Kiss me goodnight - Sabrina Heilmann - E-Book
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Sabrina Heilmann

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Beschreibung

Die Jubiläumsausgabe des Debütroman-Erfolgs! Ist die Liebe stärker als der Tod? Als Anna nach einem Afrikaaufenthalt nach Deutschland zurückkehrt, fühlt sie sich schwach und kraftlos. Die Diagnose ist niederschmetternd: Sie hat sich mit einem Virus angesteckt, für den es keine Heilung zu geben scheint. Als Anna sich in die Hände ihres neuen Hausarztes begibt, stellt sie bestürzt fest, dass es sich bei ihm um den Mann handelt, der sie in Afrika nach einer Liebesnacht ohne ein Wort der Erklärung sitzengelassen hatte. Dennoch bittet sie ihn um die Erfüllung eines Herzenswunsches: Er soll die letzten Wochen ihres Lebens mit ihr verbringen. Es beginnt eine Beziehung voller Schmerz und Leid – und der unbändigen Hoffnung auf ein Happy End. --------------------------------- Dieser Sammelband umfasst die Einzelbände "Am Ende des Horizonts" und "Am Ende der Sterne".

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KISS ME GOODNIGHT

 

ICH WARTE AM HORIZONT AUF DICH

 

 

SABRINA HEILMANN

 

 

 

 

LIEBESROMAN

Dieses Werk ist reine Fiktion. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie Schauplätzen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle darin beschriebenen Vorkommnisse sind frei erfunden.

 

2. Auflage

Copyright © Sabrina Heilmann, Dezember 2019

 

 

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren, Vervielfältigen und Weitergabe sind nur zu privaten Zwecken erlaubt. Der Weiterverkauf des eBooks ist ausdrücklich untersagt. Der Abdruck des Textes, auch nur in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

 

Korrektur: Helke Böttger, KKB – Lektorat und Korrektur

 

Coverbild © Sabrina Heilmann

 

Coverfotos: © gstockstudio www.despositphotos.com

Inhaltsverzeichnis

KISS ME GOODNIGHT

DAS BUCH

HINWEIS

BUCH 1

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

BUCH 2

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

EPILOG

DANKSAGUNG

DIE AUTORIN

LESEPROBE

IMPRESSUM

 

DAS BUCH

 

 

Ist die Liebe stärker als der Tod?

 

Als Anna nach einem Afrikaaufenthalt nach Deutschland zurückkehrt, fühlt sie sich schwach und kraftlos. Die Diagnose ist niederschmetternd: Sie hat sich mit einem Virus angesteckt, für den es keine Heilung zu geben scheint.

Als Anna sich in die Hände ihres neuen Hausarztes begibt, stellt sie bestürzt fest, dass es sich bei ihm um den Mann handelt, der sie in Afrika nach einer Liebesnacht ohne ein Wort der Erklärung sitzengelassen hatte.

Dennoch bittet sie ihn um die Erfüllung eines Herzenswunsches: Er soll die letzten Wochen ihres Lebens mit ihr verbringen.

Es beginnt eine Beziehung voller Schmerz und Leid – und der unbändigen Hoffnung auf ein Happy End.

 

Für Helke,

weil du mir gezeigt hast,

dass ein Traum dazu da ist,

erfüllt zu werden.

HINWEIS

 

 

Bei diesem Roman handelt es sich um eine Neuauflage meines Sammelbandes »Am Ende: Liebe« anlässlich meines 5-jährigen Autorenjubiläums.

Er umfasst meinen Debütroman »Am Ende des Horizonts« und dessen Fortsetzung »Am Ende der Sterne«. Beiden Romane gibt es auch als Einzelbände. Der Sammelband wurde noch einmal von mir überarbeitet, aber gibt es keine neuen Szenen und auch kein alternatives Ende.

Aber eine Ankündigung am Ende! ;-)

 

 

Ich wünsche dir eine emotionale Reise mit Anna und Oliver und hoffe, dass du die beiden genauso lieben werdet, wie ich es tue.

 

Küsschen,

Sabrina

BUCH 1

 

EINS

 

Sambia, August 2005

 

 

Die sanfte Brise trug den Schmetterling durch die Lüfte in ein Gebiet, in das er nur selten kam. Leicht bewegte er die Flügel auf und ab und gab sich der ungewöhnlichen Umgebung hin. Elend und Hoffnungslosigkeit begegneten ihm, Trockenheit und Dürre. Die Sonne wärmte seine braunen Flügel, deren gelbe Flecken im Licht schimmerten wie zartes Gold. Auch wenn er nicht so reich und bunt geschmückt war wie andere seiner Art, so stach er in der tristen Umgebung doch hervor. Anmutig und stark sah er aus, als könne kein Schmerz der Welt ihm etwas anhaben.

Er schwang die Flügel weiter, wurde in eine neue Welt getragen, in der die Farben sich plötzlich änderten und ein neues Gefühl durch den zierlichen Körper des Tieres zuckte.

Nach wenigen Minuten beendete er seinen Flug. Angezogen von bunten Blumen, die er noch nie gesehen hatte, ließ er sich nieder und schlug, zufrieden mit sich selbst, die Flügel auf und zu.

Für einen kurzen Moment hielt Anna die Luft an, als sich der Schmetterling auf ihrer geblümten Leggings niederließ und leicht die Flügel bewegte. Sie hatte Angst, dass er davonfliegen würde, wenn sie zu heftig atmete. Er war wunderschön und einzigartig, nicht so grell wie die Zitronenfalter, die sie kannte. Die Flügel ihres neuen Freundes schimmerten in einem gedeckten Braunton und besaßen zartgelbe, fast ockerfarbene Flecken. Seine Flügel waren anmutig geschwungen und endeten in einem langen, dünnen Schwänzchen an den Hinterflügeln. Anna liebte Schmetterlinge, doch sie hatte bisher nie die Chance gehabt, einen aus dieser Nähe zu betrachten.

»Du bist wunderschön«, flüsterte sie und lächelte sanft.

»Das ist ein Ritterfalter«, erschreckte sie plötzlich eine ruhige Stimme. »Bemerkenswerte Tiere. Grazil, anmutig und von einer Aura der Eleganz umgeben, dass es mir eiskalt den Rücken herunterläuft.« Ganz langsam und vorsichtig setzte sich Oliver neben Anna in das Gras und beobachtete den Schmetterling aus nächster Nähe. »Er hätte längst wegfliegen müssen. Er vertraut dir.«

»Er vertraut meiner Leggings«, lachte Anna leise und deutete auf die verschiedenen Blumen, die ihre Beine zierten.

»Wenn ich ein Schmetterling wäre, würde ich deiner Leggings auch vertrauen. Sie sieht wirklich sehr ... «

»... schmetterlingserweckend aus?«, schmunzelte die junge Frau über ihre Wortneuschöpfung.

»Ja, das war es, was ich sagen wollte. Deine Leggings sieht sehr schmetterlingserweckend aus«, nickte Oliver und riss den Blick von dem Falter los. »Was machst du noch hier draußen?«

»Ich habe ein bisschen über das Projekt und zu Hause nachgedacht«, gestand Anna und wich dem forschenden Blick ihres Betreuers aus.

Vor zwei Tagen war sie in der Nähe von Livingstone im afrikanischen Sambia angekommen, um ein gemeinnütziges Projekt zu unterstützen. Sie wollte Menschen, denen es nicht so gut ging wie ihr, helfen und Gutes tun. Der Wunsch, etwas Sinnvolles mit ihrem Leben anzustellen, war mit jedem Tag lauter geworden, bis er beinahe unerträglich in ihrer Brust pochte und Anna nicht mehr dagegen ankämpfen konnte. Sie hatte in Deutschland festgesessen und in einer Zwischenwelt stagniert, in der sie sich nutzlos und ausgegrenzt fühlte.

Und Afrika?

