Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der König ist tot, ewig lebe der König! Das Paris der Menschen steht vor dem Untergang. Als der Kopf des Königs endgültig fällt, schwingt sich ein neuer empor. Dunkel und kalt wie die Nacht. Leo ist endlich angekommen in der schillernden Schattenwelt von Paris. Doch der Frieden ist trügerisch. Als alte Freunde zu Feinden werden und Feinde zu Verbündeten versteht Leo: Auch Vampire sind nicht unsterblich. Nun ist es an ihm und Laurent, sich dem dunklen König zu stellen. Das Schicksal von ganz Paris liegt in ihren Händen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 699
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Copyright 2025 by
Dunkelstern Verlag GbR
Lindenhof 1
76698 Ubstadt-Weiher
http://www.dunkelstern-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Dieses Werk darf weder im Gesamten noch in Auszügen zum Training künstlicher Intelligenzen, Programmen oder Systemen genutzt werden.
Lektorat: Dunkelstern Verlag GbR
Korrektorat: Nicole Gratzfeld
Cover: Bleeding Colours Coverdesign
Satz: Bleeding Colours Coverdesign
ISBN: 978-3-98947-091-0
Alle Rechte vorbehalten
Ungekürzte Taschenbuchausgabe
Für alle, die sich in dunklen Zeiten nach Hoffnung sehnen. So finster die Nacht auch scheint, es wird irgendwann ein heller Morgen folgen.
Und für alle, denen mein Herz gehört und die mehr an mich glauben, als ich es selber kann.
Inhalt
Playlist
Vive le roi éternel - Ewig lebe der König
Le palais désert - Der einsame Palast
Blanc comme la neige et rouge comme le sang - Weiß wie Schnee und rot wie Blut
Le tribunal - Das Tribunal
Une visite venue de très loin - Besuch von weit, weit her
Bénédiction déguisée - Glück im Unglück
Masquerade - Maskenball
Les soucis d‘une reine - Sorgen einer Königin
Raison et déraison - Vernunft und Unvernunft
L’invité sombre - Der dunkle Gast
Les plus proches - Engste Vertraute
Souvenirs de soleil - Erinnerungen an die Sonne
La loi du sang - Das Gesetz des Blutes
Sans cœur ni pitié - Ohne Herz und Gnade
Vendetta - Vendetta
Si noire la nuit - So finster die Nacht
Un renard fidèle - Le jour, si clair
Les flammes de la fureur - Die Flammen des Zorns
Dans l‘œil du cyclone - Im Auge des Sturms
Avec la dernière force - Mit letzter Kraft
La mer de souvenirs - Das Meer der Erinnerungen
Bénédiction de la brume - Segen des Nebels
Mon Soleil - Meine Sonne
Ténèbres séduisantes - Verführerische Dunkelheit
À la recherche - Auf der Suche
Poison doux - Süßes Gift
Liber Sanguinis - Das Buch des Blutes
La souffrance de la marquise - Das Leiden der Marquise
La marionnette du diable - Des Teufels Marionette
Le retour du Messie - Die Rückkehr des Messias
Un bonheur longtemps oublié - Ein lang vergessenes Glück
Le début de la fin - Der Anfang vom Ende
Danseurs de l‘ombre - Schattentänzer
Memento Mori - Niemand ist unsterblich
Le nouveau roi - Der neue König
Pacte du loup - Pakt des Wolfes
La ville de lumière - Die Stadt des Lichts
Un nouveau monde - Eine neue Welt
La fête des ombres - Das Fest der Schatten
Un geste de grâce - Eine Geste der Gnade
Rhum, roses et rapières - Rum, Rosen und Rapiere
Bête à forme humaine - Bestie in Menschengestalt
Jouet de séduction - Verführerisches Spielzeug
Le domaine du diable - Die Domäne des Teufels
L’Étoile Foncée - Der Dunkelstern
La cité du sang - Die Stadt des Blutes
Monstre - Monster
Le bourreau du bourreau - Des Henkers Henker
Les cloches de Notre-Dame - Die Glocken von Notre Dame
Mal nécessaire - Notwendiges Übel
La nuit des diables - Die Nacht der Teufel
Le sang des amants - Das Blut der Liebenden
Le cœur de la furie - Das Herz der Furie
Nuit noire de l‘âme - Der Seele finstere Nacht
Anges de sang - Blutrote Engel
Enfants de la nuit - Kinder der Nacht
Trahison est un art - Verrat ist eine Kunst
La chute du diable - Des Teufels tiefer Fall
Roi de sang et de douleur - König von Blut und Leid
EpilogLe prince de sang et de roses – Encore - Der Prinz von Blut und Rosen – Encore
Danksagung
Content Notes
Content Notes
Welch wundervolle Abgründe euch doch erwarten, da ihr nun dieses Buch aufgeschlagen habt! Seid ihr bereit für eine Revolution der Schatten? Eine Finsternis, die durch die alten Straßen von Paris kriecht und alles auf ihrem Weg verschlingt?
Für die unter euch, die lieber sichergehen möchten, sind auf den hinteren Seiten dieses Buches wohlgemeinte Warnungen zu Inhalten platziert, die zu gesundheitlichen Problemen führen könnten. Folgt mir also nicht in die Schatten, wenn ihr nicht dazu bereit seid.
Zudem findet ihr dort auch ein paar nützliche Hinweise zu den französischen Ausdrücken und dem historischen Hintergrund, der mir vielleicht bekannt sein mag, aber nicht jedem von euch.
Amusez-vous bien!
Lionel
Playlist
Saint Mesa – Throne
Merci Raines – The Devil is a Gentleman
HIM – Vampire Heart
Static X – Cold
Wolfgang Amadeus Mozart – Lacrimosa
Saint Mesa – Sunlit Grave
Fleurie – Love and War
Sam Tinnesz – Wolves
Evanescence – Haunted
TEYA – Bite Marks
Violet Orlandi – Bitches Brew
Taemin – Guilty
League of Legends – RISE
Linkin Park – Heavy is the Crown
Woodkid – To Ashes and Blood
Sting – What could have been
Assassins Creed Unity & Ezio Trilogy Soundtrack
Bonsoir, mes amis. Ich danke euch, dass ihr mir die Treue haltet. Es wäre so schrecklich einsam ohne euch! Vier Jahre sind in meiner Welt vergangen, aber für euch ist es wohl nur ein Wimpernschlag. Vielleicht erzähle ich euch irgendwann von meinen Abenteuern als Gehilfe des Wunscherfüllers von Paris. Aber jetzt ist es Zeit für eine dramatischere Geschichte. Für eine, die über das Schicksal von ganz Paris, von ganz Frankreich, entscheidet.
Erinnert ihr euch an diese fürchterliche Victoria und ihre fanatischen Pläne?
Mir will es nicht aus dem Kopf, da hilft auch kein Wein und kein Liebesspiel. Leider scheine ich da nicht der Einzige zu sein …
Aber was rede ich von Vergangenem? Euch interessiert schließlich, wie es mit mir und Laurent weitergeht. Denn nichts ist tiefer als die Abgründe unserer eigenen Seelen.
Macht euch also bereit für eine Reise in das bisher blutigste und finsterste Kapitel meiner Geschichte. Dunkelheit zieht über die Stadt der Lichter, der Terror herrscht und Madame Guillotine giert nach mehr Blut als jeder Vampir.
Wollt ihr euch noch immer mit mir in den Abgrund der Schatten wagen?
Dann seid willkommen. Ich gehe mit euch jeden Schritt dieses Weges. Legt euer Vertrauen in mich, gebt mir das Geschenk eurer Zeit und vielleicht eine Kostprobe eures Herzblutes.
Denn meines gehört für immer euch.
Lionel de la Fayette
Vive le roi éternel
Ewig lebe der König
Paris, Januar 1793
»Der König ist tot.« Die Worte hallten durch die Kathedrale und hinterließen eine ohrenbetäubende Stille.
Das Lächeln, das seinen Weg auf die Lippen des hochgewachsenen Vampirs stahl, war so unheilvoll wie ein heranziehender Sturm. Seine violetten Augen funkelten im Zwielicht, das durch die hohen Glasfenster fiel. Bis auf einzelne rote Glasstücke waren sie geschwärzt, so trat nur gedämpftes Sonnenlicht hinein. Wie des Nachts waren es die unzähligen Kerzen in den hohen Leuchtern, die den Raum in ein rötliches Licht tauchten.
»Habt ihr sein Blut?« Der Vampir leckte sich über die Lippen und entblößte dabei seine langen Fangzähne.
Eifrig huschten die Boten voraus zu dem Altar, vor dem der Mann stand. Auf den ersten Blick hätte man sie mit Menschen verwechseln können, auf den zweiten verrieten ihre ungewöhnlichen Augen, dass es sich bei ihnen um Wertiere handelte.
Sie stellten einen großen bauchigen Krug vor seine Füße und entfernten sich eilig.
»So wenig? Vielleicht sollte ich euch ausbluten lassen, damit es mehr hergibt. Aber ich will das königliche Blut nicht verunreinigen.« Mit einer eleganten Bewegung hob der Vampir den Krug und stellte ihn auf den Altar unter das juwelenbesetzte Kreuz. Es hing nun schon seit vielen Jahrzehnten verkehrtherum, seitdem die Kirche entweiht und von den Vampiren übernommen worden war.
