während des Notfalls hatten die wachsamen Pfleger und Schwestern der Intensivpflege das kurze Erwachen der jungen Frau nicht bemerkt. Im Nachbarzimmer war das Herz eines Patienten in ein Kammerflimmern gefallen. Die Überwachungsgeräte hatten Alarm geschlagen und den Hupton ausgelöst. Sofort waren alle auf der Station anwesenden Pflegekräfte, einer davon mit Brett, ein anderer mit Defibrillator, zu dem lebensbedrohlich erkrankten Mann geeilt. Geübt in der Bewältigung solch belastender Stresssituationen, hatten sie die nötige Ruhe bewahrt und sich in klarem und eindringlichem Ton Anweisungen zugerufen. Das Brett wurde unter den frisch Operierten geschoben und der Elektroschlag des Defibrillators hatte eine Spannung ausgelöst, die den ganzen Körper des bewusstlosen Mannes einige Zentimeter vom Bett hochhob und erschlafft wieder zu Fall brachte. Bereits ein Schlag des Elektroschockers hatte genügt und dem im Übergang zum Tod befindlichen Patienten wieder zu einem funktionstüchtigen Herzschlag verholfen. Kurz hatten sich die Pflegenden erleichterte Blicke zugeworfen. Nachdem der diensthabende Arzt weitere therapeutische Maßnahmen eingeleitet hatte, ging jeder wieder seinen eigentlichen Aufgaben nach. Als Pfleger Andreas an Jennys Bett trat, um nach der Infusionsnadel, die sich an ihrer linken Hand befand, zu schauen, atmete seine an Kopf und Unterschenkel verletzte Patientin ruhig und die Geräte zeigten keine Veränderungen der Vitalfunktionen.

Nachdem Andreas sich zum Intensivpfleger weitergebildet hatte, arbeitete er seit über drei Jahren auf der Station. Er war bei den Kollegen aufgrund seiner kompetenten und ruhigen Art beliebt und der Job erfüllte ihn sehr. Gestern Abend hatte er einen ruhigen Dienst verrichtet, bis die 37-jährige Lehrerin nach einem schweren Autounfall auf einer Landstraße in Münster Gievenbeck auf seine Station gebracht wurde. Aus noch ungeklärter Ursache war sie mit ihrem Kleinwagen in einer Kurve gegen einen Baum geprallt und hatte sich dabei eine komplizierte Unterschenkelfraktur und eine bisher nicht genau einschätzbare Gehirnschädigung zugezogen. Er betrachtete das Gesicht der jungen Frau, die laut beigeführten Ausweisen in Dortmund wohnte . Ihre helle Haut war mit einigen netten Lachfältchen durchzogen. Die Mundwinkel waren leicht herabgezogen und es sah aus, als mache sich die Patientin sorgenvolle Gedanken. Die dunkelblonden Haare hatte Andreas zurückgekämmt und mit einem Haargummi zusammengebunden. Die rechte Stirnseite war mit Mullbinden aufwendig abgedeckt, da sich die Frau dort bei dem Aufprall auf das Armaturenbrett ihres Autos eine große, offene Wunde zugezogen hatte. Anscheinend war sie am Airbag vorbeigeschleudert worden. Auf der linken freien Stirnseite entdeckte er eine kleine alte Narbe. Nachdem er die Verunglückte gestern versorgt hatte und alle Körperfunktionen soweit stabil gewesen waren, hatte er die Klinik erschöpft nach zweieinhalb Überstunden verlassen. Heute, nach einer Trainingseinheit im Fitnesscenter, war er zum Spätdienst extra etwas früher gekommen, um mehr Zeit für die Kommunikation mit Angehörigen zu haben. Bisher konnte kein Familienmitglied erreicht werden. Bei der angegebenen Adresse hatte sich telefonisch nur der Anrufbeantworter gemeldet. Da es sich bei der Stimme am anderen Ende um eine männliche handelte, hatte er die Hoffnung, dass sich der Ehemann oder Freund dieser Frau heute melden würde. Hoffentlich waren keine Kinder betroffen, denn wer wusste schon, was für Auswirkungen die Hirnverletzung nach sich ziehen würde. Gut, dass die Frau noch nicht bei Bewusstsein war und keine Fragen stellen konnte. Sie hatte wirklich Glück gehabt und musste weder operiert noch intubiert werden. Lediglich eine Atemmaske und eine Infusion mit schmerzhemmenden Medikamenten wurden von den Ärzten verordnet. Vermutlich handelte es sich um ein mittelschweres Schädel-Hirn-Trauma ohne innere Blutungen, aus dem der Erfahrung nach die meisten Betroffenen nach einigen Stunden wieder erwachten. Er erinnerte sich an das schlechte Wetter am gestrigen Abend. Auch er wäre beinahe auf dem Klinikparkplatz auf einigen regendurchnässten Blättern vor seinem Auto ausgerutscht. Andreas vermutete, dass die Frau einfach Pech gehabt hatte. So etwas gab es leider immer wieder. Herbstregen in der Dunkelheit. Gegenverkehr mit blendenden Scheinwerfern und rutschige Blätter in der Kurve. Pech, wenn dann am Straßenrand noch ein stämmiger Baum stand. Das war wohl Schicksal. Obwohl Frau Jenny Hilgers die Augen geschlossen hatte, lächelte er ihr aufmunternd zu und drückte ihren Arm, als wollte er sagen: „Wird schon wieder.“