Afrika sollte all das ändern. Doch würde sich wirklich etwas ändern, oder war sie nur vor etwas davongelaufen, das sie auch hier einholen würde?

»Das ist ganz normal. Du bist wahrscheinlich das erste Mal länger von zu Hause weg und ...«

»Nein, das ist es nicht«, schnitt die Praktikantin Oliver das Wort ab und schüttelte mit einem niedergeschlagenen Lächeln den Kopf. Sie betrachtete ihn einen Moment genauer. Sein dunkles Haar stand wild von seinem Kopf ab, als hätte er es gerade gewaschen und, ohne zu kämmen, vom Wind trocknen lassen. Seine dunklen Augen betrachteten Anna mit diesem einfühlsamen und besorgten Blick, den sie hier sonst bei niemandem gesehen hatte. Anna musterte sein markantes Gesicht, die dunkle, eckige Brille, die ihm diesen bodenständigen Look verlieh, und seinen sportlichen Körper, den er nach der Arbeit in eine lange, schwarze Freizeithose und ein dunkles Shirt gehüllt hatte. Oliver war ein attraktiver Mann. Ein bisschen wie der nette Nachbarsjunge, mit dem ihr Vater sie früher verkuppeln wollte. Doch an Liebe dachte sie nicht, als sie Oliver betrachtete. Vielmehr wirkte er wie ein guter Freund, ein Vertrauter, der mit seinen dreißig Jahren schon wesentlich mehr Erfahrung hatte als sie mit ihren neunzehn.

»Ich habe kein Heimweh, ich habe mich nur gefragt, ob die Möglichkeit besteht, dass meine Probleme sich hier einfach in Luft auflösen.«

Oliver lachte leise auf. Doch es war nicht die Art Lachen, die einen Menschen verspottete. Es klang eher nachdenklich.

»Warum muss ein junges Mädchen wie du über Probleme nachdenken?«

»Weil das Schicksal leider nicht nach dem Alter auswählt.« Anna drehte den Kopf von Oliver weg und blickte in Richtung untergehende Sonne. Sie spürte die Tränen, die auf einmal in ihren Augen brannten, und kämpfte mit aller Kraft dagegen an. Im nächsten Augenblick kam sie sich albern vor und lachte laut auf, was den Ritterfalter von ihrem Bein verjagte.

Verwundert sah Oliver sie an. »Tut mir leid, ich klinge wie eine alte Philosophin«, gestand sie und wandte sich ihrem Begleiter erneut zu.

»Du bist nicht nur hier, um anderen Menschen zu helfen, oder?« Oliver analysierte die junge Helferin mit einem einzigen Blick und traf genau ins Schwarze.

»Nein«, schüttelte sie nachdenklich lächelnd den Kopf und stand auf. Sie klopfte sich den Schmutz von den Sachen und Oliver tat es ihr gleich.

»Möchtest du darüber sprechen?«, erkundigte er sich.

»Vielleicht ein anderes Mal.« Anna wich dem Blick ihres älteren Kollegen erneut aus, lächelte tapfer der Sonne entgegen und wandte sich ihm noch einmal zu. »Oliver, eine Sache noch?«

»Ja?«

»Meinst du, wenn wir sterben, wartet jemand am Horizont auf uns?«

Oliver sah leicht blinzelnd in den Sonnenuntergang, dann nickte er sanft.

»Ja«, hauchte er.

»Danke«, gab sie zurück. Ein weiches Lächeln umspielte ihre Lippen. »Mehr muss ich nicht wissen.«

 

 

Anna war erstaunlich ausgeruht, als sie am nächsten Morgen langsam zu sich kam. Nach dem Gespräch mit Oliver hatte sie sich gut gefühlt, als hätte er ihr alle Sorgen mit einem Schlag von der Seele genommen. Sie fühlte sich das erste Mal seit Monaten leicht, akzeptiert und zufrieden mit sich selbst. Und sie empfand das eine Gefühl, das Deutschland ihr so lange verwehrt hatte: Glück!

Leise gähnend streckte sie sich, als die Tür schwungvoll geöffnet wurde und eine gut gelaunte dunkelhaarige Frau mittleren Alters in das Zimmer tänzelte.

»Guten Morgen«, flötete diese fröhlich und zog mit überschwänglichem Elan die Vorhänge vor dem Fenster zurück, sodass die wärmenden Strahlen der Sonne Annas Nase kitzelten. »Wir haben uns noch nicht kennenlernen können. Ich war vergangene Woche bei einem gesonderten Projekt außerhalb beschäftigt. Und gestern wollte ich dich nicht mehr wecken.« Die Worte der quirligen Frau prasselten nur so auf Anna herab und überforderten sie für einen kurzen Moment.

»Oh ... ja«, murmelte sie irritiert und rieb sich die müden Augen.

»Ich bin Bettina, aber meine Freunde nennen mich Betty«, plapperte diese weiter. »Meine Großeltern hatten mich für eine Weile Tina genannt, meine Cousine sogar Tinchen, aber ich bevorzuge Betty. Genauso wie die Einheimischen, die kommen mit unseren deutschen Namen sowieso nicht so klar, aber Betty passt wunderbar hierher.«

Anna klingelten die Ohren.

»Ich bin Anna.«

»Ich weiß, ich weiß, Liebes. Du scheinst bereits einen bleibenden Eindruck bei unserem zukünftigen Spitzenarzt hinterlassen zu haben.«

»Spitzenarzt?«

»Oliver natürlich«, lachte Bettina laut auf, während sich die müde junge Frau, sichtlich überfordert von der Situation, aus der Decke schälte.

»Oliver ... oh«, gab Anna leise zurück, während sich ihre Wangen zartrosa färbten.

»Ich habe gehört, du hast dich für den Sektor Gesundheit und Medizin eingetragen?«

Anna nickte zaghaft.

»Glückskind«, plauderte die Frau weiter, »dann kannst du den ganzen Tag mit ihm verbringen. Nach den beiden Einführungstagen wird das auch Zeit. Ich bin ja nach wie vor der Meinung, dass man die Neuen mit den Einführungen und Belehrungen erschlägt. Alles nicht nötig. Wer wirklich helfen will, weiß von alleine, was zu tun ist. Und bist du aufgeregt?«

Anna zog wortlos die Stirn kraus, denn sie wusste nicht, was sie antworten sollte. War sie nervös davor, anderen Menschen helfen zu können?

»Liebes, du musst wissen, dass ausnahmslos alle Frauen hier verrückt nach ihm sind. Und wenn ich noch etwas jünger wäre, Gott bewahre«, machte Betty eine abfallende Bewegung mit ihrer Hand. »Ich glaube, er mag dich.«

Annas Wangen färbten sich dunkelrot, als sie realisierte, dass Betty nicht die Arbeit an sich meinte, sondern eigentlich gefragt hatte, ob sie nervös sei, weil sie den ganzen Tag mit Oliver verbringen würde.

»Ich muss schnell ... ins Bad«, stammelte sie und zog die Tür hinter sich zu, als sie glaubte, ein belustigtes Auflachen von Bettina gehört zu haben.

 

 

Oliver wartete bereits an seinem Wagen auf Anna. Als er sich vor drei Tagen auf den Weg zum Flughafen gemacht hatte, hatte er nicht damit gerechnet, dass er noch am selben Abend schlaflos in seinem Bett liegen würde und sich darüber den Kopf zerbrach, warum ein so junges Mädchen wie Anna sich in ein Abenteuer wie dieses stürzte? Ein Abenteuer, das kein Urlaub war, sondern die harte Realität in einem Land, in dem es an Infrastruktur und medizinischer Versorgung mangelte. Ein Land, in dem Menschen lebten, die chronisch unterernährt waren und sich mit tödlichen Krankheiten infiziert hatten. Menschen, die nichts anderes wollten, als ein besseres Leben für sich, eine Zukunft für ihre Kinder, sauberes Wasser, Bildung und Arbeit, und die deshalb in Scharen von hier flüchteten.

