Kirmesblut - Elisabeth Waterfeld - E-Book

Kirmesblut E-Book

Elisabeth Waterfeld

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Beschreibung

Auf dem Verkehrskreisel im idyllischen Dörfchen Breuna wird eine Leiche gefunden. Die Einwohner stehen vor einem Rätsel, denn niemand hat eine Erklärung für den plötzlichen Tod der jungen Frau. Kommissar Gardner und sein treuer Dackel Erich ermitteln ein weiteres Mal in dem nordhessischen Ort. Kirmesblut ist ein Krimi zwischen feuchtfröhlicher Schunkelei und historischer Rückblende. Ähnlichkeiten mit tatsächlich existierenden Personen sind nicht beabsichtigt, aber erwünscht. "War doch was los dies´ Jahr, sag´ ich Ihnen. Bei der Saskia war ich ganz vonne Pötte. Naja, die Kirmes war aber ´ne Wucht. Hätt´ nie gedacht, dass der Bulle auch Quetschkommode kann, so wie der aussieht." Martin Dirking, Breunaer Urgestein, Landwirt aus Passion Der 2. Teil des Überraschungserfolges "Weinbergmond - Ein Kasselkrimi"

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Seitenzahl: 218

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Das Buch

Auf dem Verkehrskreisel im idyllischen Dörfchen Breuna wird eine Leiche gefunden. Die Einwohner stehen vor einem Rätsel, denn niemand hat eine Erklärung für den plötzlichen Tod der jungen Frau. Kommissar Gardner und sein treuer Dackel Erich ermitteln ein weiteres Mal in dem nordhessischen Ort.

Teil II des Krimidebuts

„Weinbergmond – Ein Kasselkrimi“

 

Die Autorin

Elisabeth Waterfeld lebt in Kassel. Ihren ersten Kriminalroman "WEINBERGMOND - Ein Kasselkrimi" widmete sie der Region Nordhessen und ihrer Stadt. Sie schaffte damit den Einstieg in die Tredition-Bestsellerliste.

Elisabeth Waterfeld

Kirmesblut

Musik für Gardner

© 2016Autor: Elisabeth WaterfeldUmschlaggestaltung, Illustration: Elisabeth WaterfeldVerlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN:

978-3-7323-5215-9 (Paperback)

978-3-7345-5159-8 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Prolog

Der Ortskern wirkte ruhig und verschlafen. Es war Nachmittag, als sich die Autos um den Kreisel vermehrten. Feierabendverkehr, dachte Saskia. Das Messer ließ sich nicht mehr entfernen. Es war zu tief in den Muskel eingetreten und sie fühlte, wie ihr Kreislauf gegen den kleinen Fremdkörper kämpfte. Eine Klinge, die sich wie eine pieksende Daunenfeder anfühlte. Der Stich war trotzdem zielsicher gewesen. Das ahnte sie bereits, als sie ihren Kopf aufrichtete. Mit ihrer Hand tastete sie nach dem Messer und sah, dass die Wärme von eben nun abkühlte. Sie hatte viel Blut verloren und ihre Kleidung war in grelles Rot getaucht. Das Aufrichten bereitete ihr große Schmerzen. Ihr fehlte die Kraft, ihren Arm zwischen den großen Büschen hindurch zu strecken.

Saskia wollte kein Aufhebens machen. Die Leute würden fragen und Stefan wollte sie nicht mit hineinziehen. Sie hob ihren Kopf und überlegte, wie sie wohl nach Hause kommen könnte. Wer würde sie dann sehen und was würden sie denken?

„KS“, „HX“ - Zwischen den Ästen konnte sie einige Kennzeichen ausmachen. Sie wusste, wer wann nach Hause kam und welche Wagen gerade an ihr vorbeifuhren. Rasend schnell liefen die Bilder von einem warmen Abendessen durch ihren Kopf. Es fiel ihr jetzt schwerer, die Augen offen zu halten.

Das Blut wurde immer kälter und Saskia fror wie nie in ihrem Leben.

Als sie ihren letzten Atemzug tat, hatte die Dämmerung unweigerlich begonnen. Eben noch hatte sie darüber nachgedacht, ob sie es schaffen würde, allein zurück zu ihrer Wohnung zu kommen, als sich neue Autos mühelos um den Kreisel wanden.

