Kirche plural -  - E-Book

Kirche plural E-Book

0,0

Beschreibung

Die Weitergabe des Glaubens in seiner existenziell erlebten Form will im Rahmen bekannter Strukturen wie der klassischen Pfarrgemeinde heutzutage immer weniger gelingen. Ein gewisses Segment junger Menschen findet stattdessen in anderen Settings – teils im katholischen Movimenti-Sektor, teils im freikirchlichen oder auch im konfessionell diffusen Raum – Anschluss. Wie diese Pluralisierung zu beurteilen ist und welche Antworten die Theologie geben kann, beleuchtet Heft 2/2021: "Kirche plural".

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 266

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

ThPQ 169 (2021), Heft 2

Schwerpunktthema:

Kirche plural

Ines Weber

Liebe Leserin, lieber Leser!

Martin Ebner

Zur Vielfalt neutestamentlicher Gemeindemodelle

1 Der Rat entscheidet: ein presbyteriales Modell

2 Die Ekklesia hat das Sagen: ein bottom up-Modell

3 Der Bischof hat das Sagen: ein top down-Modell

4 Historischer Vergleich, historische Entwicklung und eine hermeneutische Überlegung

5 Eine auffällige Leerstelle und eine Verweigerung

6 Der dünne Ast, auf dem wir sitzen

7 Kirche plural, aber nicht beliebig

Petrus A. Bayer

Tridentinum und frühneuzeitlicher Katholizismus. Nicht so uniform wie gemeinhin angenommen

1 Kirchesein im Selbstverständnis der Konzilsväter

2 Fehlende Bischöfe, fehlende Ausbildung, fehlende Kontrolle

3 Plurale Frömmigkeit vor Ort

Daniel Minch

Pluralität, Endlichkeit und social imaginaries: Systematisch-theologische Überlegungen zu „Kirche plural“

1 Synchrone und diachrone Pluralität und social imaginaries

2 Glaube und Entwicklung im modernen social imaginary

3 Endlichkeit und die theologische Grundlage von ,Kirche plural‘

4 Das Verständnis der Kirche im Kontext des Schöpfungsglaubens

4 Fazit

Olaf Müller

Religiöse Pluralität und Kirchlichkeit. Religionssoziologische Ansätze − empirische Befunde

1 Einleitung

2 Pluralität und Pluralisierung in der religionssoziologischen Debatte

3 Ausgewählte empirische Befunde aus Deutschland, Österreich und der Schweiz

4 Resümee und Ausblick

Georg Plank

„Die Kirche ist doch kein Unternehmen!“Plädoyer für eine innovative Kultur

1 Ein persönlich-biografischer Zugang

2 Plurale Kirche in einer pluralen Welt

3 Problemzone lokale Gemeinde

4 Wie vorgehen in komplexen Zeiten?

5 Kultur – Kultur – Kultur

6 Existenzrelevanz

7 Drei Charakteristika einer neuen Kultur

8 Fazit

Abhandlungen

Markus Knapp

„Wir sind unfähig zu erkennen, was Gott ist und ob er ist“ (Blaise Pascal)

Fundamentaltheologie unter nachmetaphysischen Prämissen

1 Zum Stand der Fundamentaltheologie

2 Nachmetaphysische Prämissen

3 Die nachmetaphysische Perspektive Pascals

Bettina Brandstetter

Orte der Kinder als Orte der Theologie. Kindergarten im Kontext kultureller und religiöser Vielfalt

1 Der Kindergarten – ein Garten für Kinder

2 Migration als Sondersituation

3 Migration als ‚Zeichen der Zeit‘

4 Religionspädagogische Verunsicherungen

5 Orte der Kinder als ‚loci theologici‘

Literatur

Das aktuelle theologische Buch 1

Das aktuelle theologische Buch 2

Besprechungen

Eingesandte Schriften

Aus dem Inhalt des nächsten Heftes

Redaktion

Kontakt

Anschriften der Mitarbeiter

Impressum

Liebe Leserin, lieber Leser!

Vielfältig, differenziert, diversifiziert, global, multikulturell, multireligiös, heterogen – mit einem anderen Wort: plural –, so nehmen wir unsere westlich-demokratische Gesellschaft heute wahr, und mit diesen Begriffen wird sie von den entsprechenden Wissenschaften beschrieben. Denk- und Handlungsweisen, Ideen und Vorstellungen, Weltdeutungen und Meinungen, Organisations- und Sozialformen, ganze Lebensentwürfe existieren in einer kaum noch überschaubaren Vielfalt mehr oder weniger gleichberechtigt nebeneinander.

Aber Kirche? Ist sie auch plural? Bildet sie die Vielfalt der Umgebungsgesellschaft ab? Hat sie auf die Pluralitätsentwicklungen schon reagiert und bietet sie dem postmodernen Menschen unterschiedliche Möglichkeiten und Angebote, dies auch, um zeitgemäß zu sein und zu bleiben? Oder steckt sie in einem System fest, das sich vermeintlich über Jahrhunderte etabliert hat und aus dem sie nicht rauszukommen vermag? Muss denn Kirche überhaupt plural sein oder unterminiert sie damit ihre Botschaft und verliert so an Glaubwürdigkeit? Auf diese Fragen sucht das aktuelle Themenheft in gewohnter Weise Antworten von unterschiedlichen Blickwinkeln aus.

