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Sie bringt den Tod. Ist er bereit, für sie zu sterben? Eine Berührung von Kaythara ist tödlich. Immer. Daher lebt sie in einem von der Welt abgeschotteten Tempel, unter den strengen Gesetzen des Königreichs des schwarzen Mondes. Bis ein geheimnisvoller Wärter plötzlich alle Regeln für sie bricht ... und sie über ihre magische Gabe und das Leben außerhalb der Mauern aufklärt: Kaythara soll für den bevorstehenden Krieg genutzt werden. Als Soldatin, gefährlich und zum Gehorsam erzogen. Als Braut, magisch begabt und schön, geeignet für einen mächtigen Lord. Aber es ist ihr Wächter, der ihre Gabe und ihre Leidenschaft aufflammen lässt, ihr zur Flucht verhilft. Doch er hat ihr nicht die Wahrheit darüber gesagt, wer er wirklich ist: der Prinz der Vampire. Und seine Mission ist es, Kaythara als Braut für sein eigenes Königreich zu stehlen. »Touch of Perish« ist eine düstere Secret Identity Romantasy der mehrfachen SPIEGEL-Bestsellerautorin D.C. Odesza aka Lexy v. Golden. //Alle Bände der fesselnden Romantasy-Dilogie »Kingdom of the Black Crescent«: -- Band 1: Touch of Perish -- Band 2: Lure of Death - erscheint im Herbst 2025//
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Veröffentlichungsjahr: 2025
ImpressDie Macht der Gefühle
Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.
Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.
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Lexy v. Golden
Kingdom of the Black Crescent. Touch of Perish
Sie bringt den Tod. Ist er bereit, für sie zu sterben?
Eine Berührung von Kaythara ist tödlich. Immer. Daher lebt sie in einem von der Welt abgeschotteten Tempel, unter den strengen Gesetzen des Königreichs des schwarzen Mondes. Bis ein geheimnisvoller Wärter plötzlich alle Regeln für sie bricht … und sie über ihre magische Gabe und das Leben außerhalb der Mauern aufklärt: Kaythara soll für den bevorstehenden Krieg genutzt werden. Als Soldatin, gefährlich und zum Gehorsam erzogen. Als Braut, magisch begabt und schön, geeignet für einen mächtigen Lord. Aber es ist ihr Wächter, der ihre Gabe und ihre Leidenschaft aufflammen lässt, ihr zur Flucht verhilft. Doch er hat ihr nicht die Wahrheit darüber gesagt, wer er wirklich ist: der Prinz der Vampire. Und seine Mission ist es, Kaythara als Braut für sein eigenes Königreich zu stehlen.
Wohin soll es gehen?
Vita
Widmung
Hinweis des Verlags
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Danksagung
Content Note
© privat
Lexy v. Golden, 1988 geboren, lebt als freie Autorin in der Nähe von Dresden. Seit ihrem Studium schreibt sie Fantasyromane für junge Erwachsene mit neuen, einzigartigen Wesen und einem Hauch an Romantik, Liebe und Spannung.
Du möchtest ein Biest mit einer großen Bibliothek?
Kein Problem. Ich schenke dir zwei davon.
Falls es dich nicht stört, dass es Vampire sind.
VORBEMERKUNG FÜR DIE LESER*INNEN
Liebe*r Leser*in,
dieser Roman enthält potenziell aufwühlende Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Content Note. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die Spoiler enthält.
Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, bleibe damit nicht allein. Wende dich an deine Familie und an Freunde oder suche dir professionelle Hilfe.
Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.
Lexy v. Golden und das Cove-Team
PROLOG
DER LORD DER NACHT
Auf den Gesichtern meiner Lakaien flackert rubinrotes Licht, als sie auf die zerstörte Stadt hinabblicken. Überall steigen stinkende Rauchsäulen in den Nachthimmel. Goldene Funken stieben über den Dächern von Seralith in die Lüfte wie verirrte Glühwürmchen. Der große Sichelmond erhellt die Nacht.
Ich muss zugeben, mir gefällt der außerordentlich beeindruckende Empfang, den mir meine Krieger bereiten. Seralith liegt in Trümmern. Bloß das mächtige rote Schloss mit seinen sieben Türmen ragt erhaben in den dunkelblauen Nachthimmel, auf dem sich die Sterne hinter den Wolken verstecken.
Folgt mir, befehlige ich in Gedanken meine Krieger mit ihren langen schwarz-silbernen Umhängen und schweren Stiefeln. Es ist Zeit, dem König einen Besuch abzustatten.
Heute fällt die letzte Stadt des vierten Reiches Nardom. Der König wird unweigerlich in die Knie gezwungen – und mir, mir gebührt seine Krone. Auf diesen Moment habe ich lange gewartet.
Als ich meine Schwingen ausbreite und zum Sinkflug ansetze, bilden meine Lakaien einen undurchdringlichen Schutzschild um mich.
Nicht, dass ich ihn benötigen würde.
Je näher wir kommen, desto lauter werden das Wehklagen der Verletzten, die Kampfgeräusche und die magischen Explosionen, die die Stadt in Staub und Asche treten.
Meine erfahrensten Krieger mit den tödlichsten Fähigkeiten machen Seralith dem Erdboden gleich, sodass sich bei dem Anblick unweigerlich ein zufriedenes Lächeln auf meine Lippen schleicht.
König Neidgar hat doch nicht ernsthaft geglaubt, eine Chance gegen mich zu haben?
Hätte er vor einem Monat das für meinen Geschmack sehr großzügige Angebot angenommen und mir sein Reich freiwillig überlassen, hätten nicht Tausende Menschen ihr Leben lassen müssen. Aber Menschen sind nun mal trotzig, glauben an Hoffnung, an Wunder und an einen Gott, der alles für sie regelt. Sie verlassen sich auf ihr erbärmliches Schicksal und nehmen große Verluste in Kauf, statt das Knie zu beugen.
Links von mir säumen unzählige leblose Körper den Straßenrand, ich mache brennende Häuser aus und um Gnade flehende Verletzte.
»Das ist alles Eure Schuld, Neidgar. Nur Eure.«
Anstatt dich um deine Untertanen zu kümmern, versteckst du dich wie eine feige Ratte in deinem Schloss.
Dann wollen wir den Nager mal aus seinem Bau locken.
Ich lecke über meine Eckzähne, als ich das Blut um mich herum riechen kann – Versuchung pur!
Galant komme ich mit den Stiefelsohlen auf der gepflasterten Straße auf, die direkt in das rote Schloss führt, und lasse meine dunklen Schattenschwingen verschwinden. Ich kann das schlagende Herz des verräterischen Königs im Thronsaal des Schlosses hören und seine Verzweiflung süß wie Honig auf der Zunge schmecken. Ich will selbst Zeuge sein, wenn Neidgar seinen letzten Atemzug macht.
Um mich herum duellieren sich verfeindete Soldaten mit meinen unbesiegbaren Kriegern. Speere sausen über mich hinweg zum gewundenen Nordturm des Schlosses, der bereits in Flammen steht und jeden Moment einzustürzen droht. Eine heftige Explosion hinter mir lässt den Boden erzittern wie bei einem gewaltigen Erdbeben.
Siegessicher grinsend stoße ich die meterhohen Eichentüren mit Leichtigkeit auf. Keiner hindert mich daran, das Schloss zu betreten, welches ich bald mein Eigen nennen werde.
In der Empfangshalle mit den hohen, spitz zulaufenden Fenstern bietet sich mir ein bizarres Bild. Gebogene Säulen ragen in die Höhe, sie werden von steinernen Gargoyles bewacht, die rotes Wasser in parallel zum Eingang verlaufende Becken speien. Für meinen Geschmack könnte das Wasser durch Blut ersetzt werden – reines, frisches Menschenblut.
Aber man kann nicht alles haben.
Vor mir befindet sich ein mächtiger Thron, um dessen rund vier Meter hohe Rückenlehne sich ein roter Drache schmiegt. Seine vergoldeten Rückenzacken und Klauen schimmern bedrohlich. In seinem aufgerissenen Maul, das neben der rechten Armlehne hervorragt, liegt ein in helle Tücher gehülltes Baby, das jeden Moment von den Zähnen des Drachen durchbohrt werden wird.