»Sei froh, dass sie noch so viel retten konnten. Der Pöbel hat sich wie die Geier draufgestürzt, um ihre Taschentücher darin zu tränken.« Die raue Stimme gehörte einem edel gekleideten Mann mit stechend grauen Augen, der nun aus dem Schatten des Eingangs trat.
»Gévaudan. Was für eine Freude, dich bei meiner Krönung als Gast begrüßen zu dürfen.« Das säuerliche Lächeln des Vampirs glich einer Grimasse.
»Das lasse ich mir doch nicht entgehen lassen.« Spöttisch verneigte sich der Werwolf und schritt durch den Saal, als wäre er auf dem Weg zu seiner eigenen Krönung. »König Vieru, der wievielte? Gab es schon einen vor dir? Irgendwo in Transsilvanien vielleicht?«
»Nein, nur Fürsten. Meine Vorfahren.« Vieru verließ seinen Platz und kam Gévaudan entgegen. Ohne den Kopf zu senken, schaute er auf ihn herab. Dabei hätte er seine Körpergröße gar nicht nutzen müssen, um Respekt zu fordern.
»Natürlich. Aber meinst du nicht, es ist etwas früh für eine Krönung? Die rote Königin regiert nach wie vor und scheint keine Anstalten zu machen abzudanken.« Gévaudan spazierte in einem Kreis um Vieru, die Arme hinter seinem Rücken verschränkt.
»Nicht mehr lange.« Der Vampir knurrte und Gévaudans Augenbrauen hoben sich. »Ich lasse mir wohl kaum die Chance nehmen, mich mit dem Blut des Menschenkönigs zu weihen, mon Ami. Wann hat man sonst die Gelegenheit dazu? Die Menschen fressen sich mit ihrer eigenen Revolution gegenseitig auf. Es ist Zeit, dass sie ihre Unzulänglichkeit akzeptieren, damit wir endlich aus den Schatten treten und unseren rechtmäßigen Platz als ihre Herrscher einnehmen können.«
Gévaudan blieb vor ihm stehen und neigte den Kopf zur Seite. »Trés bien.« Sein Grinsen war wölfisch und seine Reißzähne ebenso eindrucksvoll wie Vierus. »Ich gehen davon aus, du ehrst unser Übereinkommen, dass ich als deine linke Hand die Herrschaft über die Wertiere erhalte?«
»Selbstverständlich, mein Freund.« Vieru nickte ihm großmütig zu. »Aber nun lass uns nicht länger warten. Die Uhr schlägt zwölf und das Blut des Königs gerinnt. Außerdem habe ich schrecklichen Durst.«
Eine weitere Gestalt schälte sich aus der Menge der Vampire, von denen die meisten in schwarze Kutten gehüllt waren und nur wenig von sich zeigten. Im Gegensatz zu ihrem unauffälligen Erscheinungsbild strahlte sie in ihrem scharlachroten Kleid und den schimmernden Rubinen um ihren Hals. Ihre Augen und Lippen waren von dem gleichen tiefen Rot und verrieten, dass sie voll freudiger Anspannung war.
»Mein liebste Rosalía. Meine Gefährtin.« Vierus Finger griffen nach ihren und er gab ihr einen zärtlichen Handkuss. »Würdest du mir die Ehre erweisen?«
»Alles für dich, mi Amor.« Sie hauchte einen Kuss auf Vierus Lippen und begann, etwas von dem wertvollen Blut in eine große Schale zu füllen, die früher wohl Weihwasser enthalten hatte.
Sie drehte sich zu ihrem Gefährten und fixierte ihn mit ihren rubinroten Augen.
»Gelobst du, die Verdammten aus den Schatten zu führen, auf dass sich der Himmel verdunkle und sich die niederen Geschöpfe unserem Durst ergeben und uns bereitwillig dienen?«
»Das tue ich.« Vieru neigte seinen Kopf und ein Raunen ging durch die Menge der Vampire.
»Gelobst du, die falsche Königin zu stürzen und uns in ein neues Zeitalter, das Zeitalter des Blutes, zu führen?« Rosalías Stimme klang samten und melodisch.
»Das tue ich.« Vieru schloss die Augen und es wurde wieder still im Saal.
»Dann knie nieder.«
Vieru gehorchte, ging vor Rosalía auf die Knie und wartete geduldig.
»In gratia diaboli.«
Vorsichtig hob sie die Schale. In der Kathedrale wurde es so still, dass man meinen könnte, selbst die wenigen anwesenden Wertiere hätten aufgehört zu atmen.
»Vivat rex aeternum!«
Mit den Worten ließ Rosalía zunächst ein paar Tropfen auf Vierus Haupt fallen, bis sich schließlich ein roter Fluss über ihn ergoss und seinen Kopf und die schwarze Robe mit dem Blut des Königs tränkte. Vieru öffnete seinen Mund, um so viel, wie er konnte, aufzufangen.
Die Stille zerbrach im tosenden Jubel der Menge. Immer wieder riefen sie seinen Namen, wie in einem Rausch, der ihnen die Sinne raubte.
»Vivat rex aeternum! Ewig lebe der König!«
Le palais désert
Der einsame Palast
Frost schimmerte auf den Dächern des dunklen Palasts, den einst der Sonnenkönig erbaut hatte. Das Leben war aus den Mauern gewichen, doch was blieb, war alles andere als tot.
»Ich weiß nicht, wie die Marquise es bewerkstelligt. Aber kein Mensch wagt sich mehr hier rein.«
Der Schnee unter Leos Stiefeln knirschte, als er aus der Kutsche stieg.
»Vermutlich hat es etwas damit zu tun, dass kein Mensch wieder lebendig herausgekommen ist, nachdem er sich hineingewagt hat.« Laurents Lippen formten sich zu einem Grinsen und seine spitzen Eckzähne glänzten unheilvoll im Mondlicht.
Auch Leo konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Seine Finger fanden die seines Gefährten und drückten sie sanft. Trotz der warmen Handschuhe waren sie kalt und steif. Kälte machte ihm als Vampir zwar weniger aus, dafür verlangsamte sie seine Bewegungen.
Sie überquerten den leeren Vorplatz, am pompösen Hauptgebäude vorbei, bis sie einen Nebeneingang erreichten. In das weiße Holz des Rahmens war eine Fledermaus geschnitzt. Leo klopfte dreimal leise. Es dauerte nicht lange, da öffnete sich die Tür und das blasse Gesicht einer Wache erschien. Die silbernen Augen funkelten im Halbdunkel und er nickte kurz, bevor er ihnen öffnete.
Der Korridor vor ihnen war nur schwach von einigen edlen Kerzenleuchtern erhellt, deren goldenes Licht sich auf dem Marmorboden spiegelte. Für sie war es völlig ausreichend, wie auch für die meisten der Bewohner des Palastes. Versailles hatte sich verändert und doch hatte Leo bei jedem Besuch das Gefühl, als reiste er in die Vergangenheit. Zurück zu der Nacht, in der sie die Menschen des Hofs vor Victoria und Gévaudan retteten. Sie und Kallistos Heer. Ohne die rote Königin wären sie hoffnungslos unterlegen gewesen.
Leo atmete tief durch und versuchte, das seltsame Gefühl abzuschütteln. Dies war das neue Versailles. Ein kaltes und dunkles, aber doch friedliches, als wäre es nur in einen tiefen Schlaf gefallen und die wenigen Bewohner wachten über es, bis es sich gähnend wieder erhob. Ob diese Nacht kommen würde, wusste Leo nicht.
»Was muss ich tun, damit du endlich diese Angewohnheit ablegst, kleiner Prinz?« Laurent tippte ihn mit dem Finger auf die Nasenspitze.
»Rien, mon cher. Es schadet doch nicht.« Leo rümpfte die Nase und sein Gefährte lachte.
»Seit vier Jahren bist du jetzt einer von uns und noch immer atmest du hin und wieder. Man könnte meinen, du vermisst es, ein Mensch zu sein.«
Entschlossen schüttelte Leo den Kopf und stupste Laurent gegen die Schulter.
»Es beruhigt mich. Reicht das nicht? Wenn es um menschliches Verhalten ginge, müsstest du dafür aufhören, der Viennoiserie zu frönen. Und dem Kaffee … und dem Wein …«
»Schon gut, je comprend!«, unterbrach Laurent ihn und rollte gespielt dramatisch mit den Augen.
Tatsächlich gab es ein paar Dinge, die Leo vermisste, aber das gestand er seinem Gefährten nur ungern. Die warme Sonne auf seiner Haut, die himmelblauen Augen im Spiegel, das Gefühl, satt zu sein, ohne den lauernden Durst, der ihn seit seiner Verwandlung begleitete. Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, um melancholisch zu werden.
Ihre Schritte hallten durch die dunklen Korridore, bis sie schließlich von goldenem Licht begrüßt wurden. Die Marquise und der dunkle Hofstaat hatten es sich nicht nehmen lassen, die schönsten Räume des Palastes zu bewohnen. Nach der Blutjagd und Victorias Bemühen, so viele Adelige zu verwandeln wie möglich, hatten sich die jungen Vampire und Wertiere auf das Hauptgebäude und die Trianons, die kleineren Schlösser auf den Ländereien, verteilt. Die meisten Vampire waren aber hiergeblieben, weil es im Bauch des großen Palastes einfacher war, der Sonne zu entgehen.