Zunächst führt der Bonner Neutestamentler Martin Ebner vor Augen, wie vielfältig die Organisationsformen von Christentum gleich zu Beginn seiner Geschichte gewesen sind. Mal dem Vorbild des jeweiligen kulturellen Umfeldes nachempfunden, mal bewusst als Gegenmodell elaboriert, waren sie demokratisch, oligarchisch oder monarchisch verfasst, bei einer zugleich erstaunlichen Leerstelle: das spätere Priesteramt kennt man nicht. Die Art und Weise, wie die ersten Christinnen und Christen sich vergesellschaftet haben, kann Vorbildwirkung für heute haben. Petrus Bayer, Kirchenhistoriker und Prämonstratenser Chorherr von Schlägl, schließt hier insoweit an, als er das Bild vom uniformen und homogenen Tridentinischen Katholizismus als Mythos entlarvt. Von den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen des späten 19. Jahrhunderts zur Abgrenzung gegenüber der Umgebungsgesellschaft erschaffen, hält es der historischen Analyse nicht Stand. Noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts blieben die Gemeinden vor Ort plural in der Frömmigkeit und ohne einen residierenden Bischof. Die nachreformatorisch neu geschaffenen Normen waren mit der sozialen Wirklichkeit der Menschen nicht kompatibel und konnten nur langsam und mühselig in den jeweiligen kulturellen Kontext integriert werden. Auf das Phänomen der Pluralität als im Menschsein selbst begründet verweist der Grazer Systematiker Daniel Minch. Gesellschaftliche Wirklichkeit wird von verschiedenen Individuen konstruiert und führt zwangsläufig zur Vielfalt. Demnach kann und muss Kirche, will sie authentisch sein, plural bleiben, was angesichts des Transzendenzbezugs nicht zur Beliebigkeit führt. Ob Pluralität bzw. Pluralisierung am Ende Religion befördere oder hemme, erörtert Olaf Müller, Religionssoziologe in Münster, vor dem Hintergrund der aktuell diskutierten Theorien und wirft dabei einen Blick auf die konkreten Fallzahlen zu Kirchenaustritten seit den 1950er-Jahren. Er kommt zu dem Schluss, dass Entkirchlichung heute weniger auf den Wandel der Religiosität der Menschen zurückzuführen sei, als vielmehr auf den Bedeutungsverlust von Religion als solcher. Ihre Plausibilität gelte es neu zur Sprache zu bringen, dann könne Kirche auch konkurrenzfähig bleiben. Für einen solchen Ansatz votiert auch der Theologe und Unternehmensberater Georg Plank. Wenn Kirche noch viel deutlicher hinsichtlich Ideen und Gedanken, Sozial- und Organisationsformen in den produktiven Austausch mit der Umgebungsgesellschaft ginge, könnte sie von den Erfahrungen der Akteurinnen und Akteure im außerkirchlichen Bereich profitieren. Dabei gelte es zugleich das genuin Christliche als Innovationskraft einzubringen, indem es als Erbe wieder mehr in die heutige Zeit hinein übersetzt werde.

An alle diese Überlegungen schließen auch die beiden freien Beiträge an. Thomas Knapp fragt danach, wie die Fundamentaltheologie angesichts einer zunehmenden Säkularisierung im Dialog mit einer pluralen Gesellschaft das theologische Wirklichkeitsverständnis verantwortet zur Sprache bringen kann. Bettina Brandstetter plädiert dafür, Kindertageseinrichtungen mit ihrer Multikulturalität und Multireligiosität als ‚loci theologici‘ anzunehmen. Beide Beiträge waren als Vorträge zu Ehren des Linzer Fundamentaltheologen Hanjo Sauer aus Anlass seines 75. Geburtstags gehalten worden und kommen hier – gefolgt von zwei weiteren im nächsten Heft – zum Abdruck.

Geschätzte Leserinnen und Leser!

Kirche ist von Beginn an plural gewesen, und sie ist es über die Jahrhunderte geblieben. Unterschiedliche Kirchen- und Gemeindemodelle mit ihren verschiedenen Ämtern und Diensten sowie ihren diversen Frömmigkeitsformen boten und bieten – immer wieder überdacht und korrigiert – die Möglichkeit, dem Christentum eine soziale Gestalt zu geben sowie den Glauben konkret zu leben. Darum stets verantwortet zu ringen und daran weiterzubauen, wird die bleibende Aufgabe von Kirche sowie die einer jeden Christin und eines jeden Christen sein.

Nicht nur die Kirche ist – bei allen Kontinuitäten – steten Wandlungen unterworfen, mit einem Wort: plural. Das gilt auch für unser Redaktionsteam. Susanne Gillmayer-Bucher, Professorin der Alttestamentlichen Bibelwissenschaft, hat sich anderen Verantwortlichkeiten innerhalb unserer Universität gestellt. Ihr danken wir sehr herzlich für ihren wachen Blick und ihre konstruktiven Ideen. Wir freuen uns, dass an ihre Stelle ein altbekannter Experte tritt: Wir begrüßen Franz Gruber, den langjährigen ehemaligen Chefredakteur unserer Zeitschrift, der uns mit seinem Ideenreichtum und seiner interdisziplinären Kompetenz wieder bereichern wird.

Ihre

Ines Weber

(Chefredakteurin)

Martin Ebner

Zur Vielfalt neutestamentlicher Gemeindemodelle

♦ In erfrischender Weise zeigt der Verfasser, Prof. em. für Neues Testament, in seinem Beitrag auf, dass es nach dem Ausweis der ntl. Schriften in der Zeit des frühen Christentums unterschiedliche Formen der Gemeindeorganisation gegeben hat, die gleichberechtigt nebeneinander existierten. Neben solchen, die von einem Ältestenrat (Prebyterium) geführt wurden, gab es in paulinischen Gemeinden andere, in denen die Ekklesia basisdemokratisch entschied. In den Pastoralbriefen wird dieses Modell jedoch umgeformt in eines, in welchem ein Bischof letztlich alles beaufsichtigt und verantwortet. Dieses römische Modell sollte dazu dienen, dass die Gemeinde in der Öffentlichkeit anerkannt wird. An diese Übersicht schließt der Verf. spannende Überlegungen an, welche Konsequenzen eine Umsetzung des biblischen Befundes in unserer Zeit haben könnte. (Redaktion)

Das Neue Testament bietet einen Katalog von ganz verschiedenen Gemeindemodellen. Nachdem sie alle getrennt und unvermischt in den Kanon aufgenommen wurden, sind sie auch alle gleich gültig. Anders gesagt: Die unterschiedlichen Gemeindemodelle als konkrete Organisationsformen der Nachfolge Jesu sind samt und sonders als orthodox ausgewiesen – und für den möglichen Einsatz auch in der Zukunft im Kanon „aufbewahrt“; im besten Sinn des Wortes aktualisierbare heilige Tradition – plural eben.