1

Wieder stand Amalie still. Sie überlegte, wie oft sie sich an diesem Tag überhaupt bewegt hatte und fühlte starke Schmerzen in ihrem Rücken.

„Mesdames et Messieurs, le Code Nouvel.“

Früher hatte sie sich oft bewegen müssen, war Tage und Nächte gerannt, um den Herrschaften gerecht zu werden. Der neue König brauchte sein Personal in der meisten Zeit als Publikum. In der restlichen Zeit bewegte sie sich zwischen den Vorbereitungen der Speisen und dem Esszimmer hin und her.

Schon am Morgen hatte sie anlässlich einer Unterredung als Vorhut bei den Herzogen gestanden. Jetzt war es Mittag. Es gab wieder nichts zu tun. Zu einer anderen Zeit wäre ihr ein wenig Ruhe sehr gut bekommen. Jetzt sah sie gelangweilt aus dem Fenster mit der immer gleichen Perspektive. Besucher schätzten diesen Ausblick und lobten die weite Sicht über das Reich. Für Amalie war es die Sicht auf eine Landschaft, die im Sommer zwar blühte, aber sich nicht großartig von dem trüben Grau in Grau des Herbstes unterschied.

Paul hatte vor einigen Minuten noch ein großes Scheit ins Feuer gelegt, aber die Wärme schien so schnell zu verschwinden wie sie gekommen war. Trotzdem mochte Amalie das Leben im Schloss. Auch wenn das neue Reich mit neuen Sitten aufwartete, so mochte sie doch die Gemeinschaft und die Menschen, mit denen sie zusammen war. Als sie wieder aus dem Fenster blickte, lag dichter Nebel über der Landschaft.

„Le Code est le plus grand innovation pour votre pays. Vous obtenez vos droits et une plus grande attention. Une autre particularité sera que le siège se déplace à votre Fridericianum.“

Elsa, die neben ihr stand, hatte Amalie diskret angestupst mit einem Gesicht, das verriet, dass Elsa des Französischen nicht mächtig war. Amalie stand still und bemühte sich um Konzentration auf das, was Jérôme sagte. Wie Elsa hatte sie ihre Hände hinter dem Rücken verschränkt und sah zu Boden.

Bisher hatte der junge König keine großen Probleme bereitet. Bis zu seiner Ankunft hatte das Gesinde einen Tyrannen erwartet, der bereit war, für seinen Erfolg über Leichen zu gehen. Man vermutete aber nun, dass Jérôme das Königreich wohl eher als Spielzeug erhalten hatte, damit er in Abwesenheit seines Bruders keine Dummheiten machte. Amalie hatte Napoleon Bonaparte nur einmal gesehen und sie war erstaunt gewesen über das unscheinbare Äußere, über seinen schmalen Wuchs und die geringe Ausstrahlung, mit der er offensichtlich halb Europa eingenommen hatte.

Im letzten Jahr hatte sich ohnehin alles für Amalie geändert. Damals hatte der neue König anderes Essen gewünscht, andere Rosen im Garten und er hatte über die neuen Gesetze gesprochen, die er in dem kleinen Königreich Westphalen einführen wollte. So auch heute. Ob es nun Sinn machte, dass das Fridericianum zum Parlament wurde?

Unter dem Gesinde war es nahezu unbestritten, dass der König von seinem Bruder in jeder Hinsicht gesteuert wurde. Amalie hörte nun ganz genau hin und bemühte sich, keines der von Jérôme gesagten Worte zu vergessen, damit sie nachher Elsa und den anderen auf Deutsch Bericht erstatten konnte.

„Il est le début d'un temps nouveau et je suis fier de vous dire ceci.“

Jérôme war kein König, von dem jemals ernsthaft Gefahr ausgegangen wäre. Im Gegensatz zu seinem Bruder war er ein verschwenderischer, aber guter Mensch. Das hatte Amalie gehofft und im letzten Jahr hatte sich nichts Gegenteiliges herausgestellt. Ob sich aber der „Code Civil“ in Westphalen umsetzen ließ, blieb fraglich. Sie hatte bereits von dem Gesetz gehört. Details dazu kannte sie nicht.

Elsa stupste Amalie wieder an.

„Sag´ doch!“

„Warte, ich will mir erst alles anhören. Nachher erzähle ich es Dir.“

Sie blickte Amalie schnippisch an und ehe sie die Gelegenheit bekam, Amalie ihre Zunge herauszustrecken, drehte sie ihr Gesicht wieder dem König entgegen, den sie ohnehin nicht verstand.

