Kindersorgen - Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort - E-Book
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Beschreibung

Praktischer Rat vom Kinderversteher und Elterncoach: Professor Schulte-Markwort wird im Klinikalltag immer wieder mit den Problemen und Nöten der Kinder und Jugendlichen konfrontiert. Häufig muss er ihnen erst einmal helfen, sich verständlich zu machen. Er hört daher genau zu, wenn sie ihm ihr Herz ausschütten und ihm ihre Sorgen anvertrauen- und wird so zum Vermittler zwischen Kindern und ihren Eltern. In diesem Buch wendet er sich an Eltern – von Kleinkindern bis über die Pubertät hinaus: Einfühlsam verdeutlicht er ihnen die Sicht der Kinder und erklärt verständlich, was normal ist und wo Krankheit anfängt. Wann ist professionelle Hilfe nötig? Und wann müssen wir Erwachsenen handeln und unsere Haltung ändern, um unsere Kinder kompetent und fürsorglich durchs Leben zu begleiten. Anhand von Fallgeschichten wird rasch klar, wie sich beispielsweise Angst bei Kindern folgenreich verselbständigt. Wie gelingt es, dass die neunjährige Deborah trotz Bauchschmerzen und Versagensangst wieder regelmäßig in die Schule geht? Und wie erreicht man einen aggressiven Jungen, den Schuldzuweisungen und Strafen völlig kalt lassen? Thematisch umfassend – von Fragen der Computer-Nutzung über Kinder-Therapien bis hin zu Scheidungs-Angst und Wut-Ausbrüchen – geht Professor Schulte-Markwort, Experte für die Auswirkung gesellschaftlicher Entwicklungen auf Kinder und Jugendliche, auf Fragen und Probleme aus dem Kinderleben heute ein. Zuletzt erschienen von ihm: "Burnout-Kids. Wie das Prinzip Leistung unsere Kinder überfordert" und "SuperKids. Warum der Erziehungsehrgeiz unsere Familien unglücklich macht".

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Seitenzahl: 501

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Michael Schulte-Markwort

Kindersorgen

Was unsere Kinder belastet und wie wir ihnen helfen können

Knaur e-books

Über dieses Buch

»Hören wir genau hin, was Kinder uns über ihre Sorgen sagen. Dann finden wir Wege, ihnen zu helfen.« Michael Schulte-Markwort

Unseren Kindern geht es so gut wie nie, und doch haben sie große Sorgen: Wie kann man Lena motivieren, die Angst hat, zur Schule zu gehen? Wie erreicht man einen aggressiven Jungen, den alles kalt lässt? Was tun, wenn ein Kind nicht schlafen kann? Wenn ein Bruder seine Schwester nur ätzend findet? Und wie hilft man einem Jugendlichen, der keinen Sinn in seinem Leben findet?

Einfühlsam verdeutlicht der bekannte Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort die Sicht der Kinder und erklärt verständlich, wie wir unsere Kinder kompetent und fürsorglich durchs Leben begleiten.

Inhaltsübersicht

Für Pippi und Ronja.EinleitungEmilVergrabene KindheitEine Frage der ÜbersetzungSorgenfreie KindheitDer Fall Pippi LangstrumpfKindersorgen und kein Ende?Fröhliche Kindheit – Mythos oder RealitätKindheit purPersönlichesKindersorgen – SorgenkinderDer Aufbau des Buches1. KapitelAhmadBenVon Ahmad und Ben lernenAggressionen in unserem LebenVon Geburt an?Aggressionen in der WeltVerstehen und entschuldigenDer angemessene Umgang mit aggressiven SymptomenAngst als AuslöserDie versteckten SorgenRebeccaAggressiven Kindern zuhören2. KapitelDer AngsthaseAngststörungenCarlLenaEddaFlaviaAngststörungenGlobale AngstKindersorgen – KinderängsteDie HeulsuseGloriaAngst von innen3. KapitelTrauer und MelancholieCharlotteEin Leben mit DepressionHansPaulKindheit mit DepressionDer Verlust der TrauerTrauer und DepressionTrauer und Hoffnung»Mein Leben hat keinen Sinn mehr« – ein trauriges Kapitel?4. KapitelAnnaTic-StörungenMichaelDer gesunde KörperKörperlichkeitDer Körper in der ÖffentlichkeitKörper und Seele5. KapitelSelber schuld?Christians WegWindelweltenToilettenmonsterErikaToilettentraining in der KlinikSchmutz und Sauberkeit6. KapitelHannaSchlafstörungen bei JugendlichenPietEin Lob des Schlafs7. KapitelAntonPabloGeschwisterrivalitätGeschwister in der GesellschaftHänsel und GretelFrieden schließen8. KapitelKevinRobertADS und ADHSAntonADS und LeistungADS und Zeitgeist9. KapitelTeilleistungsstörungenIntelligenz(-diagnostik)Kurt von innenEckige Kinder in einer stromlinienförmigen Welt10. KapitelVincentGloriaRicoDer Zwang zu fragenGlorias ZwangDer Fall RicoZwangsstörungenRitualeZwang und PerfektionWas sind Zwangsstörungen?Zwang und KulturDie Pflege von Ritualen»Ich kann eben nicht anders«11. KapitelRubys ElternPubertät lightDie neue UnübersichtlichkeitEine gemeinsame Welt12. KapitelSoziometrieSofia, das Opfer?Alles Mobbing?Sofias WegUnsere Welt13. KapitelNull Bock – null MotivationDer böse DealerEin Leben ohne Drogen?Scheitern an JohannGrenzerfahrungen14. KapitelLeben ohne Hunger»Der Hungerkünstler«Essen können, was ich willGermany’s next Anorexie?Schneewittchen»Ihh – Da sind ja Stückchen drin!«»Ich habe schon so viel versucht«PaulEssen – eine Freude15. KapitelLea, 15 JahreDigitale Medien und WissenschaftKindheit heuteSucht oder Suche?Leas LösungLebenswelt 4.0Swombies16. KapitelNatassjaPornoweltenSchamRecht und OrdnungRasmusMännlichkeitKindliche SexualitätEin Wort an die eigene ZunftMädchenschutzTransgenderSex und Sexualität17. KapitelLaraSelbstverletzendes Verhalten und psychische StrukturBlut und TeufelUnd die Jungen?Laras WegEine blutige Spur18. KapitelPsycho-SomatikNoch mehr SchmerzenSonjaDas Sensibelchen und der SchmerzDer kindliche SchmerzSchmerzfreiheit?Ein schmerzlicher WegKultur der Gesundheit19. KapitelDer Riss durch die KinderseeleDer kaukasische KreidekreisDas gebrochene VersprechenBeziehungsweltenFamilienangelegenheitenRosenkriegeVom Brückenbau20. KapitelVorlebenBarbie und Ken oder Ronja und Birk?Romantik und MisstrauenSchulwelt oder »Da ist bei mir gleich alles wieder auf null gegangen«SchülerstimmenLehrerstimmenStimmengewirrPädagogik: Meine ThesenSchulweltZukunft 4.0Unsere BühneWas werden wird21. KapitelAggressionenAngstDepressionenTics, Tourette-Syndrom und DissoziationAusscheidungsstörungenSchlafstörungenGeschwisterrivalitätADSTeilleistungsstörungenZwangsstörungenPubertätMobbingDrogenEssstörungenDigitale MedienSexualitätSelbstverletzendes VerhaltenSomatoforme SchmerzenScheidungZukunftStatt eines Nachwortes: Noch einmal ZukunftDanksagung
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Für Pippi und Ronja.

Und die anderen.

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Einleitung

Der Blick der Kinder – ein Übersetzungsversuch

Emil

Emil ist acht Jahre alt. Er freut sich riesig, als seine Eltern ihm eröffnen, dass sie gemeinsam mit ihm und seiner jüngeren Schwester in den Zirkus gehen werden. Das Plakat in der Straße zeigt Löwen und Elefanten, und auch die Clowns sehen lustig aus. Emil zieht seine beste Hose an und sein Lieblingshemd. Tatsächlich ist es in dem riesigen Zelt wirklich aufregend: Es riecht so ungewohnt nach Sägespänen und Tieren, muffig, streng und gleichzeitig so ganz anders. In der Pause wird das große Gitter in der Manege montiert, damit direkt danach die große Löwenschau gezeigt werden kann. Während die Kapelle einen Tusch spielt, bei dem Emil richtig Gänsehaut bekommt, zeigt ein Jongleur noch seine Künste. In einem Gittergang warten schon die Löwen darauf, hereingelassen zu werden. Emil ist fasziniert. Wie geht das wohl, die Löwen aus ihrem Wagen, den er in der Pause gesehen hat, so ruhig hierher in den Gang und dann in die Manege zu lotsen? Gebannt beobachtet Emil die Löwen in dem abgedunkelten Gang. Ruhig stehen sie da, schütteln ab und zu ihre riesige Mähne, und beim Gähnen sieht man ihre furchterregenden Zähne. Der Dompteur steht neben dem Gang und dirigiert seine Tiere ab und zu mit einer kurzen Stange. Emils Vater sitzt hinter seinem Sohn und nimmt immer wieder den Kopf seines Sohnes in die Hände, um ihn auf das Geschehen in der Manege auszurichten. Interessiert dich nicht, was da vorne passiert? Schau nach vorne! Emil lässt sich nicht abbringen. Das Schauspiel hinter den Kulissen fasziniert ihn. Störrisch entwindet er sich immer wieder aus den Händen seines Vaters, der schließlich seufzend aufgibt.