Nachdem alle diese Modelle Leitbegriffe, Konzeptionen und sogar Verfahrensabläufe von Organisationsformen aufweisen, wie sie zeitgleich in den Städten des Römischen Reiches praktiziert wurden, dürfen wir davon ausgehen, dass christusgläubige Gruppen des 1. und 2. Jahrhunderts, um sich selbst zu organisieren, auf bereits Erprobtes und ihnen Bekanntes rekurrierten – mit eventuellen kleineren Veränderungen. Und darin kommt dann das „unterscheidend Christliche“ zum Vorschein.

In dieser Perspektive können wir getrost von frühchristlichen Gemeindeverfassungen sprechen; und für die Analyse reichen spezifische Indizien als Links zu den entsprechenden Organisationsformen der Städte, um auf analoge Strukturen in christusgläubigen Gemeinden zu schließen. Eigens hervorgehoben in den Texten wird das Besondere, nicht das Selbstverständliche.

1 Der Rat entscheidet: ein presbyteriales Modell

Am häufigsten erscheint im NT die presbyteriale Verfassung. Der Leitbegriff, der auf sie hinweist, ist „Presbyter“ als Amtsbezeichnung. Was ein „Presbyter“ („Ältester“) ist, weiß im ersten nachchristlichen Jahrhundert jedermann: Ein Ratsherr, der als Mitglied eines Ältestenrats fungiert, im Westen Senat, im Osten Boule oder Gerusie genannt. In diesem Gremium werden die Probleme der Stadt verhandelt: Anträge diskutiert, Beschlüsse vorbereitet und im Normalfall auch per Abstimmung entschieden. Die dafür geprägte Floskel lautet: „Es gefiel …“ Im Dativ folgt das Beschluss fassende Subjekt. Der Volksversammlung, Ekklesia genannt, werden die Beschlüsse dann zur Bekanntmachung vorgelegt.1 Ebenfalls per Abstimmung entschieden werden kann dort eventuell über Personalien, also zum Beispiel wer für eine Gesandtschaft berufen werden soll. „Älteste“ werden gewöhnlich durch Kooptation bestimmt, also vom Gremium selbst nachgewählt. Nur die Magistrate, die Exekutiv-Vollmacht haben, im Osten Archonten genannt, werden durch die Ekklesia gewählt. Ihnen obliegt es, für die Durchführung der Beschlüsse des Rates zu sorgen. Aber sie sind es auch, die den Rat einberufen und die Sitzungen leiten. Sie haben generelles Vetorecht und sind (analog zu den stadt-römischen Konsuln) prinzipiell für alles zuständig.2 Ein aristokratisches System also – mit einem präsidialen Einschlag.

Im NT kommt für eine solche presbyteriale Verfassung in erster Linie das lukanische Doppelwerk in Frage, aber auch Jak, 1 Petr und Offb. In einem Fall wird uns sogar das Verfahren für eine Entscheidungsfindung detailliert erzählt: der Apostelkonvent in Apg 15.3 Es geht um eine soteriologische Frage erster Klasse: Ist die Beschneidung unabdingbare Voraussetzung für die eschatologische Rettung? Folgender Ablauf lässt sich rekonstruieren: In Antiochia tauchen (wie sich später, vgl. V. 24, herausstellt: unautorisierte) Spitzel auf. Sie monieren den heilsrelevanten Formfehler der dortigen Missionspraxis: den Verzicht auf Beschneidung bei der Aufnahme von Heiden ins Gottesvolk (V. 1.3). Es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen, die sich vor Ort nicht lösen lassen.

Die Gemeinde schickt deshalb eine Abordnung nach Jerusalem: Paulus, Barnabas und weitere Gemeindeglieder. Beim Empfang in der Jerusalemer Ekklesia (so nennt auch Lukas die Gesamtgemeinde) beharren getaufte, christusgläubige Pharisäer auf der Forderung: „Man muss sie beschneiden und (ihnen) gebieten, das Gesetz des Mose zu befolgen!“ (V. 5). Daraufhin ziehen sich die Apostel und die Ältesten zurück, um die Sache zu klären. Zwei unterschiedliche Voten werden vorgetragen: Petrus plädiert für den Verzicht auf jegliche Auflagen, Jakobus stellt den Antrag auf Minimalforderungen, die sich als Aktualisierung derjenigen Regelungen verstehen lassen, wie sie für „Fremde“ im Heiligen Land seit alters gelten (vgl. Lev 17,8 –12). Dass darüber abgestimmt worden ist und Jakobus sich durchgesetzt hat, erfahren wir erst später im Text, nämlich aus dem Brief, der den Jerusalemer Gesandten, die zusammen mit der Antiochenischen Abordnung den Beschluss übermitteln sollen, zur Legitimierung mitgegeben wird. Als Subjekte des Beschlusses (V. 28: „Es gefiel …) werden dort der heilige Geist sowie die Absender des Briefes, eben die Apostel und die Ältesten („wir“), genannt. Und die Ekklesia? Gemeinsam mit den Aposteln und Ältesten hat die Ekklesia die Verfahrensweise, wie sie vom Rat vorgelegt worden ist, beschlossen – und (wohl durch Abstimmung) die Personen für die Gesandtschaft ausgewählt: Judas und Silas (V. 22 vgl. V. 25; vgl. 6,5 f.).