»Mes Amis! Wir haben uns schon zu lange nicht mehr gesehen!« Die Marquise de Chambeaux war eine hübsche kurvige Frau mit leuchtend grünen Augen, die ihre Heilkräfte verrieten, die sie bei ihrer Verwandlung in eine Untote erhalten hatte. Leo konnte sich nicht mehr daran erinnern, welche Augenfarbe sie als Mensch gehabt hatte. Abgesehen davon sah sie noch immer aus wie damals, in ihrem taubengrauen Kleid mit den rosafarbenen Schleifen und dem unanständig teuren Schmuck. Nur bei genauerem Hinsehen fiel auf, dass ihr Kleid von blassen Flecken und aufgeriebenen Stellen gezeichnet war. Sie hielt an den Resten ihres alten Lebens fest. Leo konnte es ihr nicht verübeln.
»Ma Chère, es ist eine Freude, Euch wohlbehalten anzutreffen!« Leo küsste ihre Hände, die kaum wärmer waren als seine. Laurent verbeugte sich ebenfalls und schenkte der Marquise ein Lächeln.
»Ich hoffe doch, der Besuch ist lediglich von sozialer Natur. Was möchtet Ihr trinken? Wein, Tee, Blut?« Die Vampirin winkte einen Diener mit einem Tablett heran. Dem Geruch nach zu urteilen, war er ein Wertier. Vermutlich gehörte er zu den Dienern, die in der schicksalhaften Nacht der Blutjagd von Gévaudan zum Opfer gefallen waren.
Leo nahm sich ein Glas Champagner und reichte Laurent ein zweites.
»Ich möchte ungern mit dem Deckel in den Sarg fallen, aber es gibt ein paar Dinge, die wir mit Euch besprechen wollen. So gerne ich auch aus reiner Freude hergekommen wäre, lockt mich bei der Kälte draußen nur wenig aus unserem gemütlichen Zuhause.« Leo beobachtete, wie die Marquise leise seufzte und ließ sich von ihr zu einer Sitzecke führen.
Die übrigen Vampire in dem kleinen Saal schauten neugierig zu ihnen herüber. Sie waren still geworden und so blieben nur die sanften Töne der Violine, die ein junger Mann nicht weit von ihnen spielte. Leo bemerkte, dass Laurents Blick an ihm hängen blieb. Es war der Jüngling, den Victoria in seinem Namen verwandelt hatte, nur weil Laurent es gewagt hatte, sich Wochen zuvor ein wenig mit ihm zu vergnügen.
»Bring du unsere liebe Marquise auf den neusten Stand. Wenn es dir nichts ausmacht, erkundige ich mich nach Fabien.« Laurent wartete nicht auf Leos Antwort und ging zu dem jungen Vampir hinüber, dessen grüne Augen aufleuchteten, als er den rothaarigen Mann bemerkte.
Leo sah ihm lächelnd hinterher. Eifersüchtig war er nicht, im Gegenteil, es freute ihn, dass die kühle, unnahbare Fassade seine Gefährten ein paar Risse mehr bekam. Zudem wusste auch er Fabiens Vorzüge zu schätzen.
Die Marquise hob die Augenbrauen und Leo räusperte sich hastig.
»Kallisto schickt mich. Keine Sorge, es ist nichts Schlimmes.« Er trank einen Schluck Champagner, um seine Worte zu unterstreichen. »Die Lage in Paris spitzt sich zu. Nach dem Massaker im September und den Gerüchten über Vampirjäger im Untergrund wollen einige Unsterbliche etwas Abstand zu der Stadt gewinnen. Hier gäbe es genug Platz und sie wären sicher und versorgt. Madame Cadieux wird Euch natürlich entgegenkommen und Euch mit zusätzlichen Wachen und allem ausstatten, was Ihr braucht«, erklärte Leo ruhig und lehnte sich in dem weichen Samtsessel zurück.
Es dauerte, bis die Vampirin vor ihm ihre Sprache wiederfand. Auch die Höflinge in ihrer Nähe starrten Leo mit großen Augen an.
»Habt Ihr gerade Vampirjäger gesagt?« Ihre Hände klammerten sich um die Lehne ihres Sofas.
»Oui, aber macht Euch keine Sorgen. Seit ein paar Monaten machen einige Vampire offen Jagd und Kallisto hat alle Hände voll zu tun, um ihre Kontakte unter den Menschen zu besänftigen. Madame Cadieux hat die Schuldigen noch nicht ausfindig machen können. Vermutlich handelt es sich um Einzeltäter, unvorsichtige Vampire, die die Revolution übermütig gemacht hat.« Leo nippte erneut an seinem Glas. »Das lockt gewisse Gruppen an. Aber auch darum kümmert sich die rote Königin.«
Die Vampire um ihn herum atmeten auf und entspannten sich wieder. Die Marquise nickte und nahm sich ein neues Glas Champagner.
»Bien. Wir versuchen, so wenig Aufsehen zu erregen wie möglich. Die Bürger von Versailles denken, dass es hier spukt oder dass sich ein paar unlautere Gestalten eingenistet haben. Sie halten sich von hier fern und wir bleiben vorsichtig und diskret bei der Beschaffung von Blut«, sagte sie mit heiserer Stimme.
»Und das weiß die rote Königin zu schätzen. Deswegen ist dieser Ort der erste, an den sie gedacht hat, als ihre Höflinge ihr die Sorgen mitgeteilt haben.«
Wieder nickte die Marquise und legte nun ihre Hand auf Leos. »Sagt ihr, dass alle Vampire und Wertiere hier willkommen sind. Wir haben genug Platz. Meine einzige Bedingung ist, dass sie sich an unsere Regeln halten.«
Ein zartes Lächeln fand seinen Weg auf ihre Lippen. Eine angenehme Wärme breitete sich in Leos Hand aus und bald fühlten sich seine Glieder wieder normal an. Die Kältestarre war verschwunden. Das sanfte Leuchten in Chambeaux‘ Augen verriet, dass sie ihre Kräfte dafür eingesetzt hatte. Dankbar nickte Leo.
»Très bien. Das ist selbstverständlich.«
Leo fand Laurent am anderen Ende des Saals, wo er sich angeregt mit Fabien unterhielt. Der junge Vampir strich sich eine hellbraune Locke hinter das Ohr und versuchte aussichtslos, seine Verlegenheit zu verstecken.
»Warst du erfolgreich, Cheri?« Laurent zog Leo zu sich herunter und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen.
»Oui, die Marquise ist einverstanden.« Leo grinste und musterte Fabien, dessen Finger nervös mit der Violine auf seinem Schoß spielten. »Was hast du mit dem armen Jungen gemacht?«
»Junge? Er ist nur zwei Jahre jünger als du!« Laurent lachte und schob Leo auf den freien Platz neben sich.
»Er hat nichts mit mir gemacht.« Fabiens Stimme war sanft und hell. Er biss sich auf die Lippe und begegnete schließlich Leos Blick. »Es ging eher darum, was er gerne mit mir machen würde. Das hat er mir ausschweifend erklärt.«
Die sanfte Röte auf seinen Wangen war tatsächlich ausgesprochen hübsch, fand Leo. Er war sich bewusst, dass sein Lächeln nun ein wenig teuflisch aussehen musste, aber die Angewohnheit hatte er Laurent zu verdanken.
»Oh ja, das kann er gut«, murmelte Leo und schmiegte sich an seinen Gefährten, der nun zärtlich den Arm um ihn legte.
»Ich bin ein Freund davon, dass Worten Taten folgen.« Laurent blickte von Leo zu Fabien und wieder zurück. »Es hat wieder begonnen zu schneien und du möchtest sicher nicht, dass wir als vampirische Eiszapfen enden, n’est-ce pas?«
Aus Fabiens schüchternem Lächeln wurde ein leises Lachen. »Mais non, das kann ich nicht verantworten.«
Leos Herz schlug schneller in freudiger Erwartung. Es war ein Spiel, das sie gerne spielten. Mit Fabien, Vieru oder anderen willigen Partnern. Viel hatte sich verändert in den vergangenen Jahren und doch fühlte sich manches noch an wie am ersten Tag. Etwas, was Leo aber nicht mehr missen wollte, war das tiefe Vertrauen, das zwischen ihnen gewachsen war. Jeden Abend, wenn er neben Laurent aufwachte, hüpfte sein Herz, und jeden Morgen beruhigte es sich wieder in dem Wissen, mit ihm an seiner Seite einzuschlafen.
Blanc comme la neige et rouge comme le sang
Weiß wie Schnee und rot wie Blut
Leos Stiefel durchbrachen den kalten Puder, den der Tag ihnen geschenkt hatte. Die Gärten von Versailles erstreckten sich vor ihm in makellosem Weiß, das vom zunehmenden Mond verzaubert wurde. Ohne die eifrige Arbeit der Gärtner hatte die Natur den Ort erobert, war nun aber in einem eisigen Käfig erstarrt.
»Es ist so still. Ich kann nicht einmal die Menschen im Dorf hören«, flüsterte Leo.