Etwas später sind endlich die Clowns dran. Emil findet sie sehr laut und rücksichtslos. Sie gehen einfach in die erste Reihe und ziehen Kinder in die Manege. Wie gut, dass Emil in der dritten Reihe sitzt. Manche Späße sind wirklich lustig, und auch Emil muss herzhaft lachen. Doch dann entzünden sich plötzlich Knallfrösche, die »im Po« eines der Clowns versteckt sind. Was wie große Pupse wirken soll und viele kleine und große Zuschauer auch sehr belustigt, ist für Emil schrecklich. Er erschrickt fürchterlich und stellt sich vor, wie das sein muss, wenn man »Knaller im Po« haben muss. Weinend läuft er hinaus, und seine Mutter kann ihn nur schwer beruhigen. Auch, wenn es nicht echt war, wie seine Mama immer wieder betont, kann sich Emil nur langsam von seinem Schrecken erholen. Lustig ist doch etwas anderes! Was soll lustig daran sein, wenn Knallfrösche an so einem empfindlichen Körperteil explodieren? Emils Vater ist entnervt. Die Vorstellung dauert noch eine halbe Stunde, und jetzt stehen sie alle draußen vor dem Zelt und frieren. Erst interessiert der Junge sich nicht für das, was in der Manege passiert, und jetzt sprengt er durch seine übertriebene Angst den Familienausflug in den Zirkus. Typisch, dass seine Frau ihn jetzt so strafend ansieht, während Herr E der Meinung ist, dass Emil mal wieder viel zu sanft angefasst wird, obwohl auch seine Frau eher kopfschüttelnd neben ihrem Sohn hockt und ihn eigentlich nicht versteht.

Ich meine, Emil hat recht. Viele Witze und Späße funktionieren nur auf Kosten anderer. Sie sind mehr Ausdruck aggressiver Impulse, als dass sie wirklich von der Idee getragen sind, eine gemeinsame Freude oder Fröhlichkeit auszulösen. Emil ist ein Kind, das sich mit besonders kreativer Klugheit für die Dinge hinter den Kulissen interessiert. Es ist kein Wunder, dass sich diese Fähigkeit mit einer überdurchschnittlichen Sensibilität verbindet. Dann aber sind sein Schrecken und seine Abscheu gegenüber aggressiven Späßen angemessen und müssten eigentlich dazu führen, dass die Eltern sich beim Zirkus nach der Aufführung über derart ängstigende Bestandteile der abendlichen Show beschweren. Selbst wenn ein Elternteil so einen Impuls in sich verspüren sollte: Er wird ihm nicht nachgehen. Das ist jedenfalls meine Erfahrung. Eltern heute tun viel, um nicht als überbesorgte, empfindliche Drohnen-Eltern zu gelten. Bei Emil hingegen wird sich das Selbstgefühl manifestieren, dass er zu empfindlich ist.

Die Sorge und den Schrecken von Emil ernst zu nehmen, würde bedeuten, sich mit seinem Blick auf die Dinge auseinanderzusetzen und anzuerkennen, dass er nicht nur ein Recht auf eine eigene Sichtweise hat, sondern dass seine Einschätzung der aggressiven Clowns angemessen ist. Bei allem Trost durch die Mutter findet genau das nicht statt. Emil hätte einen mutigen Vater verdient gehabt, der sich an seine Seite stellt und keiner falschen Männlichkeit das Wort redet. Emil ist kein übersensibler Junge, sondern einer, von dem wir lernen könnten, wie sehr wir uns an die Aggressivität der Welt gewöhnt haben. In unserem Verhaltensrepertoire als Eltern ist diese Reaktion zu selten: dass wir bereit und offen dafür sind, wirklich – und nicht nur im Rahmen eines Lippenbekenntnisses – von unseren Kindern zu lernen. Emil jedenfalls nimmt von diesem Zirkusbesuch das Gefühl mit nach Hause, dass er ein zu empfindlicher Junge ist. Wenn er diese sensible Seite in sich nicht bekämpft und bei sich bleiben kann, wird er vielleicht eines Tages ein guter Kinder- und Jugendpsychiater.

Vergrabene Kindheit

Dies ist ein Buch über Kinder. Es ist ein Buch, das, anders als sonst, nicht Kinder beschreibt, nicht über Kinder berichtet, sondern das sich in erster Linie um den Blick der Kinder kümmert. Häufig genug geht in unserer Zeit dieser Blick verloren. Er geht verloren, weil der erwachsene Blick die Kindersicht, die wir alle einmal hatten, vergisst. Diese Kindersicht ist manchmal so tief vergraben, dass jede Erinnerung fehlt. Dieses Vergessen ist ein natürlicher Prozess, oft genug haben die betroffenen Erwachsenen ja auch gute Gründe, sich nicht oder nur noch zum Teil an ihre eigene Kindheit zu erinnern. Darüber hinaus ist es ein sehr menschheitsspezifisches Phänomen, dass das Verständnis für die subjektive Sichtweise eines anderen verloren geht, sobald uns aktuelle Fragen mehr beschäftigen, Fragen, die uns selbst betreffen. Dies gilt auch für unsere Beziehung zu Kindern. Als Kinder- und Jugendpsychiater wundere ich mich manchmal darüber, wie sehr manche Eltern den Eindruck vermitteln, nie selbst Kind gewesen zu sein. Ich wundere mich auch darüber, dass manche Eltern gar nicht den Drang verspüren, sich an die eigene Kindheit erinnern zu wollen. Ich stelle mir dann vor, dass diesen erwachsenen Menschen ein wichtiger Teil von sich selbst fehlt. Bei solchen Eltern ist es vielleicht kein Wunder, wenn sie keine Idee haben, was in ihrem Kind vorgeht oder wie sich die Welt aus Kindersicht wohl anfühlt.

Eine Frage der Übersetzung

Dies ist ein Buch für Erwachsene, aber auch für Kinder und Jugendliche, die sich für sich selbst interessieren. Es ist ein Buch, das getragen ist von der Idee, die subjektive Sicht unserer Kinder zu beschreiben. Damit – wie von einem Dolmetscher übersetzt – Eltern, Großeltern und allen, die beruflich mit Kindern zu tun haben, die Vorgänge in der kindlichen Seele verständlich werden. Wenn es mir gelingt, angemessen zu dolmetschen, können Sie nachvollziehen, was in der kindlichen Seele vorgeht, was für Sorgen sich Kinder machen. Dann können sich die Kinder verstanden fühlen – und Eltern eröffnet sich eine neue Perspektive auf ihr Kind.

Ich kenne das aus meiner Praxis. Dort muss ich häufig diese Übersetzungsarbeit leisten. Alleine dadurch stellt sich oft auf allen Seiten eine große Erleichterung ein. Was vorher so wenig zu verstehen war und ausweglos aussah, erscheint durch die Übersetzung in neuem Licht und kann, aus einer neuen Perspektive betrachtet, zum Guten gelöst werden. Insofern ist dieses Buch durch das Beschreiben und Eintauchen in die Kindersorgen und die Symptome und Erkrankungen der Kinder ein Übersetzungsbuch.

Es gehört zu den intensiven Erlebnissen in meiner täglichen Praxis, dass oft schon in den Erstgesprächen mit den Kindern und Jugendlichen durch meine Fragen für die Eltern ein neues Verständnis ihrer Kinder erwächst. Dieses Buch ist daher getragen von der Idee, diese Erfahrung weiterzugeben. Denn es ist für mich sehr bewegend und beglückend, wenn nur durch meine Vermittlung auf einmal Veränderungsprozesse in Familien in Gang kommen.

Und so möchte ich durch dieses Buch etwas bewegen, indem ich einen anderen Blick auf unsere Kinder ermögliche. Und zwar nicht durch eine neue Norm, durch eine neue Brille, sondern allein dadurch, dass ich mich auf das konzentriere, was die Kinder uns mitzuteilen haben. Dann sind konkrete (um nicht zu sagen: konkretistische) Ratschläge nicht mehr so wichtig, auch wenn ich ab und zu in diesem Buch aus der Praxis erzähle, welcher Rat konkret geholfen hat. Schließlich sind meine Ratschläge ein Teil des Wegs, den das betreffende Kind mit mir gegangen ist.

Sorgenfreie Kindheit

Wie ich darauf komme, dass in den Kinderseelen Sorgen verborgen liegen, die ans Licht befördert werden sollten? Viele von uns Erwachsenen gehen davon aus, dass Sorgen nicht ins Kindesalter gehören. Kindheit, das meinen wohl viele, ist die Lebensphase, in der man fröhlich und unbesorgt, nichts ahnend und unbelastet durchs Leben geht. Eine Zeit, in der man spielt, an der Welt Spaß hat und nur für den Moment, allenfalls für den Tag lebt. Sorgen sind das Feld der Großen, die sich bisweilen auch große Mühe geben, ihre schweren Gedanken von den Kindern fernzuhalten. Wir sehen gern fröhliche Kinder, genießen ihre Unbeschwertheit und hoffen, dass ihnen diese möglichst lange erhalten bleibt.

Und wir sind es gewohnt, dass wir Erwachsenen es sind, die unsere Normen und Konventionen wie ein Maßband an die Kinder anlegen. Was aber ist normal? Ob ein Kind sich noch normkonform entwickelt oder ob Maßnahmen zur Korrektur ergriffen werden müssen, darüber entscheiden wir Erwachsenen. Wer Einblick in die Kinderseele hat, die Kinderseelen erkennt, tendiert ebenfalls ganz automatisch dazu, diese Sorgen zu bemessen. Diese Maße und unsere Bewertung aber ändern sich. Auch ich habe in den knapp 30 Jahren Arbeit als Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie eine Entwicklung genommen. Als junger Assistenzarzt glaubte ich, immer zu wissen, was für Kinder und ihre Familien gut ist. Später dann, als erfahrenerer Arzt und Psychotherapeut, habe ich erkannt, dass es oft reicht, mich zunächst um die Binnensicht aller Beteiligten zu kümmern und allen Beteiligten diese Binnensicht bewusst zu machen. Oft stelle ich dann positiv überrascht fest, dass allein dadurch, dass ich die Binnensicht aufdecke, Veränderungen angestoßen werden können.

