Weinbergmond - Elisabeth Waterfeld - E-Book

Weinbergmond E-Book

Elisabeth Waterfeld

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Beschreibung

Regionaler Krimi aus Nordhessen In der Karlsaue wird ein abgetrennter Kopf gefunden. Die Ermittlungen beginnen in der Kasseler Südstadt und nehmen bald ungeahnte Ausmaße an. Der Wiener Kommissar Gardner hat nicht mit einer Serie gerechnet, die alle zuvor gekannten Fälle in den Schatten stellen würde. Rätselhafte Ereignisse geschehen im Umfeld von Diana Neumann, die unweit des Weinberges arbeitet. Doch welche Rolle spielt die junge Bibliothekarin? Ein Krimidebüt rund um den Charme der Stadt Kassel.

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Seitenzahl: 203

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Elisabeth Waterfeld

Weinbergmond

Ein Kasselkrimi

© 2016

Autor: Elisabeth Waterfeld

Umschlaggestaltung, Illustration: Elisabeth Waterfeld

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN: 978-3-7345-2175-1 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Prolog

Der Neumond half ihm in dieser Nacht nicht weiter. Es war so dunkel in der Aue, dass er kaum seinen Atem erkennen konnte, der bei dieser Kälte in der Luft kondensierte und zu allem Überfluss die Brille beschlagen ließ.

Wer hatte gesagt, dass so ein frühmorgendlicher Lauf die Stimmung förderte? Ach ja, seine Mutter. Mit ihrem „etwas Fleisch und frische Luft täten dir gut, dann würdest Du auch eine Frau finden!“ ging sie ihm schon lange auf die Nerven. Aber wie immer hatte er ihr am Ende Recht gegeben und sich im lokalen Laufladen überteuerte Schuhe andrehen lassen. Jetzt stand er mitten in der Botanik und mühte sich ab, überhaupt zurückzufinden. Er versuchte, das Stechen in den Seiten zu ignorieren.

Als Kind im Sportunterricht war ihm vom Lehrer immer gesagt worden, dass das von zu viel quatschen während des Laufens käme und er selbst Schuld sei, aber dass das kein Grund wäre, den 1000m-Lauf abzubrechen, schließlich bräuchte er noch eine Note von ihm. Dankeschön dafür, er hätte jetzt liebend gern jemanden zum „Quatschen“ dabeigehabt, stattdessen lief er in dunkelster Nacht frierend durch den Park.

Er merkte, dass er keine Orientierung mehr hatte. Wo war die letzte Abzweigung gewesen? Irgendein Baum oder ein wenig Kunst, die ihm Anhaltspunkte liefern konnten, wo er war? Verdammtes Kassel, ewig schlechtes Wetter und üble Architektur. Eigentlich blöd, sich hier zu verlaufen, wo er doch schon hunderte Male durch die Karlsaue spaziert war und jeden Punkt genau kannte. Aber bei dieser Dunkelheit konnte man gar nichts sehen. Das Gebiet war zudem ein sehr großes und verzweigtes. Das hatten die Herren Landgrafen schon ganz gut geplant, dachte er bei sich. Im Sommer war es hier schön, wenn man die Stadt hinter sich lassen konnte. Jetzt wollte er einfach nur weg und zurück in sein Bett.

Plötzlich fiel ihm etwas auf. Abseits des Weges. Er wusste nicht, was es war, zwei rote Punkte vielleicht, etwas sich Bewegendes. Die letzte Documenta war ja schon zwei Jahre her. So ein Werk war ihm nicht bekannt, schon gar nicht hier im Stadtpark. Mit jedem Schritt kam er den Signalen näher und langsam erkannte er Umrisse. Sich bewegende Umrisse. Er wusste nicht woher, aber dieses Ding kam ihm irgendwie bekannt vor. Ein Gefühl von völliger Hilflosigkeit gepaart mit Angst, die ihn zum Schwitzen brachte und ihn erstarren ließ. Starre.