»Kaum zu glauben, dass hier einmal hunderte Menschen umherwanderten.« Laurent dämpfte seine Stimme nur leicht, auch seine Schritte waren weniger zaghaft als die des blonden Vampirs. »Man könnte meinen, du willst die Ruhe hier nicht stören. Dabei liebst du es doch so sehr, Unruhe zu stiften, kleiner Prinz.«
Laurents Lächeln beschwor eine wohlige Wärme in Leos Bauch herauf. Vor ihrer Abreise hatten sie sich an den willigen Spendern gütlich tun dürfen, die Chambeaux‘ kleiner Hofstaat beherbergte. Nicht nur hier war die Zahl der Menschen gestiegen, die keine Zukunft mehr in der Welt des Lichts sahen und sich der Welt der Schatten zuwandten. Die Glücklichen, die an gutmütige Vampire gerieten, erwartete reichlich Essen und ein sicheres Zuhause. Es war mehr, als die meisten Bürger von Paris hatten. Zwar glaubten noch immer nicht alle Menschen an die Existenz des Übernatürlichen, aber in der Zeit der Not waren sie offener dafür – und abergläubischer. Nicht genug, um eine Gefahr für die Wesen der Schatten zu sein, aber genug, um nicht mehr überrascht zu sein, wenn sie eines zu Gesicht bekamen. Die Welt der Menschen selbst war an Wahnsinn kaum zu überbieten.
»Das kann ich nicht abstreiten.« Leo lachte leise und trat dieses Mal fester in den Schnee. »Hm … ich spüre den Champagner in meinen Adern, den die Madame zuvor getrunken hat.« Er leckte sich genüsslich über die Lippen.
»Genug für einen Spaziergang, mon Cher? Wann ergibt sich sonst so eine Gelegenheit?« Laurent griff nach Leos Hand und zog ihn mit sich an den überwucherten Hecken und dem zugefrorenen Teich entlang.
»Fast jede Nacht.« Leo musste aufpassen, auf dem rutschigen Grund nicht den Halt zu verlieren. Wie konnte sich sein Gefährte so behände bewegen?
»Sei nicht so unromantisch. Ich meine ungestört in den verschneiten Gärten von Versailles.«
Sie stiegen die Treppen hinab an dem großen Springbrunnen mit seinen goldenen Statuen vorbei. Auf der letzten Stufe angekommen wähnte sich Leo in Sicherheit, nur um auf dem eisigen Stein abzurutschen. Sein Schrei wurde von den Schneeflocken erstickt, die nun wieder auf sie hinabfielen.
Doch anstatt den harten Grund unter sich zu fühlen, spürte er nur Laurents überraschend warme Umarmung.
»Attention, mon cher.« Laurent beugte sich über Leo und gab ihm einen sanften Kuss. »Sind deine Glieder etwa schon wieder steif? Ich dachte, du hättest dich sattgetrunken?«
Leo seufzte langezogen und schmiegte sich in die Umarmung.
»Non, noch nicht.« Ein freches Lächeln huschte über seine Lippen und sie berührten für einen Moment die seidige Haut von Laurents Hals. »Aber das können wir ja noch ändern.«
»Leo! Das meinte ich ausnahmsweise nicht damit!« Laurent schüttelte grinsend den Kopf.
»Zu schade. Aber hier draußen wäre es ohnehin zu kalt«, erwiderte Leo und löste sich von seinem Gefährten. Er ließ den Blick über die im Mondlicht glänzenden Hecken schweifen. Sie waren schwer von Schnee und die Statuen, welche die Wege zierten, sahen aus, als trügen sie weiche weiße Mäntel.
»Es ist so selten, einen friedlichen Moment zu erleben, in letzter Zeit«, sagte Laurent leise. »Es kommt mir so kostbar vor, seit Paris angefangen hat, sich selbst zu zerfleischen.«
Leo biss sich auf die Lippen. Es waren nun fast vier Jahre, in denen die Revolution mal heftiger und mal etwas moderater tobte. Ein Ende war nicht in Sicht, nicht einmal mit dem Tod des Königs. Ganz im Gegenteil – die Menschen waren mehr denn je in Aufruhr und auch in den Schatten regte sich so Einiges, was ihnen Sorgen bereitete.
»Bevor Paris damit angefangen hat, kannten wir uns noch nicht.« Leo suchte Laurents dunkelrote Augen, bis dieser seinem Blick begegnete.
»C’est vrai. Es ist so einfach, das zu vergessen. Dabei hat die Revolution für uns beide mit deiner Verwandlung begonnen.«
Leo nickte stumm. Es hatte Jahre gedauert, die Ereignisse zu verarbeiten, und auch jetzt suchten ihn die Erinnerungen noch immer heim. Das brennende Schloss, das einmal sein Zuhause gewesen war, die Gruppe wütender Männer, die ihm seine Familie und sein eigenes Leben genommen hatten. Es ließ ihn nicht los und er vermutete, dass es das auch nie würde. Trost fand er in seinem neuen Leben, seinem Gefährten und neuen wie alten Freunden. Auch wenn er Letztere in den vergangenen Jahren nur selten zu Gesicht bekam.
Er vermisste François, seinen alten Freund. Ebenso wie er Marie vermisste, seine kleine Schwester, die François vor dreieinhalb Jahren geheiratet hatte. Wie so viele Adelige hatten sie aus Frankreich fliehen müssen.
»Weißt du, was mir Fabien erzählt hat, als du mit der Marquise beschäftigt warst?« Laurents Stimme schnitt durch die Stille und Leo war sicher, dass er das Thema wechselte, weil er den Anflug von Melancholie in Leos Augen bemerkt hatte. Auf eine Antwort wartete er nicht. »Ein paar der höfischen Vampire vermuten, dass in den Statuen in den Gärten die Geister jener hausen, die während der Blutjagd gestorben sind.«
Laurents Blick war verschwörerisch und er zeigte in das Antlitz einer Frau aus weißem Marmor. »Ihre Augen verfolgen die Vampire des Nachts. Und manchmal hört man auch ein unheimliches Flüstern.«
»Très bien, genau das, was wir jetzt gebraucht haben.« Leo rollte mit den Augen. »Das macht unseren Spaziergang nicht gerade romantischer, weißt du?«
»Es sind doch nur Schauergeschichten. Außerdem waren es nicht wir, die ihnen das angetan haben. Das waren Gévaudan und seine Meute.« Laurents Hand fand erneut Leos und drückte sie sanft.
»Gut, aber verzeih mir, dass ich nach der Sache mit Mathis genug von Geistern habe. Das reicht mir für die nächsten hundert Jahre.« Leo war schließlich von dem Geist des Mannes verfolgt worden, der für seinen eigenen Tod verantwortlich gewesen war. Ebenso wie Leo für Mathis‘ Tod, indem er blutige Rache an dem Revolutionär genommen hatte. Bei dem Gedanken lief Leo ein kalter Schauer über den Rücken. Oder war es nur der eisige Wind?
»Ich höre schon auf, keine Sorge. Dann muss ich dich wohl mit anderen Dingen aufmuntern, kleiner Prinz.« Laurent warf ihm einen vielsagenden Blick zu und leckte sich über die spitzen Eckzähne.
»Darin bist du höchst talentiert.« Eigentlich wollte Leo nicht zugeben, dass es nur so wenig brauchte, bis sein Gefährte ihn dort hatte, wo er ihn haben wollte. Aber er spürte, wie seine Wangen warm wurden und er errötete.
»Allerdings. Aber ich spare mir meine Talente für einen wärmeren Ort auf. Sonst enden wir zwei noch als Teil der ominösen Statuen hier. Obwohl es sicher amüsant wäre. So leicht bekleidet viele der Statuen auch sind, unsere Pose wäre anzüglicher.« Laurent grinste zufrieden und Leo seufzte leise, als er spürte, wie sich die Wärme von seinem Bauch ausbreitete.
»Wenn es nicht bei Sonnenaufgang tragisch enden würde, wäre ich fast versucht, es auszuprobieren. Die Reaktionen der Höflinge wollte ich sehen.«
Laurent lachte daraufhin und drehte sich um in Richtung Schloss, allerdings nicht, ohne noch einen letzten Blick über den weiten See zu werfen, zu dessen Seiten sich Wälder erhoben und mit der Landschaft um sie herum verschmolzen. Der Schnee ließ alles so zauberhaft unwirklich aussehen. Leo hegte die Vermutung, dass sein Gefährte sich das Bild einprägte, um es später zu malen.
Le tribunal
Das Tribunal
Während der Kutschfahrt zurück, hielten sie sich auf eine Weise warm, die jedem, der einen Blick hinein erhaschte, den Atem verschlug und Schamesröte ins Gesicht stiegen ließ. Erschöpft und zufrieden verließen sie das Gefährt und Leo freute sich bereits darauf, die Nacht entspannt ausklingen zu lassen. Leider ließ der angsterfüllte Blick von Celine, als sie ihnen die Tür öffnete, darauf schließen, dass ihm so schnell keine Ruhe vergönnt war.
»Ich habe ihm gesagt, ihr seid nicht zu Hause. Je suis désolée, aber er hat darauf bestanden, auf euch zu warten.« Ihre goldgelben Augen schimmerten nervös. »Bien, eigentlich hat er nicht viel gesagt, außer dass ich aus dem Weg gehen und ihm Blut bringen soll. Crétin.«
Sie schlug die Hände vor den Mund. Leo vermutete, dass sie den Fluch bereute.
»Beruhig dich, Chérie. Wer ist hier?« Laurent legte die Hände auf ihre Schultern und sie atmete tief durch.
»Vieru natürlich.« Celine ließ sich nicht davon abbringen, ihnen ihre Wintermäntel abzunehmen und sich daraufhin, so schnell sie konnte, in der Küche zu verstecken.