Ich habe mich also weiterbewegt, von der Norm und Konvention hin zur Beobachtung von Subjektivität und Leidensdruck. Während ich früher aus Unsicherheit und Unwissen gern auf eine standardisierte (mit Fragebögen durchgeführte) Diagnostik und möglichst klare Maße und Konventionen angewiesen war, die ich von außen an das Kind und seine Familie angelegt habe, so habe ich heute erkannt, dass nur über ein vertieftes Verständnis der Innensicht meiner Patienten effektive Hilfe stattfinden kann. Entsprechend werde ich in diesem Buch vorgehen und beschreiben, wie so ein vertieftes Verständnis aussehen, wie es erreicht werden – und was es bewirken kann.

Der Fall Pippi Langstrumpf

Wir bewundern Pippi Langstrumpf, diese Ikone kindlicher Unbeschwertheit und Freiheit, die trotz Schicksalsschlägen fröhlich ihr eigenes Leben gestaltet, sich von niemandem bevormunden lässt und jedes Problem mutig und stark weglacht. Die Fröhlichkeit dieses sommersprossigen rothaarigen Mädchens steht für eine Kindheit voller Spaß und Eigenwillen. Ein Kind, das der Erwachsenenwelt zeigt, dass wir längst nicht mit jedem Kind machen können, was wir wollen. Ein unabhängiges Kind, das unsere Pädagogik ad absurdum führt und maximales Einfühlungsvermögen seitens der Erwachsenen einfordert – und uns gleichzeitig immer wieder scheitern lässt. Es macht Spaß zu erleben, wie konsequent Pippi die Erwachsenen an der Nase herumführt. Wer hätte sich nicht einmal in seiner Kindheit gewünscht, so zu sein? Wer wollte nicht einmal so stark und unberührbar sein, um es den Erwachsenen einmal richtig zu zeigen? Ist es nicht merkwürdig, dass Pippi Langstrumpf trotz ihrer Verhaltensweisen, die im realen Leben immer zu Sanktionen und Ausschluss führen würden, in dieser Weise idealisiert wird?

Die andere Seite von Pippi, die Tiefe ihrer Seele, kommt nicht zur Sprache. Pippi und Sorgen? Trotz der manchmal ängstlich besorgten Nachfragen von Annika und Thomas wird allein diese Möglichkeit nicht zuletzt durch Pippi selbst immer wieder durch den Einsatz ihrer übermenschlichen Körperkraft und ihr Durchsetzungsvermögen verdeckt, verdrängt und unkenntlich gemacht.

Ich gehe davon aus, dass Pippi im Erstgespräch mit mir in einer anfänglichen intensiven Phase an ihrem Bagatellisieren und dem Weglachen festhalten würde. Dann aber – wenn meine Beziehungsaufnahme gelingt – würde sie vielleicht traurig werden über ihre Einsamkeit, ihre Verlorenheit und ihre Verweigerungshaltung. In einer Psychotherapie mit Pippi würde deutlich werden, wie sie aus einer Not heraus – und nicht aus freien Stücken – stärker und erwachsener geworden ist, als es ihrer Entwicklung eigentlich entspricht und guttut, und wie sehr sie sich damit jeden Tag aufs Neue überfordert, um den Preis des Schul- und Gemeinschaftsausschlusses. Im Rahmen einer stationären Behandlung würde sie langsam lernen, sich ihrer unendlichen Trauer, ihrer Elternlosigkeit zu stellen. Sie würde vorsichtig unter professioneller Begleitung Kontakt zu anderen Kindern aufnehmen können und in der Klinikschule lernen, wie sie anders als über trotzige Verweigerung zeigen kann, wie klug sie eigentlich ist. Wir würden uns intensiv darum kümmern, dass Pippi nie das Gefühl bekommen muss, sie sei defizitär – in den gemeinsamen Behandlungskonferenzen mit ihr würden wir versuchen, ihr zu verdeutlichen, dass sie ihre unendliche Kraft nur anders einsetzen müsste. Dann wäre sie nicht mehr so ausgeschlossen und einsam. Wir würden ihr einen Weg aufzeigen, wie sie ohne Scham und Gesichtsverlust erleben kann, dass die Aufgabe ihrer Verweigerungshaltung in eine gute Zukunft führen könnte – z.B. in einer therapeutischen Wohngruppe mit angeschlossenem Pferdestall. Dann aber wäre der Mythos Pippi Langstrumpf endgültig entzaubert, und wir Eltern müssten uns eine neue amüsante Geschichte ausdenken.

In meinem Buch »SuperKids« habe ich das vorherrschende Ideal einer Bullerbü-Kindheit relativiert, und wenn ich hier nun die nächste schöne und romantische Sichtweise auf die Welt von Astrid Lindgren infrage stelle, gehe ich davon aus, dass Sie mutig weiterlesen und sich auf meine grundlegende Motivation verlassen: Ich bin auch weiterhin getragen von der Idee, dass wir Kinder besser verstehen können und sie weder romantisch verklären noch entscheidende Konflikte oder innere Lebensumstände übersehen sollten. Wenn Pippi Langstrumpf heute leben würde, wünschte ich mir einen Erwachsenen, der sich traute, sie zu mir zu bringen. Ich habe schon viele »Pippis« erlebt, und auch die vielen »Ronjas« fordern alle Mitarbeiter und mich in der Klinik täglich immer wieder aufs Neue heraus, bis wir sie in liebevollen therapeutischen Beziehungen in einem positiven Sinn lebensfähig gemacht haben.

Kindersorgen und kein Ende?

Kindersorgen – vielleicht fragen Sie sich, ob es denn so viele gibt, dass sie ein eigenes Buch rechtfertigen. Kindheit ist die Lebensphase – davon gehen viele Erwachsene jedenfalls aus –, in der die Sorgen gering sind. Sie wachsen allenfalls im Laufe der Jahre ein klein wenig, aber sie sind auch in der Jugend kein Vergleich mit den »großen Sorgen«, die uns Erwachsene umtreiben. Das höre ich jedenfalls von Eltern. Wie oft lösen die kindlichen Fragen und »kleinen« Sorgen in uns Amüsiertheit aus, wir lächeln und freuen uns an der Ernsthaftigkeit, mit der »die Kleinen« den Großen nacheifern. Echte Sorgen sehen allerdings anders aus, da sind viele Erwachsene sich sicher.

Ich reagiere nach vielen Jahren Arbeit als Kinder- und Jugendpsychiater inzwischen empfindlich auf solche Relativierungen kindlichen Erlebens. Schmerz ist auch unter Erwachsenen immer subjektiv und unvergleichbar. Woher nehmen wir uns die Freiheit zu urteilen, dass der kindliche Schmerz, die kindliche Sorge, »kleiner«, weniger wichtig und zu vernachlässigen ist? Berechtigt uns die eigene Erinnerung an eine – im Vergleich zu unserem heutigen Erwachsenenleben –»unbeschwerte« Kindheit dazu, unsere Kinder mit ihren Sorgen weniger ernst zu nehmen? Woher wissen wir, dass dies sich aus kindlicher Sicht ebenso darstellt? Wie nehmen Kinder das wahr?

Genau betrachtet, gibt es keinen Anlass, davon auszugehen, kindliche Sorgen wögen weniger schwer. In meinem Buch werde ich jedenfalls viele dieser vermeintlich »geringen« Sorgen genauer beleuchten, sie von den Kindern erzählen lassen – und dann wird, so hoffe ich, deutlich, wie ernst viele dieser Sorgen zu nehmen sind. Mögen Sie als Leser am Ende entscheiden, wie viel Übertreibung hinter den beschriebenen Kindersorgen steckt!

Ich sehe mich vielfach mit dem Vorwurf konfrontiert, dass ich Probleme »kleiner Menschen« zu groß rede, übertreibe und dramatisiere, und wie oft höre ich die Frage, ob nicht manche der heutigen Probleme mit Kindern und Jugendlichen nur daher rühren, dass wir zu intensiv auf sie eingehen, Schwierigkeiten herbeireden statt sie wie früher einfach zu übergehen. Ich kann mich nicht daran erinnern, Probleme in Kinder hineingeredet zu haben. Selbst, wenn Eltern – insbesondere Väter – anfangs skeptisch waren, so sind wir in der Regel im Konsens nach abgeschlossener Diagnostik oder Behandlung auseinandergegangen.

Ein genauerer Blick auf die eigenen Kinder kann uns neue Perspektiven eröffnen. Diese Perspektiven decken sich aber nicht automatisch mit der Vorgabe, es existiere nur eine fröhliche Kindheit. Ich verstehe das, wir alle sind getragen von dem Wunsch, unsere Kinder möchten sich maximal wohlfühlen, zufrieden und gesund heranwachsen und sich Zeit lassen mit der Annäherung an die Probleme der Welt. Aber sind sie deshalb auch automatisch fröhlich?

Fröhliche Kindheit – Mythos oder Realität

Aus der Erinnerung an die eigene Kindheit schließen wir Erwachsenen gern, dass die Sorgen mit dem Alter zugenommen haben. Kinderzeit war wesentlich unbeschwerter – kein Vergleich mit den Sorgen, die uns heute plagen, den erwachsenen Sorgen. Wie oft betonen Eltern im Gespräch mit mir, dass ihre Kinder »ansonsten« (d.h. unabhängig von dem Vorstellungsgrund bei mir) sehr, sehr fröhlich sind.

Dieser betonte Hinweis hinterlässt bei mir ein Fragezeichen. Ich habe zu oft beobachtet, dass der Wunsch der Eltern, die Kinder möchten fröhlich sein, hinter dieser Wahrnehmung steht und nicht eine tatsächliche Fröhlichkeit der Kinder.

