Killer Lady - P. J. Mulder - E-Book

Killer Lady E-Book

P. J. Mulder

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Beschreibung

Killer Lady - Ein Wolf Unger Thriller Jade Tashner, Ex-Attachée für besondere Aufgaben an der US-Botschaft in Hanoi, hat während ihrer fünfjährigen Botschaftstätigkeit Verbindungen ins Goldene Dreieck geknüpft, Grenzgebiet von Laos, Thailand und Myanmar, wo Schlafmohn angebaut und zu Heroin verarbeitet wird. Tashner, eine sadistische, Soziopathin, ist dabei, den Vertrieb der Ware aus Südostasien zu übernehmen und neu zu organisieren. Frei gewordene Stellen werden neu besetzt, der europäische Markt mit billigem Heroin geflutet und Preise signifikant reduziert. Wer nicht mitmacht, fällt dem Machtwechsel zum Opfer. Unger wird mit der Beobachtung der Killer Lady beauftragt. Nicht eingreifen, lautet seine Anweisung. Ein Job, der ihm nicht liegt. Trotzdem verfolgt er Jade Tashner von Frankfurt über Albanien nach Italien und weiter nach Thailand, wo er sich über den Auftrag hinwegsetzt, das Heft in die Hand nimmt, prompt in Jades Hände fällt und gefoltert wird. Unger kann entkommen. Er verwischt er seine Spuren und folgt Jade nach Vietnam, ins Herz der Finsternis.

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Für Susanne und Nina.

Inhaltsverzeichnis

1. JADE TASHNER I

2. LENNOX MACLEOD

3. JADE TASHNER II

4. OSTHAFEN, FRANKFURT AM MAIN

5. HOÁNG LAN TUYET

6. TARIK JAKOVA

7. NATALIE LELAND

8. AGIM BERISHA & ADEA AGOLLI

9. TRIADEN

10. ANNALISA ZUCCA

11. ENRICO PASTORE & AIDA DECESARE

12. SKIPETAREN

13. ALEC HUNTER

14. BONNIE

15. SOMPORN

16. ANANDA

17. KAPITEL

18. BONNIE & JADE

19. KAPITEL

20. KAPITEL

21. KAPITEL

22. KAPITEL

23. BANGKOK, THAILAND

24. HANOI, VIETNAM

25. NEW YORK, USA

Er starrt auf ihren Jahrhundertarsch. Mit wiegenden Hüften verschwindet sie im Badezimmer, mit der Ferse schließt sie die Tür. Er räkelt sich auf dem breiten Hotelbett. Zur Probe stemmt er die Hüften hoch und lässt sich fallen. Gute Matratze. Die Vorstellung, sie gleich schreiend unter sich zu haben, steigert seine Erregung. Aus dem Bad dringen Geräusche. Toilettenspülung, dann Wasserrauschen am Waschbecken. Als sie wiederauftaucht, schnappt er nach Luft. Nackt, bis auf einen Hauch von Slip, bewegt sie sich mit wippenden Brüsten und erigierten Nippeln auf ihn zu. Die olivfarbene Haut ohne Makel, die rechte Hand versteckt hinter dem Rücken. Ein Detail, das seine testosteronvernebelten Sinne nicht mehr wahrnehmen. Mit halbgeöffnetem Mund beugt sie sich zu ihm runter. Er atmet ihren Geruch ein. Statt ihrer seidigen Zunge in seinem Mund, spürt er kaltes Metall an seinem linken Ohr. Im Bruchteil einer Sekunde durchzuckt ihn die Erkenntnis. Zu spät.

1

JADE TASHNER I

„Von allen Kaschemmen der ganzen Welt kommt sie ausgerechnet in meine.“ Humphrey Bogart als Richard „Rick“ Blaine in „Casablanca.“

Unger verharrt kurz. Er tut so, als müssten sich seine Augen erst an das schummrige Licht in der Hotelbar gewöhnen. Die gestochen scharfen Fotos in ihrem Dossier, aufgenommen mit einer Hightech-Profikamera mit lichtstarkem Teleobjektiv, hatte er sich eingeprägt und sie sofort erkannt. Die Frau an der Bar – schön und rassig, dunkelblaues Businesskostüm, die langen Beine übereinandergeschlagen, der geschlitzte Rock hochgerutscht – die so aussieht, als würde sie sich für Politik und Literatur interessieren und die neuesten Filme kennen, hat die Ellbogen auf den Tresen gestützt, vor sich ein Glas Rotwein, in einer Hand eine Zigarette, links und rechts freie Barhocker. Sie verbreitet eine Aura der Unnahbarkeit. Verpiss dich, mach mich nicht an, signalisiert ihre Körpersprache. Auf eine Abfuhr gefasst, steuert er auf sie zu und fragt höflich nach einem der freien Hocker. Mit geübtem Blick checkt sie ihn von oben bis unten. Zufrieden mit dem Ergebnis, schenkt sie ihm ein charmantes Lächeln und weist auf einen Barhocker. „Aber nur, wenn Sie mich nicht mit Smalltalk zu labern“, sagt sie mit angenehmer Altstimme in passablem Deutsch. „Ich bin Jade Tashner. Verraten Sie Ihren Namen?“

„Wolf Unger.“ Sofort könnte er sich die Zunge abbeißen. Verdammte Scheiße! Du wirst alt, du machst Fehler, muss er sich eingestehen.

„Wolf? Benannt nach Wolfgang Amadeus Mozart oder dem bösen Wolf im Märchen?“

„Canis lupus.“

Immer noch lächelnd: „Oh, oh, ein Beutegreifer.“ Und spöttisch: „Auf der Jagd, um einsame Frauen in Bars aufzureißen?“

„Um bei ein paar Drinks dem Pianomann zu lauschen“, erwidert er, wirft einen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk und nickt Richtung Klavier. „Ab zweiundzwanzig Uhr geht’s los.“

Sie zuckt, legt ihm eine Hand auf den Arm. „Sorry, Wolf. Das war eine dumme Bemerkung.“ Sie sucht seinen Blick. „Freunde?“

„Freunde“, bestätigt Unger. Und zum Barmann: „Manhattan on the Rocks, Rittenhouse Rye, drei Kirschen.“

Der Barmann nickt. „Sofort.“

Als er den Drink serviert, sagt sie: „Ich mag Männer die wissen, wie sie ihren Drink wollen.“ Sie hebt ihr Glas. „Cheers!“

„Cheers.“ Unger nippt an seinem Drink.