Wie bei einer mechanisch aufgezogenen Uhr dringt ein Ticken an meine Ohren. Konzentriert kneife ich die Augen zusammen. Das Maul des Drachen wird von einer Art Mechanik angetrieben und droht, das Neugeborene langsam zu verschlingen.
Klack, klack, klack.
Was ist das jetzt wieder für ein alberner Hokuspokus? Dass König Neidgar ein verwirrter Greis ist, der nicht mehr alle Kelche im Schrank hat, ist nichts Neues. Aber dieser Anblick überrascht sogar mich.
Einen Säugling … dem Tode geweiht? Wieso?
Etwa weil das Kind von Bedeutung ist, oder nur, um ihm ein grausames Leben als Sklave meines Reiches zu ersparen?
Hin und wieder fällt es mir schwer, die menschlichen Entscheidungen, die aus emotionalen Beweggründen getroffen wurden, nachzuvollziehen.
Ich stürze auf den Säugling zu, als im selben Moment der König, selbst schwer verletzt und schwankend, mit gezogenem Schwert hinter dem Thron hervortritt und mir den Weg versperrt.
Von seiner ehemals prächtigen Erscheinung mit dem silberweißen langen Haar, das offen über seine Schultern fiel wie ein Wasserfall, und dem langen Bart, der geflochten und mit schwarzen Perlen verziert über seiner blutroten Uniform baumelte, ist nichts mehr übrig. Seine spitz nach oben zulaufenden Schulterklappen sind verkohlt, sein Haar zur Hälfte vom Kampf versengt, sein Umhang in Fetzen gerissen, sein rechter Arm hängt schlaff und blutüberströmt an seinem Körper.
Er will mich doch nicht mit seiner schwächeren Schwerthand angreifen? Was für ein Narr!
»Habt Ihr nicht bereits genug, Lord Derângez!«, blafft mich König Neidgar an, als wäre ich sein verdammter Sohn, den er maßregelt.
Ich schnaube herablassend, verschränke die Arme vor der Brust und schaue mich gelangweilt im Saal um. Neben dem Thron befinden sich vier weitere steinerne Sessel, auf denen sonst seine Berater hocken. Keine Wache ist in Sicht, kein Schütze, kein Magier, keiner, der dem erbärmlichen Greis zur Seite steht. Er ist ganz allein.
Es gibt nur das Schwert in seiner Hand und den Säugling, der … Ich sauge den Geruch des Kindes intensiver ein … Es ist erst vor wenigen Stunden, wenn nicht sogar Minuten geboren worden.
»Ich habe nie genug, König Neidgar. Das Wort genug existiert nicht in meinem Sprachschatz, da muss ich Euch enttäuschen. Meine Gier ist unersättlich.«
Meine Krieger haben ihre Schwerter gezogen, als ich die letzten zwei grauen Stufen zum Thron emporsteige. Ich will wissen, was es mit dem Säugling auf sich hat.
Doch König Neidgar, dieser verblendete Menschling, tritt mir entgegen. Ich lasse zu, dass seine Klinge meinen Hals berührt, bevor ich sie mit bloßen Händen umfasse und vor seinen entsetzten Blicken verdrehe.
Blut rinnt zwischen meinen Fingern hervor. Mir kann eine Klinge, aus gewöhnlichem Eisen geschmiedet, nicht das Geringste anhaben. Die Augen des Königs weiten sich, bevor er einen erbosten Gesichtsausdruck aufsetzt und die Klinge freigibt. Im selben Moment lasse ich das Schwert los, während meine Schnittwunden heilen.
Was jetzt? Will er mich mit bloßen Händen angreifen?
Wie lächerlich.
»Ihr bekommt das Kind nur über meine Leiche.«
»Nun, das lässt sich einrichten«, antworte ich dunkel lachend, bevor ich ihn an der Kehle zu fassen bekomme und mordlüstern ansehe. Ein angsterfüllter Blick tritt in seine Augen, als ich meine Finger tiefer in seinen Hals bohre, meine Nägel sich zu Klauen verformen und seine Haut zerschneiden. Eine Menge Blut quillt aus seinem Hals hervor. Er gibt einen gequälten Laut von sich, der weder an ein Röcheln noch an ein Stöhnen erinnert, mehr an ein Japsen. Ich halte seine Halsschlagader und Speiseröhre umfasst. Eine Bewegung, und er liegt schneller als ein abgestochenes Lamm vor mir, ehe er um Gnade betteln kann.
»Ihr seid viel mächtiger …« Blut rinnt über seine Unterlippe und läuft in seinen langen Bart.
»… als vor zwei Jahrzehnten«, beende ich seine Feststellung. Seine Adern treten in dem Weiß seiner Augen hervor. »O ja, das bin ich, König Neidgar. Wusstet Ihr das nicht? Habt Ihr geglaubt, die Erzählungen über mich wären gelogen? Nun, da muss ich Euch enttäuschen. Während Ihr Euch von allem Übernatürlichen oder, wie ihr Menschen es nennt, Bösartigen abgewandt habt, habe ich jedes Wesen mit besonderen Fähigkeiten aufgespürt. Ich habe sie um mich herum versammelt, ihr Blut getrunken, das mich noch mächtiger werden ließ, und einige in unsterbliche Kreaturen verwandelt, damit sie mir bis in die Unendlichkeit dienen können. Ja, ich bin mächtiger als vor zwanzig Jahren und … unbesiegbar.«
In den vor Schreck geweiteten Augen spiegeln sich meine rot glühenden Iriden und ich erblicke darin mein zynisches Grinsen. »Bete in der Hölle zu deinem Gott, alter Mann«, raune ich.
Im nächsten Moment reiße ich ihm mit einem Ruck die Kehle heraus, um sie meinen Kriegern vor die Füße zu werfen. Sofort erlöschen Angst und Wut in König Neidgars Augen. Zurück bleibt ein sterbender Körper, der reglos vor meinen Stiefeln in sich zusammensackt.
Ich steige über seine Leiche, um meinen Weg fortzusetzen. »Vielen Dank. Ging schneller als gedacht«, murmle ich und schüttle mir die Blutstropfen von den Fingern.
Etwas zieht mich magisch zu dem Neugeborenen, obwohl ich ansonsten kaum etwas für Menschenkinder übrighabe – außer als Mahlzeit oder zukünftiger Lakai. Nun ja, falls der Mensch über besondere Fähigkeiten verfügt. Ich verspüre keinen Blutdurst, der mich zu ihm führt. Es ist etwas anderes. Etwas Mächtiges, Uraltes, das ich nicht benennen kann.
Besitzt das Kind eine übernatürliche Fähigkeit? Wenn ja, welche?
Noch bevor ich den Drachenkopf erreicht habe, geht ein starker Ruck durch meinen Körper. Eine Pfeilspitze bohrt sich in meine rechte Schulter. Das Silber brennt wie glühendes Eisen. Es schmerzt bestialisch, schwächt mich, aber bringt mich nicht um.
»Wer war das?«, zische ich. Sofort fahre ich mit gefletschten Zähnen herum. »Wer hegt als Nächstes einen Todeswunsch?«
Unter mir liegen meine Lakaien – geköpft – vor den Steinstufen des Throns. Wie …?
In der Hand eines schwarz gekleideten und mit einem Tuch vermummten Kriegers baumelt ein Kopf, den er anschließend in hohem Bogen in das blutrote Wasserbecken hinter sich wirft. »Der Nächste, der zu Asche zerfallen wird, seid Ihr!«
Zornig balle ich die linke Hand zur Faust.
Wer ist er? Ich kann sein schlagendes Herz hören, seinen Kampfeifer in seinen stechend grünen Augen ablesen, seine Erschöpfung kurzzeitig an seiner Haltung erkennen. Ganz offensichtlich ist er ein Mensch. Ein Krieger des Reiches Nardom, der mir in die Quere kommt und beseitigt werden muss.
Kein Problem!
Knurrend entferne ich den Pfeil aus meiner Schulter, bevor ich schallend auflache. Mit voller Wucht schleudere ich ihm den Pfeil entgegen, dem er wendig ausweicht.