Hilfsprojekte in Afrika waren alles andere als ein Spaziergang!

Oliver litt jeden Tag aufs Neue, wenn er all das Elend und die Menschen sah, die langsam an ihren Krankheiten zugrunde gingen. Obwohl er versuchte, es nicht zu sehr an sich heranzulassen, gab es doch Tage, an denen er dem Gesehenen und Erlebten nachhing. Lange wollte er nicht mehr in Sambia bleiben. Der junge Arzt wollte schnellstmöglich zurück nach Deutschland und dort eine eigene Praxis eröffnen. Er hatte für sein junges Leben genug Elend gesehen, hatte nach seinem Medizinstudium genug Erfahrungen im Ausland gesammelt. Oliver war mit dreißig Jahren bereit, sein Leben zu festigen, eine Frau kennenzulernen und zu heiraten. Er war bereit, eigene Kinder zu haben und sich um sie zu kümmern. Das Elend der Kinder in Afrika brach ihm das Herz, vor allem, wenn er merkte, dass er gegen Windmühlen kämpfte – gegen Korruption bei der Verteilung der Spendengelder und Lebensmittel, bei Aberglauben und Unwissen unter den Einheimischen, die ihm die Arbeit erschwerten. Wenn die Finanzierung für seinen Aufenthalt auslief – sie war nur für vier Jahre angesetzt – würde er nach Hause zurückkehren und eine Familie gründen. Die Arbeit in Sambia konnte er auch von Deutschland aus weiter unterstützen. Er würde die Menschen in Europa auf die Missstände in Afrika aufmerksam machen, dafür sorgen, dass gespendet wurde und die Gelder den zuständigen Organisationen zukamen. Und er konnte junge Menschen wie Anna auf die harte Zeit bei der Entwicklungshilfe vorbereiten.

»Wartest du schon lange?« Annas ruhige Stimme riss Oliver aus den Gedanken. Schüchtern lächelnd stand sie vor ihm und band sich die langen, blonden Haare zu einem lockeren Knoten zusammen.

»Nein.«

»Betty hat mich vorhin ganz durcheinandergebracht. Ich habe Haare gewaschen, obwohl ich das gar nicht musste, und ich habe verzweifelt nach Sachen in meinem Koffer gesucht, weil ich nicht wusste, was ich anziehen sollte, obwohl ich mir für die Arbeit hier extra ein weißes Shirt und eine neue schwarze Hose gekauft habe. Kannst du dir das vorstellen? Totale Gehirnfehlkoordination!«, redete sie ähnlich aufgeregt darauf los wie Bettina eineinhalb Stunden zuvor.

»Oh, ich merke schon. Du hast dich mit dem Plapperfieber angesteckt«, diagnostizierte der Mediziner gespielt ernst.

»Das, bitte, was?«, stieg Anna mit ein.

»Bettys Plapperfieber. Zerstört die Nervenbahnen der Mitmenschen, beeinflusst das Gehör und kann zu gelegentlichen Trancezuständen führen. Nicht therapierbar, sehr ansteckend. Anna, es tut mir leid, aber ich kann dir leider keine Hoffnung machen.«

»Steht es so schlimm um mich?« Sie spielte sein Spiel mit, machte große Kulleraugen und versuchte, ernst zu bleiben.

»Schlimmer«, antwortete Oliver. Doch das Lachen ließ sich nicht zurückhalten. Gemeinsam brachen die beiden in Gelächter aus. Andere Freiwillige, die sich auf den Weg zu ihrem Hilfsgebiet machen wollten, richteten die Augen auf Anna und Oliver, denen vor Lachen bereits die Bäuche schmerzten. Die Fremden schüttelten den Kopf oder ließen sich einige Augenblicke von den beiden anstecken. Als Betty ebenfalls nach draußen kam, zwinkerte sie ihnen zu, als würde sie genau wissen, was zwischen Anna und Oliver vor sich ging.

»Sie schauen uns schon komisch an«, prustete Anna. »Ich bin die Neue, sie werden denken, ich hätte nicht alle Tassen im Schrank.«

»Hast du das denn?«, stoppte er das Lachen und richtete einen ernsten Blick auf seine Begleiterin.

»Was?«, fragte Anna verwirrt.

»Na, alle Tassen im Schrank?«

Als sie registrierte, dass Oliver sie erneut hochgenommen hatte, versetzte sie ihm einen leichten Schlag gegen die Schulter und drehte sich gespielt beleidigt um.

»Willst du meine Tassen nachzählen? Oder lieber arbeiten? Haben wir nicht irgendwas zu tun?« Mit einem angriffslustigen Lächeln öffnete die schlagfertige junge Frau die Beifahrertür und setzte sich in den Wagen.

Irritiert betrachtete Oliver die Stelle, an der Anna vor wenigen Sekunden noch gestanden hatte. Sie wirkte so lebenslustig und optimistisch, als ob ihr selbst die größte Not nichts anhaben könnte. Gleichzeitig schien sie etwas zu plagen, ein tiefes Leid, von dem er nichts wusste. Er hatte nur den Ausdruck in ihren Augen gesehen und wusste, dass der Optimismus und die Lebensfreude nicht ihre wahren Gefühle widerspiegelten. Er wollte sie besser kennenlernen, sie verstehen und ihr Vertrauen gewinnen. Die Frage war nur, ob sie das zuließ.

Kopfschüttelnd stieg Oliver ebenfalls ein.

»Also, wo fahren wir hin?«, fragte Anna, als er neben ihr saß und ihr freundliches Lächeln wieder in ihrem Gesicht funkelte.

»Wir fahren an die Grenze und kümmern uns dort um eine Familie«, erklärte er, während er den Motor startete. »Um ehrlich zu sein, war ich nicht dafür, dich sofort ins kalte Wasser zu schubsen, aber ich denke, irgendwann musst du ja mal damit anfangen.«

»Ich bin hart im Nehmen.«

Oliver schwieg dazu, weil er sich zu hundert Prozent sicher war, dass ihre Worte nicht der Wahrheit entsprachen.

Für einen kurzen Moment trat im Wagen Stille ein. Anna nutzte das Schweigen, um aus dem Fenster zu sehen. Afrikas urwüchsige Schönheit hatte sie schon immer fasziniert. Es waren nicht nur die unendlichen Weiten, die sie in den Bann zogen, sondern vielmehr die Art, wie die Sonne das Land einnahm. Wie eine Feuerkugel stand sie am Himmel und brannte unerbittlich auf das Land herab.

»Es ist wunderschön«, flüsterte Anna.

»Am schönsten ist der Moment kurz vor Sonnenaufgang, bevor die Sonne an den Himmel steigt«, lächelte Oliver und lenkte den Wagen über den endlos scheinenden Schotterweg. »Das Licht ist so weich und geheimnisvoll. Es wirkt, als wäre das Land verzaubert. Die Luft scheint förmlich zu flimmern und zu glänzen. Noch ist alles still, aber nach und nach erwacht das Leben in der Savanne. Es ist atemberaubend. Was hältst du davon, wenn wir am Sonntag zusammen vor Sonnenaufgang frühstücken? Ich kümmere mich um alles.«

»Das klingt gut«, stimmte Anna zu und versuchte, das aufgeregte Kribbeln in ihrer Magengegend zu ignorieren.

 

 

Annas Wecker klingelte am Sonntagmorgen zeitig und riss Betty mit aus dem Schlaf. Blinzelnd richtete sich die Ältere auf und sah irritiert zu ihrer Zimmergenossin. »Brennt es? Muss ich mich anziehen? Ist etwas passiert?« Schmunzelnd krabbelte Anna aus ihrem Bett.

»Nein, Oliver und ich machen ein Sonnenaufgangsfrühstück«, erklärte die junge Praktikantin leichthin und gab damit Bettina die Möglichkeit für wilde Spekulationen.

