Kippwende - Jenifer Levin - E-Book

Kippwende E-Book

Jenifer Levin

4,7

Beschreibung

»Angelita« haben die Meteorologen den furiosen Sturm getauft, der über dem Atlantik wütet. Babe Delgado, Olympia-Hoffnung im Schwimmteam der Southern University, überlebt ihn nur knapp. Mit ihrer Karriere ist es vorbei. Babe wechselt in das Schwimmteam von Brenna Allen, Coach an einem zweitklassigen College. Dort begegnet sie Ellie Marks, Tochter zweier Holocaust-Überlebenden, die weniger talentiert ist, aber mit ihren Clownerien und ihrem unermüdlichen Kampfgeist das ganze Team motiviert. Die Begegnung eröffnet beiden Frauen einen neuen Blick auf ihr Leben, auf die Geschichte ihrer Familien – und auf die Liebe. Brenna Allen, selbst ehemalige Leistungsschwimmerin, hat ihren eigenen Verlust zu verwinden. Sie hat ihre Geliebte, die Literaturprofessorin Kay Goldstein, verloren und ist mit ihrer Trauer allein. Einzig die langjährige Freundin Chick bietet Trost aus der Ferne. Und Boz, Kays treuer Hund, der Brenna geblieben ist. Das Tal der Trauer zu durchqueren braucht seine Zeit, doch schließlich zeigt sich ein Hoffnungsschimmer am Horizont ... »Kippwende« ist ein Roman um Frauen und Sport, um Ehrgeiz, Niederlage und Sieg. Doch »Kippwende« ist noch weit mehr: Es ist ein Roman, der die Liebe zwischen Frauen feiert – und das Leben. »Kippwende« ist ein seltener literarischer Genuss. »Jenifer Levin lässt mich jede einzelne ihrer Protagonistinnen kennenlernen in ihrer Individualität, mit ihrer Vergangenheit, mit ihren Sehnsüchten - eingebettet in dieser extremen Situation, das eigene Leben und den Hochleistungssport unter einen Hut zu bringen. Ich als alte Schwimmerin mochte besonders die Beschreibung der wundervollen und stressigen Gefühle für Körper, Seele und Geist im Wasser, beim Training, im Wettkampf ... Ich kenne diese Gefühle - toll!« Ulrike Folkerts

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 734

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,7 (14 Bewertungen)
10
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



FRAUEN IM SINN

Verlag Krug & Schadenberg

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

Jenifer Levin

Kippwende

Roman

Für Julie DeLaurier

Du wirst einen Schimmer der Reinen Wahrheit erfahren, sanft, sprühend, hell, blendend, wunderbar und strahlend, ehrfurchterregend, anzusehen wie eine Fata Morgana, die über eine Landschaft im Frühling in einem ununterbrochenen Strom von Vibrationen dahinzieht. Lass dich nicht davon anfechten, nicht erschrecken, nicht einschüchtern. Das ist die Strahlung deiner eigenen wahren Natur. Erkenne sie.

Aus dem TIBETANISCHEN TOTENBUCH

ANGELITA

Rettungshubschrauber standen über dem Wasser wie große Stahllibellen. Darunter trieben Wrackteile der 747, die vor über zwei Tagen abgestürzt war, vollbesetzt, und dabei das gesamte Schwimmteam der Southern University, Spitzenreiter der ersten amerikanischen College-Liga, mit in die Tiefe gerissen hatte. Niemand rechnete mit Überlebenden.

Es war ein Sturm gewesen, wie er das Dreieck seit Jahren nicht mehr heimgesucht hatte. Windgeschwindigkeiten von über hundertfünfzig Meilen in der Stunde, Seen von über achtzig Fuß, das Meer eine graue Furie. Meteorologen hatten den Sturm Angelita getauft – kleiner Engel.

Doch jetzt rollten unten nur träge türkisblaue Wellen, betupft mit weißen Schaumkronen. Als würde schimmernde Stille die ganze Erde bedecken, als hätte blaugrüner Ozean sich immer schon über alles gebreitet wie ein friedlich wogender Spiegel und würde es immer tun. Sonne sengte den tropischen, von keiner Wolke getrübten Himmel. Heute fiel es schwer, an Angelita zu glauben.

Von dem Jumbo war nicht viel geblieben: einzelne zerfetzte Flügelteile, ein paar salzzerfressene Blöcke eines unkenntlichen Materials, bei denen es sich offenbar um Sitzpolster handelte. Amerikanische Suchschiffe kreuzten auf eigenem Kurs. Hin und wieder wurde ein Schlauchboot zu Wasser gelassen. Kampftaucher der Navy kippten rückwärts von den Wülsten, Hände an den Masken, Bleigürtel um die Taillen. Wenn es unmittelbar nach dem Aufprall noch Überlebende gegeben hatte, war es mehr als unwahrscheinlich, dass sie sich im Getose von Angelita viel länger als eine Stunde hatten halten können, mit oder ohne Schwimmkörper.

Aber die Flugzeugkatastrophe hatte zwei Abende hintereinander Schlagzeilen gemacht, und daheim in den Staaten klammerten sich Familienangehörige an einen letzten Hoffnungsschimmer, den sie nicht aufgeben wollten.

»Gringo an Chico. Over.«

In seiner schwebenden Kapsel aus Glas und Stahl seufzte Alonzo. »Was gibt’s, Stu?«

»Denen da unten könnte ich einen heißen Tipp geben.« Die Stimme schnarrte von der Instrumententafel. »Keine Rückenflossen – keine Leichen. Diese Navy-Burschen sind ein Haufen Hornochsen. Angeblich haben Hammerhaie ein Gehirn so groß wie eine Erbse. Aber ich wette, die wissen wenigstens, wo sie suchen müssen. Willst du eine kleine Geschichte hören? Over.«

Alonzos Augen suchten die blauen Wogen ab. »Eigentlich nicht«, murmelte er, aber das ging gar nicht erst über die Wachfrequenz. Irgendetwas nagte an seinen Eingeweiden. Übelkeit vielleicht, vermischt mit einem seltsam erwartungsvollen Gefühl. Übermüdet, sagte er sich. Zu viele Suchaktionen blieben vergeblich, zu viele endeten als Fehlschlag, ein schlimmer Sturm auf See ist tatsächlich des Todes kleiner Engel – nicht mehr, nicht weniger –, aber in letzter Zeit drang diese Vorstellung unter seinen rationalen Schutzpanzer, stieß ihn immer häufiger in gähnende schwarze Leere. Diese Anwandlungen waren namenlos geblieben, bis neulich nachts, als er schweißgebadet hochgeschreckt war, der Name plötzlich da war. Jetzt suchte er das Meer unter sich ab, heiß vor vergeblicher Hoffnung.

»Weißt du, was der Chinese Tauchern rät, Chico, Anfängern? Over.«

»Nein, Stu. Weiß ich nicht.«

»Konfuzius sagt: Tauche nur mit Kumpel und Messer. Kommt der Hai, hol’s Messer raus, erstich den Kumpel. Und mach, dass du wegkommst. Alte Volksweisheit, señor. Erzähl das mal deiner mama-san. Over.«

Sonnenlicht warf gleißende Platinbänder aufs Wasser. Es schmerzte Alonzo in den Augen, und er drückte den Hubschrauber automatisch tiefer. Eines der Schlauchboote hatte sich an irgendetwas heranmanövriert. Ein Stück Material, bis zur Unkenntlichkeit verfärbt – eines dieser schwimmfähigen Sitzpolster offenbar –, es wunderte ihn, dass es so lange gehalten hatte. Nein, doch kein Sitzpolster, sondern etwas, was einer aufgedunsenen Gliederpuppe glich, einem Dummy, steif und weißverkrustet vor Salz. Die Taucher entfalteten hektische Aktivität, umzingelten das Ding. Es waren sogar ein paar Froschmänner mit elektrischen Abwehrstöcken vorgeschickt worden, um die Röhrenquallen zu vertreiben. Eingeschlossen in seiner Kapsel, beobachtete er, wie sie das Ding vorsichtig über den Wulst des Schlauchbootes hievten. Er glaubte zu sehen, wie es schwach mit einem Arm ruderte, strampelte. Aber das Ding hatte kaum Ähnlichkeit mit einem menschlichen Körper. Fetzen farbloser Kleidung hingen daran, die Lippen waren groß wie Ballons, die Augenlider vollkommen zugeschwollen, Arme und Beine spindlig, abgezehrt. Vorschriftsmäßig hielt er alle Frequenzen frei. Sekunden vergingen. Die Instrumententafel knisterte Funkstille.

Dann: »Gott im Himmel!«, hörte er. »Gott verdamm mich!«

Eines der Patrouillenschnellboote hatte beigedreht. Das Schlauchboot tanzte in seinem Kielwasser, beladen mit Froschmännern und dem verkrusteten weißen Dummy-Ding.

»Großer Gott!«, hörte er. »Haben wir einen Arzt an Bord?«

Dann: »Klar doch, Tarzan. Großer Gott! Gott verdamm mich. Es ist eine Frau!«

GRUNDKURS ANGSTUND SCHRECKEN

Bren

Angst und Schrecken: Einführung ins Erwachsenenleben. Diesen College-Grundkurs erfanden Kay und ich mal bei zu viel Geburtstagssekt.

Nicht dass wir große Trinkerinnen gewesen wären. Nicht dass Angst und Schrecken sich damals schon breitgemacht hätten. Und doch: Da saßen wir, mitten in dem, was sie gern das Bilderbuchland nannte – State-University-Gelände. Unter Menschen, die sie das Weiße Heterovolk nannte, Menschen, mit denen wir beide, jeweils auf eigene Art, arbeiteten.

