Kirschblüten Sushi - Gerald Gleichmann - E-Book

Kirschblüten Sushi E-Book

Gerald Gleichmann

0,0

Beschreibung

Gerald Gleichmanns Kurzgeschichten um das kleine Seniorenheim und seine eigenwilligen Bewohner sind frei erfunden und glänzen doch mit aberwitzigen Einfällen, die manche Ähnlichkeit mit dem wahren Leben erkennen lassen. Gemeinsam mit dem Direktor und dessen treuer Seele im Sekretariat verstehen es die alten Herrschaften, ihren beschaulichen Alltag gehörig durcheinanderzuwirbeln.Da geht es um den Versuch, das Seniorenleben kulturell zu bereichern, um die Liebe im Alter, die Gesundheit und eine spontane Vergesslichkeit. Selbstbewusste Originale beharren trotzig auf ihren Standpunkt oder verfügen plötzlich über ungeahnte Kniffe. 15 Geschichten laden augenzwinkernd zu burlesken Ausflügen in eine scheinbar exotische Welt zwischen Rollator, kulinarische Beinahe-Katastrophe und festlicher Kaffeetafel ein...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 199

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gerald Gleichmann

Kirschblüten-Sushi

Geschichten aus dem Seniorenheim

Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© Verlag Kern GmbH, Ilmenau

© Inhaltliche Rechte beim Autor

1. Auflage, August 2022

Autor: Gerald Gleichmann

Layout/Satz: Brigitte Winkler, www.winkler-layout.de

Bildquelle Cover: lblinova | stock.adobe.com

Lektorat: Heike Funke

Sprache: deutsch

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

ISBN: 978-3-95716-354-7

ISBN E-Book: 978-3-95716-372-1

www.verlag-kern.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Entnahme von Abbildungen, Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, Speicherung in DV-Systemen oder auf elektronischen Datenträgern sowie die Bereitstellung der Inhalte im Internet oder anderen Kommunikationsträgern ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags auch bei nur auszugsweiser Verwendung strafbar

Inhalt

Der Herbst ist schön

Aufruhr im Seniorenheim

Die weiße Königin

Kirschblüten-Shushi

Waldbaden mit Veronika

Vom Geldregen und Geldsegen

Eine Seefahrt ist oft lustig

Die Sonne im Haus und der Mond in der Schachtel

Wir winden froh den Jungfernkranz

Die Welt ist wunderbar

Glücklich ist, wer ab und zu vergisst

Stadt, Land und der Ganges

Vom Brief- und anderen Geheimnissen

Kling, Klang und Gong

Süßer die Glocken nie klingen

Der Herbst ist schön

Als Kordula Rettich an diesem bislang eher heiteren Vormittag auf ihren hohen Absätzen ins Büro des Direktors gestakt kam und abgehetzt piepste, die Drossel sei im Anflug, verspürte er sogleich den Wunsch, sich mit einem halsbrecherischen Sprung aus dem Fenster vor deren unabwendbarer Heimsuchung in Sicherheit zu bringen. Doch stattdessen ruderte er wie ein Ertrinkender mit beiden Armen und stöhnte verzweifelt: „Verbarrikadieren Sie sämtliche Eingänge, Rettich! Verminen Sie die Flure und teilen Sie diesem Singvogel mit, ich pilgere für eine unendlich lange Zeit auf dem Martinsweg.“

„Jakob“, berichtigte die treue Seele gewissenhaft.

„Meinetwegen auch gemeinsam mit Jakob auf diesem endlosen Wanderpfad. Auf keinen Fall erteile ich der Notenvergewaltigerin die Landeerlaubnis!“

Kaum ausgesprochen, polterte die Verursacherin der allgemeinen Verwirrung bereits ins Zimmer und trällerte dabei in den höchsten Tönen: „Der Herbst ist schön, Eichbäumchen!“

„Er war es jedenfalls bisher …“, flüsterte der Heimleiter und fiel ermattet in seinen Stuhl zurück.

„Der war es gewiss …“, murmelte dessen persönliche Mitarbeiterin ebenso gequält.

In aufdringlicher Regelmäßigkeit fiel die erfolgsverwöhnte wie möglicherweise anderswo umschwärmte Opernsängerin Anne Linde-Drosse über das von ihm geleitete Haus für betagte Mitbürger her, um die Senioren mit anspruchsvollen Liederprogrammen künstlerisch zu verwöhnen.