Ich nehme Entschlossenheit, Mut und Willensstärke wahr. Endlich. Seit Langem stehe ich wieder einem Menschen gegenüber, dem nicht vor Angst die Knie schlottern oder der panisch den Rückzug antritt, nachdem er mir ins Gesicht geblickt hat.
Beeindruckend schnell überwindet er die Stufen, rennt auf den Steinsessel rechts vom Thron zu, steigt auf ihn und stößt sich in einem rasanten Sprung von der Lehne ab.
Mitten in der Luft absolviert er einen Salto, bei dem er seine zwei Klingen vom Rücken zieht und sie, bereit für den Todesstoß, herabsenkt.
Nicht schlecht. Aber auch nicht gerade beeindruckend.
Gelangweilt hebe ich die rechte Braue und ziehe in Sekundenschnelle meine schwarze Klinge, um seinen Angriff zu parieren, als ich unerwartet von einem harten Tritt unterm Kinn rücklings die Stufen hinabkatapultiert werde.
Ein verfluchtes Täuschungsmanöver!
Ich war so sehr auf die zwei Klingen fokussiert, dass ich den Tritt nicht kommen sah.
Das passiert mir kein zweites Mal!
»War das schon alles, Vampirlord?«
Wütend erhebe ich mich vom Steinboden, schwinge meinen Umhang zurück und korrigiere meinen Kiefer, der während des Aufpralls ausgerenkt wurde.
»Fein! Genug gespielt.« In übermenschlicher Geschwindigkeit rase ich auf den schwarzen Krieger, der seine untere Gesichtshälfte unter einem Tuch verbirgt, zu und treibe ihn mit mehreren harten Hieben zurück. Niemand verhöhnt mich! Erst recht kein vermummter Mensch.
Einigen Angriffen weicht er rasch aus, andere lenkt er geschickt ab.
»Wie, bei den Untoten, ist das möglich?!«, knurre ich.
Während meiner fünfhundertjährigen Existenz bin ich keinem Menschen begegnet, der sich so schnell und geübt bewegen konnte. Es wäre beinahe zu schade, ihn zu töten.
»Dabei bin ich noch nicht mal aufgewärmt, während Euch schon die Puste ausgeht, so scheint es mir«, verhöhnt mich dieser Bastard.
Aus den Augenwinkeln schaue ich zu dem Neugeborenen.
»Verzeih, wenn ich für gewöhnlich meine Lakaien die niederen Arbeiten erledigen lasse. Mir ist nicht nach einem Kampf. Heute ist dein Glückstag, ich lasse dir dein erbärmliches Leben.«
In der nächsten Sekunde stehe ich neben dem Drachenkopf, dessen Zähne sich bereits in den Brustkorb des schreienden Neugeborenen senken.
Ich will dieses Kind und nicht länger meine Zeit mit dem Krieger vergeuden. Denn es ist ganz offensichtlich, dass er Minute um Minute schindet.
Ein rubinroter Blutfleck breitet sich auf den hellen Tüchern, in die der Säugling gewickelt ist, aus. Und jetzt, endlich, kenne ich das Geheimnis. Das Blut offenbart es mir, denn der Saft des Lebens lügt nie und verrät sämtliche Geheimnisse.
Ich kann ihn riechen, schmecken, wie eine unsichtbare Macht in mir spüren. Den Tod! Augenblicklich flammt die Gier in meinem Inneren auf und meine Augen weiten sich.
Seit Jahrhunderten wurde kein Kind mehr mit dem unbesiegbaren Todesfluch geboren.
Ich will es. Es gehört mir!
Gerade als ich die Hände nach ihm ausstrecken will, beben die Steinplatten unter meinen Füßen. Ein gewaltiger Riss teilt den Boden des Saals in zwei Hälften, sodass ich unerwartet in den Abgrund stürze. Rasch breite ich meine Schattenschwingen aus, umfliege die herabstürzenden Gesteinsbrocken und halte auf das Neugeborene zu. Doch der schwarze Krieger kommt mir zuvor, klemmt ein Messer zwischen den Ober- und den Unterkiefer des Drachenmauls, damit die Mechanik gestoppt wird, und befreit das Kind.
»Ihr bekommt es nicht. Es sollte weder sterben noch sich in Euren dreckigen Händen befinden. Nardom mag fallen, so wie es das Schicksal will. Und als Nächstes fällt Euer Reich – durch die Hand dieses Kindes.« Er schleudert mir zwei versilberte Messer entgegen, die meine Flügel zerschneiden.
Ein greller Schmerz durchzuckt meinen Körper.
»Niemals!«, antworte ich, stürze wütend auf den Krieger zu, der das einzige Wesen in den Händen hält, das meine Unsterblichkeit mit nur einer Berührung beenden kann.
Hinter mir erheben sich meine Lakaien. Sie weichen den gewaltigen Steinsäulen, die über uns zusammenstürzen, aus.
Ohne zu zögern, jage ich dem vermummten Krieger hinterher, als ein großer Gesteinsbrocken herabfällt, der den Durchgang hinter dem Thron versperrt, durch den der Krieger geflohen ist.
»Folgt ihm! Jagt ihn bis zur völligen Erschöpfung!«, herrsche ich meine Lakaien an. »Fasst ihn. Ich will das Kind! Lebend.«
KAPITEL 1
KAYTHARA
»Es ist zu deinem Besten, das weißt du doch«, erklärt mir Lord Naython, der mich zurück in das Gewölbe begleitet.
Ich kann mich kaum auf den Füßen halten, doch meine Arme sind über die Schultern zweier Wächter gelegt. Würden sie nicht meine Handgelenke umfassen, ich bräche unter meinem eigenen Gewicht zusammen.
Ich fühle mich jedes Mal von der Lichtbehandlung so unsagbar erschöpft. So ausgelaugt und schwach.
Lord Naython stolziert vor allen anderen den dunklen Korridor, der vom flackernden Kerzenschein ausgeleuchtet wird, entlang. Seine Präsenz wirkt in diesem Moment noch selbstsicherer als sonst. In seiner rot bestickten dunklen Jacke mit den goldenen Zierknöpfen und der schmal geschnittenen schwarzen Hose, die in polierten Stiefeln steckt, hält er die Hände locker auf dem Rücken verschränkt, während ich die einzelnen Türen zähle, an denen ich vorbeigeschleift werde.
Noch fünf Türen. Gleich habe ich es geschafft.
»Der König Dywans wäre so stolz auf dich, Kaythara. Du machst Fortschritte. Mit jeder Sitzung wird der bösartige Fluch mehr von dir genommen. Spürst du, wie sich die tödliche Gabe allmählich aus deinem Körper zurückzieht?«, fragt Lord Naython.
Selbst wenn er mir Fragen stellt, ist es mir verboten zu antworten. Es gilt das Gesetz des Schweigens im Tempel des schwarzen Mondes. Keine Frau, die hier, hoch oben im Gebirge, untergebracht ist, darf ungefragt sprechen. Es sei denn, sie wird dazu aufgefordert. Um ehrlich zu sein, würde mir im jetzigen Moment das Reden ohnehin schwerfallen. Meine Zunge fühlt sich taub an, in meinem Kopf dehnt sich ein unaufhörlicher Schwindel aus, während mir meine Beine und Arme nicht mehr gehorchen.
Könnte ich ihm antworten und würde ich dazu aufgefordert werden, wäre das, was ich sagte, eine Lüge. Denn nein, ich verspüre keine Besserung oder Heilung. Nach jeder Sitzung, die von Lichtmagiern abgehalten wird, um dem grauenvollen Fluch, der auf mir lastet, entgegenzuwirken, fühle ich mich kurzzeitig … anders. Doch schon Tage später kehrt der Todesfluch stärker zurück als zuvor. Ich lasse es Lord Naython nicht wissen. Nicht weil ich ihn belügen will, sondern weil ich die Lichtbehandlung nicht mehr aushalte und er von den Ergebnissen enttäuscht wäre. So wie ich auch.
Jeder Atemzug ist die reinste Qual, während mein Herz unsagbar schnell zwischen meinen Rippen schlägt, sodass ich Sorge habe, es könnte sich nicht mehr beruhigen. Mir ist heiß und kalt zugleich, ich fühle mich elender als nach einer schweren Grippe.