Du brauchst nur die Route 3 entlangzufahren, an dichtgedrängten Wohnheimen vorbei, Verbindungshäusern, Seminar- und Verwaltungsgebäuden, Labors, Gewächshäusern, an Schwimmhalle und -anlagen, dem Fußballfeld, der Aschenbahn – und du triffst sie überall. Fahr weiter ins Gegenlicht, und bald erscheint ihr kollektiver Augapfel vor dir: Ein neues Stadion ragt vor dir auf und verfinstert die Sonne. Stolz des Ostens! heißt die Devise. Football gewinnt hier von Jahr zu Jahr an Bedeutung und macht genug Geld locker, um das beachtliche Sammelsurium an Sportanlagen, Bahnen, Becken zu finanzieren.

Basketball wird hier ebenfalls großgeschrieben. Eishockey und Cross-Country, Laufen und Feldspiele. Schwimmen, gewinnen. Und da komme ich ins Spiel.

Super-Coach.

Kays Beiname für mich. So war sie, Englisch-Professorin, zungenfertig.

Schatz, sagte sie oft, als es schlimm wurde, Liebste. Warum weinst du nicht?

Weil ich Coach bin, antwortete ich ihr dann. Und versuchte zu lächeln. Super-Coach. Versuchte zu lachen. Aber es war nicht zum Lachen.

Super-Coach hat Menschen, die Hochleistungssport treiben, schon Erstaunliches vollbringen sehen, um zu gewinnen, Dinge, die ihr ganzes Leben positiv verändern. Manches andere allerdings, was sie tun, um zu gewinnen, wird verschämt totgeschwiegen. Lieber gar nicht dran denken.

Hier – inmitten von Staunen und Scham – konnte ich eigentlich immer auf mein Glück bauen, und das, was Kay meine Unerbittliche Protestantische Arbeitsethik nannte, war mir eigentlich immer zu Hilfe gekommen. Vor sechs Jahren war das Frauenschwimmteam Schlusslicht der Liga, und den Großmäulern drüben in der Verwaltung gingen gegenüber den erbosten Ehemaligen, die ihnen gnadenlos den Geldhahn zuzudrehen begannen, die Ausreden aus. Seit sie mich eingestellt haben, gewinnen sie öfter, als sie verlieren. Das ist wahr. Eine Wahrheit von der unbestreitbaren Sorte.

Es ist eben mein Job – das Gewinnen, meine ich. Nicht die Wahrheit. Obwohl auch die in gewisser Weise zu mir gehört.

Ich werde Kay immer hoch anrechnen, dass sie sich Kommentare im ganzen verkniff – zum Job, zum College-Sport, zur Wahrheit, zum Gewinnen, zu mir. Außer der einen oder anderen kleinen Spitze: Denk dir, mein Herz, es gibt tatsächlich ein Leben nach der Kurzbahnsaison!

Schön, Kay, und was erwartest du von mir? Soll ich die Klassiker lesen?

Ich habe es gedacht. Gesagt nie. Das war unsere Art, meistens, mit wunden Punkten umzugehen, im Guten wie im Schlechten, indem wir sie irgendwie übergingen. Eine ganze Menge Gemeinheit blieb unausgesprochen. Schlaglöcher im Weg wurden gemieden. Hat viel Geschirr davor bewahrt, an unschuldigen Wänden zu zerschellen.

Außerdem liebte ich sie.

Wir haben alle unsere Rituale. Die Disziplinierten mehr als andere. Erst in die linke Schwimmbrillenmuschel spucken, mit dem Lieblingsschläger zweimal gegen die Schuhspitze klopfen, dir ein Paar glücksbringende Laufschuhe umbinden, die Gottheit des Speerwurfs um Rückenwind anflehen – treib dich unter Menschen herum, die darauf brennen zu gewinnen, und es werden dir Tausende kleiner Rituale auffallen.

Auch Trainerinnen und Trainer haben ihre Rituale. Und noch vor gar nicht allzu langer Zeit hätte ich mich selbst ganz sicher als diszipliniert bezeichnet. Aber jetzt ist das, was mich aus dem Bett treibt, nicht Disziplin, sondern Angst. Und da fällt mir der Traum der letzten Nacht wieder ein. Muss dabei an Kay denken, warum, weiß ich nicht. Sehr eigenartig: Ein Reigen nackter junger Frauen in einem großen, grauen, hohl wirkenden Schlund von Raum rasiert sich alles Haar von Körper, Schenkeln, Armen, alle gemeinsam, in langsamen, aufeinander abgestimmten Bewegungen wie bei einem Tanz in Zeitlupe. Sie scheren sich die Köpfe mit Bedacht kahl, fast liebevoll. Rasierklingen liebkosen breite Spuren um beide Ohren. Um die Schläfen. Über den Scheitel, unten über den Nacken. Dann winden sie sich alle geschmeidig, langsam, in identische Badeanzüge, unsere Teamuniform. Und verschwinden. Bis auf eine – eine junge Frau. Sie steht dort in der unheimlichen grauen Leere und sieht mich schweigend an, rasiert und glatt und roh. Jeden Augenblick wird etwas Schreckliches passieren. Ich erinnere mich nicht mehr, was. Aber im Traum wissen wir es beide. Beide haben wir Angst.

»Angst«, brüllte DeKuts oft, »ist immer Körperempfinden. Angst drückt sich im Körper aus, und der Körper lügt nicht.« Und dann inszenierte er seine Spielchen, warf mit einem Schwimmbrett nach dir, wenn er glaubte, du hörtest ihm nicht zu. Manchmal warf er daneben, und das Brett ditschte vom Beckenrand und zischte über hellblaues Wasser wie die Flosse eines Teufelsrochens.

»Ihr sollt Angst haben, wenn ihr für mich schwimmt. Eine gesunde Angst vor den Schmerzen, die das Gewinnen euch abverlangt, und eine noch tiefere Angst vorm Verlieren, und eine noch viel, viel tiefere Angst vor mir.«

Er schritt sämtliche Bahnen ab, seine nackten Zehen knapp neben deine Finger setzend, während du am Beckenrand hingst, seine Augen glitzernd wie fiese, braune kleine Käfer. »Ihr sollt alles Leichte und Bequeme fürchten, ihr sollt das Gefühl haben, wenn ihr aufhört oder auch nur einen Augenblick nachlasst, ist es aus mit euch. Ihr sollt trainieren und schwimmen, als hinge euer Leben davon ab. Wenn ihr das alles für mich tut, gewinnt ihr meinen Respekt.«

Einmal hielten die Zehen auf dem Abflussgitter dicht am Beckenrand zwischen meinem Daumen und Zeigefinger. Sie waren groß, krumm und mit glänzenden schwarzen Haaren gespickt. Sie hoben sich samt Fuß, und eine rissige Ferse senkte sich auf mein Handgelenk, hielt es und mich gefangen, schickte mir einen stechenden kalten Schmerz bis zum Ellbogen hinauf. Chlor und ein säuerlicher, fleischiger Geruch mischten sich in meinen Nasenlöchern. Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen schossen, schwor mir, sie nicht überlaufen zu lassen.

»Du da!«, brüllte er. »Ja, dich meine ich! Null Begabung. Aber Herzblut will ich sehen. Nutze deine Angst. Dann kannst du es eines Tages vielleicht mit den Großen aufnehmen. Dann können du und ich Freunde werden.«

Er brummte mir an diesem Tag eine zusätzliche 200er-Serie auf – zehn Wiederholungen, ohne Pause –, und nach dem Training kotzte ich im Umkleideraum ins Waschbecken. Als mein Handgelenk anschwoll, umwickelte ich es mit einer Ace-Bandage. Die Angst bildete den Bodensatz eines dunklen, pulsierenden, hintersten inneren Winkels, an den ich nicht herankam. Ich brauchte sie. Ich gewöhnte mich an sie. So, wie ich ihn brauchte, mich an ihn gewöhnte. Davon träumte, ihn zu Tode zu prügeln. Aber mir wünschte, mehr als alles auf der Welt, seine Freundschaft zu gewinnen. Und lernte, dass es letztlich doch von Vorteil ist, den Schrecken im Leib zu haben. Härtet dich ab fürs Leben.

Dich daran zu gewöhnen, kann allerdings trügerisch sein – du vergisst allzu leicht, dass die Angst noch und immer da ist. Nur Krisen stoßen dich unweigerlich wieder darauf. Am Tag, als Kay ihren Befund bekam, spürte ich sie erneut hochwirbeln, eisig und mit einer Schärfe, dass mir übel wurde und mir plötzlich der Schweiß über die Stirn kroch, über den Bauch lief, ganz wie in alten Zeiten. Wir gingen spazieren. Es war unmittelbar vor Silvester, und alles lag unter verharschtem Schnee. Wir trugen Stiefel und Pullover und lange Mäntel und Mützen; ich hatte sie gezwungen, sich zusätzlich mehrere Schals umzuwickeln, wegen des Fiebers. Wir gingen umschlungen, ich mit einem Arm um ihre Schultern, dem anderen vor ihrer Brust, so dass ich irgendwie seitlich mitstolperte, während ich sie vor dem Wind schützte. Keine von uns beiden sagte ein Wort. Bis sie, sehr gedämpft, meinte: Schatz, warum weinst du nicht?

Es war später Nachmittag. Der Himmel war grau mit einem Stich Rot, die Luft feucht, es roch nach mehr Schnee.

Weil ich Coach bin, Kay, antwortete ich – zum ersten, wenn nicht zum letzten Mal. Super-Coach, hast du vergessen?

Ich hätte heulen mögen, tat es aber nicht.

In diesem Winter passierte viel. Zweite Meinungen einholen. Schlechte Prognosen. Das Wetter war weltweit besonders extrem: Orangenernten vom strengen Frost vernichtet, alte Menschen vor Paraffinöfen erfroren, Eisstürme und Evakuierungen in Alaska und, weiter südlich, der Sturm, den sie Angelita nannten – der schlimmste Hurrikan des Jahrzehnts im Golf –, und die 747-Katastrophe. Jahr der Aufmacher und Schlagzeilen. Ich verprasste den Großteil unserer Ersparnisse für einen neuen Wagen mit Luxus-Heizung. Kay musste zweimal die Woche zur Chemotherapie, sie fror fast ständig.

Und da habe ich immer gedacht, eine Festanstellung zu ergattern wäre hart, sagte sie. Phantastische Art, ein Sabbatjahr zu verbringen, wie?