Amalie bemühte sich wieder, seinen Worten zu folgen, merkte aber bereits nach kurzer Zeit, dass Jérôme nicht mehr viel zu sagen hatte, einige Ankündigungen machte und mit den deutschen Worten „morgen wieder lustig“ schloss.

Einige Herrschaften in den vorderen Reihen bemühten sich um Amusement ob seiner Worte. In den hinteren Reihen nahm jedoch die Wichtigkeit der Zuhörer ab, sodass Amalie und Elsa bereits in der Dienstbotentür standen und hinter ihnen Paul, Bernhard und Marius gingen. Alle kicherten sichtlich erleichtert über das Ende des Stillstehens. In ihrer Küche angekommen, baute sich Marius vor ihnen auf:

„Mesdames et Messieurs, votre Code“ Er näselte dabei und verzog auf unnatürliche Weise das Gesicht, sodass sogar Bernhard lachen musste, auch wenn er Marius´ vorlaute Art nicht mochte.

Elsa und Amalie ließen sich an dem großen Tisch nieder. Ihre bleiernen Füße streckten sie unter dem Tisch aus.

„Et voilá, was 'ast Dü üns sü berischten?“ Marius hatte sich an Amalie gewandt, die wie schon so oft bereitwillig Auskunft gab.

„Er hat ein neues Gesetz. Der Code Civil soll bei uns eingeführt werden. Er sagt, dass sich praktisch nicht so viel ändern soll, theoretisch sind wir jetzt alle gleichermaßen wichtige Staatsbürger.“

„Na, das hab´ ich gesehen, als sich diese Schlange von de Villiers vorgedrängelt hat mit ihrem viel zu engen Korsett. Die denkt doch immer noch, sie wäre in Versailles.“

„Die hättense längst ´nen Kopf kürzer machen können.“ Paul konnte sich seine Antwort auf Elsas Einwand nicht verkneifen. Sie lachten wieder und waren froh, zumindest für kurze Zeit unter sich zu sein. Marius steckte sich zwei große Äpfel auf Höhe seines Brustkorbes unter seine Hosenträger und stolzierte damenhaft durch die Küche.

 

2

Marius, leg´ die Bosköppe wieder hin. Wir müssen los.“ Bernhard sorgte dafür, dass sich die fröhliche Runde auflöste. Die drei unterschiedlichen Männer verließen die Küche unter lautem Johlen. Elsa und Amalie blieben allein zurück.

„Diese Dinger sind nicht ohne. So eine Schmiererei.“ Elsa mühte sich mit dem Nachmittagsgebäck sichtlich ab.

„Ja, stimmt, aber so geht es. Ich setz´ noch schnell Kaffee auf.“

„Glaubst Du, dass er es wirklich so meint?“

Amalie sah auf.

„Warum sollte er nicht? Wir können´s ja auch nicht ändern.“

„Stimmt. Ich weiß noch, welche Angst ich damals hatte, als er gekommen war. Du weißt doch wegen meiner Eltern und so.“ Elsa wischte die restliche Sahne an ihrer Schürze ab.

Amalie hatte schon von Elsas Familie gehört. Es war reiner Zufall gewesen, dass sie im Stab des königlichen Gesindes gelandet war. Ihre Familie lebte in einfachsten Verhältnissen und Elsa sparte jeden Franken für sie. Amalie strich ihr vorsichtig über den Arm. Elsa hatte damals bei der Übernahme des Reiches befürchtet, ihre Arbeit zu verlieren.

„Aber es ist doch alles gut gegangen und auch diesmal wird es gut gehen. Mach´ Dir keine Sorgen.“

Sichtlich bemüht lächelte Elsa Amalie entgegen und nickte. Sie hoffte, dass Amalie wie schon so oft auch diesmal Recht hatte.

„Ja, der Winter soll hart werden, hast Du das gehört?“

„Sicher, aber wir können uns darauf einstellen und die letzten Winter waren auch hart. Hans geht es doch wieder besser, hast Du gesagt.“ Der letzte Winter war für Elsas jüngeren Bruder sehr schwer gewesen. Die feuchte Kälte hatte dazu beigetragen, dass sein Husten noch schlimmer geworden war. Jetzt im Herbst hatte Elsa aber noch nichts von ihm erzählt, sodass Amalie eine Besserung vermutete.