»Natürlich« murmelte Laurent mit einem leisen Seufzen.
Seine Freundschaft zu dem alten Vampir hatte sich in den vergangenen Jahren wieder erholt, nachdem dieser sich reumütig gezeigt hatte. Er war in dem Coup gegen Kallisto verwickelt gewesen und hatte mit üblen Mitteln versucht, Leo und Laurent auf seine Seite zu bringen und sich gegen die rote Königin zu verschwören. Seither hatte er sich unauffällig gegeben. So unauffällig, wie ein ominöser hochgewachsener Vampir wie er sein konnte.
»Ich nehme an, mich ins Bett zu legen und so zu tun, als wärst du allein zurückgekommen, ist keine Option?« Leo lächelte hoffnungsvoll, aber Laurent schüttelte den Kopf.
»Non«, sagte sein Gefährte mit einem schiefen Lächeln und öffnete die Tür des Salons.
Nur wenig Kerzen erleuchteten den elegant dekorierten Raum. Ihr goldenes Licht warf unruhige Schatten an die hellen, reich verzierten Wände. In dem edlen Brokatsessel, der sonst für Laurent reserviert war, saß eine dunkle Gestalt, die alles Licht um sich herum zu schlucken schien.
Leo konnte nur erkennen, dass der Gast einen schwarzen Mantel trug, denn vor sich hielt er eine Zeitung, die er aufmerksam studierte. Die klauenähnlichen Fingernägel verrieten unmissverständlich, dass es sich bei ihm um Laurents ältesten Freund handelte.
»Bonsoir, mon ami.« Laurent trat auf ihn zu und versuchte, hinter die Zeitung zu blicken. »Was ist so dringend, dass du deine wertvolle Zeit damit verschwendest, auf uns zu warten?«
Langsam senkte sich die Gazette und Vierus bleiches Gesicht kam zum Vorschein. Ein kühles Lächeln spielte auf seinen schmalen Lippen, die wie immer von dem galanten Bart akzentuiert wurden. Seine violetten Augen funkelten geheimnisvoll.
»Darf man sich heutzutage nicht einmal die Zeit nehmen, um Freunden einen Besuch abzustatten? Was ist aus Geselligkeit und der Pflege von freundschaftlichen Beziehungen geworden? Niemand nimmt sich mehr für so etwas Zeit, seit Beginn dieser unsäglichen Revolution.« Vierus Stimme war so tief und samten, dass es Leo schwerfiel, sich auf den Inhalt seiner Worte zu konzentrieren. Laurent neben ihm schnaubte nur.
»Ach, hör auf. Du bist es doch, der sich in letzter Zeit kaum mehr blicken lässt.«
Vieru legte die Zeitung beiseite und hob die Augenbrauen. »Vermisst du mich etwa, alter Freund?« Sein Lächeln wurde zu einem Grinsen, bei dem er seine langen spitzen Fangzähne entblößte.
»Vielleicht tue ich das sogar von Zeit zu Zeit«, erwiderte Laurent, sein Blick auf den älteren Vampir fixiert.
»Dann beruht dies auf Gegenseitigkeit.« Die violetten Augen musterten ihn neugierig und schienen jedes Detail zu bemerken. Das lockere Jabot, die Spuren auf seiner blassen Haut, die roten Locken, die es nicht zurück in die Schleife geschafft hatten. »Aber genug davon. Wie ich sehe, hattet ihr heute bereits reichlich Unterhaltung.«
Leo räusperte sich und jetzt wanderte Vierus Blick auch zu ihm.
»Ihr seid wie die Kaninchen, meine Freunde!«, tadelte er sie mit einem dunklen Lachen. »Quoi qu’il en soit, ich wollte euch persönlich eine Einladung aussprechen.«
Vieru erhob sich, ging zu Laurent herüber und drückte ihm einen Umschlag in die Hände.
»Fühlt euch geehrt, den überbringe ich nur den Wenigsten persönlich«, fügte er hinzu und schaute auf Leo und Laurent herab.
Unzeremoniell brach Letzterer das Siegel und holte das schnörkelig beschriebene Papier heraus. Die Tinte war blutrot. Leo atmete vorsichtig ein. Nein, das war keine Tinte.
»Ein Maskenball? Zu dieser Zeit? Das ist selbst für vampirische Verhältnisse dekadent.« Laurents Lippen formten sich zu einer Grimasse.
»Und? Wann hat uns das jemals gestört? Wo doch jede Nacht Blut in den Straßen fließt – warum dann nicht in unsere Hälse?« Vieru winkte ab.
»Weil wir uns bedeckt halten sollten. Dort draußen lassen Vampire immer häufiger alle Vorsicht fahren und trinken vor Menschen, ohne ihre Spuren zu verwischen. Was meinst du, wie lange es dauert, bis entweder Kallisto einschreitet oder sogar Vampirjäger von außerhalb davon Wind bekommen? Möchtest du dich wirklich zu einer Zielscheibe machen?« Laurent schüttelte den Kopf und studierte die Einladung weiter.
»Sehe ich aus, als würde mich das eine oder andere ängstigen? Die Zeit der roten Königin läuft ab, und wenn sich ein Jäger hier hineinwagt, endet er als unser Hauptgang.«
Leo verschränkte die Arme vor seiner Brust und schaute Vieru aus schmalen Augen an. Der alte Vampir hatte nie aufgehört, gegen Kallisto zu wettern, auch wenn er versprach, sich nicht mehr öffentlich gegen sie zu stellen. Laurent mochte über das Verhalten hinwegsehen, aber Leo empfand es nicht nur als respektlos, sondern auch indirekt als Angriff auf ihn selbst. Immerhin gehörte er seit mehr als drei Jahren zu den Vertretern der Königin.
»Die Zeit lief angeblich schon vor Jahren ab, du wirst ja nicht müde, es zu betonen. Ich weiß nicht, ob du auch schon dein Zeitgefühl verlierst, aber du redest seit vier Jahren von dem gleichen Unsinn.« Leo wollte mit den Augen rollen, aber kam nicht so weit.
Vieru stand plötzlich so nah vor ihm, dass Leo seinen schweren Duft so intensiv wahrnahm, dass es ihn schwindelig machte. Der Vampir beugte sich zu Leo herunter und die violetten Augen bohrten sich in seine.
»Ein weiteres solches Wort und ich vergesse, dass ich hier Gast bin.« Vieru knurrte und Leos Herz, das ohnehin nur noch langsam schlug, blieb stehen. Er biss sich auf die Zunge. So gerne er Widerworte geben wollte, es war das Risiko nicht wert.
»Erst sprichst du von Freundschaft und gibst uns eine persönliche Einladung und dann drohst du meinem Gefährten?« Laurents Stimme war so kalt, dass es Leo war, als stünden sie wieder draußen im Schnee. »Überleg dir gut, was du jetzt tust … alter Freund.«
Leo konnte Vierus Knurren mehr spüren als hören. Einen quälenden Augenblick später richtete sich der große Vampir auf und trat einen Schritt zurück.
»Ich bitte um Verzeihung. Ich bin es nicht gewohnt, dass man mir mit so scharfer Zunge begegnet.«
Vorsichtig atmete Leo auf und schluckte. Auf eine gewisse Weise erfüllte ihn Stolz, aber er bereute es auch ein wenig, so übermütig gewesen zu sein.
»Bien«, zischte Laurent, der Tonfall noch immer frostig. »Sonst vergesse ich nämlich, dass wir befreundet sind.«
»Aber nicht doch.« Vieru hob abwehrend die Hände. »Keine Sorge, ich würde dem kleinen Prinzen doch nichts zuleide tun! Jedenfalls nicht mehr.«
»Manchmal ist es klüger zu schweigen.« Mit gezwungener Ruhe faltete Laurent das Papier in seiner Hand. »Wir werden da sein. Danke für die Einladung. Wenn es dir nichts ausmacht, würden wir uns jetzt gerne ausruhen.«
Vieru schnaubte und schien mit sich zu hadern, lächelte dann aber säuerlich.
»Selbstverständlich.« Er ging zur Tür herüber und verbeugte sich knapp. »Oh, vergesst nicht, in die Gazette zu schauen. Sie haben ein Tribunal gegründet, ein Strafgericht, das keine Verteidigung mehr zulässt. Ich glaube, es wird Zeit, dass jemand den Menschen Einhalt gebietet, sonst bleibt in ihrem Wahn nichts mehr von ihnen übrig.«
Nachdem Vieru verschwunden war, hatten sich Leo und Laurent gemeinsam auf das Sofa gesetzt und sowohl die Gazette als auch die Einladung studiert. Leo wollte eigentlich gar nichts von der verrückten Politik der Menschen hören, aber es ließ sich kaum vermeiden.
»Meinst du, das wird Auswirkungen auf uns haben?« Leo blickte hoch zu Laurent, an dessen Schulter er lehnte.
»Gut möglich. Sie wollen damit gegen die Feinde der Revolution vorgehen. Das könnte ein nie dagewesenes Blutvergießen und das Ende des restlichen Adels bedeuten. Aber wenn wir ein wenig Glück haben, stolpern sie vorher über ihre eigenen Erlasse und brechen sich das Genick.« Laurent warf die Zeitung auf seinen Sessel, wo sie mit einem lauten Rascheln landete.