„Oder sie um die letzte Faser ihres Verstandes zu bringen!“, hauchte Eichbaum nach jeder neuen Vorführung resigniert. Denn deren Auftritte kamen nicht bei jedem Bewohner gleich gut an. So verursachte das kraftvoll tremolierte hohe C der Diva mitunter gesundheitsgefährdende Hörstürze, während die Überzahl der Senioren, in der irrigen Annahme, die Feuersirene auf dem Dach des Heimes hätte soeben gellend zu heulen begonnen, panisch in den Park hinauseilten, um sich dort hinter Bäumen und Sträuchern vor dem über sie hereinbrechenden Inferno schleunigst in Sicherheit zu bringen.

Es bedurfte jedes Mal eine um die andere Stunde, ehe auch der allerletzte Flüchtige von ihnen wieder eingefangen worden war.

Die Sopranistin sang jedoch derweil unbeeindruckt weiter und bemerkte nicht einmal, wenn sich im Saal die Stuhlreihen überstürzt leerten.

Anne Linde-Drosse, einst gefeierter Star sämtlicher Provinzbühnen, hatte während ihrer musikalischen Laufbahn nicht nur diversen Walküren reichlich Leben und Leidenschaft eingehaucht, sondern war auf der Bühne nachweislich mehr stimmgewaltige Tode gestorben, als das Seniorenheim bisher hatte verbuchen müssen. Und ginge es nach Alexander Eichbaum, sollte sich daran auch zukünftig nichts ändern!

Nach dem bedauerlichen Ende des kometenhaften Aufstiegs der naiven Soubrette bis hin zur gekrönten Primadonna theatragiko ließ die Künstlerin dennoch keine Gelegenheit aus, ihr vielfältiges virtuoses Können dem gemeinen Volk geradezu aufzudrängen.

In diesem Moment baute sie ihre anatomische Fülle vor Eichbaum auf, sodass der es eilig vorzog, hinter seiner schmächtigen Sekretärin Schutz zu suchen, ehe es zu einer körpernahen Attacke auf ihn kommen konnte.

Unterdessen pellte die Sopranistin sich grazil aus ihrer schwarzen Häkelstola, die sie lässig über einen unförmigen roten Kaftan mit schwarzen Punkten drapiert hatte, in dem sie allerdings gleich danach wie ein mutierter riesiger Johanniskäfer ausschaute.

Dieser Vergleich drängte sich der verschüchtert dreinschauenden Vorzimmersekretärin auf – sie konnte sich gerade noch rechtzeitig bremsen, ihren hinterhältigen Gedanken boshaft hinauszuposaunen.

Die Stimmakrobatin wuschelte mit den Fingern durch ihre aufgetürmte und tintenblau gefärbte Lockenpracht, ehe sie mit einem betörenden Augenaufschlag hingebungsvoll hauchte: „Eichbäumchen!“

„Verehrungswürdige und viel bewunderte Frau Drossel!“, murmelte der hinter seiner Bürohilfe entmutigt.

„Drosse, mein Bester!“, flötete der Singvogel mit spitzem Mündchen verführerisch, wobei ihr Busen sich bedrohlich hob und senkte, dessen heftiges Wogen die schmalbrüstige Rettich jedes Mal neidisch erblassen ließ.

„Anne, Atempause, Linde, Bindestrich, Drosse! Ein Name, der gewiss in die Annalen der Musikgeschichte eingehen wird!“

„Ohne jeden Zweifel“, stimmte Eichbaum deren Wunschdenken bedenkenlos zu und grübelte noch immer über eine einleuchtende Ausrede nach, ihren Auftritt irgendwie zu verhindern, der zweifellos abermals in einer Katastrophe enden würde.

Als Eichbaum es schließlich wagte, seine sichere Deckung dennoch zu verlassen, verwirrte hingegen das erotische Zwinkern der Künstlerin sofort alle seine Sinne, sodass er nicht mitbekam, als die Rettich ihm eine äußerst wichtige Meldung zu machen versuchte. Auch weil die Linde-Drosse im selben Moment nochmals schrill wiederholte: „Der Herbst ist schön …“ Und das in einer Tonhöhe, dass selbst die Gläser in der Vitrine heftig zu klirren begannen.

„Sie haben es sicher bereits erraten: So lautet der Titel meines neuen Solo-Tournee-Programms“, fügte die Sopranistin nach einer winzigen Kunstpause erklärend hinzu.

„Ach!“, räusperte sich Alexander Eichbaum.

„Wie überaus treffend!“, stellte die Rettich hingegen unerwartet erfreut fest. „Und wenn zudem noch viele bunte Blätter weh’n.“ Sie klammerte sich an die dezent gestreifte Krawatte ihres Vorgesetzten und säuselte heftig atmend in dessen Ohr: „Das wäre die perfekte Umrahmung unseres Festes!“

„Welches Fest?“ Eichbaum sank ermattet auf seine Knie. Unter dem brutalen Würgegriff wurde ihm die Luft allmählich knapp.