„Wohnst du im Hotel?“, duzt sie ihn.

Unger verneint.

Sie nickt ihm aufmunternd zu. „Also, Wolf, wer bist du?“

Unger macht mit. Was bleibt ihm auch anderes übrig? Er hat sich auf ein riskantes Spiel eingelassen. Und die Chance auszusteigen, ist längst verpasst. Aber jetzt, nachdem er blöderweise seinen Namen genannt hat, ist er auf der Hut. So einfach lässt er sich nicht ausfragen. Er versucht, sie zu überrumpeln.

„Einverstanden. Ladies first.“

Kurz stutzt sie. Sie nimmt einen kräftigen Schluck und schweigt zwei, drei Sekunden. Bis sie sicher sein kann, Ungers volle Aufmerksamkeit zu haben.

Dann legt sie los.

Ihren Redefluss führt er auf ihre narzisstische Persönlichkeit, gepaart mit heftigem Alkoholkonsum zurück. Ein weiteres Glas Rotwein wird serviert. Er schätzt, dass sie schon zuvor zwei, drei Gläser geleert hat. Aber ihre Pupillen sind nicht erweitert, die Feinmotorik nicht gestört. Beta-Typ, überlegt er. Weder körperlich noch psychisch abhängig. Kann große Mengen vertragen, ohne sozial auffällig zu werden.

Ihre Mutter, die außer einem in ganz Vietnam verständlichen Dialekt auch Französisch und Englisch gesprochen hätte, sei als Dolmetscherin im Hauptquartier des Logistik-Großverbandes der US-Armee in Long Bình bei Saigon beschäftigt gewesen, Und ihre Familie, Kautschukunternehmer und überzeugte Kommunistenfresser aus dem damaligen Saigon, hätte zur südvietnamesischen Oberschicht gehört und mit der Kolonialmacht Frankreich kollaboriert.

Interessant, sagt sich Unger. Nicht das übliche Thekengewäsch über Klimawandel, Dieselbeschiss, wie tickt die AFD wirklich oder die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage von tausend US-Wählern, die den amerikanischen Präsidnten mit Attributen und Bezeichnungen belegt, die in der Mehrzahl wenig schmeichelhaft sind. Und noch nie hatte jemand über exotische Reisen wie zum Beispiel einen Wochenendtrip in den Bayerischen Wald oder eine Kreuzfahrt zu den Lofoten berichtet. Von solch unendlich weit entfernten Ländern wie Vietnam ganz zu schweigen. Jade hat Ungers Ohr und seine Aufmerksamkeit. Sie hält kurz inne, verzieht ihren prächtig-sinnlichen Mund zu einem Lächeln und bleckt die makellosen Beißer, aufgereiht wie schimmernde Perlen.

„Meine Mutter konnte die Vertreibung aus ihrer Heimat, dem untergegangenen Indochina, nie verwinden. Ihre Erzählungen kreisten um das Mekong-Delta mit leuchtend grünen Plantagen, Drachenfrucht-, Papaya- und Mango-Bäumen, das feucht-schwüle Saigon mit Kolonialbauten, Rattan-Charme und rotierenden Deckenventilatoren, exotische Märkte im Chinesenviertel Cholon, wo sich seltsam riechende Kräuter und Wurzeln in großen Jutesäcken türmten und in den Garküchen geröstete Schweine und Enten in den Auslagen hingen.“

Sie holt Luft und seufzt.

Er weiß, dass sie eine perfide Lügnerin ist, hört aber gebannt zu. Wobei er sich nicht sicher ist, was ihn mehr fesselt – die raffinierte, mit Fakten und Halbwahrheiten verwobene Story oder die exotische Schönheit der Frau, die sich Jade Tashner nennt. Aus ihrer Akte weiß er, dass sie einen Meter sechsundsiebzig misst. Eine Größe, die sie den deutsch-amerikanischen Genen eines Elternteils zu verdanken hat. Kleiner, asiatischer Einschlag im Augenbereich, länglich-ovales Gesicht, auffallend tiefblaue Augen – bei einer Vietnamesin so selten wie weißes Gefieder bei einem Raben. Olivfarbene Hautfarbe, zu einem französischen Zopf geflochtenes blauschwarzes Haar. Sein Blick wandert über ihren langen Hals und verharrt am Blusenausschnitt. Drei Knöpfe geöffnet, deutlich erkennt er die Ansätze ihrer BH-losen Stehbrüste.

Den sündhaft teuren Wein – Unger konnte einen Blick auf das Etikett erhaschen – trinkt sie wie Wasser. Er fragt sich, wann der Alkohol sie schließlich schachmatt setzen würde.

Inzwischen hat der Pianomann seine Notenblätter geordnet und streichelt die Tasten. Sie hebt grüßend die Hand und nickt ihm zu. Er grinst glücklich. Zu Unger sagt sie: „Erfüllt er Musikwünsche?“ Sie wartet keine Antwort ab, rutscht vom Hocker und stöckelt zum Pianisten. Sie beugt sich runter, flüstert in sein Ohr und lässt diskret einen Schein in seiner Hand verschwinden. Er stimmt eine Melodie an. Mit leicht versoffenem Bariton beginnt er zu singen.

Zurück am Tresen summt sie die Melodie mit.

Um sie zu beeindrucken, sagt Unger: „Blues In The Night. Jazzstandard, Musik von Harold Arlen, Text von Johnny Mercer. Komponiert für den gleichnamigen Film von Anatole Litvak.“

Sie verstummt, fingert eine Zigarette aus der Packung, lässt sich Feuer reichen und inhaliert tief. Dann, mit spöttischem Unterton, während Rauch von ihren Lippen kräuselt: „Wow! Ich bin beeindruckt.“ Und: „Ich liebe die alten Songs. Mein Vater hat eine beachtliche Sammlung alter Vinyl-Scheiben mit Jazz-Klassikern gehortet.“

Ich auch, will Unger sagen, schluckt es aber runter. Er fragt sich, ob er zu dick aufgetragen hat. Ob Jade Tashner ihn für einen versnobten Wichtigtuer hält.