Überhaupt: Niemand – auch Kinder nicht – kann immer fröhlich sein! Wir alle kennen solche Menschen, die sich und der Welt ständig beweisen müssen, dass sie fröhlich sind. Wie überaus anstrengend!

Was aber zählt dann? Ich meine: Viel wichtiger als Fröhlichkeit ist Lebenszufriedenheit. Die geht allerdings nicht automatisch mit Fröhlichkeit einher. Jeder Mensch – jedes Kind – kann hochzufrieden mit sich und der Welt sein, und dabei still spielen und genießen.

Nach knapp 30 Jahren Berufstätigkeit als Kinder- und Jugendpsychiater habe ich erkannt, dass diese Zuschreibung, Kinder lebten sorgenfrei, aus dem elterlichen Wunsch auf die Kinder projiziert ist. Wir projizieren unsere Sehnsucht nach Unbeschwertheit und Sorgenfreiheit auf unsere Kinder, weil es so schwer auszuhalten ist, dass unser gesamtes Leben – mal mehr, mal weniger – von Sorgen begleitet wird. Dann sollen wenigstens unsere Kinder sorgenfrei aufwachsen. Dabei laufen wir Gefahr, die kindlichen Sorgen in ihrer Bedeutung gar nicht wahrzunehmen und sie zu verniedlichen.

Kindheit pur

Dieses Buch über die Kindersorgen möchte mit dem Mythos einer sorgenfreien Kindheit aufräumen, ohne zu dramatisieren und ohne Kindheit schlechtzureden. Der rosafarbene Zuckerguss, mit dem wir Kindheit allzu oft übergießen, verdeckt den Blick auf das Seelenleben unserer Kinder.

Um das zu ändern, nehme ich zunächst den Blickwinkel der Kinder ein, lasse sie erzählen. Normalerweise sind wir etwas anderes gewohnt. Nicht die Sichtweise der Kinder steht im Mittelpunkt, sondern unser Blick auf die Kinder. Wir betrachten sie, beobachten, nehmen wahr, und je nach Kind, unserer eigenen Persönlichkeit und der Situation entsteht daraus ein fürsorglicher, ein liebevoller Blick – oder eine besorgniserregende oder gar eine alarmierende Perspektive eröffnet sich. Dabei geht uns der Blick des Kindes auf sich selbst verloren, auf die Familie, die Freunde, die Schule – auf uns und die Welt.

Für mich ist es an der Zeit, diese Perspektive in den Fokus zu rücken. Wie sieht die Welt aus kindlicher Sicht aus? Wie stehen wir aus dieser Perspektive da? Was wird anders durch so eine Perspektivänderung? Was können wir verstehen? Welche Sorgen rücken auf einmal ins Blickfeld? Verändert sich dadurch unsere Haltung, unsere Unterstützung und Fürsorge den Kindern gegenüber? Welche Hilfe bietet sich an bei großen Sorgen – und müssen wir überhaupt helfen, oder reicht es, Hilfestellung anzubieten?

Wenn ich mich also mit diesem Buch aufmache, Kindersorgen zu beschreiben, dann erfasse ich damit immer nur einen Teil dessen, was die gesamte Beziehung zum Kind ausmacht. Und aus Verständnis alleine erschließt sich nicht automatisch eine Handlungsanweisung. Aber Sie werden sehen, dass sich Ihre Einstellung zum Kind vielleicht ändert. Ihre Haltung den Jugendlichen gegenüber. In meiner täglichen Arbeit ist eine Haltungsänderung, die sich aus einem vertieften Verständnis speist, oft wichtiger als eine konkrete Handlungsanweisung. Eltern sind manchmal enttäuscht, weil sie doch zuallererst von mir wissen wollen, was sie als Nächstes unternehmen sollen, damit ihr Kind sich ändert oder seine Sorgen loswird. Ich aber gehe davon aus, dass größeres Verständnis automatisch zu einer neuen Haltung führt. Einer geänderten Einstellung. Auch in unseren Behandlungsteams verwenden wir viel Zeit darauf, unsere Haltung gegenüber einem Kind beständig zu reflektieren und zu überdenken, weil wir wissen, wie wirksam eine veränderte Haltung in der Beziehung ist. Das wirkt oft Wunder, selbst wenn man nicht explizit mit dem Kind darüber gesprochen hat. Dann macht sich eine neue Haltung dem Kind gegenüber bezahlt.

Erwarten Sie also nicht nur konkrete Rezepte – wenn Sie nach der Lektüre des Buches einen liebevollen Blick auf die Kinderseelen entwickelt haben und ein Verständnis für das breite Band der Normalität, habe ich nicht nur Ihre Sorgen gemindert, sondern bestimmt auch die der Ihnen anvertrauten Kinder.

Persönliches

Ich schreibe dieses Buch auch deshalb, weil ich nicht nur beruflich als Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie tätig bin, sondern weil mich eine eigene Kindheitserinnerung motiviert: Schon als Kind war ich häufig getragen und fasziniert von der Fantasie, was geschehen würde, wenn ich in der Lage wäre, mich hinter die Augen meines Gegenübers zu begeben, mich als kleines Wesen hinter den Augapfel eines anderen Menschen zu stellen, um von dort gleichsam wie mit einem Fernrohr in die Welt schauen zu können. Diese tiefe Sehnsucht nach einem Perspektivenwechsel und die Faszination des Themas Eigen- und Fremdwahrnehmung haben mich mein Leben lang begleitet. Der Wunsch, Kinder- und Jugendpsychiater werden zu wollen, speist sich unter anderem aus genau dieser Kindheitsfantasie. Bis heute gehört es zu den zutiefst befriedigenden Erlebnissen meiner Arbeit, wenn ich den Eindruck bekomme, dass sich mein Gegenüber tatsächlich von mir verstanden fühlt, dass sich offensichtlich doch so etwas wie Übereinstimmung in der Einschätzung und Beurteilung seelischer Zusammenhänge herstellen lässt. Die tiefe Begegnung, die in solchen Momenten entsteht, ist mit kaum etwas anderem zu vergleichen und durch nichts Materielles aufzuwiegen. Die Dankbarkeit von Kindern und Jugendlichen – die sich in dieser Beziehung zu mir widergespiegelt sehen – ist der tägliche Lohn für meine Arbeit. Das ist manchmal anstrengend, weil es nur über den Einsatz der kompletten eigenen Seele funktioniert. Doch die Belohnung ist groß, der Einsatz wird so intensiv emotional beantwortet und erwidert, dass das Gefühl der Anstrengung immer wieder erstaunlich schnell weicht.

Kindersorgen – Sorgenkinder

Bei den Kindern, die zu mir kommen, handelt es sich um Kinder, die Sorgen haben. Das sind zumeist nicht Sorgenkinder, also Kinder, die, seit sie auf der Welt sind, ihren Eltern große Sorgen bereiten. Kindersorgen aber sind etwas anderes. Mir ist es wichtig, diesen Reflex von den Kindersorgen zu den Sorgenkindern zu unterbinden. Nicht, weil ich das Ausmaß der Sorgen bagatellisieren möchte, sondern weil die Sorgen allein es in der Regel nicht rechtfertigen, die Kinder zu kompletten Sorgenkindern zu erklären. Meistens hat jedes Kind mit Kindersorgen ausreichend andere Ressourcen, es kann sein Leben angemessen meistern. Trotzdem sollten seine Sorgen nicht übersehen werden.

Kindersorgen aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht sind häufig mit Symptomen und Erkrankungen verkoppelt. Die Angst von Emil zu Beginn dieser Einleitung ist wahrscheinlich nicht behandlungsbedürftig geworden. Er wird vielleicht eine lange Zeit ohne Zirkusbesuche ausgekommen sein und auch später nur bei anspruchsvollen Programmen gerne hingehen. Dennoch ist es wichtig zu verstehen, dass ihm zumindest von seinem Vater etwas als Sensitivität – als Überempfindlichkeit – ausgelegt worden ist, was bei näherer Betrachtung eine Verteidigung durch beide Eltern verdient hätte. Emils Erlebnis ist ein Beispiel dafür, wie schnell die Kindersicht und das Kindererleben als übertrieben gekennzeichnet und ausgelöscht werden.

In den folgenden Kapiteln über die Kindersorgen orientiere ich mich nicht nur an Themen, mit denen Kinder oft beschäftigt sind, sondern eher an häufigen Symptomen und Diagnosen, mit denen Kinder und Jugendliche mir von ihren Eltern vorgestellt werden. Dennoch ist es kein kinder- und jugendpsychiatrisches Lehrbuch für Eltern, weil ich mich auf die Kindersicht und deren Verständnis und Deutung beschränke.

Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, entstehen nur durch unser Einlassen auf die kindliche Sicht. Man kann nie allgemeingültig voraussagen, wie die Konsequenzen aussehen. Es ist mir ein Anliegen, dies bewusst Ihnen, der Leserin, dem Leser, zu überlassen, weil nur im inneren Dialog zwischen demjenigen, der sich der Kindersicht anvertraut, und dem – realen oder fiktiven – Kind das entstehen kann, was man als Haltungswechsel oder Handlungsänderung bezeichnet.

Sie erwarten konkreten Rat? Das ist mein Rat: Eine Änderung der Haltung und des Handelns vonseiten der Eltern ist ein riesiger Schritt in jeder Diagnostik und Therapie von Kindersorgen. Und die innere Auseinandersetzung von Eltern mit ihrer eigenen Sicht auf ihr Kind und die Anerkennung von dessen Sorgen sind die ersten und wichtigsten Schritte auf dem Weg zu Veränderungen!

Wenn manche Fälle dem Leser »banal« vorkommen, weil ich nichts Dramatisches schildere, so ist mir auch diese Geschichte wichtig, weil auch im »Kleinen« wichtige Erkenntnisse enthalten sein können – so wie bei Emil: Man kann die Vignette über seinen Besuch im Zirkus lesen als eine Bagatelle, wie sie Kindern jeden Tag widerfährt. Man kann aber auch, wenn man den Blick durch die Lupe wagt, verstehen, dass in Emil ein Kind nicht angemessen wahrgenommen wird.