Inhaltlich sind mehrere Punkte an dieser Darstellung auffällig: (1) Die Forderung der Beschneidung ist durch das forsche Votum des Petrus scheinbar augenblicklich vom Tisch! Jakobus versucht mit seinem Votum zu retten, was zu retten ist. (2) Gegenüber dem Wortlaut seines Antrags (V. 20) sind in der Formulierung der Beschlussfassung (V. 28 f.) kleinere Änderungen festzustellen, die – so werden kundige Leser ergänzt haben – sich durch die Diskussion des Antrags ergeben haben. (3) Die Abläufe und die Aufgabenverteilung bis hin zum Detail der Wahl der Gesandten durch die Ekklesia sind den Usancen der städtischen Verwaltung verblüffend ähnlich. Nur in einem Punkt nicht: (4) Es fehlt die Exekutiv-Ebene. Es gibt keine Magistrate oder Archonten (obwohl der Verfasser der Apg dieses Amt sehr wohl kennt: Apg 17,6.8; 19,31). Dafür steht an erster Stelle der Beschluss fassenden Subjekte der heilige Geist. Auch das lässt sich konkretisieren: Nachdem auch die Ratsmitglieder, wie alle Getauften (vgl. Apg 2,38), mit heiligem Geist ausgerüstet sind, spricht aus allen der heilige Geist – plural eben. Was Gottes Wille für die konkrete Situation dann wirklich ist, wird ganz pragmatisch auf demokratischem Weg ermittelt.4 (5) Auch vom Augenzeugen Paulus gibt es eine Schilderung des Apostelkonvents. Aber seine Darstellung in Gal 2,1–10 weicht sowohl im Ablauf als auch besonders im Ergebnis der Verhandlungen stark von Apg 15 ab. Hier liegt also eine im Rückblick idealtypisch stilisierte Variante vor, die für die Leser als Modell für die Entscheidungsfindung gedacht ist, wenn es um ähnliche brisante theologische Weichenstellungen geht.

2 Die Ekklesia hat das Sagen: ein bottom up-Modell

Im Gemeindemodell des Paulus geht alle Gewalt von der Ekklesia, der Gemeinde-Vollversammlung aus. Allerdings ist das in den Städten seiner Zeit nicht nur die Ausnahme, sondern auch ein Auslaufmodell: Schon in klassischer Zeit war dieses extreme bottom up-Modell eigentlich nur in Athen zu finden, dort mit gezielten Vorkehrungen gegen Wissens- und Machtkumulation: alle Ämter rotieren, die Einsetzung geschieht durch Losverfahren. Zur Zeit des Paulus lassen sich nur wenige Städte in der Peripherie nennen, wo noch immer die Ekklesia das Sagen hat;5 und Vereine mit Mitgliedern aus vorzugsweise unteren Schichten, aber auch dort nur annäherungsweise.6 Der Apostel aktiviert also für die Christusgläubigen ein selten gewordenes demokratisches Extremmodell: Die Ekklesia stimmt ab (vgl. 2 Kor 8,19), und auch der Apostel richtet sich nach der Mehrheit (2 Kor 2,5 f.; vgl. 1 Kor 5,3–4).

Als Leitmetapher gilt: „Ihr seid ein Leib Christi“ (1 Kor 12,27) – mit vielen unterschiedlichen Gliedern, die aber alle notwendig sind, damit der Leib funktioniert. Jede und jeder hat eine von Gott geschenkte Kompetenz, Charisma genannt. Wenn das Charisma eines Getauften passgenau zum Einsatz kommt, dann realisiert sich darin die „Einsetzung“ durch Gott – allerdings nicht zur eigenen „Erbauung“ oder zum Prestigegewinn, sondern zur „Auferbauung“ der Gemeinde (vgl. 1 Kor 14,1–25). Auch die Fähigkeit zur Moderation ist ein Charisma, in Korinth „Steuermannskünste“ (im Plural!) genannt (1 Kor 12,28); in Philippi ist das wohl Sache der „Bischöfe“, die Paulus im Präskript eigens grüßt (Phil 1,1).

Jedoch ist bei Paulus ein Punkt auffällig anders als gewohnt: Zur städtischen Ekklesia haben nur freie Männer mit Bürgerrecht Zugang, das gewöhnlich von Generation zu Generation vererbt wird, also durch die Geburt vorgegeben ist. Für die „Ekklesia Gottes“ (vgl. 1 Kor 1,1 u. ö.) kann sich jede und jeder entscheiden: durch den Glauben an Jesus Christus – egal ob Mann oder Frau, Freier oder Sklave, mit oder ohne Bürgerrecht (vgl. Gal 3,28). Sie alle sind „Vollbürger“ – mit dem ekklesialen Rede- und Abstimmungsrecht bei absoluter Gleichbehandlung aller, gerade auch der Frauen, wie die unverdächtige Passage in 1 Kor 11,2–16 zeigt. Dort will Paulus die korrekt unterschiedliche Haartracht für Mann und Frau regulieren – und hält geradezu nebenbei fest, dass Mann wie Frau in der Ekklesia sowohl laut beten als auch prophetisch reden (V. 4–5).