So ähnlich ließ sich auch das beschreiben, das er jetzt vor sich sah. Eben noch von einer Bewegung angelockt, war es jetzt ein fester Anblick: Im Geäst eines alten, majestätisch anmutenden Baumes baumelte ein menschlicher Kopf.

Es musste eine Frau gewesen sein, denn lange Haare mit einst feinen Gesichtszügen waren zu einer schrecklichen Maske verzerrt. Augen und Mund weit aufgerissen, konnte er nur ahnen, welche Qualen sie erlitten haben musste.

Das Gesicht war zudem weitgehend zerkratzt und wirkte aufgeschwemmt, als hätte sie im Wasser gelegen. Der Hals musste fein säuberlich mit einem scharfen Messer vom Rumpf getrennt worden sein. Ein Anblick, den man so schnell nicht vergessen würde.

Gekrönt wurde das Arrangement durch das Ungeziefer im Haar der Frau. Verschiedene Käfer, aber vor allem kleine und große Blindschleichen rangen um ihren Platz und um die beste Beute im Haupt der Verstorbenen.

Kapitel 1

Medusenmord war der Titel, den Diana auf Seite eins der Regionalzeitung zwar ziemlich reißerisch fand, aber der sie immerhin aufhorchen ließ. Rein zufällig blickte sie auf die Schlagzeile der Zeitung, deren Horoskope sie bisher für das Informativste gehalten hatte. Etwas flau wurde ihr bei dem Gedanken an die Tat.

Auf dem Rückweg von ihrer Arbeitsstelle hatte sie schon einige schräge Vögel getroffen, die sie angesprochen hatten. Nie hätte sie ihre Südstadt als sicheres Viertel bezeichnet, aber Mord schien ihr doch zu weit zu gehen. Wer sollte denn? Warum denn auf diese Art? Und hier in Kassel? Hier war allerdings schon einiges passiert, man denke nur an die Haltestelle, die jetzt „Halitplatz“ hieß.

Die Milch war eindeutig schlecht. Der plötzliche Wetterumschwung der subtropischen Hitze des Sommers zum Herbst - es war August - ließ auch in ihrem Frühstückskaffee einen sauren Geschmack zurück. Enttäuscht kippte Diana ihre Tasse in den Spülstein und zog sich beherzt ihren wärmenden Mantel an, den sie erst gestern aus der hintersten Ecke des Kleiderschranks gefischt hatte.

Es fühlte sich fremd an, sich so abrupt umstellen zu müssen, war sie doch gerade erst von der Paristour zurückgekommen, bei der es noch lauschige fünfundzwanzig Grad Celsius gewesen waren. Die französische Lebensart und ihre Leichtigkeit waren kein Vergleich mit dem sturen Nordhessen, von dessen Einwohnern gern behauptet wurde, dass der einzige Ort an dem sie lachten, der Keller sei.

Der Kater protestierte heftig, als sie den Schlüssel drehte. Moustache war gewöhnt an ein fürstliches Frühstück und wollte sich nicht mit Trockenfutter abspeisen lassen. Diana seufzte und widmete sich dann noch einmal der Zubereitung einer morgendlichen Mahlzeit für das Tier.

„Ach, Dich haben wir wieder vergessen. Hier, mon chér, bitte zu Tisch.“ Schnell kippte sie den Inhalt einer „Schleckie“-Dose in seinen Napf und verschwand danach im Dickicht des plötzlichen eingetretenen Herbstes.

Die Kasseler Südstadt liegt sehr tief. Der Nebel steht entsprechend dicht und nur der Weinberg streckt sich in diesen Stunden aberwitzig hervor. Keine Autos oder Straßenbahnen sind zu dieser Zeit zu sehen und die Menschen kämpfen sich am Berghang vorwärts.

Das imposante Gebilde des Weinberges wurde im Mittelalter für den Weinanbau genutzt, erfüllte später aber eher dekorative Zwecke. Sein Inneres ist nur wenigen zugänglich, denn das Betreten des riesigen Labyrinths, das der Bevölkerung im zweiten Weltkrieg als Bunker diente, ist mit vielen Gefahren verbunden. So genießen die Menschen lieber den Ausblick von oben und lassen sich im Sommer anlässlich ihrer Hochzeiten fotografieren.