»Es leiden immer die Falschen, jedenfalls wenn die Mächtigen damit durchkommen. Mir ist es egal, ob sie ein paar Royalisten köpfen, aber dabei wird es nicht bleiben«, flüsterte Leo und schloss die Augen. Die Revolution war für ihn wie ein immer wiederkehrender Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab.
»Bist du nicht selbst ein kleiner Royalist, Chéri?« Jetzt klang Laurents Stimme doch ein wenig belustigt.
»Ich diene Kallisto und hätte nichts dagegen, wenn Frankreich von einem König oder einer Königin regiert werden würde, solange dieser oder diese dafür sorgt, dass es dem Volk gut geht. Wenn mich das zu einem Royalisten macht, dann ja.« Leo löste sich aus der Umarmung und drehte nun den Kopf in Richtung seines Gefährten.
»Du denkst nicht, dass es gute Seiten an der Situation gibt? Freiheit und Gleichheit sind keine schlechten Ziele.« Laurent neigte den Kopf und betrachtete Leo neugierig.
»Natürlich sind sie das nicht. Aber ist es wirklich besser, wenn die Menschen frei und gleich leiden und sterben, als wenn sie als Untertanen in Frieden leben?« Es wäre Leo deutlich lieber gewesen, wenn es eine einfache Antwort auf seine Frage gegeben hätte, aber er war selbst nicht mehr so überzeugt davon, wie er es früher einmal gewesen war.
»Vielleicht, aber auch da gehen die Meinungen auseinander«, antwortete Laurent und tippte sich nachdenklich auf die Wange. »Sie leiden mit Monarchen und ohne. Ich schätze, dass die Zeit zeigen wird, wofür sie sich entscheiden. Glücklicherweise ist das schon lange nicht mehr unser Problem.«
»Wenn die Welt der Schatten dafür ruhig bliebe, wäre ich froh.« Leo seufzte langezogen. »Kallisto tut alles, was sie kann, um ihre Untertanen zu beschützen und den Frieden zu wahren. Séraphine hat mir vor ein paar Tagen erzählt, dass sie sie selten so unsicher erlebt hat. Ihr gleitet die Welt durch die Hände wie Sand. Wenn ein Feuer gelöscht ist, fängt das nächste an zu brennen. Und Leute wie Vieru haben nichts anderes zu tun, als sich darüber aufzuregen und sich in ihre gemütlichen Särge zu verziehen. Und jetzt kommt er mit einem Maskenball um die Ecke.«
»Er war schon immer theatralisch. Was für andere anmaßend und makaber ist, ist für ihn genau richtig. Er hat mir einmal erzählt, dass er extra eine Feier in einem kleinen Dorf veranstaltet hat, in dem die Pest wütete, nur um die Menschen glauben zu lassen, der Teufel holte sie höchstpersönlich.« Jetzt war es an Laurent, zu seufzen.
»Du hast wirklich eigenartige Freunde, mon Cher«, sagte Leo und gab ihm einen flüchtigen Kuss.
Une visite venue de très loin
Besuch von weit, weit her
Das Licht der Sonne war so gleißend hell, dass sich Leo erschrocken zusammenkauerte. Panisch suchten seine Augen nach einem Unterschlupf, aber so, wie er sie zukneifen musste, konnte er kaum etwas erkennen. Es dauerte einen Moment, bis ihm bewusstwurde, dass es sich gar nicht schlimm anfühlte. Das Sonnenlicht auf seiner Haut war angenehm warm, es hatte nichts von dem brennend heißen Gefühl, das ihn gewöhnlich erwartete. Vorsichtig öffnete er seine Augen vollständig und richtete sich auf.
Es war so hell, wie er es lange nicht mehr erlebt hatte. Die Sonne tauchte den Garten um ihn herum in ein goldenes Licht. Duftende Weinreben wogen sanft im Wind und in der Ferne hörte er leises Vogelgezwitscher. Römische Säulen säumten den kleinen Platz, auf dem er stand, und ließen ihn wie aus der Zeit gefallen wirken. Es musste ein Traum sein, ein selten schöner Traum. Der Anblick stimmte ihn melancholisch – was würde er dafür geben, nur noch einen Tag mit Marie und François in der Sonne zu genießen?
»Das waren immer meine Lieblinge.«
Erschrocken drehte sich Leo um und entdeckte einen jungen Mann, nicht weit von ihm, der gerade ein paar Trauben von einer Rebe pflückte. Sein rotblondes schulterlanges Haar schimmerte golden im Sonnenlicht und er lächelte zufrieden, wobei seine hellblauen Augen leuchteten. Es erinnerte Leo an die Traumwanderer, denen er vor vielen Jahren begegnet war.
Der Fremde schob sich eine Traube in den Mund und seine Fangzähne blitzten auf. Also war er wie vermutet ebenfalls ein Vampir. Leo neigte nachdenklich den Kopf zur Seite und atmete tief ein. Er konnte den Garten und die Trauben riechen, aber nicht die Person vor ihm. Lag es daran, dass er in seinen Traum gewandert war, wie die Vampire von damals? Aber warum duftete ihre Umgebung dafür umso intensiver?
»Wer bist du und was machst du in meinen Träumen?«, fragte Leo ruppiger als beabsichtigt.
Die Augen des Anderen weiteten sich und er hob abwehrend die Hände.
»Bist du immer so direkt?« Er wirkte ein wenig enttäuscht und Leo tat es leid, dass er ihn so angefahren hatte.
»Pardon. Ich bin nur noch nie einem fremden Vampir im Traum begegnet. Oder habe ich dich vorher schon einmal gesehen?« Wenn er genauer nachdachte, kam ihm das hübsche Gesicht des Fremden seltsam bekannt vor.
»Ich weiß nicht, ob du mich schon einmal gesehen hast.« Der Andere zuckte mit den Schultern. Seine Stimme war überraschend rau und tief und wollte nicht ganz zu seinem jungenhaften Äußeren passen. »Ich bin hier, weil ich mit dir reden möchte.«
»Also gibt es dich wirklich? Du besuchst mich in meinen Träumen?«
Der Fremde nickte mit einem freundlichen Lächeln. »Es ist nicht so einfach, in die Träume von jemandem einzudringen, ohne Schaden anzurichten. Jedenfalls, wenn man nicht um Erlaubnis fragen kann, weil man von weit her reist.«
»Du könntest mir einen Brief schreiben.«
Das Lachen des Anderen klang traurig. »Ich möchte dich um etwas bitten. Es ist schwer, das hier aufrecht zu erhalten, deswegen weiß ich nicht, wie viel Zeit uns bleibt.«
Leo schaute sich mit großen Augen um. »Hast du dieses Traumbild erschaffen?«
»Oui, ich dachte mir, es könnte dir gefallen. Es ist einem Garten nachempfunden, den wir damals gerne besucht haben.« Der Vampir nickte und aß eine weitere Traube.
»Wir?«, fragte Leo und zog die Augenbrauen zusammen. Er war noch keinen Schritt weiter, außer zu wissen, dass sein Gegenüber plante, ihm etwas Wichtiges zu sagen. Immerhin wusste er, dass es sich um einen Traumwanderer handelte.
»Laurent und ich. Ich bin seinetwegen hier. Weil ich dich um etwas bitten möchte.«
Die Augen des Fremden glänzten und es schien, als sammelten sich Tränen in ihnen, die sich aber nicht ganz hervorwagen wollten.
»Wie kann ich dir helfen?« Leo spürte, wie sich eine Schwere auf sein Herz legte. Obwohl der andere Vampir ihm wohlgesinnt war, konnte Leo ein unheilvolles Gefühl nicht abschütteln.
»Du musst auf ihn achtgeben. Für mich. Er braucht jemanden bei sich, der sich um ihn kümmert. Der ihm hilft bei dem, was auf ihn zukommt. Was auf euch alle zukommt.«
Der Himmel über ihnen verdunkelte sich und es wurde merklich kühler. Mit einem leisen Seufzen schaute der Fremde nach oben und schüttelte den Kopf.
»Ich hatte gehofft, die Sonne länger bei uns halten zu können.«
Aber Leo ignorierte die Wolken und trat ein paar Schritte auf den Fremden zu. »Was kommt auf uns zu? Und wer bist du? Woher kennst du Laurent?«
Der junge Vampir lächelte traurig. »Ich weiß nicht viel mehr als du. Ich brauche nur deine Hilfe, um seinetwillen.« Seine raue Stimme brach und er räusperte sich. »Bitte erzähl ihm nicht, dass du mich gesehen hast. Jedenfalls noch nicht. Bald erkläre ich dir alles, versprochen.«
Leo fühlte sich unangenehm daran erinnert, wie auch Laurent oft seinen Fragen auswich, obwohl es zuletzt besser geworden war.
»Gut. Ich plane, nicht von seiner Seite zu weichen, also gebe ich ohnehin auf ihn acht, keine Sorge«, sagte Leo, ohne dabei den Zweifel aus seinem Tonfall verbannen zu können. »Aber wenn du mir nicht das nächste Mal sagst, wer du bist, kann ich nicht dafür garantieren, dass ich ihn nicht frage.«
Der Andere seufzte erneut, nickte dann aber. »Einverstanden.«
Aber Leo war noch nicht fertig. Die ganze Situation kam ihm unwirklich vor. Warum machte der sich Andere solch eine Mühe für so eine Selbstverständlichkeit?