»Oho.« Bettys Augen leuchteten, danach legte sie sich zufrieden in ihre Kissen zurück. »Er opfert seinen einzigen freien Tag in der Woche für dich. Er mag dich, ich wusste es«, murmelte sie vor sich hin und driftete kurz darauf wieder in das Reich der Träume.

Anna und Betty hatten in den letzten Tagen viel miteinander geredet, und auch wenn ihre Mitbewohnerin eher der lautere Typ Mensch war, so gab sie Anna ein Gefühl von Zuneigung und Akzeptanz, wie es ihr nicht einmal ihre Mutter geben konnte. Betty hatte trotz ihrer quirligen Art einen klaren und strukturierten Blick auf die Welt und die Situation, in der sie sich befand. Anna war sich ziemlich sicher, dass Bettinas Energie bei den Aufgaben des Projektes sehr von Nutzen war und dass sie den Menschen mit ihrer fröhlichen Art Hoffnung gab.

Eine Minute mit ihr bedeutete eine Minute voller Freude, in der Probleme unwichtig wurden.

Während Annas Zimmergenossin wieder im Reich der Träume weilte, stand sie vor ihrer Kleiderschrankhälfte und hatte nun ein wirkliches Problem.

Was um alles in der Welt sollte sie anziehen?

Anna hatte nicht viele Sachen mitgenommen, schließlich brauchte sie für die Arbeit nur eine schwarze Hose und ein weißes Shirt. Sie hatte zwar einige Kleider und schickere Sachen eingepackt, doch wie groß war die Chance, dass sie diese wirklich brauchte? Und was zog man zu einem Sonnenaufgangsfrühstück in der Wildnis überhaupt an?

»Betty«, flüsterte Anna verzweifelt. »Betty?«

»Hmm«, antwortete diese schlaftrunken.

»Betty, ich weiß nicht, was ich anziehen soll.« Anna blinzelte nur eine Sekunde, doch auf einmal stand die müde Frau neben ihr und durchwühlte die Sachen im Schrank nach dem perfekten Sonnenaufgangfrühstücksoutfit. Zielsicher legte sie ein weißes, legeres Kleid und eine apricotfarbene Strickjacke auf das leere Bett, lächelte zufrieden und legte sich zurück in ihre Kissen.

»Das ist perfekt.«

»Danke Betty.«

 

 

Nur wenig später klopfte Anna schüchtern an Olivers Bungalowtür. Als Hauptansprechpartner im gesundheitlichen Bereich genoss er den Luxus, einen Bungalow mit wunderschöner Sonnenterrasse sein Eigen nennen zu dürfen. Er musste sich mit niemandem das Zimmer teilen, hatte eine eigene Küche und ein großes Badezimmer, das ohne Zweifel auch ein gehobenes Hotel hätte schmücken können.

Es dauerte nur wenige Sekunden, dann öffnete der junge Mann gut gelaunt, aber noch ein wenig verschlafen, die Tür.

»Guten Morgen«, begrüßte Anna ihn zurückhaltend.

»Ich dachte schon, du lässt mich hängen.« Oliver kratzte sich unsicher am Hinterkopf, bat seinen Gast herein und schloss die Tür, während sie in das kleine Wohnzimmer des Bungalows trat.

»Versprochen ist versprochen.« Anna folgte Oliver in die Küche, wo er noch Kaffee holte, und schließlich auf die Terrasse. Für einen kurzen Moment stockte ihr der Atem. Lediglich einige Kerzen beleuchteten die Terrasse und den reich gedeckten Tisch, der sich vom kühlen Hintergrund des erwachenden Morgens abhob. Oliver schien an alles gedacht zu haben. Croissants, Brötchen, Marmelade und Nussnugatcreme, Käse und sogar dampfendes Rührei. Dazu gab es frisches Obst, herrlich duftenden Kaffee und gekühlten Orangensaft. Vereinzelt lagen Rosenblüten auf dem Tisch, die durch eine zarte, grüne Ranke miteinander verbunden schienen. Je länger Anna den Tisch betrachtete, das kleine Kakaoherz auf ihrem Milchkaffee, die Rosen, desto klarer wurde ihr, dass das nicht einfach nur ein Frühstück war, sondern ein Date.

»Wow, das ist ...« Ihr fehlten für einen Moment die Worte, doch als sie sah, dass Oliver nur zufrieden lächelte, sprach sie nicht mehr weiter. Worte waren überflüssig.

»Lass uns anfangen«, flüsterte er, und die beiden setzten sich.

»Machst du das öfter?«, fragte Anna, um die befangene Situation zu lösen. »Die Neuen zum Frühstück in deinen Luxusbungalow einladen und sie mit einem Sonnenaufgangsfrühstück um den kleinen Finger wickeln?«

Als Oliver den Witz verstand, begann er zu lachen und schüttelte den Kopf.

»Mindestens drei Mal die Woche«, schmunzelte er. »Aber um ehrlich zu sein, bist du die Erste und du wirst auch die Einzige bleiben.«

Anna sah den nachdenklichen Ausdruck in seinen Augen und interpretierte ihn völlig richtig. »Du machst das hier nicht mehr lange, oder? Also das Projekt, meine ich.«

»Ja«, stimmte er nickend zu und blickte gedankenverloren über das Terrassengeländer zum Horizont, der sich sanft orange zu färben begann. »Ich möchte darüber nicht reden, du musst dir dein eigenes Bild machen.«

»Dass die Aufgaben nicht leicht sind und dass es nicht nur schöne Momente gibt, habe ich in den paar Tagen bereits mitbekommen«, erwiderte Anna und hoffte, Oliver würde sich ihr öffnen.

»Im Augenblick stört mich das alles. Ich möchte kein Elend mehr sehen, ich möchte niemandem mehr sagen müssen, dass er die nächste Ernte nicht mehr erleben wird, und ich möchte nicht mehr verzweifelt um das Leben von Kindern kämpfen, die sowieso keine Chance haben und dann in meinen Armen sterben. Es macht mich fertig.«

»Was hält dich hier?«

»Die Pflicht«, flüsterte Oliver und Anna verstand genau, was er damit sagen wollte.

ZWEI

 

Zwei Wochen waren seit dem Sonnenaufgangsfrühstück vergangen, das Annas Gedanken wie ein Wirbelsturm durcheinander gefegt hatte. Es schien ihr, als hätte sie Oliver von einer ganz neuen Seite kennengelernt. Seit diesem Sonntag sah sie ihn mit anderen Augen. Hatte sie ihn noch zu Beginn ihres Abenteuers als starken, selbstsicheren Menschen eingeschätzt, so wusste sie am Ende der ersten Woche, dass die Situation in Afrika ihm das Herz brach. Sie hatte geglaubt, es mache Oliver glücklich, anderen Menschen zu helfen, doch es schien ihn in Wirklichkeit nur zu quälen.

Nachdenklich saß Anna am Abend auf ihrem Bett, die Hände im Schoss zusammengefaltet und den Blick auf den Boden gerichtet. Seit jenem Frühstück hatte sie keine Chance mehr bekommen, mit Oliver zu sprechen. Es kam ihr beinahe vor, als würde er ihr aus dem Weg gehen. Glaubte er, einen Schritt zu weit gegangen zu sein? Oder hatte er einfach nur das Interesse an ihr verloren? War sie vielleicht nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte? Und was war das überhaupt zwischen ihnen?

Ein leises Seufzen drang aus ihrer Kehle und klang dabei verletzt und niedergeschlagen. Mal wieder war sie an diesem Tag einem anderen Team zugeordnet worden. Seit zwei Wochen immer wieder das gleiche Spiel. Man reichte sie Tag für Tag von Arbeitsgruppe zu Arbeitsgruppe weiter, angeblich, um ihr mehr Einblick in die Abläufe zu geben, und damit sie dort helfen konnte, wo Not am Mann war. Doch Anna war nicht dumm. Sie wusste, dass Oliver die Pläne schrieb und die Gruppen einteilte. Sie ahnte, dass er sie nicht in seiner Nähe haben wollte. Aber warum nicht?