Diana hatte das schon mehrfach beobachtet und neidvoll zu den glücklich aussehenden Paaren heraufgesehen, die sich hier ablichten ließen. Ihre letzte Beziehung war ein Chaos gewesen. Aaron lebte in seiner eigenen Welt. Als Spezialist für IT-Lösungen hatte er sein Hobby eindeutig zum Beruf gemacht. So sah Diana irgendwann nur noch seinen Kopf vor dem flimmernden Bildschirm, ob nun beruflich oder privat. Sie hatten sich getrennt ohne jede Leidenschaft während und nach ihrer Beziehung.

War eigentlich ein lieber Kerl gewesen. Was Aaron jetzt wohl machte? Ob sie das noch einmal herausfinden würde, blieb so unwahrscheinlich wie das Erscheinen der Sonne an diesem Tag.

Diana zog ihren Mantel noch fester zu und verbarg ihr Gesicht fast bis zur Hälfte im Schal. Der Weg zur Murhardschen war zwar kurz, aber intensiv, weil sie vom Fuß des Weinberges vorbei am Krankenhaus zu ihrer Bibliothek laufen musste. Hier schien das Klima plötzlich zu wechseln oder Diana war nicht mehr fit genug, die Steigung ohne keuchen zu bewältigen, jedenfalls hatte sie auf der Höhe des kleinen Pavillons den dringenden Wunsch, sich sämtliche Kleidungsstücke vom Leib reißen zu wollen.

Sie dachte an die Zeit mit Aaron und an die Tatsache, dass sie beide genug Fehler gemacht hatten. Ihre Untersuchungen für die Bibliothek und die Beförderung hatten Diana ziemlich mitgenommen. Als Bibliothekarin mit Master-Abschluss galt Diana gemeinhin als hochqualifizierte Kraft. Alle wussten das, aber die Aufstiegsmöglichkeiten waren eben gering und so arrangierte sie sich mehr schlecht als recht mit der Tatsache, dass sie das Archiv vermutlich bis zur Rente betreuen würde und dabei finanziell irgendwie auskäme.

Sie ging noch zügiger, um von der Hitzewelle nicht wieder in eine Kaltfront zu geraten und so gelangte sie schließlich zu der alten Bibliothek, die bei dieser Witterung angenehm beleuchtet wurde.

Kapitel 2

Mensch Diana, wo bleibst Du denn, die Schneider macht mir die Hölle heiß! Die Frist läuft aus und Du bummelst seelenruhig in der Gegend herum“

„Guten Morgen, die soll sich mal nicht so anstellen. Wir sind so gut wie fertig, nur noch die Reihe sechsundsiebzig fehlt.“

„Du hast echt Nerven.“ Mina Albrecht war ihr in den letzten Jahren eine gute Freundin geworden. Seit dem ersten Tag mochte sie die moderne, aber stets gehetzte Kollegin. Neben einem starken Hang zur Geschwätzigkeit war sie vor allem für ihre dramatischen Auftritte berühmt.

Mittlerweile liebte Diana ihre Arbeit in der Murhardschen, nicht zuletzt wegen der alten Folianten, in die sie sich beizeiten vertiefen konnte. Bei ihrer Ankunft in Kassel hatte sie so wie viele eher einen schlechten Eindruck von der Stadt gehabt. Die alte majestätische Bibliothek war aber ein sicherer Hinweis darauf, dass sie sich für die richtige Stadt entschieden hatte. Das Gebäude existierte immerhin seit 1905 und gilt noch heute als namhaftes Archiv für geschichtliche Zeugnisse. Diana hatte sich im Studium auf das Altertum konzentriert und auf die Texte, die aus dieser Zeit überliefert waren. Schon immer hatte sie gern klassische Werke gelesen, hatte die Reise des Odysseus oder die Verwandlungen des Ovid mitverfolgt. Die Murhardsche besaß die Eigenheit, dass sie viele klassische Werke verwaltete und damit bei der Jobsuche in Dianas nähere Auswahl gekommen war.