Der Aufbau des Buches

Die jeweiligen Kapitel sind so aufgebaut, dass ich eine oder mehrere Fallgeschichten erzähle, die jeweils neben der Diagnostik zum Schluss auch Behandlungsstrategien oder -empfehlungen enthalten. Die Sicht der Eltern kommt nur vor, wenn sie meiner Meinung nach unentbehrlich ist für das Verständnis des Kindes.

In jedem Kapitel bin ich getragen von der Idee, die subjektive Kindersicht in den Vordergrund zu stellen, um das Thema dann einzuordnen in fachliche oder gesamtgesellschaftliche Aspekte. Wo es hilfreich erscheint, skizziere ich Behandlungsverläufe.

»Kindersorgen« endet mit einem Kapitel über die aktuelle kindliche Seelenlandschaft. Das ist der Versuch, aus allen Fallgeschichten eine Art Landkarte zu zeichnen, die es uns Erwachsenen ermöglicht, Kindheit heute aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht zu beleuchten und zu verstehen.

Alle beschriebenen Fälle sind so pseudonymisiert, dass sich niemand erkennen kann. Ich danke allen Kindern, Jugendlichen und ihren Familien für ihr Einverständnis, dass ich aus der Begegnung mit ihnen dieses Buch machen durfte, damit das Verstehen unserer Kinder leichter wird.

Sie werden sehen, dass Verstehen oder Verständnis gegenüber unseren Kindern nicht bedeutet, nachlässig zu werden oder zu übertreiben.

Ein zu großes Verständnis gibt es nicht, ebenso wenig, wie es zu viel Liebe geben kann.

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1. Kapitel

»Wenn ich ausgerastet bin, geht es mir besser«

Ahmad

»Ich habe Schuld, dass ich meine Eltern verlassen habe und dass mein Bruder sterben musste. Wenn ich nichts gesagt hätte in der Koranschule, würden wir noch bei unserer Familie in Syrien leben. Hier in Deutschland wollen alle etwas von mir. Ich soll dies und das, ich soll nicht so aggressiv sein. Ich bin einsam. Wenn ich ausraste und es passiert jemandem etwas, ist es mir egal, auch wenn mir etwas dabei zustößt. Mein Leben ist sowieso nichts mehr wert. Wahrscheinlich musste meine Familie inzwischen sterben, weil wir gegen al-Qaida waren. Ich gerate jeden Tag in fast unerträgliche Zustände – dann muss mir nur jemand in die Quere kommen, und ich flippe aus. Ich stehe dann wie unter Strom, bin unruhig, und meine Muskeln zittern. Wenn ich ausgerastet bin, geht es mir besser, aber ich habe noch mehr Schuldgefühle. Bis zum nächsten Ausraster … Keiner darf sehen, wie es mir wirklich geht. Ein Mann darf nicht so schwach sein, wie ich es gerade bin. Ich bin verloren. Aber eigentlich bin ich wütend und stark. Dann kann mir keiner etwas. Ich zeige der ganzen Welt, was für ein Unrecht mir angetan wurde.«

 

Ahmad ist 17. Er ist ein minderjähriger unbegleiteter Flüchtling, der seit drei Monaten in Deutschland lebt. Er gehört zu den Flüchtlingen, die ohne Eltern aus ihrem Herkunftsland – in diesem Fall aus Syrien – nach Deutschland gekommen sind. Ahmad wird uns vorgestellt, weil er in seiner Erstversorgungsunterkunft dadurch aufgefallen ist, dass er schnell aggressiv reagiert, z.B. andere bedroht, Möbel umwirft und zuletzt auch einer Betreuerin angedroht hat, sie zu schlagen. Mit der Ärztin in unserer Ambulanz redet er erst gar nicht. Auch mit der hinzugerufenen Oberärztin ist er nicht bereit zu sprechen. Die Kolleginnen rufen schließlich mich dazu. Ich bin über solche Situationen nicht besonders erfreut – nicht, weil ich nicht helfen möchte oder es nicht zu meinen Aufgaben gehörte, als letzte Instanz zu intervenieren, sondern weil ich von Ahmad in eine Situation gezwungen werde, meine eigenen Mitarbeiterinnen zu degradieren, indem ich zulasse, dass angeblich nur ein Mann die Lage regeln kann. Ich möchte nicht, dass die ärztlichen Kolleginnen abgewertet werden, und gleichzeitig stehe ich in ärztlicher Versorgungspflicht gegenüber Ahmad: Ich möchte wissen, welche Sorgen hinter seinem Verhalten stecken.

Zum Glück verändert sich die Haltung von Ahmad im Kontakt mit mir sofort, er wird zugänglicher, wenngleich anklagend und vorwurfsvoll.

»Ihr behandelt eure Frauen schlecht. Ihr schützt sie nicht, schickt sie zur Arbeit. Das ist schlecht. Vor einer Frau spricht ein Mann nicht über seine Probleme. Ich will keine Probleme haben, ich bin doch kein Psycho! Schlimm genug, dass jetzt auch eine Dolmetscherin mir helfen muss, damit ihr mich versteht.«

Ich lasse mich nicht dazu verführen, gegenzuhalten und zu diskutieren, sondern möchte erst einmal versuchen, Raum zu schaffen dafür, dass Ahmad überhaupt berichtet, worum es geht und was ihn im Innern beschäftigt, damit ich, darauf aufbauend, überlegen kann, wie wir die Situation deeskalieren bzw. wie wir ihm helfen können.

Ahmad berichtet weiter: »Ich war ein Jahr auf der Flucht. Davor bin ich wie immer mit meinem jüngeren Bruder nachmittags in die Koranschule gegangen. Eines Tages waren dort neue Lehrer, die wir nicht kannten. Sie haben uns gesagt, dass wir für jeden toten Ungläubigen von Allah belohnt werden würden. Ich habe mich gemeldet und gesagt, dass wir das früher anders gelernt hätten. Die Lehrer haben mich böse angeschaut. Als ich das nachmittags meinem Vater erzählt habe, hat er gesagt, dass wir sofort wegmüssten. Ich bin dann mit meinem jüngeren Bruder zu meinem Onkel in die nächste Stadt gegangen, um in dessen Bäckerei mitzuarbeiten. Nach drei Wochen kamen plötzlich Al-Qaida-Kämpfer um die Ecke und haben nach uns gefragt. Mein Onkel hat uns verleugnet. Als mein Bruder aufgetaucht ist, haben sie sofort geschossen und ihn getötet. Ich habe mich versteckt. Als sie wieder weg waren, hat mein Onkel gesagt, dass ich sofort fliehen muss, bevor sie wiederkommen. Er hat mir Geld gegeben, und ich bin losgelaufen. Ich wollte nach Deutschland, weil ein anderer Onkel hier lebt. Auf der Flucht habe ich mein ganzes Geld verloren, weil die Fluchthelfer immer alles haben wollten. Als ich dann nichts mehr hatte, haben sie mich vergewaltigt. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich meinen Bruder nicht schützen konnte. Er musste sterben, und ich habe kein Recht auf ein Leben. Ich kann mich aber nicht töten, dazu bin ich zu feige. Von meiner Familie weiß ich nichts. Mein Onkel in Deutschland lebt in München, und ich bin jetzt in Hamburg. Ich hasse alles. Wenn die Betreuerin in der Einrichtung mir dann sagt, ich soll nicht so laut sein, dann raste ich aus. Mir ist alles egal. Manchmal träume ich davon, dass die Polizei mich erschießt. Dann wäre wenigstens Ruhe. Ich lasse mir nichts mehr gefallen. Jeden Tag werde ich vertröstet, dass meine Papiere bald fertig sind, aber es dauert und dauert. Und überall nackte Mädchen. Das darf man nicht. Ich bin allein, habe keine Freunde. Und wenn ein Mann hinter mir steht, dann muss ich immer weggehen, weil ich Angst habe, er will mir etwas tun.«

Ahmad ist ein schmächtiger, dunkelhäutiger junger Mann, der älter aussieht, als er ist. Möglicherweise ist er schon 19 Jahre alt, hat sich aber auf und für die Flucht und vor allem für die Ankunft in Deutschland jünger gemacht. Ich selbst bin ein grauhaariger, großer Mann – stärker könnten die Gegensätze zwischen uns beiden Männern nicht sein. Ahmad ist hin- und hergerissen zwischen Angst und Anlehnungsbedürfnis. Einerseits sehnt er sich so sehr nach einer väterlichen Figur, die ihn schützt und versorgt, und andererseits ist auch mir gegenüber seine aggressive Abwehr spürbar. Frau D, die (Ausgerechnet!!, denke ich beschämt und über mich selbst gleich darauf verärgert) blonde Ärztin in unserer Ambulanz, fühlt sich bedroht von Ahmad. Immer wieder schaut er wütend zu ihr rüber. Die Dolmetscherin wirkt eingeschüchtert. Durch meine deeskalierende Intervention gelingt es, Ahmad etwas zu beruhigen und mit ihm in Kontakt zu kommen. Es ist deutlich, wie sehr er es gewohnt ist, Anweisungen von väterlichen Männern anzunehmen. Immer wieder rede ich beruhigend auf ihn ein und mache ihm deutlich, dass es nicht darum geht, ihn zu erniedrigen oder zu bestrafen. Ich sage ihm, dass ich verstehe, dass er unter einem doppelten Schock leidet: zum einen der Schock durch die Traumata, die seelischen Verletzungen, und zum anderen der Schock durch die fremde Kultur.