Und das ausgerechnet im kaiserzeitlichen Korinth, das rechtlich den Kolonie-Status hat, also eine Rom-Kopie darstellt, mit dem Sitz des Statthalters als Repräsentanten des Kaisers vor Ort und der Organisationsstruktur, wie sie in der Stadt Rom üblich ist, wo der Senat „beschließt“, was dem Kaiser genehm ist. Insofern ist es geradezu ein Treppenwitz der Geschichte, dass just die Paulusenkel genau diese typisch römische Verfassungsform den christusgläubigen Gemeinden paulinischer Tradition aufpfropfen wollen, welche die volle Verfügungsgewalt einem Einzelnen an der Spitze in die Hände legt, der wie ein Monarch in allen Bereichen entscheiden kann: ein top-down-Modell.

3 Der Bischof hat das Sagen: ein top down-Modell

Geschickt nennen die Pastoralbriefe an Timotheus und Titus (1 Tim, Tit) diese kumulative Vollmachtsposition Bischof/Episkopos. Damit legen Sie einen Link zu einem authentischen Paulusbrief, dem Philipperbrief, in dessen Präskript Paulus die Bischöfe (und Diakone) grüßt. Aber anstelle von vielen Bischöfen, die in Philippi vermutlich als Moderatoren fungierten und von denen im Rest des Briefes mit keinem Wort mehr die Rede ist, gibt es in den Pastoralbriefen jeweils nur noch einen einzigen Bischof pro Kirchenbezirk, dessen Gebiet – zufällig (?) – mit dem römischen Provinzzuschnitt in eins fällt: Für Titus ist es Kreta (Tit 1,5), für Timotheus die Provinzhauptstadt Ephesus als Zentralort (1 Tim 1,3). Von der Form her sind 1 Tim und Tit gestaltet wie die Briefe, die der Kaiser seinen Statthaltern zur Legitimation beim Dienstantritt in den Provinzen und gleichzeitig als to-do-Liste mitgibt, mandata principis genannt.7 Darin finden sich Anweisungen für den Statthalter (in der zweiten Person formuliert) und an bestimmte Bevölkerungsgruppen (in der dritter Person formuliert). Auch von „Paulus“ wird für Timotheus und Titus eine to-do-Liste zusammengestellt, welche die beiden – sozusagen als Musterbischöfe – jeweils in ihrem Verantwortungsbereich abarbeiten sollen.

Genau genommen handelt es sich um einen konzeptionellen wie personellen Umbauplan für die Gemeinden in paulinischer Tradition: Die Ekklesia, die sozial durchmischte Vollversammlung der prinzipiell gleichwertig agierenden Getauften, soll künftig als Haus geführt werden (1 Tim 3,15). Das ist die neue Leitmetapher, an der sich die Um-Organisation ausrichtet. Die Realien hat jeder „im Blut“: In einem römischen Haushalt hat, wie ein Monarch, nur ein Einziger das Sagen, der sog. pater familias. Diese Rolle übernimmt in den Pastoralbriefen der „Bischof“. Wie ein „Hausverwalter (oikonomos) Gottes“ soll er seinen Kirchensprengel leiten (Tit 1,7). Und folgerichtig ist das entscheidende Qualitätsmerkmal für das Amt der Episkope, dass der Bewerber „dem eigenen Haushalt gut vorsteht, Kinder in Unterordnung hat, in aller Anständigkeit. Wenn nämlich einer dem eigenen Haushalt nicht vorzustehen versteht, wie soll er Sorge tragen können für die Ekklesia Gottes?“ (1 Tim 3,4–5).

Wie in einem kleinen Haushalt dem pater familias, so ist im „Haus Gottes“ dem Bischof die absolute Kontrolle über die Finanzen, über die unterschiedlichen Personengruppen, die ihm unterstellt sind, sowie über die kultischen Handlungen in die Hände gelegt: Die Presbyter, die es inzwischen auch in paulinischen Gemeinden gab und die natürlich als Gremium agierten,8 soll er zukünftig selbst auswählen und durch Handauflegung einsetzen (1 Tim 5,22; Tit 1,5), ihnen nicht nur in Streitfällen beistehen bzw. tatsächliche Verfehlungen offenlegen, sondern sie bei guter Leistung auch mit doppelter Vergütung belohnen (1 Tim 5,17–20).

Besonders betroffen von den Umbauplänen sind die Frauen, die bis dahin, wie in paulinischen Gemeinden üblich, in Katechese und Diakonie öffentlich tätig waren. Sie sollen, wie es sich für einen geordneten römischen Haushalt gehört, in das Privathaus verbannt werden – in Unterordnung unter einen pater familias. Insbesondere für die sog. „jungen Witwen“ wird das ausführlichst verfügt: „Sie sollen heiraten, Kinder gebären, im Haus alles zum Rechten lenken und (so) keinerlei Anlass zu übler Nachrede für den Widersacher geben!“ (1 Tim 5,14). Generell wird ihnen in der Öffentlichkeit nicht nur der Mund verboten, sondern sie werden auch rangmäßig dem Mann unterstellt: „Zu lehren erlaube ich einer Frau nicht. Auch nicht eigenmächtig zu handeln gegenüber einem Mann“ (1 Tim 2,11), eine Anweisung, wie sie in ähnlicher Form schon im Zuge der Sammlung der Paulusbriefe in einen authentischen Brief „interpoliert“ worden ist und dort als Störfaktor erkennbar bleibt (1 Kor 14,34 f.).

Im kleinen Haus muss gelernt und eingeübt werden, was im großen Haus funktionieren soll. Das hat schon Kaiser Augustus erkannt: Er ließ sich als pater patriae stilisieren und reagierte äußerst sensibel auf liberalisierende Tendenzen in der Haushaltsführung, z. B. mit seinen Ehegesetzen, die unter Androhung von Sanktionen Mann wie Frau zur Heirat zwingen wollten. Der Umbauplan der Pastoralbriefe sorgt da gewissenhaft vor: Wie ein perfekter römischer Großhaushalt organisiert, sollen sich die christlichen Gruppen als passgenauer Mosaikstein in das Römische Imperium einfügen, als Muster-Römer sozusagen. Das unterscheidend Christliche ist hier die Bezeichnung des Leitungsamtes als „Bischof“ – nicht das Konzept. Eigentlich ein Etikettenschwindel.