„Von welchem wunderbaren Fest ist hier die Rede?“, schaltete der singende Vogel sich interessiert-neugierig ein.

„Die Feierstunde“, rief Kordula Rettich eindringlich und knuffte den kurzatmigen Direktor mit ihrem spitzen Ellenbogen in dessen Leiste, woraufhin der das Gleichgewicht verlor und der Länge nach auf dem Teppich aufschlug.

Seine treue Seele folgte ihm flugs. Ohne von der Krawatte abzulassen, landete sie allerdings wesentlich weicher.

Beim verzückten Anblick der sich zu ihren Füßen einander umschlingenden Körper bemerkte Anne Linde-Drosse nicht gänzlich ohne Neid: „In dieser bequemen Stellung hoffe ich, meinen Lebensabend ebenfalls zu verbringen!“

Dagegen war Eichbaum die Situation sichtlich enorm peinlich. Vor allem, weil der bebende Mund der Rettich irgendwie den seinen gefunden hatte und die züngelnd stöhnte: „Statt eines ermüdenden Tänzchens singen wir begeistert ein fröhliches Liedchen.“

Endlich dämmerte dem Seniorenaufbewahrer, was seine auf ihm rastende Bleistiftanspitzerin damit andeuten wollte. Währenddessen verfolgte die Noteninterpretin das Gerangel der beiden mit begehrlichen Blicken.

Immerhin gelang es Eichbaum irgendwann, sich aus der Umklammerung seiner persönlichen Assistentin zu befreien und wieder auf seinen eigenen Füßen zu stehen. Die Rettich strich sich verschämt den viel zu kurzen Rock gerade und beeilte sich, der Zuschauerin ihrer unfreiwilligen zwischenmenschlichen Darbietung die eigentliche Sachlage zu erläutern. „Der Umstand ist folgender …“

Gespannt lauschte die Linde-Drosse dem in ihren Ohren verheißungsvoll klingenden Vorschlag, auch wenn es sich dabei nur um die festliche Ausgestaltung anlässlich des 99. Geburtstages von Eduard vom Mardersteig handelte.

„Welch ein entzückender Name!“, seufzte die Primadonna theatragiko – der Erwähnte kam trotz seiner adeligen Abstammung schon wegen des fortgeschrittenen Alters kaum mehr als ein möglicher Heiratskandidat für sie in Betracht.

Abgesehen von den üblichen langatmigen Reden einiger wichtiger Persönlichkeiten würde ein Chor des sich in unmittelbarer Nähe des Heimes befindenden Kindergartens das Liedchen „Auch du wirst einmal erwachsen sein“ vergnügt anstimmen.

„Ich hoffe, der Jubilar schließt sich gleichfalls von ganzem Herzen diesem innigen Wunsch an!“, prustete der übergewichtige Johanniskäfer los, wobei ihr Busen erneut heftig ins Wogen kam.

Eichbaum protestierte mit einem röchelnden Schnaufen. Worauf sich das bezog, ließ sich von den beiden anderen Beteiligten jedoch nicht näher ermitteln. Die Rettich wandte schließlich erschöpft ein: „Es gibt Tage, da reicht mir nicht einmal die Zeit für einen anständigen Nervenzusammenbruch.“

Der Heimleiter staunte mit offenem Mund. Die Diva entgegnete gewohnt herablassend: „Dieser Spruch entspringt niemals Ihrem viel zu kleinen Hirn. Den haben Sie mit Sicherheit aus irgendeinem Buch geklaut.“ So viel persönliche Intelligenz traute sie der schusseligen Bürohilfe dann doch nicht zu. Und an Eichbaum gewandt forderte sie: „Und wie nun weiter?“

Nach der kindlichen Interpretation des Wunsches wollte Kordula Rettich einige ergreifende Balladen rezitieren. Im Anschluss daran beabsichtigten die noch rüstigen Seniorinnen des hauseigenen Bewegungs- und Rhythmuszirkels, eine abgeänderte Version irgendeines Fruchtbarkeitstanzes auf die Bühne zu bringen. Alleine bei dem Gedanken an einen derartigen Eklat sträubten sich Eichbaum die sorgsam gekämmten Haare. Er wagte sich gedanklich nicht einmal vorzustellen, welche Gemütswallungen jene Vorführung bei den ahnungslosen Zuschauern heraufbeschwören würde!