Und ausgerechnet da fing mein Team an zu gewinnen. Ernstlich zu gewinnen. Ich kriegte das mehr aus dem Augenwinkel mit. Fürchtete, die Teamfrauen müssten jeden Moment dahinterkommen, was für eine Mogelpackung ich war – sozusagen: kein Anschluss unter dieser Nummer, fertig, alle, am Ende, in einer Weise, die ich nie für möglich gehalten hätte und vor der mich nie jemand gewarnt hatte, nicht einmal DeKuts. Ich schaltete auf Blindflug, zog das Programm mit ihnen durch, Training zweimal am Tag. Schaltete in irgendeinen übermenschlichen Gang und schusterte optimale Trainingspläne zusammen. Triezte sie bei den Übungen, lehrte sie den Klang meiner Stimme und meiner Schritte fürchten. Rief ihnen in Erinnerung, dass ich sie angeworben hatte, jede einzelne von ihnen. Dass sie nicht gerade die crème irgendeiner crème waren, nicht gerade das Zeug zu Industry-Hills-Meisterschaften hatten, dass sie ihre mageren kleinen College-Stipendien ganz allein mir verdankten und dass sie, wenn sie nicht verlieren wollten, was ich ihnen gegeben hatte, verdammt noch mal den Quatsch lassen und sich anstrengen sollten. Weil sie nämlich enorm wenig Talent hätten, sagte ich ihnen, und wenn sie tatsächlich gewinnen sollten, dann allein mit Herzblut und Knochenarbeit. Vergesst eure Träume von olympischem Gold, sagte ich. Vergesst eure Träume von Panamerikanischem Gold. Die Welt hat auf keine Einzige von euch gewartet. Fangt lieber an, ans nackte Überleben zu denken.

Sie fragten sich wohl, was bloß mit mir los war, trauten sich aber nicht, es laut zu tun. Hassten mich, wagten aber nicht, es mir zu zeigen. Während also Kay starb und der Bodensatz von Angst und Schrecken immer wieder in mir hochwirbelte, bis sich meine Haut wächsern und klamm anfühlte, während ich auf jede Begrüßung nur noch mit leerem, erloschenem Blick reagierte, schwammen diese Gören sich die Seele aus dem Leib – und gewannen und gewannen und hörten nicht auf zu gewinnen. Bis ich im Land des Weißen Heterovolks zum neuen Stern am Zweitligistenhimmel wurde.

Ihr verfluchten weißen angelsächsischen Protestantinnen, sagte Kay. Vergießt keine Träne. Was zum Teufel ist bloß los mit dir?

Kay war Jüdin.

Unser Privatleben kreiste in diesem Winter mehr und mehr um besudelte Bettwäsche. Um Fangarme von Schläuchen voll klarer Flüssigkeit, um krankes Blut.

Ich habe nicht viele Freundinnen, und ich hatte auch so genug Sorgen: die ganzen Schläuche, das Abwimmeln ihrer Verwandtschaft – mit der wir immer in feindlicher Koexistenz gelebt hatten – und den bescheidenen sportlichen Siegestaumel, der mich auf der Arbeit umwirbelte. Nur zu Chick hielt ich Verbindung, rief sie hin und wieder an, um sie wissen zu lassen, wie die Dinge standen. Anfangs besuchte sie uns noch häufiger. Dann verfiel Kay in Depression und bat sie, nicht mehr zu kommen.

Einmal, kurz vor Frühjahrsanfang, rief ich DeKuts an. Ich hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesprochen. Er meldete sich mit einem Hustenanfall, der so gemein und heftig war, dass ich dachte, seine Eingeweide müssten jeden Augenblick in Brocken durch den Hörer fliegen. Als er wieder Luft kriegte, sprachen wir eine Weile übers Schwimmen. Dieses und jenes. Er beglückwünschte mich zu dem Programm, das ich bei State aufgebaut hatte. Meinte, er hätte wohl recht daran getan, mir zum Trainieren zu raten, oder? Eine mittelmäßige Schwimmerin, ohne jede Aussicht, mal All-American zu werden, egal in welcher Liga, nichts als eine Dampfwalze mit einer einzigen Begabung: Stehvermögen. Zählebiger als die Hoffnung selbst. Im Training der King. Pardon, die Queen vielmehr. Dazu ein gewisses Organisationstalent, eine Nase für Talent bei anderen. Trotzdem, weibliche Coaches würden es nie weit bringen, nie in den großen Vereinen trainieren. Nie eine Nationalmannschaft trainieren. Aber im College-Sport, zweite Liga – ja, da wäre ich gut aufgehoben. Er lachte, und Husten schüttelte ihn. Seine Stimme war längst nicht mehr das, was sie gewesen war, obwohl in ihr immer noch dieser unverwechselbare heillose Zorn mitschwang, Nährboden der Grausamkeit, derer er sich bedienen konnte wie ein Werkzeug. Schließlich fragte er mich, warum ich angerufen hätte. Was ich wirklich wollte? Ich sagte ihm, ich hätte Angst.

»So ein Zufall«, meinte er, »ich auch.« Dann musste er wieder husten, und da wusste ich: Das war nicht gelogen. »Sie haben mich der Länge nach aufgeschlitzt, Bren. Haben alles rausgeholt, was sie in die Finger kriegen konnten, und den Reißverschluss wieder zugezogen. Haben zu mir gesagt: Mr. DeKuts, Sie dürfen nach Hause gehen, zum Sterben. Und da sitze ich nun. Interessant, dass du gerade jetzt anrufst. Also, schieß los. Wir werden uns nicht wieder sprechen.«

Ich schwieg, und der Hörer wurde schweißnass in meiner Hand. Dann rutschten mir die Worte raus – sie sollten gemein sein, sollten die Rache an ihm sein, jetzt und für immer, aber aus irgendeinem Grund, warum, weiß ich nicht, fielen sie sehr sanft aus.

»Ist das die letzte, die tiefste Angst, Jan?«

»Klar«, sagte er, »aber darauf kommt es nicht so an.«

Zwischen uns lagen viele Staaten. In seiner Kehle rasselte es über die Fernverbindung, während er mühsam versuchte zu atmen.

Erster September. Was mich weckt, sind Angst und der Traum. Und Boz, der mir Rammbockpfoten auf die Brust setzt, mich mit hechelnder rosa Pit-Bull-Zunge volltropft. Hässlichster Hund der Welt. Kays Wahl, vor zwei Jahren. Schon damals wusste ich, dass ich es bereuen würde.

»Boz, hör auf damit!«

Morgengrauen kriecht durch die Wohnzimmerjalousien. Alles kehrt in einem gewaltigen, Übelkeit erregenden Schwall zurück, der mir wieder die Kehle zudrückt – als wäre ein Folterknecht als fester Mitbewohner bei mir eingezogen –, und einen Augenblick will ich gar nichts mehr, am wenigsten wach werden.

Also ich persönlich schwärme für Pit Bulls, sagte Kay. Sprach ein Machtwort. Und ich werde einen bekommen, Bren, einen Albino, mit rosa Schweinsäuglein, Rattenohren und möglichst ausgeprägter Römernase. Solche Hässlichkeit ist doch irgendwie nobel, findest du nicht?

Nein, Kay, ich finde, du redest Unsinn.

Noch etwas, was nie gesagt wurde. Aber es gefiel mir, wenn sie ein Machtwort sprach. Dann blitzten ihre Augen gefährlich, und du konntest sie, zuerst um die Ohren, erröten sehen. Es brachte mich schier um.

»Dann komm, Boz.«

Er verschraubt seinen stämmigen Körper korkenzieherartig. Beginnt, was Kay den Morgentanz nannte, halb knurrend, halb winselnd, mit Zunge und ruderndem Schwanz bittstellend. Zeit fürs Frühstück. Ehe ich mich also recht versehe, bin ich von der Couch hoch und auf dem Weg zur Küche, zum Dosenöffner, in Gedanken bei der Verlogenheit, mit der ich einen Schwarm Collegestudentinnen dazu treiben werde, ihre Wecker fürs Frühtraining auf sechs zu stellen, wo doch Super-Coach ihrerseits sich zurzeit schwertut, überhaupt irgendeinen einleuchtenden Grund zu finden, sich bei Morgengrauen vom Sofa im Wohnzimmer hochzuquälen. Gott segne Boz, den wandelnden Wecker. Meinen wahrscheinlich einzig verbliebenen Daseinsgrund, mein raison d’être, wie Kay in dieser köstlich gebildeten französischen Aussprache sagen würde, die sie spielend hinkriegte.

Wobei ich einen Teufel tun werde, die Mädchen das merken zu lassen. Oder überhaupt irgendetwas.

»Also gut, Freundchen. Da hast du dein Frühstück.«

Er tänzelt, seine Krallen klackern auf den Fliesen einen wilden, freudigen Wirbel, und er fällt geräuschvoll über sein Futter her, während ich ihm den Wassernapf fülle.

Dann wedelt der krumme Schwanz wieder heftig, und Boz blickt mit hoffnungsvoll schiefgelegtem Kopf hoch. Vielleicht hat sich dort, wo bei ihm Bewusstsein angesiedelt ist, Unsicherheit eingeschlichen. Vielleicht fehlt ihm Kay, und er erwartet sie jeden Augenblick zurück, jeden Tag.

»Willst du raus?«

Ich lasse ihn den zerfransten Saum meines Bademantels schnappen und mich zur Tür zerren, sehe ihm nach, als er quer über den Rasen trabt. Ein Windhauch fährt über die Spitzen der Grashalme, biegt sie um, Tausende winziger Speere, erst grün, dann silbern schimmernd im Morgenlicht. Boz wühlt in Pinienzapfen, Löwenzahn, und dann ist er hinter ein paar Bäumen verschwunden. Ich lehne mich gegen den Kühlschrank und schließe die Augen. Der Griff schnappt zurück. Die Kühlschranktür springt auf. Halbleere Flaschen Salat-Dressing und Mineralwasser klirren bedenklich, eine offene Dose Sardinen klatscht mir gegen den nackten Fuß, Fischöl bildet eine Lache.