Scheißegal.

Sie schließt die Augen, summt wieder die Melodie und versinkt in dem Song. Er versucht, sich wieder auf die Frau zu konzentrieren. Die Frau, mit deren Beobachtung ihn eine mächtige Organisation beauftragt hat. Aber der Denkapparat ist ein treuloser Schurke. Ungers Gedanken driften zu Helen Hartman und ihrer Interpretation des Songs. Er hält sich nicht für sentimental. Aber wann immer ihn die Erinnerung an seine langjährige On-Off-Beziehung überkommt, das Ritual von Liebe, Frust und Trennung, an intensive Gefühle voller Adrenalin, hört er sich Love for Sale an. Eine Song-Kollektion des Great American Songbook. Songs, bessere wurden nie geschrieben. Von Harold Arlen, Irving Berlin, Hoagy Carmichael, George und Ira Gershwin, Jerome Kern, Cole Porter, Richard Rodgers, Lorenz Hart, Oscar Hammerstein II, Sammy Cahn und Jimmy Van Heusen. Eingespielt mit den besten Arrangeuren und Studiomusikern und von Helen Hartman, die er für die beste Jazzsängerin seit Billie Holiday hält, mit rauchiger Bourbonstimme perfekt interpretiert.

Sie hatte ihm die CD damals, lange bevor sie die Charts stürmte, im Ticonderoga Hotel am Lake Iroquois geschenkt. Die CD-Hülle hatte er oft und lange genug angestarrt, um sich jedes Detail einzuprägen: Helen mit dem Rücken an eine Bar gelehnt, Ellenbogen aufgestützt, Drink in der Hand, das enge, tief dekolletierte und schenkelhoch geschlitzte Cocktailkleid wie auf den Körper gemalt, ein langes Bein angewinkelt, der Schlitz nach oben gerutscht, fast bis zu den Strapsen. Unger hatte sich damals gefragt, ob die CD des Covers oder der Songs wegen gekauft werden würde.

Zwei Monate hatte er mit Helen während ihrer Tournee in Südamerika verbracht. Ein sex- und jazzgeschwängerter Trip:

Caracas.

Bogotá.

Rio de Janeiro.

São Paulo.

Asunción.

Montevideo.

Buenos Aires.

Ausverkaufte Konzerte. Zusatzauftritte in intimen, verrauchten Bars und Clubs. Medienrummel, Pressekonferenzen, Interviews, TV-Auftritte. Suspekte und weniger suspekte reiche und superreiche Südamerikaner, die sie mit Geschenken überhäuften. Die für ein Lächeln, ein Blitzen ihrer makellosen Zähne, ein freundliches Nicken oder ein paar Worte Schlange standen. Die bereit gewesen wären, für eine heiße Tropennacht in den feuchten Laken ihres Bettes ein Vermögen zu opfern.

Die Tournee mit Helen.

Für Helen ein Triumph.

Für Unger eine intensive, von heftigen Turbulenzen begleitete Zeitspanne. Als er von einer TV-Tussi mit Mister Hartman angeredet wurde, hatte er endgültig genug. Ohne Abschied war er aus Buenos Aires und aus Helens Leben verschwunden. Eifersucht, verletztes Ego, die Unmöglichkeit eines wie auch immer gearteten Zusammenlebens, egal an welchem Ort dieses Planeten – Gründe gab es genug.

Helen Hartman war in seinem Blut, ihr Geschmack auf seinen Lippen, ihr Duft in seiner Nase, ihr exquisiter Körper in sein Hirn gebrannt. Jetzt aber beginnt sich ein Schleier über seine Erinnerungen zu senken, sie sind nicht mehr mit Leben und Farbe gefüllt, sie verblassen wie ein altes Foto. Der springende Punkt ist, dass Erfahrung eine Änderung der Einstellung erfordert und manchmal Schmerzen bedeutet.

Er schüttelt die Gedanken ab. „Deine Story“, versucht er abzulenken.

Sie öffnet die Augen und nickt versonnen.

„Im April neunzehnhundertfünfundsiebzig, bei strömendem Regen, während die Kommunisten schon die Randbezirke von Saigon besetzten, rund um die US-Botschaft Panik und Chaos herrschten und Marines die verzweifelte Menge mit schussbereiten Waffen in Schach zu halten versuchten, floh meine Mutter – die wegen ihrer Tätigkeit für den Feind ganz oben auf der Todesliste der Kommunisten aufgeführt war – in einem Hubschrauber vom Dach der Botschaft aus ihrer und der Heimat ihrer Vorfahren. Erst auf ein Schiff der Navy, später in die USA.“

Unger erinnert sich an schockierende Fotos in Zeitungen und Magazinen sowie an TV-Berichte. An Menschen, die sich in irrer Verzweiflung an die Kufen der letzten Helikopter klammerten, die vom Dach der US-Botschaft in Saigon abhoben, um Zivilisten und Soldaten zu den vor der Küste stationierten Schiffe und Flugzeugträger zu evakuieren. Bilder und Filmberichte, die damals um die Welt gingen. Eines der größten Desaster der US-amerikanischen Geschichte. Das Scheitern einer Weltmacht. Live im Fernsehen.

Jade drückt die Zigarette im Aschenbecher aus. „Nun, du fragst dich bestimmt, was mich nach Frankfurt bringt?“

Unger kennt den Grund.

„Die Vorfahren meines Vaters stammen aus Offenbach“, fährt sie fort. „Der deutsche Name lautet Täschner – ein Beruf des lederverarbeitenden Gewerbes, wie mir gesagt wurde. Aus Täschner wurde Tashner.“ Lächeln. „Klingt doch anglophil, oder?“

„Du bist auf den Spuren deiner deutschen Vorfahren?“

„Ja. Joseph Robert Tashner, Vorfahren aus Offenbach in Hessen, Deutschland.“

Geile Story, muss sich Unger eingestehen. Eine gute, fasst perfekte Legende. Deutsche Vorfahren, plausibler Grund für ihre Anwesenheit in Frankfurt, die Nachbarstadt Offenbach, ehemaliges Zentrum der Lederwarenindustrie und von einem Beruf des lederverarbeitenden Gewerbes hergeleiteter Name – alles passt.

Er leert sein Glas, ordert aber keinen Nachschub.