„Dieser schlüpfrige Programmpunkt ist mit sofortiger Wirkung gestrichen!“, bestimmten er und seine personengebundene Mitarbeiterin im gemischten Chor. Energisch fügte die Rettich hinzu: „Stattdessen loben und preisen wir den schönen Herbst.“

Die anfänglich begeistert zustimmende Künstlerin schränkte allerdings zerknirscht ein, ebendieses titelgebende Jahreszeitenlied bestehe unglücklicherweise aus 29 ellenlangen Strophen sowie einem recht umfangreichen Refrain. Die Sekretärin merkte mit gut gespielter Enttäuschung hastig an: „Nur?“

Im gleichen Atemzug beschloss der Direktor: „Je länger Sie auf der Bühne stehen und singen, umso weniger Unsinn kann das Altmädchenballett anstellen!“ Der mehr oder weniger liebliche Gesang der Linde-Drosse würde die Tänzerinnen gewiss davon abhalten, was auch immer Verwerfliches darzustellen, über das sie sich dem Heimleiter gegenüber bisher diskret ausgeschwiegen hatten.

Während Eichbaum alles unternahm, seiner Krawattenfetischistin namens Kordula Rettich an diesem Tag nicht mehr allzu nahe zu kommen, war die Linde-Drosse selig, dieses Fest mit ihrer dramatischen Kunst enorm bereichern zu dürfen, und gab aus dem Stand heraus nochmals eine winzige Kostprobe ihres glockenhellen Könnens. In schwindelerregender Tonhöhe ließ sie die beiden Seniorenbeauftragten wissen: „Der Herbst ist schön …“

Allerdings gaben diesmal die hauchdünnen Gläser in der Vitrine jeglichen Widerstand auf und zerbrachen klirrend in unzählige Scherben.

Da bis zum bedeutsamen Ereignis nur wenige Tage Zeit für die Vorbereitungen blieben, ging es in den Zimmern der Bewohner und im großen Saal ziemlich hektisch zu. Meterlange Girlanden und bunte Wimpelketten wurden gebastelt. Auf der Bühne wurde zugleich eine herbstlich anmutende Kulisse gezimmert und bunt bemalt. In der Küche hatte Griseldis Griesbrett die strenge Oberaufsicht über ihr Personal, das die erlesensten Gerichte zubereitete. Kurz: Jedermann freute sich auf dieses wohl nur sehr wenigen vorbehaltene Geburtstagsfest.

Einzig das Altmädchen-Ensemble bereitete Alexander Eichbaum weiterhin arges Kopfzerbrechen. Seit seiner Bekanntgabe für deren striktes Auftrittsverbot tuschelten die greisen Tänzerinnen immer dann verschwörerisch miteinander, wenn er ihnen zufällig über den Weg lief. Das Schlimmste befürchtend, hätte er die Truppe während der Feierstunde gerne vorbeugend in den dusteren Keller gesperrt und die Eisentür zusätzlich mit Rammböcken gesichert.

Dann kam der große Tag. Als der Bühnenvorhang sich endlich hob, thronte der Jubilar Eduard vom Mardersteig bereits in einem mit Wiesenblumen geschmückten Sessel. Der neben ihm stehende Alexander Eichbaum sprach einige wenige, dafür umso rührendere Worte. Die geladenen wichtigen Persönlichkeiten dagegen schwadronierten ermüdend länger und der Chor versang sich beim Auftritt im Kindergarten mehrmals. Darum wiederholten die Kleinen ihre Drohung so oft, bis vom Mardersteig letztlich selbst daran glaubte, in den folgenden Jahrzehnten vielleicht doch erwachsen werden zu dürfen. Kordula Rettich rezitierte im kleinen Schwarzen lyrische Verse von Dichtern, die außer ihr jedoch keiner zu kennen schien. Und nachdem der gefeierte Ehrengast unter quengelndem Protest ins Parterre hatte umziehen müssen, rauschte die Opernsängerin Anne Linde-Drosse im farbenfrohen Herbstgewand und einem geflochtenen Blätterkranz auf ihrer blau gefärbten Lockenpracht im Sturmschritt auf die Bühne, die ihr einzig die Welt bedeutetenz. Im Schlepptau die Heimbewohnerin und Freizeitpianistin Maria-Magdalena Grützmacher. Deren Anwesenheit nahm allerdings kaum einer zur Kenntnis, da die zierliche Gestalt von der fülligen Diva gänzlich verdeckt wurde. Dagegen bedachte die Künstlerin ihre zahlreich erschienenen Zuhörer mit einem triumphalen Lächeln. Kaum war die Grützmacher ans Klavier gehuscht und hatte den ersten Ton angeschlagen, trällerte Erstere rücksichtslos ins gespannt lauschende Publikum: „Der Herbst ist schön …“ Bei der 15. Wiederholung des melodiösen Reims summten einige der Senioren leise mit. Einzig das einsetzende heftige Flattern der angeklebten Wimpern der Herbstbotschafterin ließ Eichbaum schließlich angespannt aufhorchen. Mehrmals schielte die Primadonna theatragiko in die Kulissen, in denen sich gerade Ungeheuerliches abspielen musste. Nach der 22. Heraufbeschwörung des schönen Herbstes versagte ihr sogar für einen winzigen Moment die geschulte Stimme.