Anna hob den Blick vom Boden und betrachtete noch einmal ihren Aufgabenzettel für den nächsten Tag. Warum schob er sie so hin und her? Sie verlangte nicht einmal, mit Oliver zu arbeiten. Es konnte auch irgendeine andere Gruppe sein. Das Einzige, was sie sich wünschte, war Beständigkeit.

Unbemerkt brannten heiße Tränen in Annas Augen, die langsam über ihre Wange rollten. Nach insgesamt drei Wochen gemeinnütziger Arbeit in einem fremden Land konnte Anna mit Sicherheit sagen, dass ihre Probleme sich nicht in Luft aufgelöst hatten. Die Arbeit lenkte sie zwar gut ab und Betty stand ihr als Stütze zur Seite, doch eigentlich hatte sich überhaupt nichts verändert. Die Probleme und die schlechten Gedanken waren mit ihr zusammen in das Flugzeug gestiegen.

»Anna?«, flüsterte Betty leise, als sie ihre Zimmergenossin weinend im Zimmer vorfand. »Hey Kleine, was ist los?« Bettys Stimme hatte sofort einen besorgten Ton angenommen. Schon vor ein paar Tagen war ihr aufgefallen, dass Anna eine eigenartige Stimmung umgab, auch wenn das junge Mädchen versuchte, sie mit lautem Lachen zu überspielen. Bettys gutes Gespür hatte sie nicht getäuscht.

Erschrocken sah Anna auf und merkte erst jetzt, dass ihr Gesicht tränennass war. »Ich ... ich ... es ist nichts«, wehrte sie ab und wischte sich mit dem Handrücken schnell die Wangen trocken.

»Anna, hör endlich auf, mir etwas vorzumachen.« Bettinas Blick fiel auf den Aufgabenzettel. Mit einer geschickten Bewegung zog sie das Papier und auch die vorhergehenden Zettel unter Annas Bett hervor und studierte sie eingehend. »Jeden Tag eine andere Gruppe?« Sie klang aufgebracht.

»Jeden Tag«, flüsterte Anna zustimmend.

»Das ist nicht die übliche Vorgehensweise. Was hat er sich nur dabei gedacht?«, murmelte sie vor sich hin und zog die Stirn kraus, als sie die Zettel ein weiteres Mal durchsah. »Jeder soll in eine Gruppe integriert werden. Normalerweise wird diese in der ersten Woche festgelegt. Da du in dieser Zeit mit Oliver gearbeitet hast, dachte ich, er würde es beibehalten. Aber das hier ... das kann er nicht machen. Wie sollst du ein Gefühl für die Arbeit bekommen, wenn du jeden Tag damit beschäftigt bist, dir wieder andere Namen und Gesichter zu merken?« Betty legte die Zettel beiseite und suchte Annas Augen. »Hast du mal mit Oliver gesprochen?«

»Nein ... ich habe ihn seit dem Frühstück neulich kaum noch zu Gesicht bekommen«, gestand sie und wich dem eindringlichen Blick aus.

»Aber ...« Anna hatte ihre Mitbewohnerin noch nie sprachlos erlebt, doch in diesem Moment wusste selbst eine gestandene Frau wie Betty nicht, was sie sagen sollte.

Wütend verließ sie das Zimmer und machte sich mit Annas Arbeitsaufträgen auf den Weg zu Olivers Bungalow. Mit aller Kraft hämmerte sie gegen seine Tür, bis er diese öffnete. Betty schob sich an Oliver vorbei und verteilte die Zettel aufgebracht auf seinem Küchentisch.

»Kannst du mir erklären, was das ist? Ich habe dich immer für einen fairen, aufrichtigen Mann gehalten, aber was du dir gerade erlaubst, ist eine bodenlose Frechheit. Ich habe nie an deinen Fähigkeiten gezweifelt und ich bin nach wie vor der Meinung, dass du die Planung und Koordination der Arbeitskräfte mit deinem Job als Arzt unter einen Hut bringen kannst. Ich weiß nicht, warum du Anna von Team zu Team schiebst«, fuchtelte Betty wild mit der Hand vor Olivers Stirn herum, »aber das machst du auf der Stelle rückgängig und entschuldigst dich bei ihr.«

»Bettina, ich ...«

»Nein, Oliver. Ich habe keine Ahnung, was bei eurem Frühstück vorgefallen ist. Ich weiß nur, dass Anna weinend in unserem Zimmer sitzt und diesen verfluchten Zettel anstarrt, weil sie nicht versteht, warum du ihr aus dem Weg gehst.«

»Es ist nichts vorgefallen und es ist auch nicht meine Absicht, ihr damit zu schaden. Ich ... ich wollte einfach nur ...« Der Arzt geriet ins Stocken. Er hatte nicht gewollt, dass es Anna wegen ihm schlecht ging.

»Was wolltest du einfach nur, Oliver?« Bettinas Stimme wurde ungeduldiger und drohender.

»Setz dich, ich erkläre es dir.«

 

 

Als Oliver hinter Bettina die Tür ins Schloss fallen ließ, fühlte er sich nicht gut. Nachdenklich zog er sich mit einem Glas trockenen Rotwein auf seine Terrasse zurück und sank in den Stuhl. Gedankenverloren schwenkte er den Wein in dem bauchigen Glas und folgte mit den Augen den Bewegungen der Flüssigkeit.

Es war nie seine Absicht gewesen, Anna zu verletzen oder ihr ein schlechtes Gefühl zu geben. Er wollte sie vor den belastenden Aufgaben, die mit seiner Stellung verbunden waren, schützen, vor dem Elend, aber vor allem vor ihm selbst.

»Es tut mir leid, Anna«, flüsterte Oliver in die Dunkelheit und fasste in diesem Augenblick einen Entschluss. Er trank das Weinglas in einem Zug leer und verließ die Terrasse.

 

 

 

Als Oliver am nächsten Morgen nach dem Frühstück aus seinem Bungalow trat, stoppte er für einen kurzen Augenblick. Wenige Meter von ihm entfernt stellte Anna sich gerade ihrer neuen Gruppe vor. Mit Entsetzen nahm er ihre geröteten Augen und die blassen Wangen zur Kenntnis. Bettina schien recht gehabt zu haben.

Sich schuldig fühlend, atmete Oliver noch einmal tief durch und machte sich dann mit schnellen Schritten auf den Weg zu der jungen Frau.

»Anna«, hallte seine Stimme über das Gelände.

Sie fuhr sofort zu ihm herum. Ihren Augen weiteten sich und sie schluckte schwer. Statt sich zu freuen, wirkte sie wie ein scheues Reh, das dem Jäger gegenübersteht.

»Hey Anna«, sagte er erneut. Ihr jämmerlicher Anblick schmerzte ihn.

Sie wandte sich von der Gruppe ab, vermied jedoch den Augenkontakt. »Hallo«, gab sie leise zurück und starrte nachdenklich zu Boden.

»Hast du einen Moment Zeit?«

»Nein, eigentlich wollten wir gerade los.« Sie deutete auf die drei Leute hinter ihr.

»Es tut mir leid«, sagte Oliver zu der kleinen Gruppe, »ich brauche Anna heute selbst.« Die drei nickten und gingen zu ihrem Wagen, während Anna ihn nur fragend ansah.

»Das geht so nicht«, sagte sie kaum hörbar und suchte seine dunklen Augen.

»Bitte, lass uns nur kurz miteinander sprechen ...«

»Nein, es ist okay, Oliver«, unterbrach sie ihn. »Das Frühstück war schön, wir haben uns gut unterhalten und ich habe keine Ansprüche darauf, dass du auch danach mit mir sprechen musst. Du bist ein freier Mann und hast außerhalb des Jobs keine weiteren Verpflichtungen. Ich verstehe schon.« Anna verschränkte die Arme vor der Brust, um sich Kraft zu geben. Und um Oliver abzuwehren. Sie wusste, dass es von Anfang an ein Fehler gewesen war, sich so schnell mit dem Gedanken anzufreunden, Oliver könne ein Freund oder sogar mehr für sie sein. Wahrscheinlich war sie nichts weiter als eine Last. Ein kleines Mädchen, das in der realen Welt nicht klar kam und ein bisschen Hilfe brauchte.