„Wir dürfen nicht immer vom Schlimmsten ausgehen – das stimmt. Es geht ihm besser.“

Elsa begann, sich wieder in die Dekoration des Kaffeegebäcks zu vertiefen. Als Amalie dies bemerkte, atmete sie selbst ein bisschen tiefer durch. Elsa hatte ihr schon oft leid getan und wünschte, dass sie bald nicht mehr die Last hatte, für ihre Familie Sorge zu tragen. Der Lohn war noch immer annehmbar, auch wenn das neue Königreich für eine Verknappung gesorgt hatte.

Für Amalie selbst machte es keinen Unterschied. Es war nun schon zehn Jahre her, dass ihre Eltern umgekommen waren. Das Feuer hatte allen Besitz und nicht zuletzt Amalies Eltern genommen. Diese Tatsache verdrängte sie zu gern und sie war froh, zumindest den ganzen Tag eine Beschäftigung zu haben, wenn sie ihr auch oft eintönig und bisweilen überflüssig vorkam. Würden ihre Eltern noch leben, so wäre aus ihr keine Magd geworden. Das wusste sie. Die Arbeit gefiel ihr dennoch während der meisten Zeit.

„Amalie, pass´ auf. Das wird schief! Nicht träumen!“

„Oh!“ Im letzten Moment rettete sie das Törtchen und dessen Sahnehaube.

„Ich glaub´, wir müssen los. Haben wir alles?“

Elsa klopfte sich den Mehlstaub von ihrer Schürze und richtete ihre Haube.

„Ja, los geht’s!“ Amalie schob den ersten Teewagen beherzt aus der Tür. Elsa folgte ihr. Mit den feinen Gebäckkreationen, dem Kaffee im versilberten Kännchen, aber auch mit ihren zerzausten Haaren unter den Hauben und ihren fleckigen Schürzen gaben die jungen Frauen ein merkwürdiges Bild ab. In jedem anderen Anwesen hätte es zusätzliches Personal zur Präsentation der Speisen gegeben. Jérôme hatte aber nach intensiver Beratung erkannt, dass man auf diese Weise Personal einsparen konnte.

Amalie und Elsa waren über diese Entscheidung nicht böse gewesen, denn früher hatte es noch einige andere Posten gegeben, die im Zuge des Machtwechsels nicht mehr nachbesetzt worden waren. Heute waren Amalie und Elsa froh, dass so manche Mamsell damit das Zeitliche gesegnet hatte.

Sie schoben die Wagen über plüschige Teppiche vorbei an schweren Vorhängen, die jetzt im Oktober vor dem Winter schützen sollten. Ihr Magen knurrte, aber die Aussicht auf einige Bissen wuchs, weil der König zum Kaffee zwar Petits Fours verlangte, selbst aber keine aß, sodass auch seine Gesellschaften stets ihren Appetit im Zaum halten mussten.

Ein Blick aus dem Fenster zeigte Amalie das nebelige Bild von heute Mittag, das sich langsam in der Dämmerung aufzulösen begann.

„Ah, mon café, merci mesdames!“ Der junge König war etwas zu eilig aufgesprungen, als ob er sich aus einem anstrengenden Gespräch hatte befreien wollen. In seinem Kamin brannte bereits ein Feuer, das die ausgesuchten Gegenstände des Raumes illuminierte.

Amalie maß kurz die weiteren Personen im Raum ab und servierte den Kaffee. Danach wartete sie mit gesenktem Kopf auf weitere Anweisungen. So hatte sie es damals gelernt, auch wenn dem neuen König diese Umgangsformen wahrscheinlich egal waren. Mit den Augen fuhr sie über die Intarsien des Bodens, deren Muster sie bereits auswendig kannte.

Jeden Tag stand sie mindestens dreimal in dieser Haltung. Heute war aber etwas anders und sie fühlte, dass ein fremdes Augenpaar auf ihr ruhte.

 

3

Gardner zeigte sich kritisch. „Triffst Dich noch immer mit diesem Vaupel?“ - „Warum nicht, wir hatten das doch alles schon. Er ist nur ein guter Freund und Dein Erbe ist sicher.“ Anton Gardners Mutter hatte sich im letzten Jahr merklich erholt. Noch immer hatte er das Gefühl, ihr helfen zu müssen, bemerkte aber auch seine Überflüssigkeit. Er war hier schlichtweg fehl am Platz.