Auch Jade leert ihr Glas. Sie leckt sich mit blassrosa Zunge über die Lippen. Dann neigt sie sich zu ihm. So nah, dass er mit der Zungenspitze den feuchten Film von ihrer Oberlippe lecken könnte. Er spürt die Hitze, die sie verströmt. Mit intensiven Blauaugen starrt sie ihn an. Seine sinnlichen Antennen nehmen sofort ihre animalische Ausstrahlung und ihren Duft wahr, vermischt mit einem Hauch Chanel N° 5.

Mit rauer Stimme sagt sie: „Wie wär’s, wenn wir auf meinem Zimmer weiterreden?“ Lauernd blickt sie ihm ins Gesicht.

Mordlust und Libido sind eins. Die Dämonen, die Jade Tashner treiben, kennen keinen Unterschied zwischen der Gier nach Blut und der Gier nach Sex. Unger fällt die Schwarze Witwe ein, die das Männchen nach der Paarung frisst. „Ich ficke keine betrunkenen Frauen“, sagt er kalt, legt einen Schein auf den Tresen, steht vom Hocker auf und bewegt sich Richtung Ausgang. Dabei verspürt er ein Kribbeln zwischen den Schultern und rechnet jeden Moment damit, ein Messer in die Nieren gerammt zu bekommen. Jade Tashner ist eine Killerin. Eine Serienmörderin. Gefährlicher als eine Kobra auf Speed. Die erste Kontaktaufnahme hat er gründlich vermasselt.

2

LENNOX MACLEOD

„Die Schwierigkeit beim Katz-und-Maus-Spiel ist zu wissen, wer die Katze ist." Scott Glenn als Commander Bart Mancuso in „Jagd auf Roter Oktober.“

„Lennox MacLeod, Kulturattaché an der US-Botschaft in Berlin, wird sich bei dir melden“, hatte Joe Leland am Telefon gesagt.

„Hinter dem Titel des Kulturattachés verbergen sich meistens Geheimdienstmitarbeiter, die diplomatische Immunität genießen“, warf Unger ein.

„Klugscheißer“, knurrte Leland. „Du hast zu viele Agentenromane gelesen.“

Joe Leland, Inhaber der Global Investigations Agency und Ex-Deputy Chief des NYPD, den Unger in seiner Anwaltszeit als Ermittler bei einigen Fällen in den USA und Kanada eingesetzt hatte, bot ihm damals, als er seine Anwaltszulassung verloren und ihn seine Ex-Frau, eine Französin aus Biarritz, ausgeplündert und sich mit der Beute in die Heimat abgesetzt hatte, eine zweite Chance.

Unger griff zu.

Er schränkte sein exzessives Trinken ein, absolvierte eine Ausbildung in operativer Technik, Beweisführung und Observation und erwarb medizinische Kenntnisse über Erstversorgung von Wunden. Lernte mit Waffen umzugehen, Pistole, Revolver, Kalaschnikow und M40 Sniper Rifle des United States Marine Corps – damit kannst du auf hundert Meter jemanden den Schniedel wegschießen, ohne seine Eier zu streicheln, hatte Leland gesagt – im Nahkampf trainierte er mit dem Messer umzugehen und seine Hände und Füße zum Töten einzusetzen. Außerdem hatte er sich Handhabung und Gebrauch des Teleskopschlagstockes angeeignet, seiner bevorzugten Waffe.

Vor einiger Zeit hatte Leland das Familienimperium aufgeteilt. Seinem Sohn Peter, Ex-Special Agent des FBI, hatte er die Leitung der Los Angeles-Filiale übertragen, die New Yorker Agency wird von seiner Tochter Natalie geleitet. Leland Senior zieht aber immer noch als so genannter Berater im Hintergrund die Fäden. Damit hätte er die mafiösen Strukturen seines Unternehmens entlarvt, hatte Unger damals spöttisch gesagt. Als Consigliere würde er als Stabsstelle des Oberhauptes der Familie fungieren, auch wenn er in der Regel keine direkte Kommandogewalt mehr ausüben würde.

Fick dich, war Lelands Antwort gewesen.

Obwohl Leland seine Kundenliste wie ein Staatsgeheimnis hütet, hat Unger Kenntnis davon, dass die Global Investigations Agency in Los Angeles ihre Aufträge hauptsächlich von der Film- und Musikindustrie bekommt. Überwachungs- und Sicherheitssektor, Personenschutz der Hollywoodstars und Studio Executives, Aufklärung von Erpressung und sexueller Nötigung der Film- und Rockstars sowie Raub- und Produktpiraterie gehören zu ihren Spezialgebieten.

Zu den New Yorker Kunden zählen Kreditkartenunternehmen, das Finanzministerium der Vereinigten Staaten, diplomatische Vertretungen, das NYPD und Dienste, die so geheim sind, dass nur der Sicherheitsausschuss des US-Senats Kenntnis von ihrer Existenz hat.

Leland beschäftigt erstklassige Ermittler. Viele davon Ex-Kollegen und Ex-Militärs. Profis für Computersicherheit, Computer-Forensiker und Hacker, Überwachungs- und Waffenspezialisten sowie eine Armee von freien Bodyguards. Außerdem hat seine Firma Zugriff auf alle möglichen offiziellen und inoffiziellen Datenbanken. Legal und illegal.

Nach Abschluss seiner Ausbildung kehrte Unger nach Frankfurt zurück, meldete ein Gewerbe an und nannte sich Private Investigator – ein abgefuckter Privatdetektiv, scheinbar ohne Fortune. Die perfekte Tarnung. Nach seinem ersten Auftrag hatte er seine endgültige Bestimmung gefunden: Rache für erlittenes Unrecht. Unger ist ein Erlediger. Er wird bezahlt. Er erledigt Aufträge. Moral gibt es nicht, abgesehen von der, die er für sich selbst schafft.

Leland fuhr fort: „MacLeod ist ein mit weitreichenden Befugnissen ausgestatteter Leiter einer Abteilung des National Clandestine Service ...“

„CIA“, unterbrach Unger.