Nun hielt es den Heimleiter nicht mehr auf seinem Platz. Mit langen Schritten spurtete er ahnungsvoll hinter die Bühne – aber bei dem, was er dort gleich darauf zu sehen bekam, verschlug es ihm nicht alleine die Sprache!

Kordula Rettich, die ihrem Vorgesetzten auf allen seinen Wegen getreulich folgte, stieß beim Anblick der skandalösen Ursache einen spitzen Schrei aus und fiel freiwillig in die ausgebreiteten Arme des dienstlich anwesenden und sie rechtzeitig auffangenden Brandmeisters der städtischen Feuerwehr.

Entgegen aller Schwüre warteten die Seniorinnen des Bewegungs- und Rhythmuszirkels ungeduldig darauf, den Bewohnern und Gästen die von ihnen einstudierte Version eines rituellen Fruchtbarkeitstanzes darzubieten, um das Blut der Zuschauer damit in Wallung zu bringen und zugleich das von Eichbaum in ewige Froststarre zu versetzen. Dafür hatten sich die Tänzerinnen ihrer Kleidung vollständig entledigt und standen, wie der Schöpfer sie modelliert hatte – nur den einzigen Schönheiten mittlerweile mehr oder weniger beraubt – erwartungsfroh aufgereiht und drohten dem aschfahl gewordenen Herbergsvater mit Fausthieben und gezielten Tritten, der seinerseits alles unternahm, den wahrhaft unvergesslichen Auftritt verhindern zu wollen.

Beschwörend ruderte Eichbaum mit den Armen in Richtung Bühne, um der singenden Herbst-Schönwetterfrau zu signalisieren, den Gesang notfalls bis zur Adventszeit in die Länge zu ziehen. Die erfahrene Künstlerin verstand auf Anhieb dessen stumme Regieanweisung und tremolierte zum wievielten Mal auch immer: „Der Herbst ist schön …“

In der Zwischenzeit war Eichbaum damit beschäftigt, die Rebellinnen in ihren naturbelassenen Kostümen zur Vernunft zu bringen. Doch es halfen ihm weder engelsgleiche Worte noch die Drohung einer Isolierhaft im Geräteschuppen mit striktem Essensentzug und erst recht nicht die angekündigte Ausweisung der entblößten Widerständlerinnen aus seinem seriösen Seniorenheim.

Was daraufhin folgte, war nur mehr ein weiterer ungleicher Wettkampf zwischen ihnen. Die disziplinlose Elfenschar versuchte unfairerweise, sich nunmehr dessen Kleidungsstücken zu bemächtigen. Während des heftigen Gerangels kam selbst die Bühnendekoration gefährlich ins Wanken. Die begeisterten Zuschauer glaubten allerdings, das war einzig und alleine den von Anne Linde-Drosse heraufbeschworenen herbstlichen Stürmen geschuldet.

Eduard vom Mardersteig mochte irgendwann deren geträllerter Wettervorhersage nicht länger lauschen – zumal der Duft, der vom angerichteten Büfett verführerisch um die Nasen der anwesenden Gästeschar wehte, kaum jemanden mehr auf seinem Stuhl hielt. Während die Senioren und geladenen wichtigen Persönlichkeiten mit gezückten Messern und Gabeln um die zartesten Filetstücke fochten, floh der mittlerweile nur notdürftig bekleidete Alexander Eichbaum durch sämtliche Flure, weiterhin verfolgt von einer johlenden Horde nackter Amazonen.

Kordula Rettich ruhte derweil selig in den Armen des strammen Brandlöschers und gurrte heiser, sie müsse umgehend die manuelle Handhabung von dessen einsatzbereiter Feuerwehrspritze ausprobieren.