»Nein, Anna, das ist es doch nicht ...«

»Doch, genau das ist es«, fuhr sie erneut dazwischen. »Ich dachte immer die Worte, die man nicht hören will und die dann doch jemand sagt, sind die Verletzenden. Aber es sind die Worte, die jemand nicht sagt.« Enttäuscht wandte sie sich ab und lief in Richtung ihres Bungalows. Oliver schluckte schwer. Was hatte er nur angerichtet?

»Anna!«, rief er ihr nach, doch sie marschierte unbeirrt weiter. »Anna, verdammt, ich wollte dich vor mir und meinen Problemen schützen, weil du mir zu viel bedeutest. Seit du aus diesem verdammten Flughafen gekommen bist, will ich dich näher kennenlernen. Ich will dich aber nicht in mein emotionales Chaos hineinziehen.« Es war dem Arzt egal, dass die Hälfte der freiwilligen Helfer sich auf dem Platz versammelten, um zu erfahren, was vor sich ging. »Anna, ich habe dich nicht von Gruppe zu Gruppe geschickt, um dich zu schikanieren. Ich wollte auf diese Weise vermeiden, dass ...«

Anna blieb ruckartig stehen und fuhr zu Oliver herum.

»Dass was?«, fragte sie. Tränen glänzten in ihren Augen.

»Dass du auf die Idee kommst, mich hier zu ersetzen. Es würde dich zerstören, und das möchte ich nicht«, flüsterte Oliver so, dass es nur Anna hören konnte. Nun war es raus, dachte er sich und atmete erleichtert aus. »Es tut mir leid, dass ich dich verletzt habe.«

»Beim nächsten Mal kann es sein …«

»Es gibt kein nächstes Mal«, fiel er ihr ins Wort und umarmte sie in einem plötzlichen Anflug von Übermut.

Anna stieß ihn nicht von sich. Stattdessen genoss sie die überraschende Nähe und klammerte sich noch fester an ihn. Während andere Freiwillige schmunzelnd und tuschelnd ihrer Arbeit nachgingen und Bettina zufrieden lächelnd in der Tür des Gemeinschaftsbungalows stand, hielten sich die beiden einfach nur fest.

»Was machen wir heute noch?«, fragte Anna, als sie sich endlich von ihm löste.

Der lächelte nur geheimnisvoll und flüsterte: »Das wird eine Überraschung.«

»Warum darf ich nicht sehen, wo wir hinfahren?«, fragte Anna ungeduldig nach etwa fünfzehn Minuten Fahrt. Oliver hatte ihr die Augen verbunden, sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden.

»Weil es eine Überraschung ist«, schmunzelte er.

»Wahrscheinlich hast du mich an einen Stamm Einheimische als Dienstmädchen verkauft«, konterte Anna frech.

»Gar keine schlechte Idee«, überlegte er gespielt ernst.

»Hey, pass auf, was du sagst.« Oliver traf ein Boxhieb von Anna in die Seite. Der rutschte zwar am Oberarm ab, weil sie nicht sehen konnte, wohin sie schlug, verfehlte seine Wirkung aber trotzdem nicht.

»Na gut, dann werde ich dich behalten«, lachte er und lenkte den Wagen sicher durch die weite Steppe, bis sein Ziel vor ihm erschien. Er parkte den Jeep, stieg aus und half Anna, die sich nach wie vor blind durch die Gegend tastete.

»Dass du dafür noch leiden wirst, weißt du hoffentlich, oder?«, verkündete sie mit spitzer Zunge. Oliver sagte nichts dazu, sondern schnitt lediglich eine Grimasse, die sie nicht sehen konnte.

»Noch zwei Meter, dann bist du den Schal los.« Vorsichtig führte er Anna am Auto vorbei, brachte sie durch eine Tür und platzierte sie dann sicher vor einem Zaun, der Anna von ihrer Überraschung trennte. »Was hältst du eigentlich von Katzen?«

»Katzen sind toll, wie auch immer du jetzt darauf kommst.« Oliver stellte sich hinter sie, knotete den Schal auf und wartete gespannt auf ihre Reaktion. Geblendet vom Licht rieb sich Anna die Augen. Doch dann erkannte sie, wohin Oliver sie gebracht hatte. Drei tapsige Löwenbabys tollten in einem Gehege und kamen neugierig auf die beiden Besucher zu. Sie besaßen die Größe von ausgewachsenen Pitbull Terriern, waren aber wesentlich stämmiger und kräftiger.

»Wow!« Überrascht und neugierig sah sie die Tierkinder an. »Das ist doch ...«, brach sie mitten im Satz ab. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Oliver hatte sie schlicht und ergreifend sprachlos gemacht.

»Überraschung«, verkündete er und sah schon Linda, die Leiterin der Aufzuchtstation, auf sie zukommen.

»Da seid ihr ja«, begrüßte die attraktive Frau die Ankömmlinge freudestrahlend. »Hallo, du musst Anna sein. Ich bin Linda.« Linda schüttelte Annas Hand energisch und begrüßte dann Oliver. »Dass du dich hier raustraust, seit Kira dich gebissen hat!«

Anna betrachtete Linda. Sie war eine große, schlanke Frau um die vierzig. Ihr blondes Haar trug sie locker mit einer Klemme nach hinten, was ihr schmales Gesicht betonte.

»Du bist heldenhaft in das Gehege gestiegen, das muss man dir lassen«, lachte die Frau.

»Linda, bitte, keine alten Geschichten«, wehrte Oliver ab, doch sie ließ nicht locker.

»Anna, du musst wissen, für die Kleinen ist alles ein Spiel. Sie rennen über die Wiese, beißen sich und spielen. Sie knabbern am Fressnapf und sehen es als Spiel. Sie putzen sich hinter den Ohren und spielen. Oliver hat das Gehege damals voller Elan betreten und ist ein paar Schritte auf die Kleinen zugegangen. Wir hatten zu der Zeit fünf Löwenbabys in Pflege. Als Kira ihn entdeckte, wurde sie natürlich neugierig und rannte auf ihn zu. Und weißt du, was Oliver gemacht hat?«

Anna schüttelte lächelnd den Kopf, konnte die Antwort aber kaum erwarten.

»Linda, bitte«, flehte Oliver in der Hoffnung, dass sie sein kleines Geheimnis für sich behielt. Doch weit gefehlt.

»Was hat er gemacht?«, fragte Anna stattdessen.

»Er hat Schiss bekommen und stand schreiend wie ein Baby am Zaun und wollte wieder raus. Kira hatte sich in der Zeit allerdings hinter ihm platziert, um an seiner Hose zu knabbern. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so gelacht.« Anna begann herzlich zu lachen, während Oliver frustriert ausatmete. »Was für eine olle Kamelle«, stöhnte er.

»Also, was ich damit sagen will«, setzte Linda wieder an, nachdem sie sich beruhigt hatte, »die Kleinen wollen spielen. Natürlich dürfen wir nicht vergessen, dass es sich hierbei um Wildtiere handelt, die dich innerhalb kürzester Zeit verletzen können. Aber seitdem ich hier arbeite, ist noch nichts Schlimmes passiert. Also, hab keine Angst.«

Linda öffnete den Zaun, sodass Anna eintreten konnte. Dann sahen beide hoffnungsvoll zu Oliver, der sich nicht noch einmal blamieren wollte und mutig das Gehege der Löwen betrat.