„Des mein´ i nicht. Des Geld hat mich nie interessiert. Aber der Sohn dieses Großkupferten is´ a Kapitalist, wie er im Buche steht.“

„Seinen Sohn treffe ich ja selten. Mir geht es um den Vater. Außerdem sind seine Kinder sehr nett.“

Um sich weitere Argumente zu sparen, verabschiedete Gardner sich vorläufig, nicht ohne auf den Dackel hinzuweisen.

„Und wie lange gedenken Gnädigste den Erich noch in meiner Obhut zu belassen?“

„Habt Ihr Euch denn nicht schön aneinander gewöhnt?“

In seiner Manteltasche ballte Gardner eine Faust und winkte seiner Mutter zum Abschied. Zurück auf der Straße zog er seinen Mantel fester zu.

Dass der beigefarbene Trenchcoat nicht nur alt und verkommen, sondern seit jeher klischeehaft gewirkt hatte, war Kriminalhauptkommissar Anton Gardner egal. Ohnehin war er nie ein Freund großer Roben gewesen und er war zudem froh, dass diese in seiner beruflichen Tätigkeit nicht zwingend notwendig waren.

Den Weg zurück über den Ständeplatz hätte man mit Fug und Recht in jeder anderen Stadt als unwegsam bezeichnet. Die stark befahrene Straße ließ für Gardner keinen Raum, um in geordneten Bahnen zu denken. Hier in Kassel galten gebastelter Straßenbelag und ein ewiges Verkehrschaos eben dazu.

Gardner lebte jetzt ein gutes Jahr hier, konnte sich aber noch immer nicht mit dem Moloch anfreunden, das die Kasseläner eine Stadt nannten, auch wenn sich für ihn hier vieles verbessert hatte. Er konnte sich noch gut an die schlimme Zeit erinnern, als man diesen Frauenkopf gefunden hatte. Damals, als er von Wien direkt nach Kassel umgezogen war, hatte ihn die Mordserie völlig überfordert. Nachher war er so ausgebrannt gewesen, dass ihm nicht nur alle Knochen schmerzten, sondern seine Lunge und sein Magen vom schlechten Essen und den vielen Zigaretten einfach zermürbt waren. Ab und zu sah er diese Diana Neumann noch. Sie war eine freundliche junge Frau und Gardner wünschte ihr nach ihren Erlebnissen eine gute Zukunft.

Er beschloss, zur Haltestelle am Friedrichsplatz zu gehen, um von dort so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Zwar war es erst vier Uhr am Nachmittag, aber die Dämmerung setzte schon ein. Kein Wunder, denn jetzt im Oktober wechselte das Wetter noch oft vom Altweibersommer bis zum ersten Schnee.

Gardner hasste Sonntage. Er hatte kein Verständnis dafür, dass er seinen Wochenendeinkauf an einem stressigen Samstag erledigen musste, wenn er ohnehin meist Dienst hatte. Am Sonntag standen die Uhren still. Die Zeit verging dann tagsüber einfach nicht, auch wenn er abends oft der Meinung war, dass die Zeit an diesem Tag besonders schnell vergangen war. An Sonntagen besuchte Anton Gardner seine Mutter, die ihn mittlerweile wohl nicht mehr als Gast wünschte. Jetzt freute er sich auf seine Wohnung, um deren Gemütlichkeit er sich seit eineinhalb Jahren bemühte.

Lautes Bellen überspielte den tristen Eindruck, den sein Hausflur auf ihn machte. Die grauen Wände, das Geländer und die Türen waren zweifelsohne Zeitzeugen des Nachkriegsdeutschlands, von dem man in dieser Stadt noch so viel ahnte.

„Ja, wart´, dummer Kerl, gleich komm´ i.“

Erich bellte immer lauter. Der Kommissar konnte es ihm nicht verdenken, schließlich war es in der Wohnung todlangweilig.

„Joa, nu´ geh´ rein, alter Knoch´n.“

Gardner öffnete eine frische Dose Nassfutter. Vor einigen Monaten war dem Tier der letzte Zahn ausgefallen. Die Tierärztin hatte den Hund aber für sein hohes Alter als „erstaunlich kernig“ bezeichnet, was den Kommissar sehr stolz gemacht hatte.