»Da sind wir schon.« Lord Naython schnippt mit den behandschuhten Fingern, schon wird von einer Wache die Tür zu meinen Räumen geöffnet. Die schwere Eichentür schwingt auf, als gleichzeitig meine Augenlider immer träger werden.
»Ruh dich aus, Kaythara. Du hast es dir verdient. Ich werde dem König von deiner hervorragenden Leistung berichten.«
Noch bevor ich zu Lord Naython aufblicken kann, werde ich mithilfe der zwei Wächter in meine Räume gebracht.
Mich empfängt ein Gefühl von Sorglosigkeit und Vertrautheit. Mein Zimmer ist sehr klein, von rauen Steinwänden umgeben und mit einem winzigen runden Fenster ausgestattet. Auf dessen Sims versuche ich verzweifelt, zwei Pflanzen am Leben zu erhalten. Dann gibt es ein schmales Holzbett, das links von mir in einer Nische steht, ein Tischchen mit Stuhl rechts neben der Tür und einen schmalen Kleiderschrank sowie einen Schemel vor einem Waschtisch am Fußende des Bettes.
In meinem Schrank befindet sich, ordentlich zusammengefaltet, die immer gleiche Kleidung. Schwarze knöchellange Kleider, deren Ärmel bis zu den Handgelenken reichen, mit einem hochgeschlossenen Kragen, der von zwei silbernen Knöpfen zusammengehalten wird.
Auch jetzt trage ich eines dieser schwarzen Kleider – wie jede Frau, die im Tempel der Verfluchten untergebracht wurde. Allerdings wurde der Stoff meiner Kleider verstärkt.
»Legt sie vorsichtig aufs Bett«, befiehlt Lord Naython, bevor mir eine Wache unter die Arme greift und der andere Wächter meine Fußknöchel umfasst.
Obwohl ich unter dem schlicht geschnittenen Rock Strümpfe trage, kann ich flüchtig erkennen, wie sich Furcht auf den Gesichtern abzeichnet und sich Schweißperlen auf ihrer Stirn bilden. Sie haben Angst, mich zu berühren. Und die sollten sie auch haben, wenn sie nicht sterben wollen.
»Nur nicht so zögerlich, Wächter Jaro. Du überlebst das schon, wenn du ihre Haut nicht anfasst.«
»Letzte Woche hat sie einen Wächter umgebracht, der ihr in der Küche eine Schüssel reichen wollte.«
Richtig. Er ist gestorben, weil ich unachtsam war. Sein Name lautete Othes. Er war so freundlich, die Schüssel zum Abwasch zu bringen. Als er mir ein Lächeln schenkte und mich dabei eingehend betrachtete, stellte er die Schüssel ins Wasser. Ich trug zwar Handschuhe bei der Arbeit, die Ärmel hatte ich aber hochgeschoben, damit mein Kleid nicht nass wurde.
Kaum hatten seine Fingerspitzen meinen rechten Unterarm berührt, erstarrte er. Ich schrie auf und wollte ihn auf Abstand bringen, doch es war bereits zu spät. Das dunkle Haar unter seinem Helm wurde silbergrau, seine braunen Augen trübten sich ein, sein Blick senkte sich und in sein junges Gesicht gruben sich tiefe Falten.
Es genügen etwa fünf Sekunden, in denen entfaltet sich mein Fluch komplett. Nach einer Sekunde altert ein Mensch um ungefähr zehn Jahre. Nach zwei Sekunden um vierzig Jahre und nach etwa vier bis fünf Sekunden um seine gesamte Lebensspanne.
Jedes Mal ist der Ablauf der gleiche. Der Mensch vergeht in Rekordgeschwindigkeit, bis sein Herz versagt und er umfällt. So auch Othes, der schwer atmend zu Boden sank und neben meinen Füßen mit weit aufgerissenen Augen regungslos liegen blieb.
Die anderen Bediensteten in der Küche hörten meine Schreie, traten an uns heran und bekreuzigten sich. Hinter dem Schleier, der mir bis zum Kinn reichte, sah ich hilflos zu ihnen auf.
»Macht etwas. Holt einen Heiler!«, rief ich immer und immer wieder, obwohl ich wusste, dass es längst zu spät war.
»Todesbotin«, wisperte Marya, die älteste Köchin, mit weit aufgerissenen Augen. Bisher hatte sie nie gesehen, wozu mein Fluch imstande war. »Grauenvoll. Das ist eine … Teufelsgabe.«
Während ich Tränen um Othes vergoss, betraten Wächter die Küche. Kurz darauf wurde das Horn geblasen und mir wurden drei Lichtbehandlungsstunden mehr aufgebürdet. Nicht als Bestrafung, sondern zur Heilung. Denn ich befand mich wie viele andere junge Frauen mit gefährlichen Flüchen an diesem Ort, um gesund zu werden. Von Satans Fluch entbunden.
»Othes ist aus dem Grund von uns gegangen, weil er unachtsam war«, erklärt Lord Naython mit seiner hochnäsigen Art. »Berührt Kaythara nur an der Kleidung, die extra für sie angefertigt wurde, und ihr werdet nicht sterben, ihr Armleuchter!«
Die Wächter haben berechtigte Gründe, vorsichtig zu sein. Ich wäre es an ihrer Stelle ebenfalls. Als ich ins Bett gelegt werde, tritt Lord Naython persönlich an mich heran und breitet die Decke über meinen Körper.
»Schlaf ein wenig. Ich werde dafür sorgen, dass du schnell genesen wirst.«
Mein Sichtfeld verschwimmt, als ich Lord Naython entgegenblicke und er mit diesem kühlen Lächeln auf mich herabsieht. Gleich darauf kann ich nicht länger gegen die Erschöpfung ankämpfen und sinke in einen tiefen Schlaf, der mich durch quälende Albträume schickt.
Blinzelnd öffne ich die Augen. Das Klappern von Geschirr dringt an meine Ohren. Mit trübem Blick beobachte ich, wie ein Wächter in der rot-schwarzen Uniform – sie alle sind in den Farben der Königsflagge Dywans gehalten – ein Tablett auf einem Schemel abstellt und anschließend zu mir schaut. Seine schwarzen Haare sind oben zusammengebunden, die unteren reichen ihm knapp bis zur Schulter, während zwei dunkle Strähnen über seine markanten, ausdrucksstarken Augenbrauen fallen. Ich habe ihn bisher bloß im Garten Wache halten oder mit den anderen trainieren sehen und kenne nicht einmal seinen Namen. Seine Augen, die mich an die wolkenlose Dämmerung erinnern, starren beinahe unangenehm und länger als nötig in meine Richtung.
Viele neue Wächter schauen mich so an.
Sie sehen in mir die schwarzhaarige junge Frau mit dem kreidebleichen Gesicht, dem zierlichen Körper und den wasserblauen Augen, die sicher keiner Fliege etwas zuleide tun kann. Jedes Mal suchen sie vergebens in meinem Gesicht die Anzeichen eines Fluchs.
Soll er mich anstarren. Ich erwidere seinen aufdringlichen Blick nicht länger. Rasch schließe ich die Augen, da ich keinen Appetit habe. Mein Magen grummelt, doch der pelzige Geschmack von Krankheit liegt auf meiner Zunge. Ich bin zu müde, um mich allein aufrichten zu können.
Erst als ich eine hauchzarte Berührung auf meiner Stirn wahrnehme, reiße ich die Augen auf. »Nicht!«, stoße ich mit kratzigen Stimmbändern hervor.
Hat er mich tatsächlich berührt? Weiß er nicht, dass eine Berührung seinen Tod bedeuten kann?
»Du hast Fieber«, antwortet er besorgt und legt seinen Handballen auf meine Stirn. Ist er lebensmüde?
»Keine Sorge, ich trage Handschuhe«, beruhigt er mich, als wäre er imstande, meine Gedanken zu lesen.
Erleichtert atme ich flach aus, als ich seine Worte höre. Ich hätte vor Verzweiflung aufgeschrien, wenn er tot zu Boden gesunken wäre. Mein dreiunddreißigstes Opfer. Aber möglicherweise hat die letzte Therapiesitzung geholfen und ich bin geheilt.