Neugierig betrachteten die drei kleinen Großkatzen die beiden Neuankömmlinge, die ihrer geliebten Pflegerin folgten, und tapsige, langsame Schritte auf sie zu machten. Linda schloss das Gitter hinter Oliver und kniete sich vorsichtig hin. Binnen weniger Sekunden umschwärmten die Löwenbabys ihre Besucher, schmiegten sich an sie und bettelten um Streicheleinheiten und Futter.

»Na ihr kleinen Monster«, strahlte Linda und kraulte die Kleinen hinter den Ohren. »Das sind Manila, Tyra und der freche Racker hier ist Simba.«

Fasziniert betrachtete Anna Lindas Umgang mit den Wildkatzen und spürte das aufgeregte Kribbeln, das durch ihren Körper zog. Auch wenn Linda ihr zugesichert hatte, dass von den Löwenbabys nahezu keine Gefahr ausging, wusste Anna die Situation nicht zu unterschätzen.

»Anna, komm her«, lächelte Linda und streckte die Hand nach ihr aus. Mit behutsamen Schritten, um die Kleinen nicht zu erschrecken, ging Anna zu der Pflegerin und hockte sich neben sie. »Lass sie deine Hand beschnuppern, dann entscheiden sie, ob sie dich mögen.«

Anna streckte vorsichtig die Hand aus und merkte, wie diese leicht zitterte. »Hab keine Angst«, wiederholte Linda noch einmal. Tyra war die Erste, die Annas Hand zurückhaltend beschnüffelte und entschied, dass man ihr vertrauen konnte. Sie senkte den Kopf und animierte Anna mit einem sanften Stupsen dazu, sie zu streicheln. Zunächst zögerte sie einen Moment, doch dann nahm sie all ihren Mut zusammen und strich der kleinen Löwin in gleichmäßigen Bewegungen über den Kopf. »Das machst du gut«, lobte Linda und richtete ihren Blick auf Oliver, der unbemerkt ein paar Schritte zurückgegangen war. »Oliver, los komm her!«

Der junge Mann schluckte, doch obwohl er Angst vor den Raubkatzen hatte, wollte er vor Anna keinen Rückzieher machen. Er hatte sich darauf eingelassen, sie zu Linda zu bringen, um ihr eine Freude zu machen. Nun musste er damit leben, erneut auf Konfrontationskurs mit den viel zu groß geratenen Kätzchen zu gehen. Seine Knie wollten zittern, aber er biss die Zähne zusammen und kniete sich letztendlich wie die beiden Frauen neben die Raubkatzen.

»Hand ausstrecken«, befahl Linda. Auch seine Hand zitterte, als er der Anweisung folgte. Am liebsten wäre er davongelaufen, hätte sich wieder vor den Zaun gestellt und die Szene aus sicherer Entfernung beobachtet, diese Chance hatte er jetzt definitiv verspielt.

»Sehr gut«, lachte Linda, doch der Spott in ihrer Stimme war unüberhörbar. »Du heulst dieses Mal nicht wie ein Baby, ich bin beeindruckt.«

Noch immer überwältigt von den Erlebnissen und Emotionen sah Anna aus dem Fenster, als sie sich mit Oliver wieder auf den Weg zurückbegab. Auch wenn sie nach wie vor einen Konflikt in ihrer Brust herumtrug, so wusste sie dennoch den Wert von Olivers Überraschung zu schätzen. Natürlich hatte er sich die letzten zwei Wochen wie ein Idiot benommen, doch das aus offenbar edleren Motiven. Er wollte sie beschützen, sie nicht mit seinem seelischen Müll belasten. Auch wenn Anna kein nachtragender Mensch war, so wusste sie nicht, wie sie jetzt mit Oliver umgehen sollte. Sollte sie ihn behandeln wie einen Vorgesetzten, dem sie unterstellt war? Oder wie einen Freund, dem sie alles anvertrauen konnte und der auch ihr vertraute? Oder wie einen Mann, den sie besser kennenlernen wollte? Sie saß zwischen den Stühlen, wobei sie immer den unangenehmen Fakt im Hinterkopf behielt, dass es möglich war, unsanft auf dem Boden der Tatsachen zu landen und wieder enttäuscht zu werden. Sollte sie vorsichtig bleiben oder etwas riskieren?

»Oliver?«, unterbrach sie leise die Stille in dem Jeep, den der junge Arzt sicher durch die Dunkelheit steuerte. Sie hatte sich entschieden. Sie wollte etwas riskieren. »Es war ein wunderschöner Tag«, flüsterte sie, während ein geheimnisvolles Lächeln ihre Lippen umspielte. »Danke dafür.« Sie blickte kurz aus dem Fenster und fügte dann spitz hinzu: »Und hey, keines der Löwenbabys hat dich gefressen, und geweint hast du auch nicht. Ich bin stolz auf dich.«

»Ich wusste, es war ein Fehler, dich zu Linda zu bringen.« Er stöhnte leise auf, schmunzelte jedoch dabei.

»Wer Angst vor Löwenbabys hat ...«, zuckte Anna mit den Schultern und lachte in Erinnerung an die Erzählung der Tierpflegerin.

»Ich hatte keine Angst, Kira war nur etwas ... überschwänglich«, suchte Oliver eine Erklärung für seine Schwäche. Nach dem heutigen Tag hatte er zwar immer noch Respekt vor den Großkatzen, doch er musste sich auch eingestehen, dass seine Reaktion vor einiger Zeit völlig übertrieben gewesen war.

»Wo ist Kira jetzt?«

»Sie ist in Madrid in einem Zoo. Es geht ihr gut, wurde mir gesagt. Sie hat selbst schon wieder Kinder.«

»Vielleicht solltest du sie besuchen. Mal sehen, ob sie dich wieder so überschwänglich begrüßt.«

Oliver knurrte, seine Lippen hatten sich aber zu einem Schmunzeln verzogen. »Vielleicht.«

Als sie angekommen waren, parkte Oliver den Wagen auf dem Gelände der Freiwilligenunterkunft und stieg aus. Anna tat es ihm gleich, lehnte sich jedoch abwartend an das Auto. Etwas unsicher kratzte sich der junge Arzt am Hinterkopf, dann suchte er Annas Blick und atmete tief durch.

»Ich wollte mich noch einmal bei dir entschuldigen«, begann er mit belegter Stimme.

»Nein, es ist …«

»Es ist nicht okay. Ich dachte, ich kann das Unvermeidbare aufhalten, wenn ich dir Steine in den Weg lege und dich von meinem Leben fernhalte. Es war nicht meine Absicht, dir damit wehzutun.«

»Das hast du aber«, gab Anna zu und sah ihn mit verwundetem Blick an.

»Ich weiß, und wenn ich die Möglichkeit hätte, es wieder rückgängig zu machen, würde ich es sofort tun. Es ist nur so, dass du mir in der ersten Woche wirklich ans Herz gewachsen bist und ich dich einfach nicht mit dem Elend belasten wollte, das ich jeden Tag sehen muss.«

»Aber deswegen bin ich doch hier! Ich wollte eine neue Welt kennenlernen und anderen Menschen helfen. Ich bin mit dem Wissen hierhergekommen, dass nicht alles rosig ist und dass ich Situationen erlebe, über die ich etwas länger nachdenken werde. Du musst mich nicht beschützen, Oliver.«

Er nickte. »Es tut mir leid.«

»Lass uns nicht mehr davon reden.«

»Möchtest du noch mit mir zusammenarbeiten, oder soll ich dich einer bestimmten Gruppe zuweisen?«, wollte Oliver unsicher wissen.

»Nein, ich würde gern wieder mit dir zusammenarbeiten.«

Oliver atmete erleichtert aus.

»Aber nur unter der Bedingung, dass du mich nicht mehr mit Samthandschuhen anfasst«, fügte sie schnell hinzu .

Er zögerte einen winzigen Moment, nickte jedoch dann. »Versprochen.«

»Gut«, lächelte Anna. »Dann sehen wir uns morgen früh, Boss.«

Sie schob sich leicht vom Wagen ab und hauchte Oliver einen Kuss auf die Wange. »Danke für den schönen Tag.« Dann ging sie in Richtung Bungalow.