Als ich auf allen vieren wische, kann ich mir nicht helfen; es rieselt mir über den Rücken, Schockwellen der Erinnerung.

Komm her zu mir, mein Herz. Ihr Mund bewegte sich unter dem Gewirr von Schläuchen. Ich verrate dir ein Geheimnis.

Ich trat näher ans Bett. Zwang mich, mich dicht zu ihr hinabzubeugen. Sagte mir: Das hier ist deine Geliebte, Coach, du musst, du musst.

Du bist so entsetzlich zwanghaft!, hat sie mir immer vorgeworfen. Zur Weißglut gebracht. Resigniert.

Ja, Liebste, ja.

Ich wandle durchs Haus, rücke Dinge zurecht. Zwanghaft. Vergewissere mich, wie meist, auch noch ein zweites Mal. Meide das Schlafzimmer. Dusche, ziehe mich im Flur an, werfe Schminksachen in eine Handtasche und meinen Trainingsanzug in eine Sporttasche, prüfe mein Gesicht im Badezimmerspiegel aus verschiedenen Blickwinkeln, um zu sehen, was, wenn überhaupt, noch zu machen ist. Boz schaut mir interessiert zu. Entweder handelt es sich um echte Ergebenheit oder reine Gewohnheit: geduldig dazusitzen, gutmütig, jeder Bewegung mit den hässlichen rosa Äuglein zu folgen, mit den rauen Pfotenballen über Teppiche und Fliesen und Holz zu scheuern, wenn er mir auf den Fersen folgt.

»Bleiben nur wir beide, Kumpel.«

Er klopft mit dem Schwanz.

Etwas Puder unter die Augen, ein paar Tropfen gegen die Rötung. Ich habe da so einen knallroten Lippenstift, den Kay gern mochte. Wenn gar nichts mehr hilft, Bren: leuchtenden Lippenstift. Ich ging andächtig bei ihr in die Lehre, dieser Veteranin zahlloser Fakultätssitzungen und Anstellungsausschüsse. Sie war älter als ich, kannte sich mit dem Weißen Heterovolk besser aus, verstand es wie kaum eine, sich für einen Auftritt herauszuputzen.

Ich klaube meine Aktentasche zusammen.

Zwangscharaktere geben gute Trainerinnen ab. Vielleicht ist Zwanghaftigkeit auch ein Überlebensmechanismus – nicht unbedingt der beste oder auch nur der angemessenste, aber der, den ich parat habe, pragmatisch gesprochen. Kay würde mir zustimmen: Wenn ich eines bin, dann praktisch veranlagt. Und es steht so viel an heute. Teilstipendien. Teamkürzungen. Am Vormittag ein wichtiges Gespräch mit einer neuen Schwimmerin, die ich für mein Team zu gewinnen hoffe.

Plötzlich verstehe ich das mit dem Traum und der Angst beim Aufwachen. Auf den ersten Blick besteht äußerlich eine erschütternde Ähnlichkeit zwischen einer rasierten Schwimmerin und einer haarlosen Chemotherapie-Patientin. Beide sind irgendwie Wesen in der Schwebe – erkennbar menschlich zwar, aber auf eigentümliche Weise, ob geduckt auf dem Startblock oder auf dem Rand eines Klinikbettes, sie verharren in einem Übergangsstadium zwischen Anstrengung und Endgültigkeit.

Wein doch, mein Schatz, sagte sie mir, meinen Kopf in ihren zerstörten Händen. Bitte, Schatz, lass es raus. Du tust dich dann so viel leichter.

Ja, sagte ich. Ja, Liebste.

Aber ich konnte nicht.

Innere Dinge stiegen in mir auf – Dinge aus der Vergangenheit. Bilder. Flüchtiges Huschen von Fast-Verstehen.

Ein paar Schlucke kaltes Wasser. Chlorwolken in vollen Becken. Duschen. Dampf. Whirlpool-Strudel auf lädierten Schultern und Knien. Ich kenne das alles fast ein Leben lang. Zuerst aus Liebe, dann aus Angst, bis es mir schließlich Broterwerb wurde, bloß Arbeit, Besessenheit, sonst nichts. Aber es verflocht sich derart mit den anderen Dingen – das Wasser, meine ich, und das Schwimmen und Trainieren –, dass es sich um einen tiefreichenden inneren Wurzelstock schlang und sich im Wurzelwerk verfing. So wie es die Liebe tat, und die Angst. Wie es Kay tat, von unserer ersten Begegnung an. So dass ich es jetzt nicht ertragen könnte, das zu verlieren.

Ich trat näher ans Bett, schob einen Schlauch beiseite. Sie hatte wunde Stellen am Mund, und ich legte das Ohr daran. In meinem Kopf dröhnte es, ein körperlich empfundenes Vibrieren. Es verursachte weißes und graues Flimmern vor meinen Augen, und ich wusste, wenn ich noch länger stehen müsste, würde ich umkippen. Also setzte ich mich auf die Bettkante und kämpfte dagegen an. Sie wollte mir etwas sagen – ihre zitternden Hände winkten mich näher heran –, mir ein Geheimnis verraten. Ich fühlte mich bleiern vor innerer Schwere, und dann streckte ich mich einfach neben ihr aus. Ich legte mein Ohr wieder an ihre flüsternden Lippen.

Was sie sagte, darf ich nicht wiederholen. Aber ich weiß: Als sie es gesagt hatte, brach die Schwere aus mir hervor wie Fieber, bis ich schweißbedeckt war. Ich lag da, schob Schläuche beiseite und hielt sie fest. Unsere Köpfe ruhten nebeneinander auf dem Kissen, still, entspannt.

Sagte ich, ich hätte sie gehalten? Das stimmt nicht. Die Schläuche hielten sie, hielten sie zusammen, und sie hielt mich. Sie war so leicht, kaum noch da. Als ich die Augen wieder aufschlug, sah alles einen Augenblick anders aus – als würden sich die Dinge auflösen, ihre Gestalt und Form verlieren, und unter der Gestalt und Form, die sie verloren, brannte eine scharfe weiße Hitze.

Wenn du von der Route 3 abbiegst und am Stadion vorbei weiterfährst, erreichst du, was Kay gerne das Öde Land nannte: das Areal staatlich geförderter Projekte in abgezäunten Gebäudetrakten, zu denen nur sicherheitsüberprüftes Personal Zutritt hat. Und es gibt andere Orte – Orte, wo sie mit Tieren experimentieren.

Aber das alles liegt weit weg. Mitten auf dem Campus kannst du dir nicht vorstellen, dass es irgendetwas anderes gibt als den Morgen. Die Sonne ist immer überwältigend, wenn sie sich zeigt, ein plötzliches Leuchten über den Baumwipfeln, das die Dämmerung auslöscht. Rein, kostbar, nass-heiß. Manchmal treibt es dir glatt die Tränen in die Augen.

Es wäre schön, glauben zu dürfen, dass es nur das gibt: Laub kurz vor der Färbung, im Westen grüne Hügel, reich sprudelnde Wissensquellen, blühende Jugend, die auf Sieg setzt.

Niederlage winselt anderswo. Zumindest scheint das der Großteil der Kids zu glauben. Und das ist auch gut so. Sie wissen ja nicht, was noch auf sie zukommt – und warum sollten sie auch? Sollen sie sich ruhig ein paar Jahre über Klausuren den Kopf zerbrechen oder die knifflige Frage, wie sie 200m Freistil meistern. Das alles ist gute Vorbereitung auf Zeiten, wenn die Kacke mal wirklich am Dampfen ist.

Vorerst also kein Grundkurs Angst und Schrecken. Nur Seminararbeiten, Abschlussklausuren. Karten für das Football-Match. Schwimmwettkämpfe.

Der Fachbereich Sportwissenschaft/Sportpädagogik ist mehrmals umbenannt worden. Sie benennen auch laufend die Sportpädagogik-Diplome um, damit sie akademischer klingen, doch die Anlagen liegen weitab von den Zentren der Lehre und Forschung.

Die Trennung von Körper und Geist, mein Schatz, sagte Kay einmal.

Ich nahm es ein bisschen übel. Wortlos, natürlich.

Um hinzukommen, biege ich nach Westen ab, umfahre den Campus-Kern und die Graduiertenbibliothek, wo sie im fünften Stock ihre eigene Lesebucht hatte, mit einem vor Büchern über Hawthorne und Melville überquellenden Tisch, komme auf der Straße zum Schwimmkomplex an frühmorgendlichen Joggerinnen vorbei und stelle den Wagen auf meinem Platz ab, hoffe, dass ich keiner meiner Teamfrauen über den Weg laufe. Als schuldete ich ihnen eine Erklärung.

Der Bau ist kantig, sauber, neu. Er hat etwas diffus Grausames, als könnte er dich mit Haut und Haaren verschlingen, zerstückeln und auf Schwimmbecken, Sprungbecken, Sauna, Krafträume, Geräteräume und Erste-Hilfe-Räume mit Massagetischen verteilt ausspeien – wie dieser große weiße Wal, der Kay immer wieder zu philosophischen Höhenflügen hinriss.

Das Gespräch ist für halb elf angesetzt.

Super-Coach im Glück. Aber das glaube ich erst, wenn ich es sehe.

Überall liegen ungeöffnete Umschläge, Briefe, die auf meine Unterschrift warten, nicht abgeheftete Akten, mittendrin steht ein Becher mit dem Signum der Universität, der umkippt, als ich mich setze, und Stifte und eine Kette rostender Büroklammern über die Schreibauflage ergießt. Die Lampe geht immerhin noch – eine dieser Hochfrequenz-BAP-Leuchten, die angeblich stressmildernd wirken sollen. Alles schön und gut, solange du im Lichtkegel bleibst. Aber ich habe versäumt, die Tür abzuschließen, und McMullens Kopf taucht im Rahmen auf, ein rotes, kahl werdendes Ei, seine koboldsprühenden Augen künden wie zwei Leuchtfeuer von kommendem Unfug.