Die Freizeitpianistin Maria-Magdalena Grützmacher war auf dem Klavierhocker längst erschöpft zusammengebrochen, da war die Operndiva a cappella zum fünften Mal bei Strophe 29 angelangt. Während sie atemlos schwor, dieses schrullige Heim mit ihrer hochdramatischen Kunst vorerst nicht mehr erfreuen zu wollen, hauchte sie mit merklich zittrig gewordenem Stimmchen ein allerletztes Mal: „Der Herbst ist schön!“

Aufruhr im Seniorenheim

„Eine Überprüfung?“ Kordula Rettich sog hörbar die Luft ein und schaute ihren Vorgesetzten verschreckt an, als würde der unverzüglich die Bloßlegung ihres geheimen Liebeslebens fordern. „Ich wüsste nicht, was es von wem auch immer bei mir zu kontrollieren gäbe!“, fügte sie empört hinzu. Sie zupfte dabei nervös an ihrem knapp gehäkelten pinkfarbenen Pulli und trat zugleich überraschend leichtfüßig den Rückzug an, falls der rotgesichtige Alexander Eichbaum aus seiner Haut fahren sollte. Dessen Miene deutete unmissverständlich darauf hin.

Erfreulicherweise beließ der es vorerst dabei, mit geballten Fäusten zornig auf den Schreibtisch vor ihm einzuhämmern, dass nicht nur alle Stifte, sondern fatalerweise auch das Foto seiner ihn im silbernen Rahmen beständig anlächelnden Ehefrau mitsamt dem silbernen Rahmen zu Boden fiel.

Doch unbeeindruckt von dessen Wutausbruch lächelte Frau Eichbaum auch weiterhin allerliebst.

Der sichtlich aufgewühlte Heimleiter bemerkte jedoch weder sein eigenes Missgeschick noch die furchtsam umherhuschenden Blicke seiner persönlichen Mitarbeiterin. „Es handelt sich um eine scheinbar längst überfällige Revision bezüglich der Rentabilität unseres Hauses!“, knurrte er gallig. Als würden jene Betteninspektoren sich erhoffen, das eine oder andere kriminelle Vergehen lüstern aufzuspüren – zumal diese Sparstrümpfe sich erdreisteten, ihre Zelte ausgerechnet kurz vor den weihnachtlichen Festtagen bei ihnen aufzuschlagen, in denen es für den Herbergsvater wesentlich Dringenderes zu organisieren und vorzubereiten gab.

Inzwischen grübelte die Vorzimmerhüterin angestrengt darüber nach, welche Unanständigkeit sich hinter dem eher wohlklingenden Namen verbergen mochte. „Demzufolge eine uns aufgezwungene Rentendiät …“, sinnierte sie laut und befürchtete zugleich eine drastische Gehaltskürzung.

„Rentabilität!“, verbesserte Eichbaum grollend. „Die effiziente Auslastung.“

Das war nur mehr ein weiterer Begriff, mit dem die geschulte Bürohilfe momentan nicht das Mindeste anzufangen wusste. „Was heißt das nun wieder?“

Jetzt war es wiederum der Direktor, der seine sehr persönliche Mitarbeiterin mit großen Augen argwöhnisch musterte, als hätte die ihren Qualifizierungsabschluss in der Lotterie gewonnen. Unter dessen strafender Miene schrumpfte die auf Zwergengröße hinab, als er diese vermeintliche Unschuld vom Lande von oben herab schulmeisterlich belehrte: „Die nachprüfbare Bescheinigung, wie wir es seltsamerweise ohne größeren Aufwand fertigbringen, die uns zur Verfügung stehenden 40 Betten mit doppelt so vielen rüstigen Senioren zu belegen und im Gegenzug die dafür anfallenden horrenden Kosten auf rund 30 Bewohner großzügig herunterzukalkulieren …“

„Ach, tun wir das denn?“, staunte Kordula Rettich, die diese vielen Zahlen vollends durcheinanderbrachten. Aber darauf konnte und wollte Eichbaum momentan keinerlei Rücksicht nehmen und sann seinerseits konzentriert über jede nur denkbare Möglichkeit nach, wie es ihnen bis zum baldigen Eintreffen des sparwütigen Gremiums gelingen könne, die unglücklicherweise derzeit unbewohnten Zimmer rasch mit betagten Mitbürgern zu bevölkern.