In diesem Moment öffnete Jenny unter Schmerzen die Augen und ihre Gesichtszüge verspannten sich zu einer gequälten Grimasse. Sie erkannte einen in blau gekleideten, braun gebrannten und blondierten Mann vor sich, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Die Stimme allerdings kam ihr bekannt vor. Andreas liebte diesen Augenblick, wenn Menschen nach schweren Unfällen wieder in die Realität eintauchten, und erfreut begrüßte er die soeben aus der Bewusstlosigkeit erwachte Jenny.

„Guten Tag, Frau Hilgers. Ich bin Pfleger Andreas. Sie befinden sich auf der Intensivstation des Universitätsklinikums in Münster. Wie geht es Ihnen?“, fragte er mit leiser, erwartungsvoller Stimme. Behutsam und den Blickkontakt haltend entfernte er die Atemmaske, die Jenny bis zu diesem Zeitpunkt mit Sauerstoff versorgt hatte. Ein kurzer Blick auf das Oximeter, das den Sauerstoffgehalt im Blut darstellte, gab ihm Gewissheit, dass bei seiner Patientin alles in Ordnung war.

„Intensivstation?“, fragte Jenny mit rauer, kraftloser Stimme und schloss erschöpft die Augen.

Um Jennys Aufmerksamkeit zu halten, antwortete Andreas mit einer ausführlichen Beschreibung der Geschehnisse.

„Gestern Abend hatten Sie mit Ihrem Auto einen Unfall auf dem Horstmarer Landweg in Münster Gievenbeck. In einer Kurve sind Sie ins Schleudern geraten und vor einen Baum geprallt.“ Andreas wartete auf eine Reaktion und konnte erkennen, wie sich Jennys Augenbrauen zusammenzogen. Nach einiger Zeit öffnete Jenny die Lippen und sagte gequält: „Ein Reh, in der Kirche.“

Andreas rechnete mit allem. Viele seiner Patienten brauchten Tage bis Wochen, um wieder alle Erlebnisse, Gedanken und Empfindungen richtig zeitlich einordnen zu können. Aber scheinbar hatte Frau Hilgers seinen Wortlaut verstanden. Denn es konnte durchaus sein, dass bei einem Unfall auf der ländlichen Straße ein Reh Ursache für den Verlust der Fahrzeugkontrolle war. Aber wieso seine Patientin eine Kirche mit dem Reh in Verbindung brachte, war spekulativ. Wahrscheinlich vermischte sie verschiedene Erlebnisse und konnte ihre Gedanken noch nicht sortieren.