»Hab von deinem Fang gehört, Lady. Wann kriege ich sie zu sehen?«

Ich frage mich, was es nur ist an ihm, das mich reizt, ihm einen Tischventilator ins Gesicht zu rammen.

Er fläzt sich in meinen Drehstuhl, grinst. »Mach’s nicht so spannend, Bren, ich hätte weiß Gott eine erfreuliche Nachricht verdient. Alles Irre, diese College-Kids. Meine Sorgen solltest du haben! Erinnerst du dich an meinen Schwimmer Canelli, höheres Semester, letztes Jahr All-American? Na, der hat beschlossen, sich im Sommer in New Mexico ein bisschen als Amateur-Höhlenforscher zu betätigen. Tolle Idee, was? Höhlenforscher, ich bitte dich! Jedenfalls hat er sich beide Arme gebrochen und vierzig Pfund zugelegt. Also hat er nach einem ernsten Gespräch mit seinem allseits beliebten Coach beschlossen, dieses Jahr offiziell auszusetzen, und das ist ja schön für ihn, nur stehe ich jetzt auf dem Schlauch mit meiner Lagenstaffel.« Er pflanzt beide Ellbogen in einen Haufen Notizen. »Ihr Weiber habt’s gut. Delgado! Die hätte es glatt bis zur Nationalmannschaft gebracht.«

»Hätte.«

»Glaub mir, wenn sie gut sind, sind sie gut. Und jetzt musst du bloß noch die Förderung hinkriegen, wie? Und zwar alles inklusive.« Die kleinen Augen glitzern. McMullen steckt ungeniert in alles seine Nase. Aber wie dem Neugeborenen fehlt ihm das Einschätzungsvermögen, und das bildet den Eckpfeiler unserer Beziehung und reißt alles wieder raus. Trotzdem hintergehe ich ihn nicht gern. Komme mir undankbar vor. Andererseits bin schließlich ich diejenige, die dahergekommen ist und ihm den Karren aus dem Dreck gezogen hat. Als ich nicke, leuchtet sein großes rotes Gesicht vor Triumph. »Wusste ich’s doch! Lass dir von mir einen guten Rat geben: Besorg ihr einen gottverdammten Rolls-Royce, wenn ihr der Sinn danach steht, egal, wie’s um ihre Form bestellt ist. Du wirst was springen lassen müssen, Lady.«

»Das weiß ich.«

»Einiges.«

»Ist ja gut, Pete. Aber versprich mir, dass du dich ein bisschen zurückhältst, ja? Sie hat viel durchgemacht.«

»Was du nicht sagst.« Aus irgendeinem Grund sind wir jetzt aus meinem Büro draußen, auf dem Weg den Gang hinunter, und ich merke, wie der wohltuende Effekt der vielgepriesenen stressmildernden Lampe sich verflüchtigt. Ich habe ihm erlaubt, meinen Arm zu nehmen und mich zu führen, als hätte er mich an einen wichtigen Ort zu geleiten. McMullen hat die Seele eines Gebrauchtwagenhändlers – einer, bei dem du das Gefühl hast, dass er in der Welt von Schlangenleder, Grundstücksschwindeln, gefälschten Papieren zu Hause ist. Die Begegnung mit echter Qualität bringt ihn aus der Fassung.

»Irgendwas von dem zweiten Überlebenden gehört, diesem Hedenmeyer? Also der war wirklich ein As. Der Bursche hätte bei den Nominierungswettkämpfen noch für eine Überraschung gesorgt. Jetzt kann er mit Mühe und Not blinzeln, heißt es, solange sie ihn nicht ausstöpseln. Wenn du mich fragst, war es ein Verbrechen, ihn überhaupt durchzubringen. Sie haben dem Jungen viel genommen, bloß um ihn an so einer verdammten Maschine vor sich hinvegetieren zu lassen.« Am Trinkbrunnen löscht er seinen Durst, bekleckert Kinn und Hemdbrust, ununterbrochen redend. »Aber das Mädchen hat es ganz gut überstanden, nicht? Oder müssen wir genau das erst noch herauskriegen?«

»Wir?«

»Oh, entschuldige! Weißt du, Bren, ich hätte jederzeit meinen linken Weisheitszahn für Kenny Hedenmeyer gegeben. Ach was! Den ganzen Unterkiefer hätte ich hergegeben für sie oder ihn. Aber dazu hätte ich in einer anderen Liga sein müssen, und dann würde ich nicht diesen Vollidioten die Ohren absabbeln können, die hier für mich schwimmen. Wie auch immer, halt mich auf dem laufenden.«

»Mach’ ich.«

»Aber bestimmt, ja? Halt mich auf dem Laufenden.«

Er stürmt den Gang hinunter, donnert an Türen, um Leute zu ärgern. Aus einer segelt ein Papierflieger, punktgenau auf seine Platte gezielt.

Ich ducke mich durch einen Ausgang, sitze auf einem Treppenabsatz, der muffig riecht, ein wenig feucht vor abgestandenem Sommer und Schweiß. Ich habe das Bild von Boz vor Augen, der stumm hinterm Wohnzimmerfenster belfert, während ich davonfahre, und einen flüchtigen Augenblick möchte ich es laut aussprechen: Darf ich jetzt bitte aufhören? Aber es steht dieses Gespräch an. Ich mache mich auf den Weg treppab.

Bob Lewisons Tür steht offen: pokalüberladene Wände, Lewison selbst in ein Buch vertieft, das aufgestützt inmitten der Unordnung auf seinem Schreibtisch liegt. Alles in diesem Zimmer ist schief, unstimmig. Nichts von der ordentlichen Rechtwinkligkeit des Büros einer Zwanghaften. Alles wirkt ein bisschen zu groß für den vorhandenen Platz – im Gegensatz zu Lewison selbst, der schmächtig und spindeldürr ist. Sparmodell, nennt ihn McMullen hämisch. Sparmodell eines Mannes, der gute alte Bob.

Sie haben sich nie sonderlich gut leiden können.

»Du siehst müde aus, Bren.«

»Danke. Das ist das Netteste, was ich den ganzen Tag zu hören bekommen habe.«

»Harter Sommer?«

»So ähnlich.«

Er schlägt das Buch zu, klopft es wie eine Schulter. »Wem sagst du das. Meine Crossläufer sind alle in Gips, ich habe letzten Monat eine Unterhaltszahlung vergessen, meine Kinder reden nicht mit mir, und MasterCard will fünftausend Eier. Das sind die guten Nachrichten.«

Unsere Hände treffen sich überm Schreibtisch, drücken einander. Ich murmele ihm zu, was ich ihm immer zumurmele: Du Ärmster. Was soll’s, das Übliche, sagt er, und bei dir? Und da weiß ich nicht weiter. Sitze in der Falle meiner eigenen verlogenen Heimlichtuerei – Privatleben, sagte Kay eher euphemistisch dazu.

Es war ein höllischer Sommer, sage ich ausweichend. Familienangelegenheiten.

»Kann ich irgendwas tun? Musst du mir nur sagen.«

Aber ich schüttele den Kopf. Und grinse das müde, wachsame Grinsen, das ihm gestattet, sich aus der wie immer gearteten Schlinge zu ziehen, die stets irgendwo zwischen uns hängt, das Grinsen, von dem Kay sagte, es wäre breit, burschikos und eine einzige Warnung.

»Weißt du, du bist eine wirklich attraktive Frau. Du siehst auch dann noch gut aus, wenn du müde bist.« Das bringt er zaghaft hervor, freundlich. Löst uraltes Unbehagen aus, eine Mischung aus Bedauern und Panik, die mich meine Hand zurückziehen lässt. Sag was, was Diplomatisches. Für all die Jungen und Männer in deinem Leben – wohlmeinend, viril, ungeschickt –, die du nicht lieben konntest und wolltest. Verschütteter Bierschaum, linkisches Tanzen. Küsse und Liebkosungen, die ich bald nicht einmal mehr versuchte. Er ist gefangen in dem zu lange andauernden Schweigen. Wieder lasse ich ihn sich aus der Schlinge ziehen, indem ich sage: Also das ist nun eindeutig das Netteste, was ich den ganzen Tag zu hören bekommen habe.

Bob landet federnd auf den Füßen. Auf den Füßen und mit einem Lächeln.

»Na, wenn ich bei dir schon einen Stein im Brett habe, darf ich vielleicht einen Vorschlag machen?«

»Nur zu.«

»Bevor das Mädchen hier aufkreuzt, solltest du McMullen knebeln und irgendwo in eine Abstellkammer sperren.«

»Dann pfeifen es die Spatzen schon von den Dächern, wie?«

»Pete fängt seit Wochen deine Post ab. Aber auf mich kannst du zählen. Und noch etwas.«

»Was denn, Bob?«

»Gönn dir eine Verschnaufpause«, sagt er, so sanft, dass es mich überrascht. »Gönn dir eine Pause, setz dich selbst nicht so unter Druck. Nichts von alledem ist so wichtig. Dir kann hier keiner mehr was, genieß es. Irgendwann kippt das Ganze sowieso, meinst du nicht? Auch das Gewinnen verliert seinen Reiz, weißt du. Glaub mir. Und dann musst du sagen können: Ich pfeif auf euch, ich glaube, jetzt habe ich genug gewonnen. Und dich zurücklehnen und auf deinen Lorbeeren ausruhen.«

Er greift wieder nach meiner Hand, als wir aufstehen, und drückt sie herzlich. Wir sind ungefähr gleich groß. Wir sehen uns genau in die Augen. Ich beschließe, ihm von jetzt an aus dem Weg zu gehen – ein Jammer eigentlich, er ist immer ein Verbündeter gewesen, fast ein Freund. Vorerst also gebe ich ihm die Hand.