„... der einen deutschen – äh – Ermittler braucht.“

Unger, sarkastisch: „Ermittler?“

„Wir haben dich vorgeschlagen. Hör dir an, was er zu sagen hat.“

„Verdammt, Joe! Gib mir einen Hinweis.“

„Mmh. Es geht um eine Auftragskillerin, die sich zurzeit in Frankfurt aufhält. Die Sache ist dringend.“

„Wie dringend?“

„MacLeod wird sich sofort nach meinem Anruf bei dir melden. Deine Bezahlung erfolgt über uns. Nimmst du den Auftrag an, bekommst du dein übliches Honorar plus Spesen und Erfolgsbonus.“

„Auf dein Geld ist geschissen.“ Und: „Eines weiß ich schon jetzt – die Sache stinkt zum Himmel. Nenn mir einen plausiblen Grund, warum ich mich darauf einlassen sollte.“

„Ich kann dir eine Anzahl von Gründen nennen …“

Unger, spöttisch: „Ich höre.“

„Du brauchst den Kick. Du bist ein Adrenalin-Junkie. Du bist süchtig, Täter zur Strecke zu bringen. In deiner Jugend hast du zu viele Marvel-Comics gelesen – Spider-Man, Captain America, Iron Man und den ganzen Schrott –und jetzt glaubst du, so eine Art Rächer der Enterbten zu sein.“

„Entrechteten.“

„Was?“

„Es heißt Rächer der Entrechteten.“

Leland stieß ein kurzes Schnauben aus. Dann: „Mal ernsthaft: Für diesen Fall ist Natalie zuständig. Sie kennt MacLeod aus ihrer Zeit bei der CIA.“

Unger stutzte. Aber nur kurz. Er verstand. Leland braucht ihn als Rückendeckung für seine Tochter. Trotzdem: „Bevor ich nicht mit diesem MacLeod gesprochen habe, läuft gar nichts. Hast du verstanden?“

„Ja“, sagte Leland und beendete das Gespräch.

Sekunden tickten.

Unger zählte bis sieben.

Das Telefon klingelte.

In perfektem Deutsch, kaum Akzent: „Lennox MacLeod. Ich nehme an, Leland hat mich angekündigt.“ Kurze Pause. Dann: „Wann und wo können wir uns treffen?“

Kein Mann langer Vorreden, dachte Unger. „Capital Grille im Westend. Zwanzig Uhr. Teurer Schuppen. Sie übernehmen die Rechnung.“

Zögern.

Dann: „Okay.“

Klick.

Gespräch beendet.

Wirklich kein Mann unnötiger Worte.

Einige Stunden später.

Eine Frankfurter Institution, die Ikone unter den Steakpalästen, hatte ein Stadtmagazin geschrieben. Einem New Yorker Steakhouse nachempfunden, Messing, Mahagoni, Leder, Cattle- und Americana-Devotionalien, Ölbilder mit Western Art in kunstvoll geschnitzten Holzrahmen, Trolleys beladen mit Prime Beef, herumwieselnde Kellner in roten Spencer-Jacken über langen weißen Garçon-Schürzen. Testosteron geschwängerte Atmosphäre, Power, Money und rote Säufernasen. Versammelt ist die übliche Clique von Bankern, Werbefuzzis und Anwälten sowie eine Horde Pseudo-Hautevolee. Von der Straße kommt man direkt in die spärlich beleuchtete Bar, an die sich der Restaurantraum anschließt. Das Capital Grille verspricht einen Abend in ruhiger, diskreter und luxuriöser Atmosphäre.

Unger stand am Tresen und blickte auf seine Uhr.

Zwanzig Uhr.

Eine Stimme hinter seinem Rücken sagte: „Was trinken Sie?“

Ohne sich umzudrehen, antwortete er: „Manhattan Cocktail on the rocks mit Rittenhouse Rye und drei Maraschino-Kirschen.“

„Für mich auch“, sagte MacLeod zum Barmann.

Unger drehte sich um. Lennox MacLeod, Mitte vierzig, über eins achtzig groß – hat wohl im College Football gespielt, fiel Unger bei der sportlich-athletischen Figur ein – Kurzhaarfrisur mit beginnenden Geheimratsecken, markantes Gesicht mit ausgeprägtem Kinn, streckte ihm die Hand entgegen. Er trug einen edelgrauen Anzug von Brooks Brothers oder J. Press, pinkfarbenes Button-Down-Hemd, um den Hals eine dunkelblaue Krawatte mit schmalen, lachsfarbenen Streifen, die Füße steckten in braunen Cordovan Tassel Loafers. Gekleidet wie ein konservativer Anwalt oder Wall-Street-Banker. Auf der Castingliste eines Hollywood-Thrillers könnte er die Rollen eines Detektivs, Agenten, Anwalts, Bankers oder durchtriebenen White-Collar-Gangsters mit rabenschwarzen Methoden spielen. Vielseitig einsetzbar, wie im richtigen Leben.

„Nenn mich Mac. So werde ich schon seit der High School genannt.“

„Wolf“, sagte Unger und bekam einen festen Händedruck.

Mac blickte sich um. „Was dagegen, wenn wir gleich an unserem Tisch Platz nehmen?“

Unger schüttelte den Kopf und machte der Blondinen am Empfangspult ein Zeichen, die zwei der ledergebundenen Speisekarten sowie einen Aschenbecher schnappte und sich sofort in Bewegung setzte. Im Raucherbereich des Restaurants, sechs Zweiertische, einer davon mit zwei Typen besetzt – Krawatten gelockert, aufgerollte Hemdsärmel, Sakkos über den Stuhllehnen, vor sich eine Flasche Rotwein und zwischen den Fingern fette Zigarren – die gut aufgelegt wirkten, so, als hätten sie einen geilen Deal durchgezogen. Die Blondine hatte sie zu einem Tisch an der Wand geleitet, weit genug von den Weintrinkern entfernt.

„Lass uns zuerst bestellen“, sagte Unger.

Nach dem Essen – US Porterhouse Steak für zwei Personen, medium rare, dazu getrüffeltes Kartoffelpüree und Cremespinat sowie eine Flasche Santa Lucia Highlands Double L Vineyard von der Morgan Winery, Espresso statt Dessert und zwei Bourbon der Blanton Distilling Company aus Frankfort, Kentucky – schob Unger sein Glas zurück, zückte ein mit zwei Zigarren gefülltes Berluti-Etui und bot Mac eine Robusto an. Das Zeremoniell begann. Schnuppern, überprüfen des Deckblatts, mit einem Doppelklingencutter anschneiden, dann mit schwefelfreien Streichhölzern erst toasten bis die gesamte Fläche des Zigarrenfußes glühte, der genussvolle erste Zug und das Ausstoßen des graublauen Rauchs.