Erich war ursprünglich der Hund seiner Mutter gewesen. In Wien hatte sie ein gutes Leben geführt, ehe ein Oberschenkelhalsbruch dafür gesorgt hatte, dass sie nicht mehr für sich sorgen konnte. Kassel war ihre Heimat, in die sie zum damaligen Zeitpunkt unbedingt zurück gewollt hatte. Gardner hatte sich ihr gegenüber verpflichtet gefühlt.

Nicht selten brummelte Anton Gardner über seine Entscheidung, ihr nachgezogen zu sein. Er blickte zu seinem Hund und begann, zu lächeln.

„Joa, bist doch mei´ Bester.“

 

4

Vertan, vertan, sprach der Hahn und stieg von der Ente.“ Melitta Ledderhose kicherte leicht und wechselte das Kopierpapier. Es war ein diesiger Montagmorgen und Gardner war nicht in Hochstimmung.

„Armes Kassel, mei´ Melitta, wenn wir noch nicht einmal mehr Papier für alle Kopierschubladen ham.“ Anton Gardner wartete geduldig hinter seiner Sekretärin, die ihn mit einem Nicken und einem bösen Blick in eines der Büros ihrer Vorgesetzten signalisierte, dass mit solchen Scherzen nicht zu spaßen war. Als der Kommissar zur Antwort mit den Augen rollte, stürzte ihm prompt die Staatsanwältin entgegen.

„Mahlzeit.“

„Mahlzeit, Herr Gardner. Schön, Sie hier anzutreffen. Wissen Sie eigentlich, dass Hunde in der Leitstelle strengstens untersagt sind?“

„Des sind ja ganz neue Marotten. Des Tier läuft scho´ seit über einem Joar hier mit. Des is´ sozusagen a Polizeihund.“

„Herr Gardner, was hier neue Marotten sind und was nicht, das liegt nicht in Ihrem Ermessen. Zudem sehen Sie sich einmal an, was Ihr Polizeihund gerade anrichtet.“

„Ach naa, geh´ Erich. Was soll diese Schlabberei?“ Gardner hob das Tier behutsam hoch. Melitta zückte sogleich ein sauberes Taschentuch, um die Rückstände an seiner Schnauze und auf dem Boden zu beseitigen. Währenddessen hatte die Staatsanwältin bereits kehrt gemacht. Gemeinsam schlichen sie nach unten zurück in ihr Büro.

„A Spinatwachtl is des, des kannst glaub´n.“

„Anton, der Haushalt ist ein absolutes Reizthema. Du kannst ihr doch nicht mit sowas anfangen. Kreis und Stadt sind dermaßen pleite wie schon lange nicht mehr. Manchmal bedrucke ich meine Blätter sogar beidseitig, damit ich altes Papier noch nutzen kann.“

Ungläubig sah er Melitta in die Augen.

„Du weißt scho, dass wir hier a Datenschutz ham?“

„Ach iwo! So, ich habe frischen Streuselkuchen gebacken von unseren ersten Bosköppen in diesem Jahr. Sprühsahne steht oben.“

„Na, na. Die las´mer lieber weg. Die schlanke Linie, weißt.“

„Anton!“

„Wie immer a Gedicht. Was gibt’s sonst Neues?“ Melitta kaute noch, begann aber schon ihren Bericht.

„Am Wochenende war nicht viel, paar Schlägereien, nichts Nennenswertes. Sei froh, dass Du nix zu tun hattest.“

„Stinklangweilig war des.“

„Nie bist Du zufrieden.“ Melitta drehte sich zu ihrem Bildschirm. Gardner war froh darüber, denn er hätte nichts dazu sagen wollen, schließlich hatte der Kommissar ein gutes Verhältnis zu seiner Sekretärin.

„I mein´ ja nur, dass des nicht sein kann. Ist mir gleich, ob`s sparen. Man kann sich doch ordentlich verhalten.“

„Ach, Du kennst doch unsere Papenheimer. Wegen denen müssen wir uns keinen Kopp machen.“

„Auf des Tier lass´ i jedenfolls nix komm´. Des geht scho so lange gut, warum sollt´ er nun fort?“

Melitta zuckte zur Antwort mit den Schultern und blickte betroffen in Erichs Richtung. Der Streit hatte ihn sehr aufgeregt, sodass er jetzt noch erschöpfter aussah als sonst. Sie konnte gut verstehen, dass der Kommissar sich so für seinen Hund einsetzte. Jeder in der Dienststelle mochte Erich und sein Herrchen. Gardner mochte man nicht unbedingt wegen seines Charakters, sondern weil er den sympathischen Hund mit sich führte und gut für ihn sorgte. Dies war allen bewusst. Sogar dem Kommissar selbst.