4 Historischer Vergleich, historische Entwicklung und eine hermeneutische Überlegung

Alle drei Verfassungsformen, das Präsidialmodell, das bottom up- genauso wie das top down-Modell, werden im Imperium Romanum im 1. und 2. Jahrhundert gleichzeitig praktiziert. Im griechischen Osten ist das aristokratische Präsidialsystem am häufigsten anzutreffen. Allerdings wird auch hier das top down-Modell bestimmend – und es wird sogar von vielen Städten angestrebt (s. u.). Höchst selten und nur in der Peripherie ist das bottom up-Modell zu finden. Im Neuen Testament ist es genau umgekehrt – mit einer ausgesprochenen Aversion gegen eine mit Anweisungsvollmacht ausgestattete „obere Ebene“: Das bottom up-Modell ist nicht nur in den authentischen Paulusbriefen die Grundlage, sondern z. B. auch im Matthäusevangelium, wo die Ekklesia in Personalfragen berät und abstimmt (18,15–17).

Die Schriften, die Presbyterkollegien aufweisen, also nach dem aristokratischen Modell organisiert sind, blenden auffälligerweise die „obere Ebene“ der Archonten aus. Nach Paulus gehören die Archonten zum Erscheinungsbild „dieser Welt“. Ihnen droht nichts anderes als die eschatologische Vernichtung (1 Kor 2,6.8; 15,24). Den expliziten Ausschluss eines pater familias für die Nachfolge-Gemeinde formuliert das Markusevangelium (10,29 f.; vgl. 3,31–35). Die johanneischen Schriften präsentieren gar eine „Gemeinde ohne Amt“.9 Es sind allein die Pastoralbriefe, die das top down-Modell vehement und konsequent als Umbauplan für die christusgläubigen Ekklesien durchziehen. Von der Textmenge her fallen ihnen gerade einmal gut 2 % des gesamten Neuen Testaments zu. Aber in der geschichtlichen Entwicklung haben sie sich durchgesetzt, gegen die Tendenz der anderen neutestamentlichen Schriften.

Im Kontext der Zeit gesehen propagieren die Pastoralbriefe jedoch eigentlich eine Angleichung an den „Zeitgeist“. Für viele Städte in den Provinzen ist es zu beobachten: Um in den Genuss steuerrechtlicher und wirtschaftlicher Vorteile zu kommen, sind sie geradezu darauf erpicht, den Status einer „römischen Stadt“ von Rom zuerkannt zu bekommen – und sind dafür bereit, schon im Vorfeld ihre eigenen Organisationsstrukturen entsprechend umzubauen. Die Pastoralbriefe wollen diesen Schritt einleiten, um als relativ autarker „Großhaushalt“ von Rom anerkannt zu werden. Sie verehren zwar nicht die römischen Götter, aber sie sind den „Oberen“ gegenüber loyal (vgl. 1 Tim 2,1 f.) und weisen eine straffe Unterordnungsstruktur nach römischer Manier auf (vgl. Tit 3,1).

Sofern am Modell der Pastoralbriefe auch für unsere Zeit – hermeneutisch adäquat – festgehalten werden soll, hieße das: Umbau der kirchlichen Strukturen durch Angleichung an die Mainstream-Verfassungen der westlichen Welt, also demokratische Verfahrensweisen mit Abstimmung über alle relevanten Sachverhalte in gewählten Gremien, Gleichstellung von Mann und Frau auf allen Ebenen. Versuchen die Pastoralbriefe die Christusgläubigen als die besseren Römer zu präsentieren, so wäre es – in dieser Linie weitergedacht – Aufgabe heutiger Gemeinden, sich als die besseren Demokraten zu beweisen: im Experimentieren mit neuen Diskussionsformen, fairen Auseinandersetzungen und Abstimmungen, deren Ergebnisse auch von der unterlegenen Minderheit akzeptiert und mitgetragen werden; Lukas würde sagen: als Wille Gottes.

5 Eine auffällige Leerstelle und eine Verweigerung

Der Katalog der Gemeindemodelle wäre nicht vollständig vorgestellt, wenn nicht, sozusagen als Gegenprobe, auf eine empfindliche Leerstelle im Ämterreigen hingewiesen würde – und auf eine konzeptionelle Verweigerung. Es geht um den „Priester“ und um das Sukzessionsmodell samt Kleriker-Laien-Ständetrennung.

Das deutsche Wort „Priester“ leitet sich zwar etymologisch vom griechischen „Presbyter“ ab, hat damit aber nicht das Geringste zu tun. Ein Presbyter ist ein Ratsherr im Rahmen der städtischen Administration. Ein Priester (griech. hiereus, lat. sacerdos) ist für die korrekte Durchführung des Kults zuständig.10 Sein „Arbeitsplatz“ ist der Steinaltar, auf dem er nach einem streng einzuhaltenden Ritual Tiere opfert: Unter seiner Aufsicht werden die Tiere auf ihre Fehlerlosigkeit hin geprüft (hostia immaculata), geschlachtet, zerteilt und schließlich auf dem Altar dargebracht. Das geschieht vor den Tempeln genauso wie in den Vereinshäusern. Priester und Tieropfer gehören zum alltäglichen Erscheinungsbild einer antiken Stadt.