„Hier, die Sechsundsiebzig, bitteschön!“ Mina wuchtete einen dicken Aktenordner vor Diana auf den Tisch, der unter Knallen eine erschreckend große Staubwolke aufwallen ließ.

„Ja, stimmt. Da war noch was.“ Gedankenverloren begab sich Diana an die Vorbereitung einer Präsentation, die anlässlich eines längst ausstehenden Audits die alte Bibliothek ins rechte Licht rücken sollte. Ihre Vorgesetzte Frau Schneider hatte sie darum gebeten, in dieser Präsentation eine Inventur vorzunehmen und aufzuzeigen, dass in eine ISO-Anerkennung lohnenswert investiert wurde.

Um den Auflagen der Universität Kassel gerecht zu werden, hing die alte Murhardsche immer etwas hinterher, galt aber als wichtiges Archiv für die gesamte Region. Daher hatte sie noch immer den Status als Bereichsbibliothek und man war gegenüber Fristen und Abgabeterminen entsprechend tolerant.

Der Ordner der Nummer Sechsundsiebzig war gnadenlos vollgestopft worden mit alten Fotos, Dokumenten und Schnipseln aus der Zeit der beiden Kriege.

„Hier ist ein altes Foto des Aschrottbrunnens, guck mal.“

„Ach, da hat man ihn noch gesehen.“ Die kleinformatige, vergilbte Abbildung hatte einen leicht gezackten Rahmen, wie er heute nicht mehr vorkommt und den Diana nun vorsichtig über ihre Fingerkuppe fahren ließ.

Der Aschrottbrunnen am Rathaus wurde im zweiten Weltkrieg zerstört. In Gedenken an die Kriegszeit hatte man den Brunnen nun in die Tiefe gebaut. Vor dem Rathaus ist heute nur eine ebene Fläche zu sehen, durch die man das Wasser rauschen hört. Diana blätterte weiter.

„Also hier sind Fotos historischer Stadtansichten. Ich schlage vor, ich scanne die interessantesten ein und ordne sie chronologisch, soweit sich das nachvollziehen lässt. Hier haben wir noch den Herkules und die alte Gegend um den Weinberg, sogar Zeichnungen vom Goethe-Elefant. Armes Tier!“

„Wieso, hatte doch immer feinstes Futter und konnte sich den ganzen Tag die Sonne auf den Hintern scheinen lassen.“

„Aber der ist doch bei einem Sturz gestorben und war für einen Elefanten doch nun wirklich nicht alt.“

„Hach ja, jetzt zügel’ mal Deine Vorliebe für Dickhäuter, wir müssen noch zu Potte kommen.“

Bis Mittag hatten die Kolleginnen eine stattliche Sammlung alter Ansichten zusammengetragen. Die Stadt zeigte sich aus einer anderen Perspektive und ließ ahnen, welchen Schaden der Krieg angerichtet hatte. Eine Ablenkung kam Mina jetzt wie gerufen.

„Hast Du Lust auf ’nen Kaffee in der Stadt? Unsere Plörre holt ja keinen hinter’m Ofen hervor.“

„Nein, nicht in die Stadt, ist mir zu viel los. Wollen wir zu Handren?“

„Na gut, aber nur, weil er die beste Sauce jenseits von Euphrat und Tigris macht, ab geht’s.“

Diana war der Trubel der Innenstadt stets unangenehm. Zwar liebte sie das Bummeln in den Geschäften der Königsstraße, aber in letzter Zeit war ihr mehr nach Ruhe. Da kam ihr der Besuch bei ihrem Lieblingsdönerverkäufer gerade Recht. Sein kleiner Laden an der Frankfurter Straße war ihr seit ihrer Ankunft in dieser oft kalten Stadt wie eine Oase der Wärme erschienen. Handren bot regelmäßig orientalische Spezialitäten an, die teilweise er, teilweise seine Verwandten selbst zubereiteten. Gespickt mit einer fremd anmutenden Dekoration, die oft bis ins Kitschige reichte, war dies eine ganz andere, willkommene Welt, in der andere Regeln galten als in ihrer eigenen.