»Warum ist dir das so wichtig? Und was kommt auf uns zu?«, fragte er schließlich. Aber da war niemand mehr, den er hätte fragen können. Dort war auch kein Garten mehr um ihn herum. Er stand nicht einmal mehr auf dem Pfad mit den Säulen. Stattdessen spürte er die Kissen unter und die weiche Decke auf sich und als er die Augen öffnete, sah er nur den violetten Baldachin. Laurent schlief seelenruhig neben ihm. Was für eine Verbindung er wohl zu dem Fremden hatte? Leo legte behutsam den Arm um ihn und kuschelte sich an seine Seite. Er würde ihm beistehen, egal was auf sie zukam. Das musste ihm nicht erst ein Fremder in einem Traum sagen.
***
So gerne Leo Laurent auch nach dem fremden Vampir gefragt hätte, ließ er sich nichts anmerken. Was, wenn es doch nur seine etwas zu lebhafte Fantasie gewesen war? Damit wollte er seinen Gefährten nicht belasten. Allerdings hatte der Traumwanderer ihm nicht verboten, mit anderen über ihn zu reden. Wenn ihm jemand von Laurents Vergangenheit erzählen konnte, dann Celine. Ihre Spur führte Leo zu dem kleinen Stall im Innenhof, in dem sich ihre beiden Reitpferde aufhielten. Wie so oft begleitete sie der Duft von frisch Gebackenem, worunter etwas lag, das an die Katze in ihr erinnerte.
»Vielleicht sollten wir ihnen zusätzliche Decken überlegen, es schneit draußen immer noch«, sagte Leo, als er die Tür öffnete. Mit ihm stoben ein paar Schneeflocken hinein, die sich auf dem Lehmboden verloren.
Celine legte das frische Heu ab und schaute zu ihm herüber. Sie war nicht allein. Ein bekannter Geruch stieg in Leos Nase und kurz darauf streckte Jacques seinen Kopf hinter Laurents Pferd empor. Der Werwolf grinste freundlich, als er Leo entdeckte.
»Salut, mon ami!« Er stellte den Wassereimer ab, mit dem er wohl vorher die Tränke gefüllte hatte, und nutzte die Freiheit, um Leo zu umarmen. Er war immer wieder überrascht, wie warm der Wolf war. Gerade im Winter wollte Leo ihn am liebsten gar nicht loslassen.
»Salut! Ich habe nicht damit gerechnet, dich heute zu sehen.«
»Celine hat mich gebeten, ihr beim Tragen zu helfen. Der Brunnen im Hof ist zugefroren und der Weg aus dem Haus ist weit, wenn man zwei volle Eimer schleppt.« Als wollte er seine Worte untermalen, positionierte Jacques sich so, dass sein Hemd vorteilhaft über die Muskeln seines Oberkörpers fiel. Leo zwang sich, mit seinem Blick nicht zu lange zu verweilen.
»Du kannst auch uns fragen, ma Chère«, sagte er und schaute zu Celine herüber. »Wir sind uns nicht zu fein dafür, dir zur Hand zu gehen.«
»Oui, aber ich weiß, wie unbeweglich euch die Kälte macht. Außerdem ist es die perfekte Entschuldigung, um ihn einzuladen.« Celine gab Jacques einen flüchtigen Kuss.
»Ich hoffe, ich drücke damit nicht die Stimmung, aber gibt es Neues von draußen? Vielleicht etwas, was nicht in den Zeitungen steht?« Leo hatte die Warnung des Fremden nicht vergessen, ebenso wenig wie Neuigkeiten aus der Gazette. Der Werwolf wusste immer, was in Paris vor sich ging.
»Vermutlich hast du von dem meisten schon gehört«, überlegte Jacques laut. »Aber am Hof der Wunder gibt es seit einiger Zeit fast täglich Versammlungen, bei denen Gévaudan aktiv sein soll. Außerdem sind auffällig viele Schatten unterwegs. Aber mehr ist mir auch nicht zu Ohren gekommen.«
»Bien, merci.« Leo hoffte, den Marquis de Gévaudan nicht so bald wiedersehen zu müssen. Bei seiner Erwähnung schaute Celine betreten zu Boden. Vielleicht konnte er sie mit seiner eigentlichen Frage ablenken. »Das kommt vielleicht unerwartet, aber kennst du einen alten Freund von Laurent, einen Traumwanderer mit rotblonden Haaren? Hübsch, mit rauer Stimme«, erkundigte sich Leo beiläufig und streichelte über das weiße Fell seines Hengstes Dionysos. »Celine?«
Aber die Werkatze antwortete nicht. Leo drehte sich wieder zu ihr um. Sie war blass geworden und ihre Augen groß. Der Anblick rief ein flaues Gefühl in Leos Magengrube hervor. Dachte sie noch immer an Gévaudan?
»Woher weiß du, wie sich seine Stimme anhört?«, flüsterte sie und schaute aus einem der Fenster. Als sie sich versichert hatte, dass niemand in der Nähe war, griff sie Jacques‘ Hand und schob ihn zur Tür. »Du hast nichts gehört, Chéri. Würdest du noch zwei Decken für die Pferde holen?«
Jacques nickte verwirrt und verließ den Stall.
»Leo, woher weißt du von ihm?« Die Werkatze nahm seine Hände, ihre eigenen zitterten ein wenig.
»Bevor ich dir das verrate, sag mir bitte, wer er ist.« Leo biss sich auf die Lippe, er hasste das Gefühl der Anspannung, das sich in ihm ausbreitete. Die Kälte schien nun nicht mehr nur von draußen zu kommen.
»Hast du ihn auf einem der Gemälde gesehen? Laurent hat einige von ihm, aber alle sind inmitten anderer platziert, sodass er nicht weiter auffällt.«
»Jetzt wo du es sagst, er kam mir irgendwie bekannt vor.« Leo versuchte, sich an die Gemälde zu erinnern, scheiterte aber.
»Wenn ich recht habe, dann handelt es sich um seinen ersten Gefährten.« Celines Stimme war leiser als ein Flüstern, sie war wie ein Windhauch, der die Kälte direkt in Leos Herz trug.
»Wer war er? Laurent wollte mir nie mehr von ihm erzählen. Er hat ihn früh verloren, nicht wahr?«
Celine nickte und drückte Leos Hand. »Komm, ich zeige dir seine Bilder.«
Bevor sie in den ersten Stock gingen, versicherten sie sich, dass Laurent im Salon war, vertieft in die Gazette. Sie gaben sich Mühe, gemächlich zu gehen, damit er nicht misstrauisch wurde, wenn er ihre Schritte hörte. Celine führte Leo zunächst in das kleine Kaminzimmer, das an Laurents Schlafzimmer grenzte.
Einige Wände waren von Bücherregalen bedeckt, an den anderen hingen dutzende kleine und mittelgroße Gemälde, die alle Laurents Pinsel entsprungen waren. Neben dem Bild, das ihn selbst als Mensch porträtierte, hing ein weiteres, das einen jungen Menschen zeigte. Er hatte erschreckende Ähnlichkeit mit dem blauäugigen Vampir aus Leos Traum. Er hatte rotblondes schulterlanges Haar, das ihm wild ins Gesicht fiel. Dieses war voller Sommersprossen und die Wangen waren rosig. Die warmen hellbraunen Augen funkelten frech und freundlich. Es war ein Portrait und um ihn herum wuchsen frische Blumen, als stünde er in einem Garten.
Leo konnte eine gewisse Ähnlichkeit zu seinem eigenen früheren Äußeren erkennen, bevor er zu einem Vampir geworden war. Laurent hatte also Vorlieben, was nicht weiter verwunderlich war.
»Ist er das? Als Mensch, meine ich?«, erkundigte sich Celine vorsichtig und Leo nickte.
»Ich denke schon. Was weißt du über ihn?« Leos Blick huschte hinüber zu einem der neusten Bilder. Es hing über dem Kamin und zeigte ihn selbst, im Sonnenlicht zwischen einer Vielzahl tiefroter Rosen. Er war blass, aber seine Augen waren noch hellblau wie früher. Laurent hatte ihn als denjenigen abbilden wollen, den er bereits vor der Verwandlung kennengelernt hatte.
Leo erschrak, als sich die Tür öffnete. Er hatte Laurent nicht kommen hören, so vertieft war er in seinen Gedanken gewesen.
»Was macht ihr hier?« fragte er mit skeptischem Blick.
Celine deutete hastig auf den Kamin. »Die Kälte kriecht durch alle Ritzen. Der Brunnen im Hof ist auch schon zugefroren. Wir haben überlegt, den Kamin zu befeuern, weil es hier so schnell warm wird und wir nicht so viel Holz nutzen müssen wie im Salon.« Sie erklärte es so selbstverständlich, als wäre es die Wahrheit und Leo hob anerkennend die Augenbrauen.
»Keine schlechte Idee.« Laurent klang glücklicherweise überzeugt. »Ich hole etwas Wein, wenn der auch noch friert, dann Gnade uns der Teufel. Dabei ist es schon März!«
»Warum hast du es ihm nicht gesagt, weswegen wir hier sind?«, flüsterte Leo, als Laurents Schritte weit genug entfernt waren.
»Du hättest ihn selbst gefragt, wenn du das gewollt hättest.« Celine zuckte mit den Schultern und tippte dann Leo auf die Brust. »Warum willst du jetzt etwas über seinen ersten Gefährten wissen? Und warum kennst du seine Stimme?«
»Ich habe von ihm geträumt.« Leo atmete tief durch. Seine Augen wanderten erneut zu dem Portrait.