Die Folgen der Traumatisierung bei Ahmad sind unmittelbar einzufühlen und zu verstehen. Gleichzeitig erzeugt er bei uns durch seine ablehnende, aggressive Haltung Angst und Gegenaggressionen. Natürlich bin ich auch versucht, ihn des Hauses zu verweisen, wenn er nicht bereit ist, mit meinen Kolleginnen und der Dolmetscherin zu kooperieren. Für uns alle ist jetzt psychische Arbeit notwendig, um uns nicht von der vordergründigen Aggressivität Ahmads verleiten zu lassen, uns ihm gegenüber aggressiv abzugrenzen. Wenn sich bei ihm etwas ändern und wenn er sich auf ein Behandlungsangebot einlassen soll, dann gelingt dies nur über ein einigermaßen vertrauensvolles Arbeitsbündnis.

So entwickelt sich auch in der Ambulanz eine brisante Situation, von der wir Beteiligten nicht wissen, ob wir sie beruhigen und in den Griff bekommen können. Diese Situation ist nicht ohne Weiteres schnell zu lösen. Erschwert wird sie dadurch, dass ich Ahmad nicht einfach so auf unserer Akutstation aufnehmen möchte, weil ich weiß, dass ein Zusammentreffen der dort in Behandlung lebenden 16-jährigen, sich selbst verletzenden und selbstmordgefährdeten Mädchen mit einem jungen Mann wie Ahmad, von dem ich glaube, dass er älter als 18 Jahre alt ist, nicht guttut. Mein Schutzimpuls den Mädchen gegenüber konkurriert mit dem ethischen Gebot, auch Ahmad zu behandeln. Klar ist, dass Ahmad dringend eine Traumatherapie braucht. So schnell werden wir ihm keinen Platz organisieren können, sodass wir mit ambulanten Terminen, in denen wir ihn zu stützen versuchen, überbrücken. Gleichzeitig wird er ohne ein Medikament, das ihm seine Anspannung etwas nimmt und antidepressiv wirkt, nicht auskommen. Es ist nicht gesagt, dass er das regelmäßig einnehmen wird. Setzen wir auf meine positive Autorität in diesem Fall. Zusätzlich besucht ihn einer unserer Ärzte, der für die Versorgung der jungen Flüchtlinge in den Erstversorgungseinrichtungen zuständig ist. Er hilft auch den Sozialpädagogen vor Ort, damit sie besser mit Ahmad klarkommen und aggressive Situationen besser handhaben können.

Ahmad lässt sich schließlich auf mein Angebot ein. Er sagt zu, dass er die Medikamente nehmen wird, und er stimmt der ambulanten Traumatherapie ebenfalls zu. Er ist allerdings ganz offen froh zu hören, dass der ärztliche Kollege aus unserem Team ein Mann ist.

Eine posttraumatische Belastungsstörung mit allen Folgen einer depressiv-aggressiven Entwicklung – so fassen wir die Symptomatik von Ahmad im Arztbrief zusammen. Ahmad ist ein Beispiel dafür, was extreme Erlebnisse, Traumata, für die Seele eines jungen Menschen für Folgen haben können. Wenn er keine lebende Zeitbombe für sich und andere werden soll und will, muss er zeitnah und effektiv behandelt werden. Wir sind vorsichtig optimistisch, als wir drei Kollegen uns am Ende des Gesprächs in die Augen schauen. Der zeitliche Aufwand muss von der Oberärztin und mir wieder wettgemacht werden (andere Patienten haben gewartet). Auch dies darf zu keinerlei Ressentiments gegenüber Ahmad führen. Und der emotionale Aufwand, der spürbar für alle Anwesenden nicht gering war, gehört zum Beruf.

 

Eine Traumatherapie, wie sie mir für Ahmad vorschwebt, kann auf der Grundlage der bestehenden psychotherapeutischen Verfahren wie Verhaltenstherapie oder tiefenpsychologisch orientierter Psychotherapie durchgeführt werden. Für die Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen werden die Verfahren jeweils verändert und angepasst. Sie bestehen in der Regel aus drei Phasen: der Stabilisierungsphase, der Traumabearbeitungsphase und schließlich der Integrationsphase. Medikamente können je nach Symptomatik unterstützend eingesetzt werden. Ein spezifisches Verfahren ist EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), bei dem über spezifisch angeleitete Augenbewegungen eine Reorganisation der Vernetzungen im Gehirn angeregt wird. Alle Verfahren sollten nur von entsprechend ausgebildeten und erfahrenen ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten durchgeführt werden.

Ben

Ahmad ist ein Beispiel dafür, wie Traumatisierungen zu übermäßigen Aggressionen führen können. Natürlich kommen aggressive Verhaltensweisen auch bei jüngeren und auch bei deutschen Kindern vor, ohne, dass sie im eigentlichen Sinn traumatisiert wurden. Ein Beispiel dafür ist Ben. Und was für eine Sorge in diesem Kind versteckt ist, erfahren wir nicht sofort von ihm.

Ben ist 11 Jahre alt. Die Kinderärztin hat ihn in unsere Klinik eingewiesen, weil er weder zu Hause noch in der Schule zu halten ist. Dort hat man sich zuletzt geweigert, Ben weiter zu beschulen, weil er jeden Tag in Prügeleien verwickelt ist, andere Kinder schlägt und quält und sogar die Lehrer beschimpft und anpöbelt. Seine Mutter ist verzweifelt, weil Ben auch zu Hause keine Regeln einhält, mit ihr ständig streitet und zuletzt mit einem Messer vor ihr stand, das er schließlich wütend in den Küchentisch gerammt hat.

Ben sieht das anders. »Ich weiß gar nicht, was alle immer von mir wollen. Immer werde ich in der Schule geärgert, und wenn ich mich wehre, dann kriege ich den Ärger. Meine Mutter hält auch nicht mehr zu mir. Lasst mich doch alle in Ruhe! Jetzt muss ich auch noch in die Klapse. Hier sind alle total streng. Mein ganzes Leben ist ätzend«, so berichtet Ben im Aufnahmegespräch.

Bens Störung des Sozialverhaltens, wie seine Diagnose lautet, ist ohne zusätzliche Informationen aus seiner Anamnese, seiner Lebensgeschichte, nicht zu verstehen: Die Mutter von Ben war 21 Jahre alt, als sie von ihrem ersten Freund ungewollt schwanger wurde. Richtig bemerkt hat sie die Schwangerschaft erst, als es für eine Abtreibung schon zu spät war. Ihr Freund hat sie bei dieser Nachricht sofort verlassen. Seitdem ist Frau B alleinerziehend. Ihre Lehre zur Einzelhandelskauffrau hat sie abgebrochen, als Ben auf der Welt war. Von Beginn an war ihr dieses Kind zu viel, obwohl sie ihn sehr liebt, wie sie immer wieder betont. Elterliche Hilfen gab es nicht, weil die Großeltern mütterlicherseits von Ben, diesem »Bastard«, nichts wissen wollten. Als Frau B mehr und mehr das Gefühl hatte, ihre eigene Jugend zu verpassen, ist sie mit viel Alkohol feiern gegangen. Eine Nachbarin hat dann auf Ben aufgepasst, der oft nachts wach wurde und dann weinend vor der Wohnungstür nebenan stand. Im Kindergarten fiel er schon bald wegen aggressiver Verhaltensweisen auf. Das hinzugezogene Jugendamt organisierte eine Familienhelferin, die Frau B unterstützen sollte. Es zeigte sich im weiteren Verlauf allerdings schnell, dass die auffälligen Verhaltensweisen von Ben nicht weniger wurden, im Gegenteil. Eine ambulante Psychotherapie, als Ben 6 Jahre alt war, wurde leider nach einem Jahr ohne Einleitung weiterer Maßnahmen wieder abgebrochen, weil die Therapeutin keinen Fortschritt sah. Ich wundere mich immer wieder über Kollegen, die wenig bereit sind, sich verantwortlich im Gesamtsystem der für Ben zuständigen Sozial- und Gesundheitssysteme zu zeigen. Solche Kollegen begnügen sich mit der Kennzeichnung »therapieresistent«, ohne dafür Sorge zu tragen, von wem ein Junge wie Ben weiter versorgt wird – und wie.

In der Grundschule gab es ab der dritten Klasse eine Schulbegleitung, mit der Ben den Schulalltag einigermaßen bewältigen konnte, aber auch dort war man froh, als Ben in die weiterführende Stadtteilschule übergeben werden konnte. Das Schicksal nahm dann weiter seinen Lauf. Ben wurde immer schwieriger, bis er schließlich in der sechsten Klasse nach Ansicht der Schule nicht mehr beschulbar war.

Auch auf unserer Kinderstation schließlich kamen die Mitarbeiter vom Pflege- und Erziehungsdienst immer wieder an ihre Grenzen, weil Ben blitzschnell aus der Haut fahren konnte, kleinste Regeln und Hinweise als Beleidigung auffasste und dann manchmal so schwer zu begrenzen war, dass der Gedanke aufkam, ihn besser auf die geschlossene Akutstation zu verlegen.

In der Visite mit mir ist Ben nicht gut drauf. Er hatte gerade einen Vormittag voller Konflikte hinter sich und ist nun darauf gefasst, vom »Chef« gemaßregelt zu werden. Ich spüre, dass die Situation erneut blitzschnell eskalieren könnte, so angespannt ist der Junge. Ein Satz wie: »Was war denn heute Morgen mit dir los, Ben?«, würde von Ben innerlich übersetzt werden in: »Warum hast du es wieder mal nicht geschafft, dich zu benehmen? Du strengst dich zu wenig an, und du bist ein schrecklicher Junge!« Also stelle ich mich erst einmal freundlich vor und frage, ob ich Ben kennenlernen darf. Damit signalisiere ich, dass er selber die Grenzen bestimmen darf und nicht fürchten muss, dass ich seine Grenzen überschreite. Ben ist überrascht. Keine Vorwürfe?