Um so erstaunlicher ist es, dass Priester in keinem einzigen der neutestamentlichen Gemeindemodelle einen Platz haben, wohlgemerkt: menschliche Priester im Gegenüber zu Nichtpriestern. Das hätte sich von den Wurzeln im Judentum an sich nahegelegt. Priester sind da so etwas wie eine Erb-Aristokratie. Ihnen allein obliegt es, durch Opferriten Sühne vor Gott zu erwirken und dann die Sündenvergebung zuzusprechen (vgl. Lev 4–5). Besondere Betonung erfährt der Abstand zu den Nichtpriestern: konzeptionell durch besondere Reinheitsgebote, architektonisch durch Tabuzonen im Tempel. Der Altarraum z. B. darf nur von Priestern betreten werden.

Auf diesem Hintergrund ist die Leerstelle „Priester“ in neutestamentlichen Gemeindemodellen ein schrilles Ausrufezeichen: Für die Feier des Herrenmahles braucht es laut Kanon weder Priester noch Altar, ein Tisch (trapeza) genügt (vgl. 1 Kor 10,21). Und ein Standesunterschied zwischen christusgläubigen Priestern und christusgläubigen Nicht-Priestern stünde im eklatanten Widerspruch zu Gal 3,28, wonach sich der Glaube der Christen gerade darin zeigt, dass bei ihnen alle gesellschaftlich wie religiös verankerten Dichotomien ihre Gültig- und Wertigkeit verloren haben: „Da ist nicht mehr Jude noch Grieche, nicht mehr Freier noch Sklave, nicht mehr Mann und Frau.“

Nein: Priester als Stand, der sich von anderen absetzt, wie es die jüdischen Wurzeln genauso wie die alltägliche Erfahrungswelt der Städte vorgaben, wird vom gesamten Kanon ausgeschlossen. Anders ist es mit der Vorstellung von den Christusgläubigen als einem „priesterlichen Volk“, in dem dann alle als Priester gelten, eine Konzeption, von der – unter Rückgriff auf die sozusagen demokratisierte priesterliche Alternativkonzeption in Ex 19,6 – in 1 Petr 2,9 die Rede ist. Oder in der Himmelsstadt-Vision der Offb davon, dass alle Stadtbewohner Priester (und Könige) sind, ohne dass es Nicht-Priester (oder Sklaven) als Gegenüber gäbe – und ohne dass ein Tempel zu sehen wäre (21,22). Trotzdem haben alle Bewohner sogar eine hohepriesterliche Würde; denn die Stadt, die aus dem Himmel herabsteigt, ist ein Kubus mit 12.000 Stadien auch in der Höhe – und hat damit die außergewöhnliche und utopisch gesteigerte Form, wie sie für das Allerheiligste des Jerusalemer Tempels vorgesehen war, das nur der Hohepriester einmal im Jahr betreten durfte.

Oder: Jesus ist der einzige Priester. In der Deutung des Kreuzestodes sieht der Hebräerbrief Jesus allein als Hohepriester fungieren; er bewirkt im himmlischen Zelt das, was auf Erden im Schattenbild des irdischen Zeltkultes niemals zur Vollendung kommt: die Sündenvergebung, ein für alle Mal, mit der Eröffnung des unmittelbaren Zutritts zum Gottesthron – für alle Glaubenden.

Außerdem ist von einer Verweigerung zu sprechen, und zwar gegenüber einer Konzeption, welche Jesus die Apostel einsetzen lässt, die ihrerseits Bischöfe und Diakone als Nachfolger bestimmen, damit diese wiederum so verfahren, sodass eine fortlaufende Sukzession entsteht, gegen die niemand vorgehen darf. Auf dem Hintergrund der alttestamentlichen Normal-Priesterkonzeption werden die so sukzessiv eingesetzten Amtsträger den „Laien“ gegenübergestellt, so der erste Klemensbrief als Reaktion auf die Absetzung von Presbytern in Korinth (1 Clem 40–44). Dieser Brief ist Ende des 1. Jahrhunderts entstanden, aber nicht in den Kanon aufgenommen worden.

6 Der dünne Ast, auf dem wir sitzen

In der historischen Entwicklung betrachtet müssen wir sagen: Die heute übliche und scheinbar unveränderbare Struktur der (katholischen) Kirche mit monarchisch agierenden Bischöfen, die – wie der antike pater familias − volle Vollzugsgewalt in Recht, Finanzen und Liturgie haben und um sich einen „Klerus“ scharen, entspringt (a) zwei Außenseiterschreiben des Neuen Testaments (1 Tim; Tit). Weiterentwickelt wurde diese Konzeption (b) durch ein Stabilisierungsmodell, das Bischöfe und Diakone auf dem Hintergrund der alttestamentlichen Priesterstand-Konzeption als Priester erscheinen lässt und sie den „Laien“ gegenüberstellt, denen es verwehrt ist, gegen diese von Gott verfügte Ordnung, d. h. gegen die durch Sukzession legitimierten Amtsträger vorzugehen, so 1 Clem.

Einen Rückhalt im orthodoxen Kanon hat dieses Modell nicht, im Gegenteil: Gerade dieses Schreiben, obwohl längst vorliegend, wurde in den Katalog der maßgeblichen Gemeindemodelle nicht aufgenommen. Präziser gesagt: Es wurde ausgeschlossen. Dass es schließlich doch zum symbolischen „Priestertum“ zunächst der Bischöfe, sodann auch der Presbyter gekommen ist, hat nach neuesten Forschungen mit dem Streben der Kleriker nach Professionalisierung zu tun, also der Besoldung durch die Gemeinden – und dadurch zur Freistellung vom Geldverdienst durch Alltagsberufe. Der Ruf nach asketischer Lebensweise und insbesondere der Ehelosigkeit der bis dahin (gemäß der Pastoralbriefnorm von 1 Tim 3,4 f.) verheirateten Bischöfe verdankt sich einem innerkirchlichen Konkurrenzkampf zwischen städtischen, zum Teil bereits luxuriös lebenden Klerikern und asketisch lebenden Mönchen im Umfeld der Städte – mit großer Anziehungskraft für alle, die ein offenes Ohr und verlässlichen Rat suchten. Durch die verpflichtende Übernahme der mönchischen Lebensform für die städtischen Kleriker sollte der inzwischen entstandene Vertrauensverlust ausgeglichen, wenn nicht wettgemacht werden. Eine verhängnisvolle Instrumentalisierung einer ursprünglich aus freiem Entschluss gewählten Lebensform. Dass erst in allerjüngster Zeit entsprechende historische Forschungen vorgelegt werden,11 spricht Bände.