»Vermutlich hat dein Unterbewusstsein nur die Bilder verarbeitet«, sagte Celine leise, seinem Blick wich sie aber aus.
»Das wirkte auf mich anders. Er hat mich davor gewarnt, dass etwas Schlimmes auf uns zukommt, und mich gebeten, auf Laurent achtzugeben«, flüsterte Leo und schluckte. Je mehr er über die Worte nachdachte, desto mehr machten sie ihm Angst. Seine Nervosität stieg mit Celines immer schneller werdenden Herzschlag. Er konnte ihn nun so deutlich hören, als läge sein Ohr auf ihrer Brust.
»Er ist tot Leo, seit Jahrhunderten. Ich kenne mich mit sowas nicht aus, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass uns Traumwanderer aus dem Jenseits besuchen können.« Sie wartete nicht auf seine Antwort, sondern schickte sich an, ein paar Scheite in den Kamin zu legen und sie zu entzünden. Laurents Schritte näherten sich wieder.
»Erzähl ihm bitte weiterhin nichts davon, d’accord?« Leo schaute nervös zur Tür.
Celine nickte eifrig. Ihr Herzschlag war noch immer schrecklich schnell und würde sie zweifellos verraten. Auch Leos Herz ließ sich davon mitreißen und er verteufelte die Reste seiner eigenen Menschlichkeit. Die Schritte wurden immer lauter.
»Merde«, zischte Leo, zog Celine zu sich und schaute ihr fragend in die Augen. Es dauerte ein paar quälende Sekunden, aber dann verstand sie. Flink strich sie sich die langen braunen Haare zur Seite, um ihren Hals zu entblößen, und schlang ihre Arme um Leos Schultern. Er wartete keinen Moment länger, küsste sie hungrig und ließ seine Lippen ihren Weg zu ihrer verführerischen Halsbeuge finden.
»Der kleine Prinz bekommt einfach nicht genug.« Laurents Lachen hallte durch den Raum. »So ungeduldig. Ich war doch nur ein paar Minuten weg.«
Bénédiction déguisée
Glück im Unglück
Weder Leo noch Celine bereuten ihren Notfallplan, denn das kleine Kaminzimmer war ausgesprochen gemütlich. Um Laurents Kommentaren zu entgehen, war sie in die Küche entschwunden und wenig später mit heißer Schokolade wiedergekehrt.
»Braucht ihr mich heute noch? Sonst würde ich den Tag mit Jacques verbringen«, erkundigte sie sich und verdrehte die Augen, als Laurent vielsagend grinste.
»Bei ihm wird dir nicht so schnell kalt, nicht wahr, ma Chère?«
Leo stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen und er keuchte empört.
Die Werkatze rollte erneut mit den Augen, lächelte dann aber ebenfalls. »Bist du etwa neidisch?«
Leo hätte wetten können, dass sich die Wangen seines Gefährten für einen Moment röteten. Celine nutzte sein Schweigen, um sich zu verabschieden.
»So sehr ich Wein und Schokolade genieße, fürchte ich, dass wir uns bald hinauswagen müssen.« Leo schürzte die Lippen und sein Gefährte nickte.
»Der verdammte Durst. Im Winter ist er noch schlimmer. Wenigstens haben wir nun mehr Zeit, um zu jagen.« Laurent nippte an seiner Tasse und lehnte sich zurück.
»Dagegen hätte ich nichts, wenn es nur bald aufhören würde zu frieren.« Die Schokolade hatte Celine mit etwas Zimt gewürzt. Sie war eine leidenschaftliche und kreative Köchin, was dazu führte, dass sie deutlich mehr aßen und tranken als notwendig.
»Wenigstens müssen wir vor Vierus Ball nicht mehr zu den Berniers und neue Kleider anfertigen lassen. Du kannst dir einen Gehrock von mir leihen. Ich habe mehrere schwarze. Masken habe ich auch genug, sonst wäre ich ein schlechter Venezianer.« Laurent stellte seine Tasse ab, die mit einem leisen Klimpern auf dem Tisch landete.
»Ich dachte, du wärst aus Florenz?« Leo warf ihm einen Seitenblick zu.
»Oui, das eine schließt das andere nicht aus. Ich bin auch Pariser. Obwohl ich das Gefühl habe, dass nicht alle diesen Standpunkt teilen.«
»Möglich.« Leo nahm sich den Schürhaken und schob die Glut etwas auseinander, bis das neue Stück Holz Feuer fing. Lange genug hatte er sogar den Geruch von Kaminfeuer gehasst, aber langsam legte sich das ungute Gefühl. Es beruhigte ihn zu spüren, dass die Zeit tatsächlich einige Wunden heilte, auch wenn er die Narben für immer behielt.
»Ein Maskenball ganz in Schwarz. Ich weiß nicht, ob ich das für dekadent oder makaber halten soll«, fuhr Leo fort und legte den Schürhaken zurück.
»Beides. Es entbehrt nicht einer gewissen vampirischen Romantik, das musst du zugeben.« Laurent schien keineswegs überrascht von Vierus extravaganten Plänen.
»Weißt du, wer noch schwarze Kleidung trägt?«, fragte Leo mit schmalen Lippen.
»Trauernde? Priester?« Laurent zuckte mit den Schultern.
»Revolutionäre.« Leo räusperte sich und sein Gefährte seufzte leise.
»Vieru hat sich zu einem Hund entwickelt, der nur noch bellt, aber nicht mehr beißt. Jedenfalls keine anderen Vampire.«
»Davon bin ich weniger überzeugt, aber ich kenne ihn auch nicht so lange wie du.« Leos Blick wanderte zu dem Gemälde des Traumwanderers. Hoffentlich hatte seine Warnung nichts mit dem alten Vampir zu tun.
Ein entferntes Klopfen erregte ihre Aufmerksamkeit.
»Ist jemand an der Tür?« Damit hatte Leo bei dem Wetter nicht gerechnet.
Unzufrieden erhob sich Laurent und Leo folgte ihm zur Tür.
»Und das, wenn die Katze einmal nicht da ist.« Sein Gefährte seufzte theatralisch. Doch sein miesmutiger Gesichtsausdruck wurde von einem hungrigen Lächeln abgelöst, als sie die Treppen hinabstiegen und sich der Eingangstür näherten. »Kann es sein, dass da gerade das Abendessen an die Tür klopft?«
Jetzt konnte Leo es auch riechen. Ein Mensch stand draußen. Kräftig, unbekannt und ein wenig nervös, dem Geruch nach zu urteilen. Leos Magen meldete unmissverständliches Interesse.
»Aber was tut er hier um kurz vor Mitternacht?«, flüsterte Leo, doch Laurent zuckte nur mit den Schultern.
»Das werden wir wohl gleich herausfinden, n’est-ce pas?«
Laurent öffnete die Tür. Ein kalter Wind wehte hinein, aber mit ihm ein warmer verführerischer Duft. Leo fragte sich, wann es für ihn normal geworden war, so über die Ankunft eines Menschen zu denken.
»Bonsoir, messieurs.« Der Bote verneigte sich und streckte ihnen einen Brief entgegen. »Entschuldigt die späte Uhrzeit, aber es ist so viel los in der Stadt, ich komme mit dem Ausliefern nicht hinterher. Besonders schnell bin ich leider auch nicht auf den Beinen, sonst breche ich mir bei dem Eis noch die Knochen.«
Laurent setzte sein freundlichstes Lächeln auf.
»Mais, non. Sorgt Euch nicht, wir haben dafür größtes Verständnis.« Er trat einen Schritt zurück und machte eine einladende Geste. »Möchtet Ihr Euch kurz aufwärmen? Eure Lippen sind ganz blau.«
Der Bote schaute mit großen Augen zu ihm empor und nickte vorsichtig. Leo hatte das Gefühl, dass sein Gefährte nicht einmal seine hypnotischen Fähigkeiten einsetzen musste, um den armen Mann zu überzeugen. Zögerlich stieg dieser die Stufen empor und Leo schloss leise die Tür hinter ihm.
»Bien. Ich hoffe, Ihr seid nicht schon halb erfroren, dann dürfte es schwer sein, das hier zu überleben.« Laurents wohlwollendes Lächeln verwandelte sich in ein düsteres Grinsen, bei dem seine Eckzähne zur Geltung kamen. Der Bote riss panisch die Augen auf, aber es war bereits zu spät. Laurent zog ihm den Schal vom Hals und vergrub die Fangzähne in seiner weichen Haut.
Der Brief fiel zu Boden und Leo hob ihn neugierig auf. Die Handschrift kannte er. Mit sich hadernd schaute er auf das Siegel, das ein verschnörkeltes »B« zeigte, und dann wieder zu Laurent und dem armen Boten. Widerwillig steckte Leo den Brief in seine Hosentasche und ging zu seinem Gefährten, der gerade von dem ängstlichen Mann abließ. Der Bote sah benommen aus, atmete aber überraschend ruhig, was darauf schließen ließ, dass Laurent nun doch seine Kräfte benutzt hatte.
»Ich habe dir noch genug gelassen, mon Cher.« Er leckte sich genüsslich über die Lippen, um auch noch den letzten Tropfen aufzufangen. »Wir könnten seine Leiche verschwinden lassen, aber ich würde es präferieren, keinen Verdacht auf uns zu lenken. Also lass ihn bitte am Leben.«