Die kleine Phase der Entspannung ermöglicht es ihm, sich mir gegenüber etwas zu öffnen: »Ich habe Angst, dass ich meine Mutter verliere. Wir beide sind völlig allein gelassen. Mein Vater hat sich aus dem Staub gemacht, ihn kenne ich gar nicht. Ich hasse ihn. Und manchmal hasse ich die ganze Welt. Immer bekomme ich den Ärger, immer soll ich die ganze Schuld haben. Ich aber bin im Recht! Manchmal könnte ich die ganze Welt zusammenschlagen. Dann reiße ich alles in Stücke. Ist mir doch egal, wenn ich dabei draufgehe! Wenn ich groß bin, werde ich Bodybuilder und Spezialsoldat für besonders gefährliche Einsätze. Dann bin ich der Stärkste.« Ich warte weiter ab, als eine kleine Sprechpause entsteht, weil ich spüre, dass hinter den Drohgebärden ein ganz anderer Ben steckt. Er fährt dann fort: »Ich helfe dann meiner Mutter, damit ihr niemand etwas antun kann. Dann lasse ich auch keine Männer mehr in unsere Wohnung. Mir kann keiner was. Wenn ich jetzt in ein Heim soll, schlage ich alles kurz und klein. Nur manchmal, wenn es keiner sieht, bin ich traurig und verzweifelt. Dann ziehe ich mir die Bettdecke über den Kopf und weine. Als die Nachtschwester mich neulich trösten wollte, habe ich sie wütend weggeschickt. Wenn mich eine Schwester in der Klinik freundlich anlächelt, könnte ich ihr schon eine reinhauen.«

»Wir beide wissen, wie verzweifelt deine Situation ist, Ben«, antworte ich, »und wir beide wissen, dass Mama und du zurzeit keine gemeinsame Zukunft habt!« Ben sieht mich erschrocken an, und ich spüre deutlich, wie haarscharf die Situation auf der Kippe steht. Entweder er springt auf und rennt türenschlagend raus oder: Ben beginnt zu weinen.

Außer einem: »Ich weiß, wie schwer das gerade für dich ist«, sage ich nichts dazu. Ben verstummt mit Tränen in den Augen, und ich wechsele nach kurzer Zeit das Thema, um ihm die Möglichkeit zu geben, aus der Situation wieder herauszukommen, ohne dass er sich beschämt fühlt. Wir sprechen über Fußball …

Auch bei Ben wird man zumindest vorübergehend nicht ohne Begleitmedikation, die ihm die stärksten aggressiven Spitzen nimmt, auskommen, und höchstwahrscheinlich wird man dafür sorgen müssen, dass er in einer therapeutischen Wohngruppe untergebracht wird. Die Arbeit in der Psychotherapie wird davon geprägt sein, Raum für seine Trauer entstehen zu lassen und ihm zu helfen, sich irgendwann einigermaßen mit seinem Schicksal auszusöhnen. Ben wird auf seine Weise die Mitarbeiter auf der Station jeden Tag daraufhin prüfen, ob sie die Balance zwischen Verstehen und Begrenzen halten können. Es wird gute und es wird schlechte Tage geben – für beide Seiten.

Zwei Jahre später wird Ben mir noch einmal von seiner Wohngruppe vorgestellt. Es hat insgesamt ein Jahr gedauert, bis er sich dort so verhalten konnte, dass von seinen Aggressionen deutlich weniger zu spüren war. Sowohl in der Wohngruppe als auch in der Schule kommt er seitdem gut zurecht. Die Kontakte zu seiner Mutter finden einmal monatlich statt, und auch Frau B hat gelernt, dass die Fremdunterbringung ihres Sohnes die Bedingung dafür ist, dass er sich gut entwickeln und auch die Mutter-Sohn-Beziehung entspannter gelebt werden kann.

Was aber genau ist das, worunter Ben leidet, was ist diese Störung des Sozialverhaltens?

Die ICD-10 (International Classification of Diseases der WHO) beschreibt sie unter der Codierung F91 als eine Psychische Störung, die »durch ein sich wiederholendes und andauerndes Muster dissozialen, aggressiven oder aufsässigen Verhaltens charakterisiert« ist (Dilling H, Mombour W und Schmidt MH: Internationale Klassifikation psychischer Störungen. 8. Auflage. Huber-Verlag, 2011). »In seinen extremsten Auswirkungen beinhaltet dieses Verhalten gröbste Verletzungen altersentsprechender sozialer Erwartungen.« Dissoziale Kinder oder Jugendliche halten sich nicht an Regeln, sind delinquent, schlagen oder quälen andere oder Tiere, sind oft nicht gruppenfähig, zündeln, zerstören, sind übermäßig aggressiv – um die wichtigsten diagnostischen Kriterien zu nennen. Betroffen davon sind etwa 7 Prozent aller Kinder. Ben ist also kein Einzelfall.

Von Ahmad und Ben lernen

Ahmad und Ben – zwei sehr unterschiedliche Lebensgeschichten, die eines gemeinsam haben: eine ungeheure Aggressivität und Wut. Ist es bei Ahmad ein ausgeprägtes Trauma, das ihn wütend und verzweifelt werden lässt, führt bei Ben eine überforderte Mutter mit einer Beziehungsstörung dazu, dass Ben nicht sicher gebunden ist – oder wie er es sagt: »Ich helfe meiner Mutter, damit keiner ihr was antun kann.« Wie viel Unsicherheit steckt in diesem Satz!

Man sieht an diesem Beispiel deutlich, was Bindung eigentlich bewirkt. Der entwicklungspsychologischen Theorie nach hat jeder Mensch ein angeborenes Bedürfnis danach, enge und intensive Beziehungen zu den nächsten Mitmenschen aufzubauen. Wird dieses Bedürfnis nicht angemessen von der Mutter und/oder dem Vater beantwortet, so entwickeln sich unsicher gebundene Kinder, die nicht in der Lage sind, entsprechende Beziehungen aufzubauen und zu halten. Ben fehlt diese Fähigkeit offenbar.

Ahmad ist hingegen aus voller psychischer und physischer Gesundheit in seiner Seele so verletzt worden, dass deren Kompensationsmechanismen nicht mehr ausreichen, während Ben von Beginn an unter Beziehungsbedingungen aufwächst, die ihm das Gefühl vermitteln, nicht ausreichend geliebt und gehalten zu sein. Kinder, die das erleben, gehen davon aus, dass es etwas an ihnen gibt, was sie nicht liebenswert sein lässt – und reagieren darauf mit Wut und Verzweiflung.

Aggressionen in unserem Leben

Aggressionen – ein unangenehmes Thema. Wie oft in meiner beruflichen Laufbahn habe ich mir gewünscht, wir würden ohne Aggressionen auskommen. Und zwar nicht nur aufseiten unserer Patienten, sondern auch auf der Seite von uns Professionellen. Ich liebe dieses Thema nicht, und dennoch ist es von zentraler Bedeutung bei meiner Arbeit, für das Verstehen der Kinder und Jugendlichen, für das Verstehen der Umwelt.

Wie viele Friedensappelle begleiten die Entwicklung der Menschheit, wie viele Friedensverträge haben nicht gehalten? Was für das Große gilt, ist im Kleinen nicht minder bedeutsam und lebensbestimmend. Kein Mensch, kein Kind kommt ohne Aggressionen aus. Als Kinder- und Jugendpsychiater ist eine tägliche Auseinandersetzung mit diesem Thema zentral. Zum einen, weil wir Aggressionen und aggressive Symptome behandeln, zum anderen, weil auch manche unserer Handlungen als aggressiv aufgefasst werden können oder tatsächlich gewalttätig im Sinne einer Grenzüberschreitung sind. Wenn wir beispielsweise ein Kind gegen seinen Willen behandeln. Wenn wir gar – wenn auch zum Glück sehr selten – ein Medikament gewaltsam verabreichen oder einen Patienten im Bett fixieren, d.h. mit einem Fünf-Punkte-Gurt am Bett festschnallen.

Ich habe im Laufe meines Berufes gelernt, dass die Verleugnung von Aggression die große Gefahr birgt, dass sie sich genau dadurch steigert. Wer davon überzeugt ist, dass es in ihm keine aggressiven Impulse gibt, geht das Risiko ein, dass diese sich dann ihren eigenen Weg nach außen oder in den Körper suchen und auf versteckte Weise deutlich und wirksam werden. Deshalb ist es auch für das Leben mit Kindern besonders wichtig zu verstehen, wie übermäßige Aggressionen entstehen können, in welchen Symptomen sie sich äußern können und wie man mit ihnen umgeht.

Kinder machen sich sehr oft große Sorgen über die bei sich und anderen erlebten Aggressionen. Sie fürchten, dass auch ihre nicht ausgelebten aggressiven Impulse zu einer Verstoßung und Ächtung führen könnten. Für ihr Seelenheil ist es sehr wichtig, einen guten Umgang zu finden, und – noch wichtiger – Erwachsene zu erleben, die vormachen, wie man mit normalen und mit übersteigerten krankhaften Aggressionen umgeht. Kinder brauchen Erwachsene, die ihnen aufzeigen, wie aggressive Impulse so gelebt werden können, dass keine großen Verletzungen bei anderen entstehen. Sie müssen erleben, wie man Konflikte löst, wie man streitet und wie man die Kräfte misst. Aggressionen sind immer da und gefühlt auch von Beginn unseres Lebens an.

Von Geburt an?

Aggressionen sind nicht angeboren. Im Unterschied zu den vielen anderen Gefühlen, die von Beginn an zu unserem Seelenrepertoire gehören, entstehen Aggressionen erst im Laufe der persönlichen Entwicklung, d. h. auf der Basis übermäßiger Zurückweisung oder seelischer Verletzung. Die Aggression wird dann zu einem Überlebensmechanismus, der sicherstellt, dass der betroffene Mensch nicht lebensunfähig zusammenbricht. Es gibt Begrenzungen im Leben eines jeden Kindes, die nicht zu vermeiden sind, sodass jeder Mensch wütend und aggressiv wird, allerdings in einem normalen und für alle aushaltbaren und zu akzeptierenden Ausmaß.