Andreas fragte nach: „Ist Ihnen ein Reh vor das Auto gelaufen, Frau Hilgers?“

Jenny konnte nicht antworten, denn in ihr stieg eine Traurigkeit empor, die ihren Hals wie mit einem Kloß füllte und abdrückte. Tränen rannen über ihre Wangen und verliefen sich hinter den Ohren in ihren Haaren. Gedanken überschlugen sich und unterschiedlichste Erinnerungen reihten sich wild aneinander. Eine laute Sopranstimme donnerte ein „Ave Maria“ und Bilder von den roten Schuhen ihrer besten Freundin Marla mischten sich mit ausdruckslosen Gesichtern ihr bekannter Menschen. „Es ist Schluss“, hörte sie ihren Freund Nick sagen und plötzlich erschallte ein lauter „Heil Hitler“-Ruf.

„Nein!“, schrie Jenny und stöhnte auf vor Schmerzen. Sofort reagierte Andreas und rief über Funk den diensthabenden Arzt.

Ein großer schlanker Mann in weißem Kittel erschien nach kurzer Zeit neben Jennys Bett, die erneut in einen unruhigen Schlaf gefallen war. Nachdem Andreas die Unterhaltung zwischen ihm und der Patientin wiedergegeben hatte, ordnete der Arzt an, Jenny eine höhere Dosis Schmerzmittel sowie eine weitere beruhigende Substanz zu verabreichen. Außerdem müsse sie so schnell wie möglich erneut zur Computertomografie, um mögliche Hirnblutungen auszuschließen. All dies ließ Jenny wie im Schlaf über sich ergehen. Zum Glück konnten keine Blutungen festgestellt werden. Die Medikamente bewirkten zudem eine Linderung der Schmerzen und lösten Jennys wirre Gedanken.

Mittlerweile war auch ein Kontakt zu Angehörigen aufgebaut worden. Der Vater der Patientin hatte sich telefonisch über den Zustand seiner Tochter informiert und angekündigt, gemeinsam mit seiner Frau innerhalb der nächsten zwei Stunden in Münster einzutreffen. Er schien sehr gefasst am Telefon und berichtete, von der in Münster lebenden Freundin seiner Tochter über ihre Nichterreichbarkeit informiert worden zu sein. In Jennys Wohnung habe man dann den Anrufbeantworter abgehört und die Mitteilung des Pflegers entgegengenommen. Alles wäre unbegreiflich, aber man wäre dankbar, dass es der Tochter den Umständen entsprechend gut ginge. Ob man denn den Verlobten der Tochter nicht erreicht hätte? Auf diese Frage konnte die Krankenschwester, die den Anruf entgegennahm, keine Antwort geben.

Die ärztliche Anordnung zur Veränderung der Medikamentendosierung hatte Wunder bewirkt. Der stechende Schmerz in Jennys Kopf hatte sich in ein leichtes Druckgefühl gewandelt und alles hatte seine Bedrohlichkeit verloren. Vielleicht lag es an der Tatsache, dass Jenny nun Geräusche und andere verwirrende Reize einordnen konnte. Sie befand sich nach einem schweren Autounfall auf der Intensivstation der Uniklinik Münster und lebte. Sie genoss diese Erkenntnis und wusste, dass es nun das Beste war, alles auf sich zukommen zu lassen. Die beängstigenden Gedankenausschnitte waren für einen Moment vergessen und für eine Analyse ihrer Situation verursachten die verabreichten Medikamente eine zu große Gleichgültigkeit. Pfleger Andreas versorgte eine weitere Patientin, die – nur durch einen hellblauen Vorhang von ihr getrennt – im selben Zimmer untergebracht war. Durch die sie umgebenden bunt blinkenden und rhythmisch tönenden Geräte wähnte Jenny sich in Sicherheit. Die Stimme des kleinen, muskulösen Pflegers Andreas zu vernehmen, der hinter dem Vorhang all seine Handgriffe mit freundlicher und ruhiger Stimme ankündigte, beruhigte Jenny zudem. Alles um sie herum war wie eine Symphonie. Es bereitete Jenny Freude, diesen Klängen mit geschlossenen Augen ohne willentliche Anstrengung zu lauschen.