Auch seine treue Seele schien sich ernsthaft Gedanken darüber zu machen. Darüber vergaß sie sogar, weiterhin hektisch an ihrem Pulli zu zupfen. Nervlich zerrüttet, musste sie ihren schmächtigen Körper erst einmal ins bequeme Ledersofa fallen lassen. Immerhin hatte sie inzwischen begriffen: Diese unausweichliche Tragödie betraf erfreulicherweise nicht alleine sie. Dennoch blieben den beiden Grüblern letztlich lediglich 24 Stunden, bis die angereisten Rotstiftschwinger das Unterste zuoberst kehren würden, um die klitzekleinste aller klitzekleinen Verschwendungen genüsslich aufzudecken. Die von der Rettich zuvor eigenhändig zu Papier gebrachte Statistik konnte zweifelsfrei belegen, dass ihnen im Verlauf des vergangenen Berichtszeitraums nur sieben Senioren auf natürliche Weise abhandengekommen waren. Demnach galt es, diesen minimalen Fehlbetrag schnellstens wieder auszugleichen!

Um den Kopf für eventuelle Vorschläge frei zu bekommen, holte Eichbaum die dafür notwendige Flasche Doppelkorn aus dem Geheimfach des Schrankes, machte es sich im gebührenden Abstand an der Seite der plötzlich nicht mehr ganz so zerknirscht dreinschauenden Sekretärin gemütlich und wartete nunmehr ungeduldig auf deren taugliche Eingebungen. Drei oder vier Gläschen Weizenkorn hatten der treu ergebenen Protokollantin bisher immer geholfen, einen Ausweg aus einer noch so verzwickt scheinenden Situation zu finden. Und auch diesmal sah sie nach dem sechsten gebecherten Körnchen plötzlich wieder glasklar. Ausgelassen kichernd schlug sie ihrem Vorgesetzten darum vor: „Wir könnten auf die Schnelle eine Seniorengruppe unserer südpolnischen Partnerstadt Skawina einladen, einige recht lustige Tage mit uns zu verbringen. Mit dem Besuch von Väterchen Frost und einer ausgelassenen Schunkelparty“

Nach reiflicher Überlegung fand der Direktor diesen abenteuerlichen Einfall weit weniger lustig als sie. Denn ehe im südpolnischen Skawina der allerletzte Senior seinen Platz im Reisebus eingenommen hätte, würden die Rentabilitätskommission längst in der Eingangshalle herumlümmeln und akribisch die Blätter des dort stehenden Gummibaumes zählen. „Zeitlich gesehen ist dieser Plan bedauerlicherweise undurchführbar“, entschied er und schenkte zwecks weiterer Anregungen nochmals überreichlich nach.

„Ich kann es mir hingegen sehr gut vorstellen, mit unseren Bewohnern einige landestypische Volkstänze einzuüben“, feixte die geschulte Sekretärin übermütig.

„Ich dagegen nicht!“, widersprach ihr Vorgesetzter mit Nachdruck. „Und jetzt konzentrieren Sie sich gefälligst!“, knurrte er.

Kordula Rettich strahlte indessen weiterhin verliebt, rückte beherzt eine Handbreit zu ihm auf und begann erneut, die vielen Maschen an ihrem knapp gehäkelten pinkfarbenen Pulli zu zählen. Minuten später und ohne überhaupt eine einzige Reihe geschafft zu haben, säuselte sie vertraulich: „Sie können mich übrigens Kordula nennen!“ Schließlich kannten beide sich eine gefühlte Ewigkeit. Zumindest beruflich. Dennoch verweigerte Eichbaum ihr auch diesmal mit eiserner Härte den sehnlichsten Wunsch. Die verwaisten Betten würde er auch zukünftig ausschließlich mit zahlenden Senioren belegen! Ob das der enttäuschten Protokollantin nun passte oder nicht!

Der merkte man dessen herbe Ablehnung nach außen hin nicht an. Lediglich ihr heftiger Atem verriet ihm: Sie brütete bereits angestrengt die nächste sicher noch fantastischere Idee aus. Und richtig – aufgeregt zog sie den überrumpelten Heimleiter an dessen Krawatte nahe an ihren kirschrot geschminkten Mund und flötete: „Ich weiß immerhin, wie diese nervige Rennvitalität sich ratzfatz lösen lässt!“

„Rentabilität!“, korrigierte Eichbaum grimmig und mühte sich, nicht bloß seinen ihr wehrlos ausgelieferten Körper, sondern zuallererst die Flasche doppelten Kornes vor deren weiterem Zugriff in Sicherheit zu bringen, was jedoch gänzlich misslang. Die Rettich zog nur umso kräftiger an seinem gestreiften Binder. Ihm blieb folglich nur, deren genuschelten Eingebungen höchst aufmerksam zu lauschen.