Zögerlich erwidere ich seinen Blick, da er mich eingehend mustert und mein Gesicht betrachtet, als hätte er es noch nie zuvor gesehen. Vermutlich weil er es noch nie zuvor gesehen hat, da ich es täglich hinter einem Schleier verstecke.
»Ich habe dir dein Frühstück gebracht. Die Küche hatte die Anweisung, dir ein Mahl wie das eines Lords zuzubereiten – als Belohnung für deine Ausdauer während der Lichtsitzung.«
Wie groß wird die Enttäuschung sein, wenn Lord Naython erfährt, dass alle Mühen wieder nichts bewirkt haben? Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, irgendwann wie ein normaler Mensch leben zu können, ohne andere zu verletzen oder zu töten.
Weiterhin starre ich den Wächter nur an.
»Stimmt, du wartest wohl auf meine Aufforderung zu sprechen. Du darfst es tun.«
Keuchend rolle ich mich auf die Seite, da mir der Rücken vom langen Liegen schmerzt. »Ich habe keinen Hunger«, antworte ich. »Ich möchte nur schlafen.«
Langsam schließe ich die Augen, um zurück in die Träume zu flüchten. Es ist allemal erträglicher als die Schmerzen, auch wenn ich von Albträumen geplagt werde.
»Du hast beinahe zwei Tage nichts gegessen, nur Kräutertee getrunken. Du solltest etwas zu dir nehmen.«
Widerwillig schüttle ich schwach den Kopf, ohne die Augen zu öffnen.
»Ging es dir nach jeder Behandlung so schlecht?«
Warum will er das wissen?
Nur wenige Menschen wollen an diesem Ort hören, wie ich mich fühle. Denn Gefühle zu zeigen, ist hier etwas, was untersagt ist. Keine der Frauen, die im Tempel des schwarzen Mondes leben, darf weinen, lachen, glücklich oder traurig sein, um die Wächter nicht zu manipulieren und sich ihr Mitgefühl oder Vertrauen zu erschleichen. Aus diesem Grund tragen wir alle dieselbe dunkle Kleidung und die Gesichter versteckt hinter einem Schleier. Es ist strengstens untersagt, die Männer mit unseren weiblichen Reizen zu beeinflussen.
»Du darfst antworten«, setzt er nach.
Ich darf antworten?
Für gewöhnlich werde ich mit den Worten »Sprich, Kaythara!« zum Reden aufgefordert.
»Nein«, hauche ich. »Nicht so schlecht wie jetzt.« Ich muss mich erkältet haben, bevor die Sitzung stattgefunden hat. Oder aber die Heilung erfolgt, und mein Körper wehrt sich gegen den Fluch, um ihn endlich loszuwerden.
Plötzlich höre ich wieder Geschirr klappern und glaube, dass er geht und das Tablett mitnimmt. Doch dann wird etwas vor dem Bett abgestellt. Vorsichtig öffne ich die Augen einen Spaltbreit und schaue auf das voll beladene Tablett mit geschnittenem Gemüse aus dem Tempelgarten und frisch gebackenem Brot sowie duftendem Käse und einem Glas Milch. Milch und Käse sind kostbare Lebensmittel, die den Adligen vorbehalten sind.
»Du wirst etwas essen«, insistiert er weiterhin. »Ich werde nicht eher gehen, bis du etwas zu dir genommen hast.«
Sein Ernst? Was soll das?
Zwing mich nicht, denke ich, denn er wäre dazu in der Lage. Der Anweisung eines Wächters ist stets Folge zu leisten.
Nachdem er meinen Stuhl vom Schreibtisch ans Bett getragen hat, nimmt er auf ihm Platz und beginnt damit, die Brotscheiben mit Käse zu belegen.
Was soll das werden?
Stirnrunzelnd verfolge ich, wie er mir das Brot entgegenhält. »Beiß ab!«
In seinen tiefvioletten Augen lese ich den unmissverständlichen Befehl, ihm zu gehorchen. Da es Konsequenzen nach sich zieht, wenn ich mich ihm widersetze und er mein Fehlverhalten dem Hauptmann meldet, öffne ich den Mund. In meinem Zustand kann mein Körper keine weiteren Schmerzen ertragen.
Er hält mir das Brot entgegen und ich beiße ab. Ich schmecke kaum etwas – als bestünden das Brot und der Käse aus kalter Asche.
»Ein weiteres Mal. Na los!«, fordert er mich auf.
Es kostet mich Mühe, nicht die Augen zusammenzukneifen oder sie zu verdrehen. Wieder beiße ich ab, nachdem ich den ersten Bissen hinuntergeschluckt habe. »Besser? Bist du jetzt zufrieden?«, frage ich genervt.
»Nicht zufrieden, aber immerhin hast du etwas gegessen. Besser als gar nichts. Im Übrigen kannst du weiterhin mit mir reden, wenn du das willst. Ich finde, du hast eine wirklich sehr schöne Stimme.«
Sofort verdüstert sich mein Blick. Meine Stimme ist gewöhnlich, weder besonders noch schön. Warum schmeichelt er mir?
Ist er einer dieser aufdringlichen Lustmolche, von denen mir andere Fluchkinder erzählt haben?
Skeptisch schaue ich zu ihm auf und schüttle stur den Kopf. Besser, ich halte den Mund. Lord Naython sieht es nicht gern, wenn ich eine Plauderei mit einem Wächter abhalte.
»Das deute ich als Nein.«
Absolut richtig verstanden.
Er seufzt enttäuscht. »Wieso willst du nicht mit mir reden?«
Weil ich nicht weiß, worüber, und ich mir nicht sicher sein kann, dass er nicht dem Hauptmann davon berichtet. Das Risiko gehe ich nicht ein.
»Sag mir, wieso nicht?«
»Weil ich schlafen möchte«, antworte ich ihm. »Ich schaffe keinen weiteren Bissen mehr. Danke für deine Mühe, aber bitte geh jetzt.«
Ein düsterer Zug flackert über seine funkelnden Augen, bevor er das Brot zurück aufs Tablett legt. »Dann wirst du wenigstens die halbe Tasse Tee trinken.«
Nun verdrehe ich doch die Augen. Er lässt einfach nicht locker. »Der Tee schmeckt abscheulich.«
»Meiner nicht«, kontert er mit diesen spöttisch zuckenden Mundwinkeln.
Er ist mir nicht geheuer.
Einen Moment später hält er mir die dampfende Tasse mit dem herben Kräutertee an den Mund. Zugleich hebt er unaufgefordert meinen Hinterkopf an, damit ich besser trinken kann. Um mich nicht mit Tee zu besudeln, öffne ich die Lippen und nehme einige Schlucke zu mir. Er schmeckt nicht bitter und unappetitlich wie sonst, sondern sehr mild und leicht fruchtig. Der Wächter hat nicht gelogen.
»Das machst du sehr gut. Jetzt lasse ich dich in Ruhe. Ich sehe später nach dir.«
Bitte nicht, würde ich am liebsten laut antworten.
Behutsam legt er meinen Kopf zurück auf das flache Kissen, umfasst die Griffe des Tabletts und erhebt sich mit seiner großen, einnehmenden Präsenz. Nicht lange und vor meinen Augen verschwimmt seine Gestalt und ich sinke zurück in den Schlaf.
KAPITEL 2
KAYTHARA
Am nächsten Tag erhebe ich mich aus dem Bett. Ich fühle mich wesentlich besser als noch vor wenigen Stunden. Eigentlich beinahe wie geheilt. Was, wenn mein Körper die Krankheit überstanden hat und ich gesund geworden bin?
Ich muss es testen. Ohne körperliche Beschwerden steige ich in dem schwarzen Gewand aus dem Bett und laufe zu den Pflanzen, die auf dem Sims am Fenster stehen. Als ich ein Blatt der Mohnblume mit meinen behandschuhten Fingern abzupfe, atme ich hoffnungsvoll durch. Ich ziehe mit den Zähnen den Handschuh meiner linken Hand ab, dann berühre ich es. Ein winziger Hoffnungsschimmer dehnt sich in meinem Brustkorb aus, der schnell verblasst, als das Blatt vor meinen Augen verwelkt und als vertrockneter Überrest zwischen meinen Fingern zerbröselt.