Eine Stunde war vergangen und Pfleger Andreas hatte sich der Dokumentation seiner getätigten Pflege zugewandt. Eine Arbeit, die immer mehr Zeit in Anspruch nahm, und die er widerwillig tat. Lieber packte er an und nutze seine Arbeitszeit für das Umsorgen seiner Schäfchen. Wohl oder übel saß er nun doch am Schreibtisch des Dienstzimmers, das mit mehreren Monitoren zur Überwachung der Patienten ausgestattet war. Jeder Monitor zeigte die Vitalfunktionen der Kranken durch die Messgeräte und auf Knopfdruck konnte er das Bild einer Überwachungskamera einstellen. Jenny Hilgers und Hannelore Buchner, seine beiden Patientinnen von Zimmer drei, lagen ruhig in ihren frisch bezogenen Betten und zeigten keinerlei Auffälligkeiten. Frau Buchner würde nach ihrer Aneurysma-Operation morgen sicherlich auf die Neurologie verlegt werden. Bei der dreißig Jahre jüngeren Frau Hilgers war er sich nicht sicher. Ihre Verwirrtheit machte ihm etwas Sorgen, aber da er ein optimistischer Mensch war, hoffte er, dass Frau Hilgers „Reh“ und „Kirche“ beim nächsten Erwachen auseinanderbringen konnte. Ganz geklärt war aus ärztlicher Sicht noch nicht, ob der offene Tibiabruch am rechten Unterschenkel seiner jungen Patientin doch noch operativ versorgt werden musste. In ihrem Zustand war eine Operation nicht zu empfehlen, aber für eine konservative Behandlung mussten die Wunden schnell heilen, damit die Anlage einer Gipsschale möglich war. So vermerkte er in seiner Dokumentationsakte unter „Behandlungsziele“: Förderung der Vigilanz (was soviel hieß wie Reh und Kirche auseinanderhalten zu können) und Förderung der Wundheilung, damit einer Gipsversorgung des Unterschenkelbruchs nichts im Wege stand. Andreas wurde von dem Klingelton, der Besucher ankündigte, aus seinen Gedanken gerissen. Er hörte seine Lieblingskollegin Manuela zur Stationstür gehen. Der Besuchsempfang gehörte heute zu ihrem Dienst. Mit ihrer gewohnt zuvorkommenden Art und gewinnendem Lächeln begrüßte sie das Ehepaar Hilgers; die Eltern seiner jüngeren Patientin. Manuela war geschult im Umgang mit aufgelösten Angehörigen. Oft waren die Emotionen der nahen Bekannten der Menschen, die sich in einem Hochrisikozustand befanden, das eigentlich Belastende ihrer Arbeit auf der Intensivstation. Vorwürfe, Schuldzuweisungen, Ängste und Verzweiflung mischten sich mit Erkenntnissen über die Ungerechtigkeit des schicksalhaften Lebens. Mittlerweile waren viele Intensivstationen darauf eingerichtet, dass Angehörige Tag und Nacht vor Ort blieben. Das Universitätsklinikum zumindest war mit einem Besucherzimmer ausgestattet. Vor allem nach lebensbedrohlichen Unfällen wurde dieses Angebot dankend angenommen. Natürlich brauchte es eine gewisse professionelle Distanz, um all den Belastungen langfristig Stand zu halten. Andreas war aber froh, bis heute emotional nicht abgestumpft zu sein. Gerade das Einfühlen in die Situation der Beteiligten schaffte eine wertvolle Basis für eine erfolgreiche Genesung.

Martina schaute durch die immer geöffnete Tür ins Dienstzimmer und erklärte: „Hier sind die Eltern von Jenny Hilgers. Sie haben sich bereits die Kittel übergezogen und würden jetzt gerne ihre Tochter sehen.“

Sie blickte zurück in den Flur, wo Jennys Eltern unsicher standen und machte eine Handbewegung ins Dienstzimmer.

„Das ist Pfleger Andreas. Er hat Ihre Tochter gestern aufgenommen und ist am besten über ihren Zustand informiert“.