Kapitel 3

Die denken sich aber auch immer tollere Sachen aus, mhm, Meduusenmooord! Mann, wenn ich mal so schreiben dürfte, das wär’ was für mich.“ Mina hüpfte leicht auf ihren Absätzen nach oben, als wolle sie über etwas hinwegsehen. Diana konnte die schon von weitem die Schlagzeile. In einer Bäckerei lag die Zeitung zum Verkauf.

„Meld’ Dich doch mal, Du kannst bestimmt anheuern.“

„Nee, aber ernsthaft, hast Du davon gelesen?“

„Ja, heute morgen hatte ich’s im Kasten.“ Diana balancierte zwischen Hundekot und weiteren Abfällen zur Haltestelle. Mina war von der Schlagzeile ebenfalls beeindruckt, aber sie wusste, dass man Kassel auch als Pflaster, das nicht ohne war, bezeichnete.

„Meinst Du wie im Fall der Gorgo?“

„Ja, der hat ihren Kopf abgetrennt und es sollen Blindschleichen drin gewesen sein. Super Morgenpost, noch dazu mein Kaffee, der mit umgekippter Milch ekelhaft schmeckte. Lecker!“ Zu sehen war auf Seite eins aber nicht die Leiche, sondern ein nicht minder erschreckendes Gemälde von Rubens, das seinerzeit schon für Aufsehen gesorgt hatte. Diana konnte sich daran erinnern, dass es eher als Kuriosität für interessierte Bürger, weniger als Hinweis auf die antike Geschichte dienen sollte.

„Na, wenigstens haben sie kein Foto der echten Leiche reingestellt.“ Mina spannte rhythmisch ihren Schirm auf, denn es hatte zu nieseln begonnen. Die beiden Frauen stellten sich näher zusammen, um vom Schutz des Schirms eingefangen zu sein.

„Eine Gorgo, einst die Schönste der Schönen, war sie doch die Geliebte des Poseidon. Tja, vielleicht kam mal wieder eine eifersüchtige Athene, der sie zu schön war und ihr gefährlich wurde?“ Mina lachte nach ihrer Ausführung laut unter dem Schirm hervor und Diana nickte beeindruckt.

„Höret, höret!“

Unter lauten Bekundungen von Minas Stimmungsschwankungen und ihren Schilderungen der letzten Zeit in Bezug auf Männer betraten die beiden ausgelassen Handrens Lokal.

„Meine Prinzessinnen, Euch hab’ ich ja schon ewig nicht mehr gesehen, Tee?“ geschäftig kam Handren hinter seinem Tresen hervor und linste über eine kleine Brille. Insgeheim galt der junge Mann für Mina und Diana als Fang, den man sich angeln müsste. Er war gutaussehend, nett, höflich und führte einen florierenden Imbiss. Männer und ihre Widersprüche wurden ausschließlich von Mina thematisiert. Diana zeigte sich diesbezüglich eher verschlossen.

Handren nahm die Kolleginnen freundlich in den Arm, wobei Mina nicht nur seine neue Brille, sondern auch das Parfüm auffiel.

„Hey, was ist denn mit dir los? Hast Du eine Freundin?“

„Ach, öfter mal was Neues. Meine Sehkraft lässt nach.“

„Steht Dir gut. Ein bisschen wie Clark Kent. Komm her, mein Supermann!“ Handren bot den besten Döner der Stadt an, obwohl er ihn selbst in seiner Heimat nie so angerichtet hätte. Man musste sich eben anpassen, für Deutsche durfte das Essen nie zu exotisch werden.

„Mädels, habt ihr vom Medusenmord gehört?“

„Ja, ein echter Hammer!“ Mina sammelte einige Zwiebeln ein, die sich in beängstigendem Ausmaß um ihren Teller angesammelt hatten. Jetzt konnten ihre Tischnachbarn die genauen Kurven des Essens in ihrem Mund verfolgen.