»Nein«, flüstere ich. »Nein, nein, nein. Bitte, stirb nicht.« Die Therapiesitzung hat wieder nicht geholfen. Im Gegenteil. Der Zerfall des Blattes hat schneller eingesetzt als die Male davor.
Von dem Klopfen an meiner Tür zucke ich zusammen. Rasch streife ich mir den Handschuh über und drehe mich der Tür zu, die gerade aufgeschlossen wird. Dahinter empfängt mich Lord Naython mit einem breiten Grinsen. Das sandblonde Haar aus seinem attraktiv gezeichneten Gesicht gestrichen, studiert er mich wachsam.
»Kaythara, du bist auf den Beinen. Sehr erfreulich. Deine Lehrerin erwartet dich bereits zum Unterricht. Zieh dich um und begib dich unverzüglich in den Garten. Die anderen Mädchen können es kaum erwarten, dich wiederzusehen, und waren sehr besorgt um dich.«
An diesem Ort habe ich wenige Freundinnen gefunden. Und die zwei Frauen, mit denen ich hin und wieder Worte austausche, würde ich nicht als Freundinnen bezeichnen. Denn jeder fürchtet sich vor mir, und das nicht bloß wegen des Fluchs, der auf mir lastet, sondern wegen meiner rebellischen Art.
Wie an jedem Morgen findet der Bewegungsunterricht im Gartentempel statt, damit unsere Körper stärker werden und den Flüchen Widerstand leisten.
Nachdem ich mich im Eiltempo umgezogen, gewaschen und mein Haar zu einem Zopf zusammengebunden habe, begebe ich mich in den blühenden Tempelgarten. Die Sonne blitzt in Abständen hinter weißen Wolken hervor, Vögel zwitschern aufgeregt in den umliegenden alten Eichen und einige Grüppchen neugieriger Besucher laufen mit Sonnenschirmen über die gepflegten Wege des Gartens.
Lord Naython begleitet mich höchstpersönlich zum Unterricht und studiert mich eingehend. Mir gefallen seine aufdringlichen Blicke nicht. Jedes Mal sieht er mich an, als würde er mich mit einem Happen verspeisen wollen.
Im Grunde verdanke ich diesem Mann sehr viel. Als ich sechs Jahre alt wurde, hat er sich meiner angenommen. Jedes der Fluchkinder erhält einen Erzieher, der es bis zur Vollendung des zweiundzwanzigsten Lebensjahres betreut.
Lange Zeit wollte sich kein Lord bereit erklären, sich meiner anzunehmen. Bis Lord Naython in den Tempel zu Besuch kam, davon erfuhr, dass ich noch keinen Erzieher hatte, und sich, ohne zu zögern, anbot.
Lord Naython ist ein äußerst strenger Lehrer, doch hin und wieder zeigt er auch eine fürsorgliche Seite, motiviert mich, unterstützt mich nach den Sitzungen und hilft mir dabei, zu heilen. Zwar hat er mehr als einmal die Hand gegen mich erhoben und kennt keine Gnade, wenn ich eine der Regeln nicht einhalte, doch ihn dafür hassen kann ich nicht. Er glaubt an mich und meine Genesung. Wenn er nicht mehr wäre, würde ich vermutlich bis zum Tod in einem Keller dahinvegetieren. Das hat er mir mehr als einmal erklärt. Bin ich gehorsam und halte mich an die Vorgaben, geht es mir gut. Breche ich die Regeln und zeige meine rebellische Seite, muss ich mehrere Tage hungern und kassiere Schläge. Ich musste mehr als einmal lernen, mein Temperament zurückzuhalten. Es bedeutet aber nicht, dass es erloschen ist.
Ich bin nicht durch und durch gehorsam, ich habe bloß gelernt, mich anzupassen, um an diesem Ort zu überleben.
»Gut siehst du aus. Vor einem Tag hat man mir berichtet, du hättest Fieber. Wie mir scheint, macht die Heilung Fortschritte.«
Wenn er wüsste …
Stur schaue ich im Gehen geradeaus, als wir den Wandelgang passieren und anschließend über einen gepflasterten Weg an den Gemüsebeeten und Blumengärten vorbeilaufen. Unter drei großen Eichen haben sich bereits sechs weitere Frauen meines Alters unter den strengen Blicken von Lady Inora, die ihre verschränkten Arme auf dem Holzstock aufstützt, versammelt.
»Dann sind wir nun vollzählig«, merkt sie an. »Du hast einige Übungen aufzuholen, Kaythara.«
Ohne zu nicken, besehe ich das Gras mit einem finsteren Blick. Soll sie sich doch der Lichtbehandlung aussetzen und danach so schnell genesen, um wieder am Training teilnehmen zu können …
Lady Inora ist eine sehr disziplinierte Lehrerin, die Fehler nicht duldet. Öfter schreit sie uns Schülerinnen an und kränkt uns mit schnippischen Bemerkungen. An mir beißt sie sich aber die Zähne aus.
Entschlossen halte ich auf den Köcher zu, in dem sich zwei weitere Holzstangen befinden, ziehe eine heraus und geselle mich zu Geniya und Zinora, die mich hinter ihren Schleiern mit fragenden Blicken mustern. Ich besehe beide mit einem knappen Lächeln, was die anderen nicht bemerken.
»Ich werde eine Weile zuschauen.« Lord Naython bleibt mit seinen Wächtern am Rand des Trainingsfeldes stehen, um uns bei den Übungen zu beobachten wie ein Adler seine Beute.
»Mädchen«, verkündet Lady Inora, die ebenfalls ein schwarzes Kleid trägt, um das im Gegensatz zu unseren ein goldener Hüftreif liegt. Außerdem sind ihre Ärmel und der tiefe Ausschnitt mit roten Blüten bestickt. Ihr geflochtenes rabenschwarzes Haar ist wie üblich als Kranz um ihren Kopf festgesteckt.
»Jede von euch sucht sich eine Partnerin, mit der ihr die Übungen vom gestrigen Tag wiederholt.«
Volltreffer. Wie soll ich wissen, wie die Übungen ablaufen, wenn ich gestern nicht anwesend war?
Wie zu erwarten haben alle Frauen ihre übliche Partnerin gewählt, während ich leer ausgehe. Das ist keine Seltenheit. In diesen Momenten nimmt sich Lady Inora meistens meiner an, und ich schwöre, sie macht mich jedes Mal absichtlich fertig. Ich will nicht behaupten, dass ich eine miserable Stabkämpferin bin, aber sie treibt mich jedes Mal bis zur Erschöpfung.
»Du lebst am längsten in diesem Tempel, Kindchen, und hast immer noch keinen Anschluss gefunden«, lässt Lady Inora den freundlichen Kommentar fallen.
Gefühllos starre ich ihr entgegen.
»Schau mich nicht so an. Warte am Rand, bis ich dir eine Partnerin zuteile oder Zeit für dich finde.«
Natürlich. Ich bin hier, um zu warten.
Dennoch kann ich zuschauen und lernen. Und ich will lernen, meinen Körper zu stärken, um den Fluch vollends loszuwerden.
Keuchend lasse ich den Holzstab in meiner rechten Hand kreisen, anschließend sinken und marschiere zum Rand des Trainingsfeldes, der von blühenden Rosensträuchern markiert wird.
Im Grunde tut mir Lady Inora einen Gefallen. Denn wenn mein Fluch mächtiger als zuvor zurückgekehrt ist, könnte ich eine der Frauen töten. Im Gegensatz zu mir werden die anderen von keinem so grausamen Fluch heimgesucht.
Zinora, eine schüchterne blonde Siebzehnjährige, beherrscht die Sprache des Wassers. Sie kann es in seiner beliebigen Form wandeln und lenken, Wassertropfen in der Luft schweben lassen, den Regen rufen und Bachläufe verändern, während Geniya ganze Schluchten mit ihrem Fluch in den Erdboden graben kann. Sie ist in der Lage, Sandstürme zu erzeugen, totem Boden wieder Leben einzuhauchen und ganze Berge zum Erzittern zu bringen.