Andreas erhob sich und spannte die vom Sitzen und Schreiben ermüdeten Glieder an. Durch seine regelmäßigen Trainingseinheiten an Kraft- und Ausdauergeräten hatte er einen muskulösen Körper, was ihm in der Pflege zunutze kam. Sein Rücken war bisher von der Beanspruchung der täglichen Pflege oft lebloser, bewegungsunfähiger Körper verschont geblieben. Viele Kollegen klagten über immer wiederkehrende Rückenleiden. Andreas jedoch hoffte, dass er seine Arbeit noch viele Jahre uneingeschränkt ausüben konnte.

Mit einem kraftvollen Händedruck begrüßte er die verschüchtert wirkenden Eltern der neuen Patientin. Der Vater, ein etwa 1,90 Meter großer grauhaariger Mann mit gepflegtem Dreitagebart, stand einen Schritt vor seiner zusammengesunkenen Frau und blickte Andreas durch eine schwarzumrandete Lesebrille freundlich entgegen. Er wirkte gefasst, im Gegensatz zu seiner Frau, die mit geröteten Augen nur kurz aufblickte, als Andreas ihre schlaffe Hand zur Begrüßung drückte. Sie schien sich unter dem hellgrünen Besucherkittel verstecken zu wollen, und so folgte sie auch nur sehr langsam den beiden Männern ins Zimmer drei. Andreas ging vorweg und steuerte auf Jennys Bett zu. Diese wirkte sehr entspannt und hatte die Augen geschlossen. Ob sie wirklich schlief oder nur ruhte, war nicht auszumachen und so berührte Andreas sanft ihren rechten Arm und flüsterte: „Frau Hilgers? Jenny? Sind Sie wach?“

Kurz schaute er auf und bemerkte, dass nun Frau Hilgers Senior die Führung übernommen hatte und mit tränengefüllten Augen am Fußende des Bettes ihrer Tochter stand. Herr Hilgers hatte sich in einiger Entfernung an die Fensterscheibe gegenüber dem Fußende gestellt. Hinter ihm war der Blick ins Nachbarzimmer durch Metallrollläden verbaut. Trotz der gewünschten Transparenz und Überschaubarkeit aller Zimmer wurde somit ein wenig die Intimsphäre der Kranken gewahrt. Herr Hilgers inspizierte das Zimmer und die an seine Tochter angeschlossenen Geräte. Um Jennys Mutter einen Einstieg in die Kontaktaufnahme mit ihrer Tochter zu erleichtern, sprach Andreas in ruhigem Ton weiter: „Jenny. Hier sind Ihre Eltern. Können Sie uns ein Zeichen geben, ob Sie wach sind?“

Die junge Frau rührte sich nicht, doch hatte der aufmerksame Pfleger den Eindruck, dass sich der entspannte Gesichtsausdruck in leichten Unmut gewandelt hatte. Er wandte sich ab und munterte Frau Hilgers auf, den Arm ihrer Tochter zu berühren, um sie dann begrüßen zu können.

„Melden Sie sich bitte, wenn Sie mich brauchen“, sagte Andreas beim Verlassen des Krankenzimmers. Dann begab er sich wieder ins Dienstzimmer, schaltete aber zur Vorsicht das Überwachungsbild von Zimmer drei ein. Es war gut möglich, dass aufgewühlte Angehörige die Genesung der Schwerstkranken durch ihre Anwesenheit und unkontrollierte Emotionen störten.

Als Jenny die zaghafte Stimme ihrer Mutter vernahm, war sie sofort hellwach. Die beruhigende Symphonie hatte ihren letzten Ton erklingen lassen, und es stellte sich wieder die beängstigende Realität ein. Jenny wagte es nicht, die Augen zu öffnen, konnte aber die Worte ihrer Mutter uneingeschränkt erfassen.

„Jenny, wie kannst du uns so etwas antun?“, schluchzte ihre um Fassung ringende Mutter. „Wir haben uns solche Sorgen gemacht“, sagte sie durch ein zerknittertes Taschentuch, mit dem sie sich die Nase putzte.