„Kopf ab, Ungeziefer und alles. Ob sie noch lebte, als man ihren Kopf abtrennte?“

„Mina, ich esse!“ Diana hatte sich eher zurückgehalten. Sie hatte noch keine Meinung darüber und ahnte nur, welche Qualen das Opfer erlebt haben musste.

„Ach Mist, ich muss los, hab’ was vergessen.“ Ihre Finger noch ableckend, stürzte Mina aus dem Lokal, ließ Diana und Handren mit ihrer Rechnung verwundert an dem kleinen Tisch am Fenster zurück.

„Mhm, was ist jetzt schon wieder los? Euch Frauen soll einer verstehen. Diana, Du bist so still.“

Vom Bierdeckel unter ihrem Glas Wasser war nur noch ein Häufchen Papierfetzen übrig. Sie war in Handrens Nähe immer sehr aufgeregt und erst jetzt merkte sie, dass Mina die entscheidenden Einschübe des Gesprächs geliefert und sie nur einige ergänzende Wörter von sich gegeben hatte. Es war nicht ihre Art, einen Small Talk auf die Schnelle zu halten.

Als Handren sich einem weiteren Kunden widmete, schloss Diana das Treffen mit einem Schein, den sie auf ihren Tisch legte.

„Handren, ich muss auch los, tschüss.“ Aufgewühlt stürzte sie aus dem Lokal wieder in Richtung Murhardsche, begleitet von einem letzten Winken und einem Kopfschütteln des jungen Wirtes.

Kapitel 4

Was war das schon wieder für eine Aktion? Diana hatte oft Probleme, in Minas Kopf zu blicken. Meist kam sie ihr zu banal, gar zu schlicht vor. In manchen Fällen hatte sie aber das Gefühl, dass sie etwas im Schilde führte. Dass sie Diana jetzt mit Handren allein ließ, wies eher auf einen von Minas lichten Momenten hin und auf die Tatsache, dass Diana seit etwa drei Jahren Single war. Verärgert verließ auch sie das Lokal, denn heute wollte sie sich nun gar nicht verkuppeln lassen.

Sie dachte an ihr Zuhause und an die Anrufe in letzter Zeit, die sie nicht angenommen hatte. Hinzu kam diese Medusensache in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft.

„Shit!“ Diana zog einen ihrer Stiefel rettend über ein Rasenstück, nachdem ihr der Hundedreck aufgefallen war. Ein bisschen Ruhe war das, was Diana eigentlich wollte. Hintergründig gab es aber immer wieder Störungen, die ihre Routinen beeinflussten und die die Auszeit ihrer eben erst abgeschlossenen Reise in weite Ferne rückten. Ein schöner Urlaub war es gewesen, aber von der Entspannung war nichts mehr übrig.

Sie war schon mitten in der Aue, als sie bemerkte, dass sie diesen Umweg eingeschlagen hatte. Es war wie immer still, auch schien der Nebel des heutigen Morgens vom Geäst der Bäume gehalten zu werden. Einige Enten trieben noch langsam über das Wasser der kleinen Kanäle dahin und zogen lange Schneisen mit sich. Auf den Zweigen sammelte sich Raureif und unter ihren Füßen raschelte das Laub. Dass es so schnell ginge, den eigenen Atem in diesem Jahr zu sehen, war für Diana niederschmetternd, weil der Herbst genau die Jahreszeit war, in der die Menschen sich besonnen und in ihre selbst gebauten Kokons schlüpften. Diana wusste nicht, ob sie sich diesem Wunsch nach Frieden anschließen sollte oder ob es besser war, nicht ständig Zeit für die Probleme der Vergangenheit aufzubringen.

Der Staatspark Karlsaue umfasst eine Fläche von 1,5 km2 und ist von Landgraf Karl um 1700 angelegt worden. Er diente mit seinen vielen barocken Attraktionen lange Zeit als Lustgarten und zur Repräsentation. Heute gilt die Karlsaue als Naherholungsgebiet für gestresste Städter und Laubenpieper.