»Gut gemacht, Bren. Das Mädchen …«

»Delgado.«

»Ja. Also hör zu, es wird sich schon Geld auftreiben lassen in dem Laden. Du hast meine volle Unterstützung.«

»Danke.«

»Nicht der Rede wert. Ich werde deine Rückendeckung im Laufe des Semesters auch noch brauchen. Und viel Glück. Viel Glück beim Versuch, die Toten aufzuwecken.« Er wird leicht blass, dann rot. »Ich meine die Schnarchnasen in der Finanzverwaltung – nicht das Mädchen.«

Wieder oben angelangt, komme ich auf dem Weg zurück in mein Büro an McMullens vorbei. Zum Glück hängt er am Telefon. Wettert. Jetzt muss jemand anderes herhalten, und ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Seine Stimme hallt den Gang hinunter.

»Ich kann dir sagen, Kumpel, der Laden hier geht rasant den Bach hinunter! Sie werfen den Kids das Geld in den Rachen, und es kommt ihnen zum Arsch wieder raus! Und rate mal, wer hinter ihnen aufwischen darf? Na, wer wohl …«

Sie ist pünktlich. McMullens Sekretärin ruft um fünf vor halb durch, und ich hole sie ab. Sie ist von dem Schlag, wie wir ihn hier nicht oft zu sehen kriegen: breit, lang, fast eins achtzig groß, früher rank, jetzt leicht übergewichtig. Im Stehen größer als ich, bringt sie den Raum fast zum Schrumpfen. Wir reichen uns die Hand.

»Ms. Delgado.«

»Äh … Babe.«

»Bren Allen. Wie war die Fahrt?«

»Nicht schlecht. Gut.«

»Du hattest keine Schwierigkeiten herzufinden, hoffe ich?«

»Nein!«

Das klingt panisch. Babe Delgado ist aschfahl, und während wir uns auf den Weg in mein Büro machen, geht etwas Ungutes von ihr aus – eine Unfreiheit des Körpers. Nettes Gesicht, ein wenig aufgedunsen und trotzdem irgendwie verhärmt. Wie ein Vollblut, das geschlagen worden ist und lahmt – das Bein mag sich wieder richten lassen, aber laufen wird das Tier nie wieder wie vorher.

Dann schäme ich mich, sie so eiskalt zu taxieren. Obwohl es zu meiner Arbeit gehört, nüchtern abzuschätzen, kommt es mir hier unangemessen vor. Ich schleuse sie auf Umwegen an McMullen vorbei in mein Büro, und wir setzen uns. Jetzt kann ich ihr geradewegs in die Augen sehen. Es sind große, dunkle Augen, die nicht mit der Wimper zucken. Winzige blutunterlaufene Striemen auf beiden Augäpfeln. Das lässt mich meine eigene Müdigkeit überdeutlich empfinden, und ich könnte fast schwören, dass flüchtig eine Art Seufzer zwischen uns aufsteigt und irgendwo nahebei in der Welt hörbar wird.

»Babe, ich war beeindruckt von der Aufrichtigkeit deines Briefes. Ich finde, es erfordert Mut, so etwas zu schreiben. Aber ich denke, du bist ein bisschen hart mit dir ins Gericht gegangen. Körperlich bleibt in der Regel ein gewisses Potential erhalten, weißt du. Doch, bestimmt. Alles andere ist mental.« Das bewirkt keinerlei Reaktion, nicht einmal ein Lidzucken. Nur Anspannung und Blässe und ein Leid, das das starre, nervöse Lächeln nicht kaschieren kann.

»Erzähl mal: Wie ist es denn dieses Jahr bisher gelaufen?«

»Mies.«

»Das ist kaum verwunderlich. Wir sind schließlich keine Maschinen. Manchmal erscheinen uns unsere Körper so – wie Maschinen, meine ich –, aber da unsere Gefühle von unserer körperlichen Leistung nicht zu trennen sind, wäre es unsinnig, zu erwarten, dass wir funktionieren wie Automaten.« Das alles kommt glatt über meine Lippen, souverän. Ich sage mir: Coach, du bist gut. »Überragende Leistung setzt ein vollkommenes, empfindliches Gleichgewicht voraus. Traumatische Erlebnisse können das ganze Zusammenspiel aus dem Tritt bringen, nicht wahr? Emotionale Veränderungen beeinflussen den Hormonspiegel, und schon fühlen wir uns mies. Wir versuchen, Bestzeiten aus uns herauszuholen, gute Zwischenzeiten, die Kraftreserven – aber irgendwie ist da einfach nichts zu holen.«

Delgado holt Luft, ihre Lippen beben fast unmerklich. »Ich will Ihnen nichts vormachen. Ich habe Ihnen geschrieben, Ihnen erklärt, wie schlecht ich jetzt bin.«

»Also, im Augenblick interessiert mich eigentlich mehr, wie es dir damit geht.«

Sie zuckt die Schultern. Ich muss an das erste Mal denken, als ich sie bei den Jugendmeisterschaften erlebte und sie mir nur anzusehen brauchte, um zu wissen, dass sie zu den vom Schicksal Begünstigten gehörte, in die ganz unverkennbar Zeit und Geld investiert worden waren. Langgliedrig, breitschultrig, rank, reine Haut. Bei dem Wettkampf, einer Begegnung der High-School-Elite, hatte es nur so gewimmelt von diesen Geschöpfen aus ein und demselben göttinnengleichen Guss. Barfuß, tropfnass, konnten sie gar nicht anders als stolzieren. Wie Windhunde gleichermaßen gehätschelt und getrieben. Sie verstanden was von Zielen und Disziplin und übermenschlicher körperlicher Anstrengung. Aber sie bewegten sich in dünner Höhenluft. Darauf getrimmt, sich selbst zu übertreffen, aber nur auf dieser einen Schmalspur. Vom sonstigen Leben hatten sie oft keine Ahnung – oder vielleicht waren sie einfach überbehütet –, und noch im Beobachten wusste ich, dass viele von ihnen, wenn die Kacke einmal richtig am Dampfen wäre, den Sport schmeißen würden.

Damals schon amerikanische Rekordinhaberin über eine Strecke, wurde sie als die kommende Brustschwimmerin gehandelt, die die damals Beste vom Thron stoßen würde, die noch im selben oder im darauffolgenden Jahr in die Nationalmannschaft aufgenommen, bei den Panamerikanischen Spielen starten und schließlich für die Olympiateilnahme in Betracht kommen würde. Beeindruckende Körpergröße, Grundschnelligkeit, Begabung. Aber ich entsinne mich, dass ich schon damals fand, dem Mädchen fehlte das entscheidende Etwas. Kein Killer-Instinkt. Sie hatte es dank einer Silbertablett-Mischung aus Veranlagung, Training und Gehorsam so weit gebracht, aber es war nichts Getriebenes an ihr – kein Funke erbitterten Willens, keine Spur Not oder Hunger in ihrem Gesicht, in ihrer Haltung. Zu vollkommen. Kein Hass, keine Angst. Sans Begierde. Außerdem war sie bereits von Bart Sager für Southern geworben worden – ein College, wo es Talent im Überfluss gab, das so hoch über dem Programm von State angesiedelt war, wie die Götter im Himmel über uns Irdischen schweben.

»Ah …«

Ermutigung ist gefragt, Coach. Ich nicke und lächle.

»Ich weiß nicht mehr, was mir wichtig ist.« Die Stimme ist kalt und distanziert, was mich überrascht. »Ich habe Ihnen ja schon geschrieben, ich denke, ich würde mein Möglichstes tun. Aber, verstehen Sie, ich glaube nicht, dass ich … also … noch großes Interesse habe, in die Bestenliste zu kommen oder so. Mich für die Nominierungswettkämpfe zu qualifizieren, wissen Sie … oder die Pan Ams. Da fehlt mir einfach das Zeug dazu, die Bereitschaft.«

»Aber zum Wettkampf antreten? Dazu bist du bereit?«

»Ich denke schon. Vielleicht. Ich würde … also, ich kann nur versprechen, mein Möglichstes zu tun.«

Ich biege eine Büroklammer auseinander und wickele sie zu einer krummen Spirale und lasse sie auf den Schreibtisch fallen. Wie meine Eingeweide. Drahtknäuel. Komisch, wie das Leben einem anderen Drehbuch folgt als deinem eigenen. Die glatten Worte von Super-Coach fehlen mir im Moment. Ich muss Babe Delgados müden Augen die eigenen entgegenheben.

»Hör mal, Babe, ich will dir gegenüber auch offen sein. Ich bin stolz auf unser hiesiges Programm. Das heißt, mein Programm – Ehre, wem Ehre gebührt.«

Und dann kann ich mir nicht helfen, ich muss grinsen, kann mir nicht helfen, freue mich, als auch sie grinst. »Als ich hier anfing, war das College das letztplatzierte der Liga. Ich habe geschworen, es wieder hochzubringen, ein gutes, solides Programm auf die Beine zu stellen und ein Team, das zur Abwechslung mal gewinnt. Schließlich wird das Training einzig und allein aus diesem Grund jemand Neuem übertragen. Und genau das habe ich getan. Es war nicht leicht, aber ich habe ein Händchen für so etwas, und ich bin stolz auf diese Leistung. Wir liegen seit vier Jahren in dieser Liga unter den ersten dreien. Im letzten Jahr haben wir den ersten Rang nur um wenige Punkte verfehlt – und das gibt mir einen gewissen Spielraum. Ich kann bessere Athletinnen rekrutieren, zum Beispiel. Versetz dich also einmal in meine Lage. Du warst in der Bestenliste. Wie sollte ich dich nicht haben wollen, selbst wenn du nicht in Hochform bist, nicht diese Woche oder diesen Monat oder dieses Jahr? Es wertet mein Programm auf. Also, das Semester fängt in zwei Wochen an. Ich kann dir volle Förderung anbieten. Ohne Extrawürste …« – ich zucke bei dem Wort zusammen, das McMullens Vokabular entstammt, nicht meinem – »… aber ich denke, du wirst feststellen, dass es ein faires Angebot ist. Zumindest bestimmt nicht unter deiner Würde.«

Sie sagt nichts. Das macht mich nervös, aber ich zeige es nicht. Dann meldet sich Super-Coach wieder zurück.