Andere können den Sturm bändigen, Geister beschwören oder über das Feuer gebieten. Bei mir hingegen fallen Lebewesen bloß tot um. Mein Fluch – es als Gabe zu sehen, ist mir nicht möglich – ist der gefährlichste von allen. Warum nur hat mich der Allmächtige damit bestraft? War diese Fähigkeit als einzige übrig, als es zur Verteilung kam?
Ungeduldig warte ich am Rand des Feldes und beobachte, wie die Frauen paarweise ihre Positionen einnehmen. Gelangweilt stütze ich das Kinn auf dem Stabende, das mir bis unter den Hals reicht, ab.
»Ich melde mich als ihr Partner«, ruft plötzlich eine männliche Stimme hinter den Rosensträuchern.
Ich glaube, ich habe mich verhört?
Verwundert hebe ich das Gesicht und drehe es über die Schulter. Unter der Pergola tritt ein hochgewachsener Mann mit mitternachtschwarzem Haar und funkelnden dunkelvioletten Augen hervor. Es ist der Wächter, der mir gestern das Essen ins Zimmer gestellt hat.
Was soll das? Das kann nicht sein Ernst sein?
Einem Wächter ist es untersagt, mit uns Frauen zu trainieren. Er sollte doch das Regelwerk kennen, schließlich wurde er nicht erst gestern eingestellt. Wenn ich es so recht überlege, müsste er bereits um die vier bis fünf Monate hier tätig sein.
Lord Naython wendet sich ihm mit einem verblüfften Gesichtsausdruck zu und hebt die rechte Braue. »Wächter Mordan«, meint er überheblich. »Es ist nicht gestattet, den Unterricht zu stören. Die jungen Frauen werden ansonsten unkonzentriert. Nicht vorhandene Konzentration führt zu Fehlern.«
Und Fehler zum Versagen, ergänze ich in Gedanken.
»Und Fehler zum Versagen.«
Wie gut ich diese Phrase bereits auswendig kenne. Wie ein nerviges Mantra, das jeden Tag aufgesagt wird.
Interessiert mustere ich diesen Mordan, der sich kein bisschen von Lord Naythons Gerede beeindrucken lässt.
»Sie wird sich von mir nicht ablenken lassen, keine Sorge, Lord.« Das Wort Lord spuckt er beinahe wie eine Beleidigung aus.
Ist er sich im Klaren, mit wem er spricht? Verdammt, er sollte aufpassen, was er sagt, wenn er seinen Kopf weiterhin auf den Schultern tragen will. Lord Naython darf man nicht reizen.
»Im Gegenteil, sie kann noch sehr viel von mir lernen.«
Damit hat er nicht unrecht. Denn die Wächter stehen sehr gut im Training und haben eine bessere Ausdauer als wir Frauen, die lächerliche Stangen herumwirbeln.
Nun erhebt sich Lord Naython mit seiner imposanten Präsenz von der steinernen Sitzbank, richtet gelassen seine Jackenärmel und starrt Mordan mordlüstern unter seinem halb gesenkten Gesicht entgegen. Dabei grinst er verboten.
»Nun gut, Wächter Mordan. Wenn es dein Wunsch ist, gegen eine der besten Kämpferinnen anzutreten, nur zu.«
Lord Naython deutet mit einer galanten Handbewegung an, sich auf den Übungsplatz zu begeben.
Langsam richte ich mich auf und mustere jeden Schritt, den Mordan in seiner Wächteruniform auf mich zu macht. Das könnte interessant werden. Flüchtig schaue ich zu Lord Naython, der mir hinter Mordan zustimmend zunickt.
»Keine Sorge, ich lasse noch etwas von ihr übrig«, antwortet Mordan selbstsicher und kann sein schiefes Grinsen in meine Richtung nicht verbergen.
Nachdem er an Lady Inora vorbeimarschiert ist, um ebenfalls einen Stab auszuwählen, gehe ich mit schnell pochendem Herzen auf ihn zu. Als Mordan seinen Umhang abgelegt und die Ärmel seiner schwarzen Tunika bis zu den Ellenbogen hochgerollt hat, tritt er mit seiner schmal geschnittenen schwarzen Hose, einem Gürtel, an dem mehrere Messer befestigt sind, Handschuhen und der dunklen Tunika, bei der die obersten drei Knöpfe am Ausschnitt offen stehen, an mich heran. Im Gehen wird er den roten Umhang los, auf dem das Wappen des schwarzen Halbmondes prangt, und hängt ihn an einen Baum. Auf Mordans Handgelenken entdecke ich seltsame dunkle Schriftzüge, die sich wie eine Art Armreif um seine Gelenke schmiegen. So etwas habe ich bisher noch nicht gesehen.
Lady Inora klatscht in die Hände. »Mädchen, zieht euch zum Rand des Übungsfeldes zurück. Ihr dürft das Training fortsetzen, sobald einer der beiden am Boden liegt und der Kampf beendet ist.«
Wunderbar. Das wird mir schneller gelingen, als Mordan seinen Stab überhaupt einmal zwischen den Händen drehen kann.
Unter den wachsamen Blicken der anderen trete ich dem Wächter gegenüber, der nur Augen für mich hat und die Zuschauer komplett ausblendet. Ich hingegen höre, wie sich Lady Inora mit Lord Naython leise darüber austauscht, ob es eine kluge Idee ist, einen Wächter mit einer Fluchträgerin kämpfen zu lassen.
»Sei nicht zögerlich. Zeig, was du draufhast«, raunt mir Mordan zu.
Er hat doch keine Ahnung, wie gut ich wirklich trainiert bin, obwohl ich genau weiß, dass die Wächter ebenfalls täglich ihre Schwert- und Nahkämpfe üben. Ich darf Mordan nicht unterschätzen.
Ihm gegenüber stemme ich den Holzstab, der an beiden Enden mit kunstvollen Metallbeschlägen verhärtet wurde, in den Boden, dann verbeuge ich mich. Was er ebenfalls nachmacht.
Als ich aufsehe, blitzt in seinen Augen die pure Neugier auf, während ich ihm leicht lächelnd entgegenfunkle.
Schon beginnt der Kampf. Ich lasse den Stab in einem Täuschungsmanöver in der rechten Hand kreisen, nehme die linke Hand hinzu und hole danach zum ersten geübten Hieb aus. Mein Ziel ist seine Schulter, doch bevor ich sie treffe, wehrt er meinen Schlag ab. In weiteren einstudierten Abfolgen ziele ich auf sein linkes Bein, seine Flanke, seinen Arm.
Allerdings ist er verdammt schnell. Mehr als einmal ist es mir gelungen, Lady Inora zu besiegen. Ich weiß, dass ich die Schnellste bin, dass meine Schläge für die meisten aus dem Nichts kommen, bloß Mordan scheint jede meiner Bewegungen vorhersehen zu können. Wie kann das sein?
Mühelos, beinahe ohne mir wirklich auszuweichen oder Kraft aufzubringen, pariert er meine Hiebe. Dabei grinst er schief, was mich unsagbar wütend macht. Ich lege mehr Kraft und Schnelligkeit in meine Schläge. Jedes Mal wehrt er sie mit Leichtigkeit rechtzeitig ab.
Er spielt mit mir.
Angestrengt keuchend starre ich ihm entgegen, bevor ich die Stange zwischen den Händen kreisen lasse, mich in einer rasanten Drehung um die eigene Achse bewege und ihn attackiere. Schlagartig lenkt er den Angriff ab, bevor meine Stange seinen Hals berührt. Verwirrt verharre ich in der Haltung. Er konnte unmöglich vorher wissen, dass mein Ziel sein Hals war und nicht sein Knie. Ja, er ist ein Mann, ja, er ist stärker als ich, aber nein, ich bin keine miserable Kämpferin.
Mit einer Drehung seiner Stange wehrt er meine ab und zwingt mich dazu, umzugreifen, damit ich mir nicht das rechte Handgelenk breche. Unweigerlich setze ich einen Schritt auf ihn zu.
»Das kannst du besser«, flüstert er mir gerade so laut entgegen, dass bloß ich die Worte höre.