Melitta konnte sich nicht vorstellen, was mit Gardner passierte, wenn das Tier irgendwann nicht mehr lebte. Bei seinem Alter war dies jedoch keine abwegige Vorstellung.

„Dann mach´ i jetzt einen Feierabend. Hier ist ja nix mehr.“

„Ja, geht ruhig. Wir sehen uns morgen zur Konferenz.“

„Konferenz? Oh, die hatt´ i ganz vergessen.“ Unmotiviert griff Gardner nach Erich und verließ den Raum.

Alle Mitarbeiter waren aufgeregt wegen des morgigen Treffens, bei dem neben den neuen Absprachen des Qualitätsmanagements auch finanzielle Fragen besprochen werden sollten. Die Mordkommission war bereits auf die kleinste Einheit reduziert worden, sodass Gardner keine weiteren Personalkürzungen befürchtete. Zudem war er in den letzten Monaten eher Mädchen für alles gewesen, als dass er in einem Mord ermittelt hätte. Die Aufklärung des Falls um die Tote am Fuldaufer war nun wirklich ein Leichtes gewesen, obwohl ihr Tod medienwirksam beworben worden war. Alle Bekannten hatten sich plötzlich wieder für seine Arbeit interessiert und er war wegen seiner Verschwiegenheit noch reizvoller geworden.

Was er nun bei der morgigen Konferenz zu hören bekam, war ihm aus diesem Grund völlig schleierhaft.

 

5

Nathanael, Ihr wisst, dass das nicht möglich ist. Er vertraut in dieser Angelegenheit ganz seinem Bruder und denkt nicht, dass wir diesen Passus ändern sollten.“ Jérômes Berater schielte merklich durch seinen Kneifer. Im Stillen konnte er de Rosiers Bedenken gut nachvollziehen und hoffte, dass der Code Civil sich nicht gegen das Zunftwesen richtete. Der Feldherr hatte in diesem Schriftstück ganze Arbeit geleistet und sein kleiner Bruder versuchte sich nun an dessen Exekutive.

„Majesté, nous avons besoin de ces associations.“ Ohne die Zusammenschlüsse der Handwerker wäre keine gerechte Organisation mehr möglich, die Solidarität zwischen den Arbeitenden würde schwinden.

Jérôme hielt inne und überlegte. Kurz darauf drehte er sich erleichtert zu den plötzlich herein kommenden Dienstmägden. Seine Berater wussten, dass Jérôme die Kaffeezeit liebte, auch wenn er nie etwas aß. Er freute sich schon auf de Rosiers Gesicht, wenn ihm auffiele, dass er sich keines der Petits Fours nehmen konnte, weil es sich wegen der Etikette natürlich nicht gehörte. Er lachte in sich hinein.

Herein traten zwei junge Frauen, die offensichtlich nicht mehr die Zeit gefunden hatten, sich für ihren Auftritt umzuziehen. Sei´s drum, dachte der Berater, denn solange dieser König überhaupt gewillt war, zu sparen, sollte ihm jedes Mittel recht sein.

Nathanael de Rosier entstammte dem französischen Adel. Aus diesem Grund fühlte sich der junge König dem Gleichaltrigen besonders verbunden und hatte ihn in letzter Zeit immer häufiger in verschiedenen Dingen konsultiert. Besonders schätzte Jérôme Bonaparte, dass er ein ebenso makelloses Französisch wie auch ein sicheres Deutsch sprach, das er ihm zu vielen Gelegenheiten übersetzte.

Dass der König so gut wie gar kein Wort Deutsch sprach, war ein offenes Geheimnis und auch wenn er sich noch so sehr bemühte, so konnte er bisher nur grob radebrechen. Napoleon Bonaparte verlangte aber Verständlichkeit. Der „Code Napoleon“ sollte in Kürze für die hiesigen Einwohner zu verstehen sein. Weil er Nathanaels Loyalität sowie seine Unterstützung schätzte, hatte er ihn zum Vorsitzenden des Garderegiments gemacht und ihn in den Kreis der persönlichen Berater aufgenommen.