Schon als Kind hatte Diana Erinnerungen an die großen Bäume, die ihr stets vertraut und Kraft spendend vorgekommen waren. Ihre Eltern hatten mit ihr gern Ausflüge in die Region unternommen und schon damals gefiel ihr die erhabene Anlage um die Orangerie. Als sie später zum Jobangebot in der Murhardschen Bibliothek auch eine Wohnung in der Nähe der Aue bekam, sahen sie und Aaron das als großen Gewinn und als Belohnung ihrer bisherigen Mühen im Studium.

Im jetzigen Moment war ihr eher flau. Was sie eigentlich so liebte, kam ihr nun unheimlich und beängstigend vor. Die einst schützenden Bäume streckten sich wie Nachtgespenster aus dem Nebel hervor, die Diana mit ihren Fängen zu drohen schienen.

Wenn man über einen Seiteneingang in die Aue ging, war es wie das Eintauchen in eine fremde, verzauberte Welt. Exotische Tiere und Pflanzen konnte man direkt neben dem alltäglichen Verkehrschaos bestaunen und erahnen, welche Wesen hier nachts die Vormachtstellung hatten.

Diese blumige Phantasie wandelte sich für Diana in eine Tatsache, die aus der aktuellen Berichterstattung folgte. Es kam ihr vor, als würde sie das mörderische Arrangement suchen, als hielte sie Ausschau nach dem Kopf und fürchtete, ihn zu finden. Klar, dass die Spuren längst gesichert waren und man den Fund beseitigt hatte, aber irgendwie schien die Stimmung hier eine andere zu sein.

Kapitel 5

Fast unmerklich beschleunigte sie ihre Schritte und wirbelte damit das Laub weiter auf. Alle Geräusche hörte sie plötzlich doppelt so laut, ihre Sinne verschärften sich. Sie drehte sich um und sah nun einen Mann, der seinen Schal tief ins Gesicht gezogen hatte. Er ging sehr nah hinter ihr, keine fünfzig Meter und sie ging noch schneller, bis ihr auffiel, dass er in eine andere Richtung abbog.

„Oh Mann!“ Erschöpft lehnte sich an einen Baumstamm. Das Blut hetzte durch ihre Adern und ihr Körper zitterte wie nach einem Marathonlauf. Den Kopf noch immer an den Stamm gelehnt, blickte Diana nach oben zu den Krähen, die sich lautstark über ihre Beute stritten und aufgeregt umher flogen.

‘Bloß weg hier! Was bildest Du Dir nur ein?’ War ihre Angst so groß, dass sie am helllichten Tag davon ausging, rein zufällig von einem Fremden angegriffen zu werden? Wie standen die Chancen für diesen Ausgang? Auf schnellstem Wege bog sie in die Menzelstraße ein und ging den Rest an der stark befahrenen Frankfurter entlang.

„Und, wie war’s?“ Diana hasste es, wenn Mina augenzwinkernd und mit einem süffisanten Lächeln vor ihr stand. Sie ging davon aus, dass sie im Sinne der lieben Freundin ganze Arbeit geleistet hatte und war sicher, dass Handren der Richtige für Diana war.

„Warum krallst Du ihn Dir eigentlich nicht? Die Loser, die Du immer anschleppst, kann er locker in die Tasche stecken! Ach, mach’ Dir nix draus, hätte ja was werden können. Ihr seid aber auch verklemmt!“

„Verklemmt!“ Leise murrend ging Diana zur Theke und griff nach einem Bücherwagen, um weiteren Diskussionen aus dem Weg zu gehen. Zum Glück war das Audit so gut wie in trockenen Tüchern, sodass heute nur noch ein paar Studenten mit ihrer Ausleihe zu betreuen waren. Sie konnte ihre Gedanken etwas schweifen lassen und ein wenig abschalten. Die Sache von vorhin ließ sie nicht los.