Kennt man die Entwicklungsgeschichte von Ahmad und Ben, so kann man verstehen, warum sie übermäßig aggressiv sind. Trotzdem darf das Verständnis nicht zu einer Entschuldigung des jeweiligen Verhaltens führen. Ahmad und Ben haben Anspruch darauf, ernst genommen zu werden. Das bedeutet, dass ich ihre Verzweiflung ernst nehme, ihnen aber ihr Recht nicht abspreche, die Verantwortung dafür selbst zu übernehmen. Das ist in beiden Fällen in der Begegnung mit mir deutlich geworden: Ich versuche, in jeder Situation mit ihnen so weit zurückzutreten, dass Ahmad und Ben sich nicht bedrängt fühlen und stattdessen ein Gefühl des Verstandenwerdens erwachsen kann. Dennoch konfrontiere ich Ben mit der Realität einer anstehenden Trennung von seiner Mutter.

Ich wünsche mir in solchen Fällen Behandlungsstrategien, die auf der einen Seite Verständnis für das zugefügte Leid bezeugen, auf der anderen Seite das klare und verlässliche Durchsetzen von Regeln ermöglichen sowie verhaltenstherapeutische Maßnahmen, durch die Ahmad und Ben lernen könnten, wie sie mit dem inneren Druck und der extrem schnellen Kränkbarkeit umgehen können, ohne die Grenzen anderer Menschen zu verletzen. Das geht immer nur auf einem Weg: Die Grundlage muss stimmen, und sie muss zunächst einmal geschaffen werden zwischen Therapeut und Patient. Grundvoraussetzung dafür ist emotionale Flexibilität. Dann können auch die Konfrontationen und Übungen zugelassen werden, ohne die es nicht abgehen wird. Über Rollenspiele oder auch in einer realen Gruppe können beide mehr Frustrationstoleranz lernen. Sie machen (vielleicht erstmals) die Erfahrung, dass sie trotz ihrer schwierigen Seiten gehalten werden, und können auf dieser Grundlage immer ein Stückchen weiter gehen, sich also weiterentwickeln.

 

Aggressionen gehören zum emotionalen Inventar des Menschen, habe ich geschrieben. Und wirklich ist jeder von uns in allen Lebensphasen gefordert, seine Aggressionen für seine Mitmenschen akzeptabel zu leben. Es ist entscheidend, dass jeder Mensch, aber auch die Gesamtgesellschaft lernt, die eigenen Aggressionen zu beherrschen und zu kontrollieren. Viele Formen der Sublimation (eine Umwandlung eines aggressiven Impulses in einen sozial akzeptierten) wenden Menschen täglich an. Holzhacken statt den Nachbarn zu beschimpfen, wäre z.B. eine Form, eine andere ist Sport zu treiben als friedliche Form des Wettkampfes oder auch nur zum Abreagieren. Unsere Kultur bietet hierfür viele Möglichkeiten und schafft unabdingbare Voraussetzungen für ein friedliebendes, demokratisches und die Menschenrechte achtendes Zusammenleben. Menschliches Leben und Aggressionen sind weltweit untrennbar miteinander verbunden.

Aggressionen in der Welt

Wir leben in einer Zeit, in der uns kollektive Aggressionen weltweit bedrängen. Einzelne Attentäter, die sich in religiösen, pseudoreligiösen oder terroristischen (Sub-) Kulturen aufhalten, schaffen es, uns in Angst und Schrecken zu versetzen, und ganze fundamentalistische oder terroristische Armeen halten die Welt in Atem. Viele Gesellschaften, auch in Europa und dem Westen, driften auseinander, spalten sich auf in reaktionäre, rückwärtsgewandte und kollektiv aggressive Strömungen auf der einen Seite und Gruppierungen, die an dem erreichten friedlichen und toleranten Fortschritt im Sinne der Aufklärung festhalten möchten. Da ist es kein Wunder, dass sich auch Kinder Sorgen machen über den Zustand der Welt. Oder sie leiden: Ahmad ist ein Beispiel dafür, dass die Vorstellung nicht weit weg ist, er könnte zum Amokläufer werden oder sich doch noch von al-Qaida ausbilden lassen. Ben löst hingegen Fantasien aus, er könnte tatsächlich einmal Söldner werden oder als Türsteher auf dem Kiez aggressiv für Schreck und Ordnung sorgen. Das ist mir an den beiden Beispielen besonders wichtig: Aggressionen, die zu Straftaten werden, entstehen nicht in Monstern, also in fremdgesteuerten »Irren« (ein Wort, das aus unserem Wortschatz verbannt gehörte!), sondern in Menschen, die mit einem schweren Trauma oder einem schweren Defizit aufwachsen müssen oder mussten. Das Trauma von Ahmad kann im Prinzip jedem von uns widerfahren.

Verstehen und entschuldigen

Aber immer gilt: Verstehen heißt nicht entschuldigen, verstehen ist aber die zentrale Grundlage von Behandlung und damit von Veränderung.

Deshalb ist es wichtig, auch kollektiv als Gesellschaft neben einer angemessenen Wehrhaftigkeit (den »Regeln« und Gesetzen) Strategien der Deeskalation anzuwenden und zu leben. Wenn wir Ahmad nur einsperren würden aus Angst, er könnte zu einer tatsächlichen Bedrohung werden (wofür es in einem demokratischen Rechtsstaat zum Glück keine Handhabe gibt), würde sich seine Wut potenzieren. Nur die Kombination aus verständnisvoller Behandlung und Konfrontation mit der Notwendigkeit, selbst bei sich Grenzüberschreitungen zu kontrollieren, wird am Ende dazu führen können, dass Ahmad lernt, mit seinem unendlichen Leid zu leben, ohne es anderen ebenfalls zuzufügen. Eine Wohngruppe mit geschulten Erziehern und Sozialarbeitern in Kombination mit der psychotherapeutischen Behandlung bildet die Grundlage für eine andere, eine gute Entwicklung bei Ben.

Wir alle müssen beachten: Aggressive Verhaltensweisen im Kindesalter chronifizieren sehr schnell, d.h. sie entwickeln sich zu einem Verhalten, das kaum noch zu beeinflussen ist. Deshalb ist es sehr wichtig, übermäßige Aggressionen schnell und effektiv zu begrenzen. Oft wünsche ich mir Eltern, die in der Lage sind, auf ein aggressives Kind nicht nur vorwurfsvoll und ängstlich zu reagieren, sondern die den Schulterschluss mit allen Eltern – auch denen des betroffenen Kindes – suchen, um gemeinsam, am besten auch mit einer Besprechung unter Beteiligung aller Eltern, den Lehrern und allen Kindern zu signalisieren: Wir möchten, dass übermäßige Aggressionen nicht mehr vorkommen, und wir übersehen dabei nicht, welches individuelle Leid dahin geführt hat.

Die Mitarbeiter auf unseren Stationen der Klinik sind darauf besonders vorbereitet: Sie wissen, dass jede Grenzüberschreitung, auf die nicht deeskalierend und/oder begrenzend reagiert wird, dazu führen kann, dass sich Spiralen der Gewalt etablieren, aus denen bald keiner mehr herauskommt. Jede Grenzüberschreitung wird angesprochen, und je nach Ausmaß und Konstellation finden sofortige Gespräche statt, in denen vermittelt wird: Hilfe ist möglich und nötig, aber immer nur in einem gegenseitigen Entgegenkommen. Eltern oder auch Lehrer sind an solchen Stellen zu oft lediglich auf der Seite der Forderung: Verändere dich, halte dich an unsere Regeln, pass dich an! Oder auf der anderen Seite: Ich weiß, dass du nichts dafür kannst. Was fehlt, ist die Balance zwischen Verstehen und Begrenzen, zwischen Zurückweichen und sich Durchsetzen. Es ist sehr anstrengend, sich diese Balance für jedes Kind jeden Tag neu zu erarbeiten. Gerade, wenn man sich vor Augen hält, wie viele Kinder in einer Klasse sind. Oder dass ein Kind auch Geschwister hat, die wahrgenommen werden wollen. Oder dass Eltern arbeiten müssen – und ausgerechnet dieses eine Kind keine Ruhe gibt. Wir alle sollten uns fragen: Bin ich bereit, mich gefühlt zum tausendsten Mal auf diesen Marathonlauf (ich persönlich hasse Laufen …!) der Behandlung aggressiver Symptome einzulassen, dann gibt es eine Chance, die Symptome zu verändern.

Auch im täglichen Leben begegnen uns Aggressionen, und auch dort sind wir gefordert, ihnen immer und entschlossen entgegenzutreten. Das Beispiel von Emil ganz am Anfang des Buches zeigt es auf: Eigentlich hat das Kind eine angemessene Wahrnehmung unzumutbarer oder zumindest grenzwertiger Aggressionen durch die Clowns. Die Erwachsenen aber machen die Äußerung seiner Wahrnehmung zu einem Problem des überempfindlichen Emil, der mit seiner Sensibilität die Familie aus dem Konzept bringt. Es wäre richtig gewesen, Emil zu vermitteln, dass seine Wahrnehmung angemessen war. Besonders Väter fürchten an solchen Stellen in der Regel, als zu weich zu gelten. Überhaupt verwechseln Männer oft Einfühlungsvermögen mit Schwäche und verbergen hinter einer männlichen Härte ihre Aggressionen – die sich wiederum nahezu ausnahmslos aus Angstquellen speisen. Mutige Väter sind solche, die ihren Kindern Einfühlung vorleben und ihr Cowboykostüm spätestens an der Garderobe ihrer Wohnung abgeben.