Jenny zeigte keine äußere Reaktion, aber Pfleger An­dreas bemerkte in seinem Dienstzimmer, dass der Puls der Patientin auf Zimmer drei eine erhöhte Frequenz aufwies. Er betrachtete das Überwachungsbild, konnte aber nichts Beunruhigendes erkennen. Vielleicht freute sich die Tochter über den Besuch der Eltern, was ihr Herz schneller schlagen ließ.

Unter nun kaum noch zu unterdrückenden Tränen flüsterte Frau Hilgers: „Was ist mit Nick? Ihr wolltet doch heiraten. Warum lässt du ihn so einfach gehen?“

Nun schaltete sich der zunächst ruhig an der Scheibe stehende Vater ein und trat neben seine Frau, um sie zu beschwichtigen: „Elisabeth. Nun ist es wirklich genug. Jenny hatte einen schweren Unfall und es ist nicht an der Zeit, alle Probleme der Welt zu diskutieren.“ Er streichelte Jennys Hand und sagte weich: „He, mein Mädchen. Hörst du mich?“

Aber Jenny reagierte nicht und hielt ihre Augen geschlossen. Erneut überfiel sie eine Traurigkeit und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Frau Hilgers entdeckte eine Träne, die langsam die Wange ihrer Tochter hinunterlief, und aufgeregt sagte sie: „Siehst du, Harald. Sie hat mich verstanden. Sie weint.“ Ihre restliche Fassung war gebrochen und schluchzend lief sie aus dem Krankenzimmer. Im gleichen Moment hatte sich Andreas von seinem Stuhl erhoben, denn der Puls seiner Patientin war auf eine belastende Frequenz gestiegen. Er wollte die Eltern bitten, die Tochter kurz ruhen zu lassen, doch kam ihm auf dem Gang bereits Frau Hilgers, tränenüberströmt und geräuschvoll ins Taschentuch schnäuzend, entgegen: „Was hat meine Tochter? Warum sagt sie nichts?“

Andreas nahm die schluchzende Frau in den Arm und führte sie behutsam in eine etwas abgelegene Sitzecke. Auf einem Beistelltisch zwischen zwei Holzstühlen stand ein bunt blühender Blumenstrauß und an der Wand darüber hing ein farbenfrohes großformatiges Bild. Hier war der richtige Ort, um wieder etwas Abstand zu gewinnen, fand Andreas. Frau Hilgers setzte sich und bemühte sich um aufrechte Haltung. Nach kurzer Zeit der Stille, in der Andreas einfach nur neben ihr stand, kam auch Herr Hilgers zu der kleinen Sitzecke und nahm mit einem tiefen Seufzer auf dem noch freien Stuhl Platz. Er stellte die Ellenbogen auf die Knie und hielt sich mit beiden Händen die Stirn. Er fand als erster Worte und fragte ausdruckslos: „Was ist nun mit unserer Tochter? Ist sie schwer verletzt?“

Andreas antwortete behutsam, aber er wusste, dass Beschwichtigungen ebenso unangebracht waren wie weit vorausschauende Vermutungen.

„Ihre Tochter hatte wirklich Glück. Sie hat sich bei dem Autounfall auf regennasser Fahrbahn eine schwere Unterschenkelfraktur, also einen Bruch, zugezogen. Zudem ist sie vermutlich hart mit dem Kopf auf das Armaturenbrett geknallt und hat sich dabei ein Schädel-Hirn-Trauma zugezogen.“ Andreas bemerkte, dass beide Eltern nervös auf den Sitzflächen hin und her rutschten und fügte schnell hinzu: „Aber es sind keine Blutungen im Schädel nachzuweisen, sodass eine baldige Genesung mit großer Wahrscheinlichkeit in Aussicht steht. Alles Weitere müssten Sie aber mit dem diensthabenden Arzt besprechen.“

Nachdem die Eltern keine weiteren Fragen stellten, schlug der Pfleger vor, dass es bestimmt sinnvoll wäre, einen kurzen Spaziergang durch die frische Luft zu machen, um danach noch einmal nach der Tochter zu schauen.

„Aber bitte warten Sie auf Zeichen von Ihrer Tochter. Wir müssen alle Geduld haben.“

Mit diesen Worten verabschiedete er sich von den nachdenklichen Eltern, da seine Kollegin Manuela seine Hilfe anforderte.