„Diesen Vorschlag finde ich grandios, liebe Rettich!“, rief er wenig später voll des Lobes aus. „Ich gebe zu, Sie verwandeln sich förmlich in ein universelles Genie – haben Sie ausreichend Promille intus.“

„Das ist genau meine Rede … Eichbaum!“, stöhnte die Sekretärin vor sinnlichem Verlangen. Aber bevor ihre hormonelle Verwirrung vielleicht gänzlich außer Kontrolle geraten würde, mahnte er eilig an, eine Umsetzung des ziemlich verwegen klingenden Planes dulde keinerlei Aufschub und müsse unverzüglich in die Tat umgesetzt werden – allerdings ohne weitere Abfüllung und körperliche Zudringlichkeit. Alleine seiner arg ramponierten Krawatte wegen. Außerdem ticke die Uhr. Jene renitente Kommissionsbande befand sich sicher schon auf der Zielgeraden.

Kordula Rettich benötigte dennoch mehrere Augenblicke bis zur vollständigen Wiederfindung ihres eigenen Ichs. Dann stöckelte sie in hochwichtiger Mission von einem Zimmer ins nächste, um von den gegenwärtigen Bewohnern des Heimes deren aktive Mitarbeit einzufordern. Sie schilderte ihnen die Situation so hochdramatisch, als würden die Senioren in nicht allzu ferner Zukunft heimatlos auf dem Bürgersteig sitzen, falls sie den Rentner-Rennwettbewerb nicht mit Leib und Leben unterstützten.

Die Drohung der Vorzimmersekretärin löste bei allen sogleich eine Welle der Hilfsbereitschaft aus. Es wurde aufgeregt herumtelefoniert, in die Hörer gebarmt und geheult, und nicht lange danach trafen bereits die ersten zwielichtigen Gestalten mit Koffern und jeder Menge Handgepäck zwecks nötiger Verfügbarkeit in der Eingangshalle ein. Auch, um sich auf Kosten des Seniorenheims einen angenehmen Tag machen zu dürfen. Wie die Rettich es ihnen hoch und heilig versprochen hatte!

Ob Alexander Eichbaum mit dem für ihn kostspieligen Ergebnis am Ende glücklich war, blieb vorerst dahingestellt. Der stellte nach mehrmals wiederholter Volkszählung zunächst erfreut fest, dass sein Haus nunmehr auf wundersame Weise rechnerisch bis auf ein einziges Zimmer belegt war. Er dachte zwar einen flüchtigen Moment daran, notfalls seine Büroklammerzählerin an das allerletzte verwaiste Bettgestell zu ketten – da hatte die findige Organisatorin längst die nächste haarsträubende Idee für ihn parat. Und diesmal, Wunder über Wunder, ohne Zuhilfenahme des flüssigen Weizenkorns!

Für den rechtschaffenen Direktor schien deren aberwitziger Einfall jedoch schlichtweg undurchführbar. „Ich habe nicht vor, auf meine alten Tage kriminell zu werden!“

„Im streng juristischen Sinne handelt es sich hierbei um keinerlei Straftat, sondern lediglich um die volkswirtschaftliche Notwendigkeit, die Schließung des Heimes vorerst zu verhindern.“

„Ich weiß dennoch nicht, Rettich …“

„Und was wird sonst aus Ihrer Relativität?“

„Rentabilität!“, verbesserte der Seniorenaufbewahrer gereizt. „Dann eben die“, winkte seine persönliche Assistentin voller Tatendrang ab. „Sollten Sie jedoch kalte Füße bekommen und zu kneifen versuchen, ziehe ich das ganz große Ding notfalls auch alleine durch!“

Wohl war Alexander Eichbaum bei alledem nicht, als er zögerlich nach dem Autoschlüssel griff, um kurz darauf mit seiner Mitarbeiterin auf eine gefährliche „Seniorenjagd“ zu gehen. Während seine Hände das Lenkrad des Kleintransporters fest umklammerten, hielt die geschulte Bürokraft im Winterpelz vom Beifahrersitz aus fieberhaft Ausschau nach einem potenziellen Opfer.

Das erwies sich in der vorweihnachtlichen Betriebsamkeit schwieriger, als anfänglich von ihnen gedacht. Meist handelte es sich um Familien, die die Bürgersteige reichlich bevölkerten, oder um augenscheinlich rüstige Personen, die keineswegs ihren Vorstellungen von einem hilflosen Heimbewohner entsprachen. Nach einer gefühlten Ewigkeit – Eichbaums Nerven flatterten so sehr, dass er die für ihn absurde Aktion kurzerhand abbrechen wollte – entdeckte die Rettich an einer spärlich beleuchteten Haltestelle eine einsame und scheinbar auf den verspäteten Bus wartende Gestalt älteren Jahrganges, deren Arme von riesigen Einkaufstüten zu Boden gezogen wurden. Nach eingehender Begutachtung des Objektes