„Ich höre“, sagte Unger.

„Äh, ja. Alles, was du jetzt zu hören bekommst, unterliegt ...“

„... der Geheimhaltung“, fiel ihm Unger ins Wort. Dass ihm das am Arsch vorbeiging, schluckte er runter.

Mac nickte. Er konzentrierte sich.

„Jade Tashner“, sagte er und reichte Unger sein Smartphone mit einer Sammlung von Fotos einer exotisch anmutenden, attraktiven Frau. „Soziopathin, die unter einem Defekt in der grundlegenden Natur ihres Menschseins leidet. Ihre typischen Eigenschaften: Sadistisch, mitleidlos, grausam, unmoralisch, kaltschnäuzig und entmenschlichend. Tochter eines Colonels der US-Armee mit deutschen Vorfahren und einer vietnamesischen Mutter. Jade machte an der George Washington Law School ihren Master of International Law und bewarb sich bei der CIA ...“

Wieder unterbrach Unger: „Wo sie mit Kusshand genommen wurde.“

„Lass das, bitte.“

„Was?“

„Meine Sätze beenden.“

Unger grinste. „Sorry.“

„Jade spricht außer Englisch fließend Vietnamesisch und Französisch sowie erträgliches Deutsch. Sie wurde aufgrund ihrer hervorragenden Leistungen zur NIU, der National Intelligence University abkommandiert, wo sie einen weiteren akademischen Grad erwarb. Vor sechs Jahren wurde sie an die US-Botschaft in Hanoi versetzt ...“

Unger konnte es nicht lassen: „Wo sie offiziell als Attachée für besondere Aufgaben akkreditiert war.“

Mac verdrehte die Augen. Er räusperte sich. „Vor über einem Jahr hat sie gekündigt und verschwand vom Radar.“

„Ihr habt sie einfach ziehen lassen?“

„Zwischen Langley und Hanoi liegen fast vierzehntausend Kilometer. Vielleicht steckte die schriftliche Kündigung unter Bergen anderer Akten im Diplomatengepäck. Oder sie ging bei einer elektronischen Übermittlung einfach unter.“ Ein Blick in Ungers Miene ließ ihn in einer resignierten Geste die Hände heben. „Ja, ja, ich weiß, was du denkst. Bei unserem Überwachungswahn, dem raffinierten System von Kontrollen und Gegenkontrollen, dürfte das nicht passieren. Aber shit happens. Als die Sesselfurzer in der Agency Alarm schlugen, war es bereits zu spät – Jade Tashner war verschwunden.“ Er nahm einen Zug und inhalierte. Dann blickte er auf die Glut und neigte den Kopf. „Wie vermeidet man bei dieser Nikotinbombe Lungenzüge?“

Keine Antwort.

„Auf offiziellen Wegen schien sie Vietnam nicht verlassen zu haben“, fuhr Mac fort. „Keine Einreise in die USA. Hab ich schon erwähnt, dass ihre Mutter gestorben ist und ihr Vater in einem privaten Altersheim in Ingleside vor sich hin dämmert?“

Unger: „Lass mich mal kurz zusammenfassen. Dein Verein sucht eine exzellent ausgebildete, hochintelligente und ...“

Diesmal unterbrach Mac: „Ich bin noch nicht fertig.“ Dann: „Jade Tashner ist eine Serienkillerin.“

Unger war nicht überrascht. Er hatte Ähnliches erwartet.

„Ihre Blutspur führt vom spanischen Baskenland direkt nach Frankfurt.“ Mac leerte seinen Tumbler und blickte sich nach der Bedienung um, zeigte auf sein Glas und hob zwei Finger. „In Bilbao wurde ein Spediteur gekillt, in Andorra la Vella ein der Geldwäsche verdächtiger Banker, in Marseille musste ein Drogenboss dran glauben und in Zürich ein Notar. Alle standen im Verdacht, mit der organisierten Kriminalität verbandelt zu sein. Was alle Morde noch gemeinsam haben: Den Opfern wurde im Bett mit einer Taurus neunachtunddreißig, Lauflänge neun Komma fünf Zentimeter, mit kürzeren, neun Millimeter Patronen, klein und handlich, in jeder Handtasche zu verstauen, durchs linke Ohr in den Kopf geschossen.“

„Heilige Scheiße! Beim Sex? Sie hat ihre Opfer getötet, als sie auf einen Orgasmus zusteuerten?“

„Du hast eine dreckige Fantasie.“ Mac schüttelte den Kopf. „Keine Anzeichen für Sex. Keine verwertbaren Spuren. Keine Körperflüssigkeiten, keine Hautschuppen, keine Haare, keine DNA. Nix, nada, niente.“

„Während die Kerle im Bett schon mal vorglühen, taucht Jade aus dem Bad auf. Aber statt des erwarteten Blowjobs, gibt’s eine Kugel ins Hirn.“

„So oder so ähnlich.“

Die Drinks wurden serviert.

Unger nippte an seinem Glas. „Aber wie seid ihr auf Jade Tashner gekommen?“

„Auf einigen der ausgewerteten Videoaufnahmen im Umfeld der Tatorte taucht immer wieder eine unbekannte, weibliche Person mit großer Sonnenbrille auf. Frisur und Rest vom Gesicht zusätzlich durch mondäne Hüte verborgen – wie Audrey Hepburn in Frühstück bei Tiffany. Unmöglich, darauf Jade Tashner zu erkennen. Sie hat nie in den Hotels ihrer Opfer gewohnt, hat keine Kreditkarten mit ihrem Namen verwendet, keine Flug- oder Bahntickets gekauft oder Mietwagen bezahlt. Ich habe Lelands Agency mit Ermittlungen beauftragt.“ Er hob die Stimme. „Ergebnis: Der Familienname von Jades vietnamesischer Mutter lautet Hoàng, der Zwischenname Lan und der Rufname Tuyet. Lan bedeutet Orchidee und Tuyet Schnee. Aus Hoàng Lan Tuyet wurde Cataleya – das ist der Name einer Orchidee – und Snow.“ Und: „Obwohl Kinder in Vietnam den Namen des Vaters erhalten, verwendet sie sowohl den Mädchennamen ihrer Mutter – in einer anglisierten Version, als auch weiterhin ihren offiziellen Namen, den ihres Vaters – Tashner.“

„Cataleya Snow.“ Unger nickte anerkennend. „Schöner Name. Das hat Leland ermittelt?“

„Natalie, seine Tochter. Eine Ex-Kollegin.“

„Ich kenne Natalie“, sagte Unger.