Das Ehepaar Hilgers folgte dem Rat des sympathischen Pflegers und fand, nach einigen Irrwegen durch die unzähligen Gänge des riesigen Universitätsklinikums, einen Weg um das Zentralklinikum. Etwas erfrischt und der größten Last enthoben, trafen sie nach gut einer halben Stunde wieder auf der Intensivstation ein. Wie es Andreas empfohlen hatte, traten sie ohne große Worte an das Bett ihrer Tochter, umfassten fest ihre Hände und streichelten sanft ihre Wangen. Jenny behielt ihren nun wieder entspannten Gesichtsausdruck und als das Ehepaar Hilgers sich mit gegenseitigen Blicken zum Aufbruch bewegen wollte, öffnete Jenny die Augen und sagte leise: „Danke. Es tut gut, dass ihr da seid.“

Frau Hilgers wandte sich vom Bett ab, denn ihr standen erneut die Tränen in den Augen. Jennys Vater beugte sich vor, um Jenny in die Augen zu sehen und erwiderte: „Jenny, ruh dich gut aus. Bald geht es dir besser und dann können wir über alles reden.“ Liebevoll kniff er seiner Tochter leicht in die rechte Wange und endete: „Sei stark, mein Mädchen, ja? Wir kommen morgen wieder.“

Jenny schloss erschöpft die Augen. Sie war dankbar, ihre Eltern gesehen zu haben und war sich sicher, dass nun alles schnell besser würde. Den Aufbruch der Eltern zurück in ihre gemeinsame Heimat Dortmund registrierte Jenny nicht mehr. Auch die ärztliche Visite vernahm sie lediglich aus der Ferne, wobei die sie untersuchenden Mediziner dennoch zufrieden mit der Reflextätigkeit und der Vitalität der Körperfunktionen ihrer Patientin waren.

Jenny schlief tief und fest und wachte erst auf, als die Krankenschwester des Frühdienstes zum Waschen an ihr Bett trat. Die Wunde an ihrem Unterschenkel verheilte wie im Lehrbuch beschrieben und die Schmerzmedikation konnte reduziert werden. Zwar musste sich Jenny aus Angst vor Kopfschmerzen sehr behutsam bewegen, aber bereits am Mittag konnte sie etwas Gemüsesuppe schlürfen. Nach einer erneuten Visite wurde entschieden, Jenny am nächsten Vormittag auf die unfallchirurgische Station des Hauses zu verlegen. Alle waren sehr zufrieden mit der Genesung und es bestanden kaum noch Bedenken über vollständige Heilung. Jenny war etwas enttäuscht, denn sie hatte sich mit der offenen und einfühlsamen Art ihres Lieblingspflegers angefreundet und glaubte, auf der neuen Station sicherlich kein solches Glück wie mit Andreas zu haben.

Nachmittags erhielt sie erneut Besuch von ihren Eltern, die sich bemüht oberflächlich mit Jenny unterhielten. Thea, ihre Freundin aus Kölner Studienzeiten, die mit ihrem Mann und einer Tochter in der Nähe des Klinikums wohnten, ließ Grüße ausrichten. Kurz wurde ihr der schicksalhafte Abend vor Augen geführt, denn eigentlich wollte Jenny unangekündigt bei Thea nächtigen. Sie verdrängte aber diesen, ihr Kopfschmerzen bereitenden, Gedanken und ließ sich stattdessen Dortmunder Neuigkeiten berichten. Ihre sechsjährige Nichte Emely, Tochter ihres großen Bruders Markus, hatte bei ihrem ersten Handballturnier gleich drei Tore erzielt. Und ihr jüngerer Bruder Jens lebte zum Leidwesen der besorgten Mutter wieder im Elternhaus, nachdem sich seine langjährige Freundin von ihm getrennt hatte und er aus der gemeinsamen Wohnung in Bochum ausziehen musste. Besorgniserregend waren nach Aussagen der Mutter vor allem die langen nächtlichen Sitzungen ihres jüngsten Sprosses am Computer.

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