Stärker war aber das Murren im Vorbewussten. Ein Grummeln, das sich immer und ausschließlich auf ihre Mutter bezog. Oft sah sie ihre Nummer auf dem Display und hörte keine Stimme, wenn das Telefon klingelte. Wütend hatte Diana das Kabel aus der Dose gerissen und war unruhig eingeschlafen. Beim Frühstück sah sie das blinkende Display.

„Äh, ich suche die Ingenieurswissenschaften.“

„Oh, da sind Sie hier falsch, wir sind die Bereichsbibliothek sechs, sie müssen mit der Eins zur Ing-Schule fahren, die Haltestelle heißt da Murhardstraße, kommt oft vor.“

„Oh, danke, also mit der Eins.“ Die umständlich wirkende Studentin machte ein enttäuschtes Gesicht, war aber scheinbar froh, nun doch einen Hinweis zu ihrem Ziel zu finden und ließ die Tür laut ins Schloss fallen.

Diana hatte in letzter Zeit oft darüber nachgedacht, wie es früher war. Jetzt holte sie genau die Vergangenheit ein, die sie zu Studienzeiten noch erfolgreich hatte verdrängen können.

Es gab Regeln. In jeder Familie gibt es Regeln, aber bei ihr sprach man nicht vor Fremden darüber. Diana konnte lachen, wenn andere erzählten, sie hätten zu viel Geld in einen Urlaub investiert oder wenn sie den Schulbeginn verschlafen hatten.

Ein sicheres Indiz für ein handfestes Problem in ihrer Kindheit war eine unbenutzte Kaffeemaschine. Ihre Mutter Helen war immer gut drauf, sang morgens Lieder oder tanzte durch die Wohnung, während sie Dianas Frühstück vorbereitete und Kaffeeduft durch die Wohnung zog. War die Maschine unberührt, musste Diana weg.

Es gab noch einige andere Besonderheiten, die Diana zu einer guten Schauspielerin und loyalen Tochter hatten werden lassen.

Kapitel 6

Damals, bei Onkel Helmuts Geburtstag zum Beispiel. Onkel Helmut gehörte zu den Familienmitgliedern, die heute schon lange verstorben sind - Krebs - und an die man sich gern zurück erinnert. Ein dienstbeflissener Arbeitnehmer, der auch im Rentenalter noch fleißig Haus und Hof bewirtschaftete. Diana war mit ihrer Familie zu seinem siebzigsten Geburtstag eingeladen. Sie mochte ihn, auch wenn dieser Tag einen Riss in das Verhältnis zu ihrem geselligen Onkel gezogen hatte.

Diana konnte sich immer sehr gut an die vielen alten Stallungen und Winkel erinnern, die sie mit den anderen Kindern unsicher gemacht hatte. Geheimnisse wurden getauscht und im Heu ließ es sich optimal verstecken.

Ihrer Mutter schien es an diesem Tag ähnlich zu gehen, kam sie doch zerzaust aus dem Heu hervorgekrochen und stolperte mehr oder weniger nüchtern über den Hof zurück zur Kaffeegesellschaft. Ihr dicht auf den Fersen war der damals etwa achtzehnjährige Robert, der denselben Gesichtsausdruck trug. Ein Bild, das sich in Dianas Gedächtnis eingebrannt hatte. Verrat.

Robert war ein lieber Kerl und man sah ihn stets in seiner Rolle als zurückhaltender Cousin auf verschiedenen Festlichkeiten. Wie lange war das her? Vielleicht zehn, zwölf Jahre? Diana war jetzt fünfunddreißig. Robert war sechs Jahre jünger als sie und irgendwie kam ihr der hagere Junge ohnehin viel jünger vor. Damals, am Kaffeetisch bei Onkel Helmut, zeigte sich zum ersten Mal eine Ohnmacht, die ihren Körper zu ermatten drohte.

Diese Ohnmacht hatte Diana auch in den folgenden Jahren oft grundlos. Immer völlig abrupt durchliefen Schauer ihren Körper und hielten sie von ihrem Alltag ab.