7 Kirche plural, aber nicht beliebig

Kirche plural – das Urdokument des Christentums hält nicht nur einen Katalog von Möglichkeiten für die Organisation christusgläubiger Gruppen bereit, es setzt auch klare Marksteine und deutliche Begrenzungen. Damit ergeben sich für eine Strukturreform der katholischen Kirche nicht nur große Freiheiten, sondern auch eindeutige Absagen.

Der Autor:Martin Ebner, Jahrgang 1956, Priester der Diözese Würzburg, Studium der Theologie in Würzburg, Tübingen und an der École Biblique in Jerusalem, Promotion (1991) und Habilitation (1997) in Würzburg, 1998−2011 Professor für Exegese des Neuen Testaments in Münster, 2011–2019 in Bonn, seitdem im Ruhestand. Publikationen (Auswahl): Die Stadt als Lebensraum der ersten Christen. Das Urchristentum in seiner Umwelt I (GNT 1,1), Göttingen 2012; Inkarnation der Botschaft. Kultureller Horizont und theologischer Anspruch neutestamentlicher Texte (SBAB 61), Stuttgart 2015; Einleitung in das Neue Testament (zusammen mit Stefan Schreiber), Stuttgart 32020; GND 122153820.

Weiterführende Literatur:

– Ernst Dassmann, Ämter und Dienste in den frühchristlichen Gemeinden, Bonn 1994 (noch immer anregende Aufsatzsammlung insbesondere zur Herausbildung des Bischofsamts).

– Welt und Umwelt der Bibel Heft 97 (2020/3): „Diakone, Witwen, Presbyter“ (mit Originaltexten und Bildern unterlegte Darstellungen zur Ämterentwicklung in der frühen Kirche).

1 Zu den städtischen Organen im Rahmen der hell.-röm. Stadtkultur vgl. Martin Ebner, Die Stadt als Lebensraum der ersten Christen. Das Urchristentum in seiner Umwelt I (GNT 1,1), Göttingen 2012, 65−81.

2 Das alles wissen wir aus den sog. Stadtgesetzen, mit Rom vereinbarten Verfassungen, wie sie denjenigen Städten „gegeben“ wurden, die geregelte Verhältnisse mit der Imperialmacht anstrebten (s. 4.).

3 Ausführliche Darstellung mit Belegen bei Martin Ebner, Das frühe Christentum und die Stadt. Methodisch-hermeneutische Grundsatzfragen und exemplarische Analysen, in: Markus Tiwald / Jürgen K. Zangenberg (Hg.), Early Christian Encounters with Town and Countryside. Essays on Urban and Rural Structures of Early Christianity (NTOA), Göttingen (im Druck).

4 Vgl. dazu die Monographie von Daniel Lanzinger (Bonn), die im Rahmen des DFG-Projekts „Der Ratschluss Gottes im lukanischen Doppelwerk“ entsteht und demnächst erscheint.

5 Zum Beispiel in Termissos in Pisidien; vgl. Onno M. van Nijf, Public Space and the Political Culture of Roman Termessos, in: ders. / Richard Alston (Hg.), Political Culture in the Greek City after the Classical Age, Leuven 2011, 215−242; Giovanni Salmeri, Reconstructing the Political Life and Culture of the Greek Cities of the Roman Empire, ebd., 197−214

6 Vgl. Thomas Schmeller, Hierarchie und Egalität. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung paulinischer Gemeinden und griechisch-römischer Vereine (SBS 162), Stuttgart 1995, 19−33.

7 Vgl. Michael Wolter, Die Pastoralbriefe als Paulustradition (FRLANT 146), Göttingen 1988.

8 In den sog. Deuteropaulinen (Kol und Eph), für die ein anderer Flügel der Paulusschüler verantwortlich ist, ist von Presbytern mit keinem Wort die Rede, und von Bischöfen erst recht nicht. Dafür wird auf „Evangelisten“ (überörtlich) als Ersatz für die Apostel verwiesen sowie auf Lehrer (ortsbezogen) als Ersatz für die Wanderpropheten (vgl. Eph 4,11); vgl. Gerhard Sellin, Der Brief an die Epheser (KEK 8), Göttingen 2008, 338−343.

9 Vgl. Hans-Josef Klauck, Gemeinde ohne Amt? Erfahrungen mit der Kirche in den johanneischen Schriften, in: ders., Gemeinde – Amt – Sakrament, Würzburg 1989, 195−222.

10 Für das Folgende vgl. das Kapitel „Kult“ in: Martin Ebner, Die Stadt als Lebensraum der ersten Christen (s. Anm. 1) 101−137.

11Christian Hornung, Monachus et sacerdos. Asketische Konzeptualisierungen des Klerus im antiken Christentum (SVigChr 157), Leiden 2020; Georg Schöllgen, „Divino sacerdotio honorati“. Die Professionalisierung des Klerus und ihre Folgen (https://www.ktf.uni-bonn.de/Einrichtungen/institut-fur-kirchengeschichte/alte-kirchengeschichte-und-patrologie/lectio-ultima-schoellgen [Abruf: 20.11.2020]).

Petrus A. Bayer

Tridentinum und frühneuzeitlicher Katholizismus

Nicht so uniform wie gemeinhin angenommen