»Wenn du dich entscheidest, dich einzuschreiben, werden wir nach Möglichkeit dafür sorgen, dass du jeden Kurs belegen kannst, den du willst. Ich verlange von den Frauen im Team nicht, dass sie zusammen wohnen, zusammenglucken, zusammen essen oder irgendetwas in der Art. Ich verlange allerdings, dass sie zum Training erscheinen – und das heißt meist zwei Mal, morgens und abends, außer in der Vorwettkampfphase, also im Tapering –, aber, um es noch einmal deutlich zu sagen: Was du außerhalb des Trainings machst, ist deine Sache. Ich erwarte von dir nicht, dass du immer nur gewinnst, und ich erwarte keine Rekorde. Aber ich möchte sehen, dass du dich in jeder Hinsicht am Programm beteiligst, deine Teamkameradinnen unterstützt und keine Sonderbehandlung erwartest, auch wenn du den anderen haushoch überlegen bist. Außerdem würde ich um dich eine Lagenstaffel aufbauen. Das wär’s.« Ich werfe noch eine Büroklammer, und sie trifft den Rand des Bechers und flippt akkurat hinein.

»Ein eigenes Zimmer«, flüstert sie und errötet. Aber sie zuckt nicht mit der Wimper, sieht mich unverwandt an. »Ich muss ein eigenes Zimmer haben. Ein Einzelzimmer. Im besten Wohnheim, ja? Aber nicht nur mit Aktiven.«

Ich werfe eine weitere Büroklammer. So einfach. Mein Gott. Ich traue mich kaum zu atmen.

Korb.

»In Ordnung, Babe. Lass uns eine kleine Besichtigungstour machen. Ich zeige dir die Anlagen, und dann gehen wir Mittag essen.«

Wir stehen auf. Das angespannte Gesicht scheint einen Augenblick zu zittern, und ich sehe, dass es schweißbedeckt ist.

»Mann. Ich kann sie nicht mehr, wissen Sie. Ich pack’ sie einfach nicht mehr.«

»Was?«, dränge ich sanft. »Was packst du nicht?«

»Kippwenden.«

»Nun, dann wirst du wohl Drehwenden machen müssen.«

Das klingt richtig: bestimmt, sachlich. Ich bedeute ihr, mir zu folgen. Wieder eine Tür, fort das beruhigende, klärende Licht. Viele Flure entlang, an Krafträumen und Whirlpool und Sauna vorbei. Bei Neuanwerbungen verwendest du viel Zeit darauf, herauszuhören, was die jeweilige Kandidatin erwartet, und dir zu überlegen, wie du auf der Stelle damit rüberkommen kannst. Einige wollen unterhalten werden, andere sich einfach nur aufgehoben fühlen, wieder andere ein bisschen herumkommandiert werden und vom ersten Tag an Grenzen gesetzt bekommen. Einige halten sich bedeckt, wollen so viel wie möglich herausschlagen. Aber die wenigsten erwarten nichts weiter als den Vertrag. Und weil das so selten vorkommt, kann ich kaum glauben, dass genau das hier der Fall ist.

Trotzdem, ich werde alles tun für diese paar zusätzlichen Punkte, die den Unterschied zwischen Spitzenreiter und Zweitplatziertem der College-Liga ausmachen. Improvisieren. Stehlen. Babe Delgado hat reichlich Probleme, aber die habe ich schließlich auch. Der erste Platz – kalt, glänzend, machbar, gewiss – ist das einzige Zuhause, das ich noch will. Eine Schwimmerin der Spitzenklasse, und die Sache ist geritzt.

Das Becken ist leer, glitzert makellos pastellblau, die Bahnen wie mit dem Lineal gezogen. Wir bleiben stehen, um durch die bruchsicheren Scheiben der Aussichtsgalerie zu sehen. Babe Delgado kommt mir riesig vor an meiner Seite. Größer. Breiter. Was ich jetzt bei ihr erkenne: Angst vorm Wasser. Beide schielen wir im selben Moment zueinander hin, und unsere Blicke treffen sich. Und da ist sie, die stumme Frage, die ich in dem teigigen, feuchten Gesicht lese, ehrlich, prüfend, nicht Bitte, sondern Frage: Werden Sie mir helfen?

Ich lasse Super-Coach aus meinen Augen sprechen und sage: Ja, klar, du hilfst mir, und ich helfe dir. Um dieser wenigen Punkte willen.

Ich lächle gelassen. »Mich hat es früher in heillose Panik versetzt.«

»Was?«

»Schwimmen, der Wettkampf. Allein der Gedanke an meinen Start, manchmal, und ich musste mich übergeben.«

Sie lacht. »Echt?«

»Sicher. Es spielt keine Rolle, wer du bist, der Druck ist einfach da.«

Das schlägt irgendeine Saite an. Sie streicht sich unwillig eine Haarsträhne hinters Ohr, blickt noch einmal auf das Becken hinunter, dann wieder zu mir hoch und lächelt. Sie sieht nicht mehr ganz so wächsern aus.

»Also gut. Ich denke, ich pack’s. Ich mach’s.«

»Gut.«

»Aber ich muss abnehmen. Und zwar bevor ich ins Wasser gehe …«

»Darüber mach dir mal jetzt keine Gedanken, Babe. Wir tüfteln da schon was mit unserer Ernährungsberaterin aus.«

»Ich bin Vegetarierin.«

»Tatsächlich? Nun, wie du willst. Du kannst dich sowieso schon mal auf etwas Laufen einstellen, etwas Zugseil und Medizinball – alle hier werden sich ranhalten müssen, um ein paar überschüssige Pfunde abzutrainieren, und da schließe ich mich selbst nicht aus.« Ich klopfe mir auf den Unterbauch, riskiere ein Augenzwinkern und atme innerlich vor Erleichterung auf, als sie wieder lächelt. »Im September ist sowieso Trockentraining. Komm, ich führe dich noch unten herum. Ich zeige dir die Nautilusmaschine.«

Ich bleibe länger, erledige so viel Papierkram wie möglich. Ende der Woche wird es einen Aufschrei geben. Ein weiteres Nadelöhr im Nebel zu passieren sein. Vollstipendien liegen nicht gerade auf der Straße, und dieses ganz spezielle wird einem der anderen Trainer aus den Rippen geleiert werden müssen.

Gegen Abend gehe ich an einem Übungsraum vorbei, höre das Klacken von Hanteln, Scheiben, Sprossenwand, eine Frauenstimme, die ich kenne, und die eines jungen Mannes, die ich nicht kenne:

»Ach Scheiße, Danny!«

»Bring ihn hoch, verdammt! Hoch! Wie einen Steifen.«

»Zehn!«

»Na also! Siehst du. Hier, ich nehm’ ihn dir ab, Miss Macho-Muskeln.«

»Ach, Schnauze.«

»Ellie, du hast’s geschafft!«

»Ich fass’ es nicht.«

Die beiden platzen heraus, Handtücher um die Hälse, T-Shirts schweißnass. Ein ungewöhnlich hübscher Junge, Anfang zwanzig, klein, durchtrainiert, eindeutig schwul. Die junge Frau von mittlerem Wuchs, die beharrlichen Fäuste ins Handtuch geballt, hübsches semitisches Gesicht, das im Augenblick verletzt und um Backen und Mund geschwollen wirkt. Sie sieht mich und errötet tief. Ich nicke.

»Ellie.«

»Hi!«

»Schön, dass du wieder da bist. Wir unterhalten uns später noch ausführlich darüber, aber ich möchte, dass du in diesem Jahr 400m Lagen schwimmst. Und das heißt Länge machen.«

»Was! Muss ich?«

»Ja.«

»Wieso denn?«

»Weil ich die Trainerin bin, nicht du.«

Als ich meinen Weg den Flur hinunter fortsetze, höre ich erstickte Laute. Dann Schritte und das Klatschen eines feuchten Handtuchs gegen Haut und Stoff.

»Coach? Entschuldigen Sie.« Ihre Augen blitzen – verlegen, aber scharf. »Haben Sie mal eben einen Moment Zeit? Kann ich Sie kurz sprechen?«

Ich sage, warum nicht, und wir kehren um in mein Büro. Dort hockt sie auf der Kante des Stuhls, auf dem vorher Babe Delgado gesessen hat, und wirkt viel kleiner. Sie zupft dauernd an ihrem verschwitzten Hemd, knetet ihr Handtuch mit unruhigen Händen. Pochender Schmerz strahlt von meinem Hinterkopf aus. Ich denke sehnsüchtig an Aspirin.

»Was ist mit deinem Gesicht passiert, Ellie?«

»Ach, nichts. Das heißt, sie haben mir zwei Weisheitszähne gezogen.«

»Wenn es noch blutet, solltest du keine Gewichte heben.«

»Es geht schon.«

»Also gut. Was liegt an?«

»Ich muss mit Ihnen reden.« Die Stimme setzt atemlos an, wird heiser vor Anspannung, dann schneller und schneller. »Hören Sie, vielleicht haben Sie uns letztes Jahr ein bisschen hart rangenommen. Dabei … verstehen Sie, es ist ja … im Grunde wollen sich ja alle für Sie ins Zeug legen und einfach gewinnen, verstehen Sie? Deshalb habe ich gedacht, vielleicht könnten Sie die Daumenschrauben etwas lockern. Also nicht weniger von uns erwarten oder so. Aber ein bisschen mehr Zuspruch manchmal. Ich meine … ach, Sie wissen schon, was ich meine.«

Der Schmerz wird zum Kloß im Hals, ich muss mich räuspern.

Es gibt ein Schweigen, in das du zurücksinken kannst, das immer auf dich wartet – wie die Angst –, das aber anders als diese da ist, dich zu tragen und zu trösten. Ich sinke jetzt darin zurück, merke, wie lange ich das schon gewollt habe, genau das: in etwas zurücksinken zu können. Dann sehe ich Ellie Marks an und warte darauf, dass ihr Blick aufhört, hin und her zu huschen und dem meinen begegnet. Als er es tut, errötet sie – auf einen Schlag, tief.