Bilder einer Enddreißigerin zuckten durch seinen Kopf. Nicht jung, nicht faltenfrei. Honigblond, sinnliche Rundungen an den richtigen Stellen, gut in Form. Kein Hungerhaken, kein Typ, der sich an neuen Ernährungsmodellen und Diäten orientiert. Heller, makelloser Teint. Ovales Gesicht und schmale, etwas zu lange, aber edle Nase. Volle Lippen, emeraldgrüne Augen, weiter Augenabstand, lange Wimpern und hohe Wangenknochen. Eine Aura lässiger Kultiviertheit umgab sie. Dazu trug auch ihre transparente Designerbrille von Lafont bei, die sie irgendwie intellektuell aussehen ließ. Vor über einem Jahr hatte er gemeinsam mit Natalie in New York City den sogenannten Augustmörder aufgespürt und erledigt.

Mac sagte: „Plötzlich fügte sich alles zusammen. Wir konnten ihren Weg von Bilbao nach Frankfurt verfolgen, wo sie vor zwei Tagen als Jade Tashner im Hessischen Hof eincheckte, sich tagsüber mit einer gemieteten Limo samt Chauffeur durch Frankfurt, Offenbach sowie das Taunusstädtchen Königstein kutschieren ließ und sich nach dem abendlichen Besuch eines der Frankfurter Toprestaurants – darunter tut sie’s nicht, sie ist ein verdammter Snob – auf der Jagd nach einem One-Night-Stand in der Hotelbar aufhält.“

Unger nickte. „Sie späht ihr Opfer aus. Aber du tappst im Dunkeln. Du hast nichts in der Hand. Keine Beweise, keine Zeugen, nicht den kleinsten Hinweis, der sie belasten könnte und keine Ahnung, auf wen sie es jetzt schon wieder abgesehen hat.“

„Ja, ja, ja.“ Mac nahm einen Schluck. „Es liegt nichts gegen sie vor. Sie kann sich frei bewegen, überall auf der Welt. Auf Grund von Passkopien der Einreisebehörden können wir jetzt zwar nachweisen, dass Jade Tashner mit Cataleya Snow identisch ist ...“

„Darum geht es aber nicht, oder?“ Unger legte seine Zigarre im Aschenbecher ab. „Ihr wollt wissen, in wessen Auftrag sie handelt, wer hinter den Morden steckt. Wichtige, in den europäischen Drogenhandel verwickelte Personen kommen gewaltsam ums Leben.“ Er hielt eine Faust hoch und klappte nacheinander die Finger auf. „Ein Spediteur, der wahrscheinlich illegale Drogen durch Europa transportiert, ein Banker, der Drogengeld wäscht, der Drogenbaron von Marseille, wichtigster Hafen Frankreichs und Tor zu Afrika, dessen Geschäft man sich unter den Nagel reißen will sowie ein Notar, der Briefkastenfirmen in Steuerparadiesen installiert und als Strohmann fungiert.“

Als Mac den Mund öffnen wollte, winkte er ab. „Lass mich ausreden.“

Mac klappte den Mund zu.

„Frei gewordene Stellen werden neu besetzt, der Markt mit billigem Heroin geflutet und Preise signifikant reduziert. Wer nicht mitmacht, fällt dem Machtwechsel zum Opfer. Und nun willst du wissen, ob dahinter ein neuer Pate steht – was deinem Verein egal sein könnte – oder ob es sich um internationalen Terrorismus handelt, um Geldbeschaffung für Waffen und Elektronik et cetera. Und du fragst dich, was eine Ex-CIA-Agentin damit zu tun hat.“ Unger kniff die Augen zusammen. „Die Antwort liegt auf der Hand, verdammt noch mal! Und erzähl mir nicht, dass du nicht schon längst eins und eins zusammengezählt hast. Wie lange hat Tashner an der Botschaft in Hanoi gearbeitet? Fünf Jahre? Wetten, dass sie die Zeit genutzt hat, fruchtbare Verbindungen ins Goldene Dreieck zu knüpfen, Grenzgebiet von Laos, Thailand und Myanmar, wo Schlafmohn angebaut und zu Heroin verarbeitet wird, um den Weltmarkt zu bedienen.“ Und: „Aber nach dem Abzug eures Militärs wurde die Drogenproduktion in Afghanistan massiv angekurbelt. Als Folge ist die Bedeutung des Goldenen Dreiecks als Lieferant spürbar gesunken. Jade Tashner ist dabei, den Vertrieb der Ware aus Südostasien in Europa neu zu organisieren oder den Markt gleich komplett zu übernehmen. Vietnamesische, chinesische und Thai-Restaurants sowie Nagel- und Massagestudios verticken Drogen zu Discounter-Preisen. Aufgrund des gestörten Verhältnisses zu euren Geheimdiensten, könnt ihr euch auf deutschem Boden nicht den allergeringsten Skandal erlauben und Tashner einfach kidnappen, ihr einen Sack über den Kopf stülpen und sie in ein geheimes Black Site ausfliegen, eines eurer Gefängnisse in Osteuropa, die offiziell gar nicht existieren. Außerdem ist fraglich, ob Jade unter Folter plaudern würde. Schließlich wurde sie ja von euch darauf trainiert, den Mund zu halten.“ Er musterte Mac scharf. „Ihr wollt wissen, ob sie aus dem Hintergrund gelenkt wird. Stimmt’s?“

Mac nickte. „Wegen der bereits erwähnten sensiblen Situation im Zusammenhang mit deutschen Geheimdiensten stehe ich unter Beobachtung. Euer Bundesnachrichtendienst klebt mir an den Fersen und meine Vorgesetzten gucken mir genau auf die Finger.“ Er seufzte. „Nicht mehr wie in glorreichen Zeiten des Kalten Krieges ...“