»Was ist das für ein langweiliger Kampf. Greif schon an, Mordan, und halte sie nicht hin.«
Mein Blick huscht zu Lord Naython, der nachdenklich seinen rechten Ellenbogen auf den anderen Arm aufstützt und sich das Kinn reibt.
»Greif an, oder traust du dich nicht?«, spreche ich hinter meinem Schleier im Flüsterton.
Mordan schnaubt, und schon macht er drei Schritte zurück.
»Sei nicht zögerlich«, richte ich dieselben Worte an ihn wie er zuvor an mich.
»Kein Problem.« Er dreht ebenfalls die Stange in der rechten Hand, so schnell, dass es mir schwerfällt, sie zu verfolgen. Die silbernen Enden seines Stabes verschwimmen zu einem Kreis.
Rechts! Der erste Schlag zielt auf meine Hüfte ab, doch bevor er mich trifft, weiche ich aus und pariere seinen Hieb. Doch die weiteren Angriffe kommen wesentlich schneller, fast wie aus dem Nichts. Egal, wie oft ich ihn blockiere, ihm ausweiche oder seine Haltung studiere, ihm scheint kaum die Puste auszugehen und jeder Angriff wirkt noch schneller und tödlicher als der vorherige.
Mordan bewegt sich mit einer unglaublich beeindruckenden Eleganz über den Rasen, als wäre der Kampf ein Tanz und keine Übung.
Ich drehe mich unter einem Angriff weg, attackiere ihn, doch er lenkt meine Stange geschickt ab, sodass ich nach vorn an ihm vorbeistolpere. »War das schon alles?«
Wütend funkle ich ihm aus den Augenwinkeln entgegen, bevor ich meine letzten Kraftreserven zusammensammele und ihn erneut angreife. Schweiß rinnt mein Rückgrat hinab, meine Armmuskeln brennen, während sich die aufkommende Schwäche in meinen Beinen bemerkbar macht. Ich bin noch nicht vollständig von der Lichtheilung genesen. Trotzdem will ich ihn besiegen.
Erneut wehrt er jeden Angriff ab, ehe seine Stange meinen Rücken trifft und ich vor Schmerzen keuchend nach vorn wanke. Als ich mich umdrehe, schlägt das Holz auf meinen Arm. Eine Sekunde später explodiert der Schmerz in meinem Körper. Noch bevor ich mich verteidigen kann, reißt er mir mit einer kräftigen Stabdrehung die Beine unter dem Boden weg. Mit Schwung lande ich rücklings auf dem Rasen und ringe nach Atem. Mein Arm, mein Rücken, selbst meine Beine schmerzen. Breitbeinig stellt er sich über mich, während ich vor Schmerz und Anstrengung keuche. Sein Stabende drückt gegen meine Kehle, als ich mich auf den Ellenbogen aufstützen will.
»Drei«, zählt er langsam herunter. »Zwei, eins«, haucht er unheilvoll, während er auf mich herabblickt. Eine einzige Schweißperle rinnt über seine Stirn und tropft anschließend von seiner Wimper auf mich herab. »Du hast verloren.«
Erschöpft schnaufend lasse ich den Hinterkopf zurück ins Gras sinken, während mein gesamter Körper wehtut. Er hat mich an über zehn Stellen getroffen, wohingegen meine Stange ihn kein einziges Mal berührt hat.
Mordan ist ein begnadeter Kämpfer. Einer der besten, die ich je getroffen habe. Dabei hat er nicht einmal sein gesamtes Potenzial ausgeschöpft.
Rechts von mir höre ich träges Aufeinanderschlagen von Händen. Lord Naython beginnt zu klatschen, was ihm die anderen Fluchträgerinnen nachmachen. Lady Inora hingegen besieht mich mit einem strengen Blick. In ihren Augen kann ich die Worte »Du bist eine Enttäuschung« ablesen.
Mordan reicht mir im nächsten Moment seine rechte Hand, um mir aufzuhelfen. »Na los, steh schon auf.«
Ich schüttle den Kopf. Nicht weil ich seine nett gemeinte Geste nicht annehmen will, sondern weil mein Körper noch einen Moment braucht. Als Mordan bemerkt, dass ich kurz die Augen schließen will, beugt er sich zu mir herab und greift mir unter die Arme.
»Ihr solltet ihr eine Pause gönnen. Sie zum Training zu schicken, obwohl sie noch nicht vollständig genesen ist, war keine kluge Idee.«
Schlagartig öffne ich die Augen.
»Wie war das?«, richtet Lord Naython seine Worte an ihn.
In der Zwischenzeit hilft mir Mordan auf die Beine. Er darf mich nicht anfassen. Das verstößt gegen die Regeln. Weiß er das nicht?
»Du willst mir sagen, was ich zu tun habe, Wächter? Wann hast du die Erlaubnis erhalten, sie zu berühren!«
Sofort nehme ich zwei Schritte Abstand, kaum dass meine Schuhsohlen den Rasen treffen.
Jeden Moment wird Lord Naython den Wächter erschlagen oder sein Schwert ziehen und es ihm in den Hals rammen. Unzählige Male war ich Zeugin von Lord Naythons Machtdemonstrationen. Er ist nicht bekannt für seine Gnade und Nachsichtigkeit.
»Nichtbeachtung der Regeln wird mit sofortigen Strafen vergolten.« Und wie zu erwarten zieht Lord Naython langsam sein Schwert.
Ich balle die rechte Hand zur Faust.
Ich muss etwas unternehmen. Etwas tun, damit Mordan nicht bestraft oder getötet wird.
Nur darf ich nicht sprechen. Mir fällt etwas anderes ein. Statt zu reden, schreie ich auf. Greife mir an den Kopf und jammere, als würde mein Schädel von starken Schmerzen malträtiert werden. Schwankend sinke ich auf die Knie und täusche vor, von höllischen Kopfschmerzen geplagt zu werden. »Ah! Aua! Ah!«
Augenblicklich ist Lord Naython bei mir. »Was ist los, Kaythara? Antworte!«
»Mein Kopf, ich habe … ich weiß auch nicht … Er tut … so furchtbar weh.«
Zwischen den Fingern betrachte ich Lord Naythons polierte Stiefel, zu denen sich ein weiteres Paar gesellt.
»Mordan, bring sie in ihr Zimmer, wir reden später über deinen Ungehorsam.«
Weiterhin stöhne ich vor Schmerzen auf, keuche angestrengt und wimmere.
»Zu Befehl, Lord Naython«, antwortet Mordan mit fester Stimme, dann hebt er mich unerwartet auf die Arme, anstatt mir einfach bloß aufzuhelfen.
Hinter uns höre ich die leise Unterhaltung zwischen Lord Naython und Lady Inora. »Ist sie noch nicht genesen?«
»Offenbar nicht«, antwortet Lord Naython grimmig.
Nachdem mich Mordan den Wandelgang entlanggeschleppt hat und wir abseits der Wachen auf den Mauern stehen, zapple ich.
»Lass mich runter, du Narr! Mich zu tragen, ist gefährlich«, flüstere ich und atme einen milden Duft von Wildleder und Zedernholz ein, der mich seltsamerweise in den Bann zieht – wie auch seine glänzenden, violett strahlenden Augen.
»Wie du wünschst, Todesprinzessin.«
Er setzt mich behutsam auf den Steinboden ab.
Ich tippe gegen seine Brust. »Nenn mich nie wieder so.«
»Todesprinzessin?«
Meine Augen weiten sich, bevor ich ihn anstoße, während er überheblich lacht.
»Mir gefällt der Name.« Ein anzügliches Grinsen huscht über seine geschwungenen Lippen, die ich länger betrachte.
»Dir scheinen offensichtlich ein paar Gehirnzellen zu fehlen. Du bist schuld, dass mein Unterricht ausgefallen ist.«
»Wenn du einen Anfall vortäuschst, ist das nicht mein Problem.«
»Dir hätte Lord Naython ansonsten den Kopf abgeschlagen, ist dir das nicht bewusst?«
Nun fällt Mordan in ein amüsiertes Lachen. »Glaub mir, es wäre ihm nicht gelungen.«
»Aha, und wieso nicht?« Auf diese Antwort bin ich sehr gespannt.
»Weil ich ihn umgestimmt hätte.«