Ich beuge mich vor und spreche leise. »Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen.«

»Echt?«

»Natürlich. Es ist durchaus möglich, dass ich im vergangenen Jahr wenig Gespür für die Belange im Team gehabt habe und dass es deshalb am Ende nicht ganz gereicht hat. Aber dieses Jahr wird besser werden. Ich denke, das kann ich versprechen.«

Klar, Coach. Wer’s glaubt, wird selig.

Ellie ist auf den Beinen, murmelt: Danke – danke fürs Zuhören.

Ich habe zu danken, sage ich ihr, ganz ruhig, mit Autorität, dafür, dass du mich auf diese Dinge aufmerksam gemacht hast. Das gehört schließlich zu deinen Aufgaben.

Als sie gegangen ist, sinke ich wieder zurück und denke, dass ich sie gern habe, Ellie Marks – Teamsprecherin, arbeitsam, mit mittelmäßigen, aber zuverlässigen Zeiten über 100 und 200m Brust, fast jedes Semester Honours-Studentin. Schwieriger familiärer Hintergrund, sammelt Pluspunkte als Team-Zugpferd. Stipendiatin. Und in ihre Trainerin verknallt, was Coach, wie alles in dieser Richtung, geflissentlich übersieht.

Später steige ich selbst in meine Trainingskluft. Der Laden ist inzwischen ziemlich ausgestorben, es ist mir gelungen, McMullen den ganzen Tag aus dem Weg zu gehen, und einer der Krafträume ist frei. Ich sollte es nicht, tue es aber – harte Runden Bankdrücken und sogar ein paar Dips. Was an gesundem Knorpel in meiner linken Schulter übrig ist, ist kaum der Rede wert – alte Kriegsverletzung, würde DeKuts sagen –, und mehrere Fachleute haben zur Operation geraten. Ich schiebe die Sache vor mir her. Zu viel zu tun. Und außerdem habe ich die Nase voll von Krankenhäusern.

Ich gehe sie durch: Triceps, Latissimo, Pectoralis, Rectus Abdominis, Deltoides, bis ich Knorpel an Knochen reiben höre, und als ich den linken Arm zum Dehnen hebe, schießen mir die Tränen in die Augen. Ich habe eine ungeschriebene Regel: mir selbst alles aufzuerlegen, was ich von meinen Teamfrauen verlange. Im vergangenen Frühjahr habe ich sie nicht eingehalten, war abwechselnd unter- und übergewichtig, unterkühlt und hitzig. Vierunddreißig Jahre alt, und ich entdeckte die ersten Falten im Gesicht. Die Spannkraft ließ mich im Stich. Aber damit ist jetzt Schluss, Kay ist drei Monate tot. Und wenn ich das hier nicht mehr aus einem Bedürfnis heraus mache, dann eben aus Gewohnheit.

Laue Luft, unterfüttert mit Abenddämmerungskühle, strömt auf der Heimfahrt zum offenen Fenster herein. Die Obermuftis auf die reichen Ehemaligen ansetzen – große Grundstücksmakler, Investmentbanker –, damit sie ein neues Stipendium einrichten. Oder den weniger erfolgreichen Teams eine Vollförderung stehlen und den Diebstahl anders nennen. Mir einen Deal überlegen, den McMullen mit den Jungs in der Verwaltung ausbaldowern kann.

Sie geht auf meine Kappe, diese Anwerbung. Sie kriegen schadhafte Ware für ihr Geld, aber schadhafte Ware ist manchmal noch zu retten. Vielleicht steht Babe Delgado etwas zu. Eine andere Art Chance – wozu, weiß ich nicht. Und vielleicht ist sie ja wiederherzustellen. Jedenfalls so weit, dass aus ihr noch ein paar gute Wettkämpfe herauszuholen sind. Und dann, wie Lewison meint, können sie und ich ihnen allen sagen: Also, liebe Leute, wir pfeifen auf euch, wir haben hier nämlich genug gewonnen.

Aber ich weiß es nicht. Was ich heute in ihrem Gesicht sah, war chronisches Alleinsein, kaum verhohlener Weltekel. Kann es ihr nicht verdenken.

Mal sehen, was die Konkurrenz zu bieten hat, scherzte McMullen gern, wenn wir zu nationalen Meisterschaften fuhren. Und beide waren wir uns der Ironie bewusst, weil der Nachwuchs, den es dort zu sehen gab, nämlich die Auslese war, erste Garnitur, erste Liga, Spitzenklasse, nicht wenige Weltklasse. Was soll’s, schauen kostet nichts.

Welche Meisterschaften waren es noch? Indianapolis. Zwei, drei Jahre her. Bart Sager war da, überlebensgroß, weil Southern – The Big U auf dem besten Wege zu einem weiteren Meisterschaftssieg war. Ein totalitär geführter Kader von Talent und Kraft. Aber einige aus seinem Team sahen für mein Gefühl unglücklich aus, und eine von ihnen war Babe Delgado.

Anders die Rückenschwimmerin Liz Chaney – ein richtiges Tier, ein Ungeheuer, eine von denen, die vor Siegesgewissheit strotzen, stellte vor unseren Augen einen amerikanischen Rekord über 200m auf. Jetzt ist sie tot, wie fast alle des Teams, begraben von Wind und Wellen Angelitas. Aber an jenem Tag in Indianapolis ignorierte McMullen den elektronischen Zeitmesser an der Wand und stoppte eigenhändig.

»Ich will die Zwischenzeiten haben. Das Gör stellt gleich einen Rekord auf, Lady.«

Ich fragte ihn, ob es in der Luft läge, und er sagte, ja, in der Luft. Er schwitzte vor Aufregung. Einen Augenblick mochte ich ihn richtig gern, weil er unverstellt war, fast ehrfürchtig, ohne den üblichen Scheiß.

»Eine ganz Abgebrühte, wie? Kennt keine Angst.«

Alle Rückenschwimmerinnen waren im Wasser, startbereit – bis auf Chaney, Bahn vier, die sich zum Takt irgendeines Stückes in ihrem Kopf wiegte, tänzelnd, mit schlenkernden Armen und aufreizenden Beckenstößen, ein rotzfreches Grinsen auf dem Gesicht. Sie drehte sich einmal ganz herum, bis sie Bart Sager im Blick hatte. Und streckte ihm die Zunge heraus.

Ich wiederhole. Letzter Aufruf 200m Rücken der Frauen. Vier Bahnen.

Liz Chaney kratzte sich die Rippen wie ein Affe.

Schwimmerinnen bitte ins Wasser. Bahn vier!

Sie machte einen kleinen Satz und hüpfte mit angezogenen Knien ins Wasser. Raunen stieg unter die Decke, Gelächter. Ich blickte zu Sager hinüber, sah ein schweißrotes Gesicht und ein Grinsen. Ich fragte Pete, ob etwas dran wäre an dem Gerücht.

An welchem?, fragte er. Dass Bart Sager verliebt sein soll, sagte ich. Und er erwiderte: Sieht so aus, nicht?

Auf die Plätze.

Auf Bahn vier packte Liz Chaney den Griff unterm Startblock, den Rücken perfekt überm Wasser gewölbt. Von einem Augenblick auf den anderen war das Grinsen von ihrem Gesicht gewischt. Als das Startkommando fiel, warfen sich acht Schwimmerinnen im Bogen nach hinten, durchbohrten die wachsstiftblaue Fläche mit den Händen, versanken – Tauchzug, Delphinbeinschlag –, kamen hoch, und da hatte Chaney schon eine Länge Vorsprung.

Ich fahre dem in Violett versinkenden Himmel entgegen, biege aus der Campus-Zufahrt nach links auf die Route 3. Es gab noch anderes in Indianapolis. Ich saß nach dem Wettkampf allein auf der Tribüne, McMullen samt Stoppuhr längst verschwunden, und registrierte, wie gründlich die grellen Neon-Deckenleuchten die müden alten Flecken von den Wänden wischten. Das einzig Neue am Stadion war das Becken, schimmernde, strahlende, kühl zwinkernde Einladung. Ich wartete auf irgendein Geräusch, ein Tropfen, war mir einen Augenblick, plötzlich, unvermittelt dieses dunklen Mutterseelenalleinseins in mir bewusst, das mich ganz in die Tiefe reißen konnte. Das passierte schnell, wenn ich es zuließ, passierte, wenn ich allein war.

Aber ich war nicht allein. Es war noch jemand da, und ich beobachtete sie: eine breitschultrige, hochgewachsene junge Frau, die hinter den Startblöcken auf und ab wandelte, wehmütig wirkte, ein bisschen verloren, unendlich allein, wie sie da herumirrte, die Sporttasche mit der geprägten Aufschrift Southern – The Big U schlenkernd. Die Worte rutschten mir unversehens heraus: »Babe.«

Ich beugte mich über das Tribünengeländer und hielt ihr die ausgestreckte Hand hin.

»Babe, ich bin Bren Allen. Frauentrainerin an der Northern Massachusetts.«

Wir gaben uns die Hand. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich verändert seit den Jugendmeisterschaften, war nun nicht mehr so offen wie damals. Ihr Gesicht wirkte älter, angespannt, von einem überraschenden Unbehagen gezeichnet, das sehr tief zu gehen schien. Immer noch war ihr Körper rank und vollkommen, geradezu für den Sport geschaffen. Großartige Anlagen. Kay würde gesagt haben, ich führte mich auf wie ein verdammter Nazi – dieser ganze Vererbungsmist. Wie auch immer, ich lächelte sie an.

»Lief nicht so gut heute, wie?«

Sie schüttelte kurz den Kopf, müde.

»Passiert allen mal. Wer das Gegenteil behauptet, lügt. Aber mir ist etwas aufgefallen. Ich glaube – ich glaube, du könntest aus deinen Wenden mehr herausholen.«

»Meinen Sie?« Die Reaktion war prompt und eifrig. »Das sage ich ja auch immer, aber er … also« – sie verstummte plötzlich, verlegen, wollte nicht unloyal sein. Ich gab mich diplomatisch und winkte beschwichtigend ab.