De Rosier hatte es zu schätzen gewusst und genoss neben Jérômes Vertrauen auch die Vorzüge, die ein Leben an einem kleinen Königshof mit sich brachten. Insgeheim wusste er nicht, über was er sich mehr freuen durfte: Ob es die finanziellen Vorteile waren oder die Tatsache, dass er bei sämlichen Damen als gute Partie galt, auch wenn ihm die leichten Mädchen im Marmorbad wegen des schnellen Vergnügens oft lieber waren. Heute hingegen war für ihn einer der tristeren Momente. Jérôme hatte den Auftrag, das Zunftwesen in Gänze abzuschaffen, was einen wirtschaftlichen Ruin der gesamten Region zur Folge haben konnte.

Er war gerade mit einem gelangweilten Blick aus dem Fenster beschäftigt, als er plötzlich überrascht wurde. Die Tapetentür war aufgesprungen und der Nachmittagskaffee wurde gebracht. Eines der Mädchen stellte das Gebäck zurecht, das andere schüttete den Kaffee ein.

Sein Blick blieb an einer ihrer Locken hängen, die sich vorwitzig aus dem ehemals sicher kunstvollen Frisurenarrangement befreit hatte und er kam näher, um sie zu betrachten. Ihre Haut war so hell wie der Nebel am Morgen und wahrscheinlich war sie ebenso kühl. Züchtig hielt sie ihren Kopf gesenkt, obwohl er gern in ihr Gesicht gesehen hätte. Vielleicht konnte er einen kurzen Blick auf sie erhaschen. Dazu verließ er seinen warmen Platz am Kamin und spürte alsbald, wie die Kälte in seine Knochen stieg.

Ihre Hände flogen geschickt auf dem Wagen hin und her, ehe sie sich gemeinsam mit ihrer Genossin verbeugte und den Raum verließ. Alles an ihr war voller Anmut und Unschuld. Auch wenn ihre Kleidung einfach zu sein schien, so hatte ihre Silhouette etwas Edles, etwas Erhabenes, das de Rosiers Interesse geweckt hatte.

„Merci, Mesdames.“ Jérôme war vergnügt über den Anblick des Essens und de Rosier empfand in diesem Moment eine ebenso große Abscheu gegen ihn. Die Mägde drehten sich wieder in Richtung Tür und verließen den Raum.

Irritiert schloss Amalie die Tür hinter sich und hoffte, ihre Verwirrung bald vergessen zu können. Elsa und sie gingen zurück in ihre Küche, um auf Paul und die anderen zu warten.

6

Als Gardner an diesem Feierabend nach Hause ging, genoss er die letzten Sonnenstrahlen und er hatte das Gefühl, dass sich der Sommer erneut zurückgemeldet hatte. Alles war in ein besonderes Licht getaucht. Dies war von Dichtern oft besungen worden. Gardner war er einfach so aufgefallen und tatsächlich waren Licht, Luft und Atmosphäre nicht so wie im heißen Sommer oder wie an manchen Frühlingstagen. Deshalb verlangsamte sich sein Schritt, auch wenn er sich derlei Romantik nicht eingestanden hätte.

Der Hund trottete gemächlich neben ihm her. Gardner musste nicht auf ihn achten. Er brauchte keine Leine und allein sein Atemgeräusch versicherte dem Kommissar, dass das Tier noch bei Fuß ging.

Manchmal hatte das Leben solche Momente zu bieten. Dann war alles ganz normal und es gab keine besonderen Vorkommnisse.

Gardner und Erich schlenderten an den Menschenmengen am Holländischen Platz vorbei. Die neuen Studierenden wurden wohl gerade eingeführt und Gardner war froh, dass er mit derlei Zukunftsfragen keine Scherereien mehr hatte. Wie schwer war ihm doch damals das Lernen gefallen und die anschließenden Prüfungen. Das war nun auch schon über zwanzig Jahre her und doch stand seine Ausbildung heute so lebendig vor ihm, als hätte er seine Abschlussprüfungen erst kürzlich abgelegt.

Er beschleunigte seinen Schritt, um nicht in die aufgescheuchte Menge zu geraten, deren Aufmerksamkeit dem neuen Stundenplan und dem soeben bestandenen Abitur galten.

Zu Hause angekommen, klingelte es bereits nach etwa zehn Minuten an der Tür.