„Wo dein Haufen schalten und walten konnte wie er wollte.“

„Äh, ja. Und eher früher als später wird Jade in die USA zurückkehren. Dort hat die CIA keine Befugnisse und ich werde den Teufel tun, einen unserer zahllosen Inlandgeheimdienste einzuschalten und mir das Heft aus der Hand nehmen lassen.“

Unger, sarkastisch: „Natürlich nicht. Es könnte ja Scheiße hochgespült werden, über der die Grasnarbe noch ziemlich frisch ist. Also hast du Natalie und die Global Investigations Agency beauftragt – okay, das leuchtet mir ein.“ Er hielt kurz inne. „Aber wie komm ich ins Spiel?“

„Nimm Kontakt zu ihr auf ...“

Unger, beißend: „Ich soll James Bond spielen?“

„... ich will den oder die Auftraggeber. Ich will wissen, wer dabei ist, halb Europa zu übernehmen.“ Dann, eindringlich: „Und ich will wissen, warum sich Jade Tashner in Frankfurt aufhält. Ich will wissen, wer hier auf ihrer Todesliste steht.“ Er stieß zornig die Zigarre in den Aschenbecher, dass die Funken stoben. „Wenn es nicht schon längst zu spät ist und sie ihr Vorhaben genau in diesem Moment ausführt.“

„Ich bin der falsche Mann für diesen bescheuerten Job.“

„Bist du nicht. Du kannst dich frei bewegen, stehst nicht unter Beobachtung. Du hast für Leland schon Aufträge erledigt, gegen die dieser vergleichsweise harmlos ist.“ Und: „Finde heraus, was sie vorhat.“

Unger starrte ihn an.

Dann wütend: „Das ist kein Auftrag! Das ist gequirlte Scheiße! Wie zum Geier stellst du dir das vor?“

„Lass dir verdammt noch mal was einfallen.“

Unger: „Fuck!“

3

JADE TASHNER II

„Ein Jammer, dass sie nicht leben wird... aber egal - wer tut das schon?" Edward James Olmos als Gaff in „Blade Runner.“

Kurz nach Jades fünfzehntem Geburtstag starb ihre Mutter, die jahrzehntelang starke französische Zigaretten geraucht hatte, an Lungenkrebs. Mit siebzehn, als Hochbegabte konnte Jade eine Klassenstufe überspringen, schloss sie erfolgreich die High School ab und wechselte auf die Columbia University School of Law in New York. Ihr Studium schloss sie mit dem Juris Doctor ab. Nach bestandenem Bar Exam, inzwischen war Jade vierundzwanzig Jahre alt, erhielt sie die Zulassung als Attorney-at-Law für New York, sowie für die angrenzenden Bundesstaaten New Jersey und Connecticut.

Um sich nicht heillos zu verschulden, die schmale Rente ihres Vaters reichte für ein Studium an einer Elite-Uni nicht aus, musste Jade während des Studiums jede Arbeit annehmen, die sich bot. Mit Charme, Schönheit und Intelligenz verschaffte sie sich schließlich Jobs als Kellnerin in Gourmet-Tempeln in Manhattan, wo die Gäste wichtig und die Trinkgelder hoch waren. Mit ihrem monatlichen Einkommen kam sie einigermaßen über die Runden. Ein Ex-Offizierskollege ihres Vaters, der bei seinem Sohn in Montana lebte, hatte vor Jahren das Glück, eine mietpreisgebundene Wohnung in Manhattan zu ergattern. Er bot Jade an, zur sogenannten befristeten Untermiete einzuziehen. Sie sagte sofort zu, lebte aber mit der Angst, ihre Jobs zu verlieren und mittellos dazustehen. Sie litt unter Horrorvisionen sich prostituieren zu müssen oder als Obdachlose in der Gosse zu landen. Sie schwor bei sich selbst, niemals wieder arm zu sein.

Als First-Year Law Associate in einer der großen Wirtschaftskanzleien in Manhattan, bekannt für überdurchschnittliche Gehälter, lernte sie die praktischen Dinge des Anwaltslebens, die keine Uni und keine Law School vermitteln. Ihr Einstiegsgehalt war gar nicht mal schlecht, aber ohne Überstundenvergütung, mit durchschnittlich sechs Stunden Schlaf pro Nacht, verrichtete sie Sklavenarbeit für einen der Partner, den Jade für einen der typischen Ostküsten-Gentleman hielt. Gut gekleidet, gepflegt – nur die Rosacea, spinnenartig geplatzte Äderchen auf den Wangen verriet den Trinker – entweder mit einem geerbten Town House in Midtown Manhattan oder einem Apartment auf der Fifth oder Park Avenue, einer Frau, die aktiv in einem Dutzend Wohltätigkeitsorganisationen zugange ist und ein paar erwachsenen Kindern, die weit weg, vielleicht in Kalifornien studierten. Er beriet seine Mandanten –Mittelständler, den Gouverneur von New York State sowie Kreditkarten- und Finanzunternehmen an der Wall Street und Manager großer Unternehmen, wahrscheinlich Buddies aus gemeinsamen Schultagen einer Ivy League Uni – in zum Teil komplizierten Rechtsangelegenheiten und lieferte strategische Lösungen.

George Jarvis, der Ostküsten-Gentleman, entpuppte sich nicht nur als intelligenter und gewiefter Anwalt, sondern als Sex Maniac, der auch private Dienstleistungen forderte. Eine Zeit lang gelang es Jade, seine Avancen abzuwehren. Dann wog sie ab. Nachgeben oder nicht. Sie entschied sich, Jarvis als Protegé zu nutzen. Es kam wie es kommen musste. Nach einem nächtlichen Meeting in Jarvis‘ Büro, holte er eine Flasche edlen Malt Whisky aus dem Schrank und füllte dreifingerbreit zwei Kristall-Tumbler. Sie prosteten sich zu und tranken. Jarvis stellte sein Glas ab, drängte sie gegen den Schreibtisch, wischte Papiere von der Platte und schob ihren Rock hoch. Sie strampelte das Höschen von den Füßen und spreizte die Schenkel. Schnaufend machte sich Jarvis über sie her.