Oliver sah Anna noch wenige Minuten nach, bevor er den Wagen verriegelte und sich auf den Weg zu seinem Bungalow machte. Langsam wurde es brenzlig. Er hatte das Gefühl, dass er nicht mehr ganz bei Verstand war, sobald sie in seiner Nähe war. Sie vermittelte ihm das Gefühl von Leichtigkeit und Unbeschwertheit, während er selbst so trübsinnig und nachdenklich war. Was war es nur, woher sie ihre Kraft und Stärke nahm?

 

 

Der Rest der Woche flog so schnell an Anna vorbei, dass sie beinahe vergaß, dass die Hälfte ihrer Freiwilligenzeit schon um war. Anna wollte nicht daran denken, was sein würde, wenn ihre Zeit verstrichen war und sie zurück nach Deutschland musste. Sie verdrängte den Gedanken und doch schwebte er wie ein Damoklesschwert über ihr.

»Worüber zerbrichst du dir schon wieder den Kopf?«, fragte Oliver, der Annas nachdenklichen Blick bemerkt hatte. Die beiden saßen auf der Terrasse, tranken ein Glas Wein und wollten den Abend ruhig ausklingen lassen. Doch Oliver wurde das Gefühl nicht los, dass Anna etwas bedrückte. Immer wenn er sie ansah, versuchte sie zu lächeln. Es kam nicht von Herzen, wirkte unecht. Mittlerweile kannte er Annas nachdenklichen Blick. Dabei sah sie zum Boden, während ihre Mundwinkel kaum merklich hingen. Sie war niedergeschlagen, fast unglücklich. Einen Fremden konnte sie täuschen, Oliver nicht. Er hatte Annas Mimik und Gestik studiert, ohne dass sie etwas davon geahnt hatte.

»Es ist nichts.«

Sie spürte seinen Blick, der ihr sagte, dass sie ihm nichts vormachen konnte. »Diesen Blick musst du lassen, weißt du«, schmunzelte sie und teilte dann ihre Gedanken mit ihm. »Ich hatte hier in Sambia den bisher besten Monat meines Lebens. Um ehrlich zu sein, habe ich Angst vor dem letzten Tag. Ich will nicht nach Deutschland zurück.« Sie sah in seine Augen. »Und ich weiß nicht, was ich ohne die Gespräche mit dir machen soll.«

Oliver durchrieselte ein feiner Schmerz bei diesen Worten, der seine volle Wirkung in seiner Brust entfaltete und mitten ins Herz traf. Nachdem Bettina ihm vor einigen Tagen den Kopf wegen Anna gewaschen hatte, hatte sich im gleichen Atemzug ein Gedanke in ihm festgesetzt, den er nicht mit Anna teilen konnte. Wenn er ihr von seinen Plänen erzählte, würde er alles ruinieren. Er würde sie nur mehr verletzen, als er es in den letzten zwei Wochen bereits getan hatte. »Ich bin nicht der Typ Mensch, der anderen schnell vertraut, aber bei dir war es leicht.« Oliver erwiderte Annas schüchternes Lächeln, wurde jedoch das drückende Gefühl in der Brust nicht los. Warum fühlte er sich auf einmal so schlecht?

»Anna, ich …«

»Nein, Oliver, du musst nichts sagen«, wehrte Anna ab und trank einen Schluck Wein. »Ich wollte die Stimmung mit meiner Laune nicht drücken. Entschuldige.«

»Du musst dich nicht entschuldigen.« Unsicher blickten die beiden in ihre Gläser und wussten nicht, was sie sagen sollten. Während Oliver Angst davor hatte, sich Anna zu öffnen und ihr die Wahrheit über seine Pläne mitzuteilen, glaubte sie mit ihren negativen Gedanken den wunderschönen Abend ruiniert zu haben. Ihr Kopf arbeitete auf Hochtouren und suchte nach einem Thema oder etwas, das sie sagen konnte, damit die Beklemmung aus der Situation wich. Sie wollte nicht schweigend neben Oliver sitzen, warten bis die Zeit verging und sich die ganze Nacht über sich selbst ärgern. Doch je mehr sie nachdachte und sich unter Druck setzte, desto leerer erschienen ihr die Möglichkeiten guter Themen.

»Haben wir morgen noch eine Aufgabe?«, fragte sie stattdessen und ärgerte sich selbst über ihre Einfallslosigkeit.

»Du hast morgen frei. Schlaf dich richtig aus«, lächelte Oliver. Anna nickte und das Gespräch stagnierte wieder. Irgendetwas hatte sich innerhalb der letzten Minute verändert und Anna glaubte, ganz genau zu wissen, was es war. Sie hätte den Mund halten sollen, hätte ihm nicht sagen sollen, wie viel er ihr bedeutete. Oliver musste sie für verrückt halten. Sie war viel zu jung für ihn. Warum konnte sie nicht einmal still sein? Warum musste sie die guten Momente immer mit ihren nervigen Gefühlsduseleien kaputtmachen?

Hektisch trank Anna ihr Glas leer und murmelte im Aufstehen: »Ich werde zurück zu meinem Bungalow gehen. Danke für den Wein.« Ohne Olivers Antwort abzuwarten, ging sie die drei Stufen der Terrasse hinab und lief mit schnellen Schritten durch die Dunkelheit. Doch sie kam nicht weit. Nach wenigen Sekunden umfasste ein fester Griff ihr zartes Handgelenk und sie wurde in einer schwungvollen Bewegung herumgedreht. Anna blickte in dunkle, glänzende Augen und wusste in diesem Augenblick, dass sie mit ihrer Angst nicht allein war – genauso wie mit ihren Gefühlen.

»Anna«, flüsterte Oliver und spürte erneut das unangenehme Ziehen in seiner Brust.

Sie antwortete nicht, sah ihn stattdessen nur an und rang nach Luft. Seine Nähe raubte ihr den Atem, machte sie benommen.

»Wir müssen über etwas reden«, brachte er mühevoll hervor, konnte Annas fragendem Blick aber nicht standhalten.

»Worüber?«, hauchte sie wehrlos.

»Es tut mir so leid.« Olivers Stimme war nicht mehr als ein leises, schmerzerfülltes Flüstern.

»Was tut dir leid?« Was war auf einmal mit Oliver los? Wofür entschuldigte er sich?

Er antwortete nicht, sondern sah sie nur an.

»Sprich mit mir, bitte«, flehte sie und nahm Olivers Gesicht in beide Hände. Sie zog ihn etwas näher zu sich und strich ihm immer wieder sanft mit dem Daumen über die Wange. »Sprich mit mir.«

Doch Oliver brachte es nicht übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen. Er würde es nicht ertragen, den Schmerz in ihrem Gesicht zu sehen, der sich nach seinen Worten einstellen würde. Er konnte ihr nicht die Hoffnung nehmen, nicht die Freude in ihren Augen, die sie erst so einzigartig machten.

»Die Zeit mit dir«, stammelte er und schluckte schwer, »wird mir auch fehlen. Du ... du bist etwas ganz Besonderes, Anna.«

Anna fiel ein Stein vom Herzen, ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Olivers gutmütige Augen verfingen sich endgültig in ihren, während die Dunkelheit den beiden so viel Schutz bot, dass sie in einer ganz eigenen Welt verschwanden. Behutsam ließ Anna ihre Hände von seinem Gesicht sinken, er fing sie aber sofort auf und drückte sie fest an seine Brust. Mit jedem Herzschlag kamen die beiden sich näher, spürten den Atem des anderen auf ihrer Haut und versuchten nicht mehr, sich dagegen zu wehren.

»Was hast du nur mit mir gemacht?«, flüsterte Oliver kaum hörbar und konnte dem Drang, Anna zu küssen, nicht länger widerstehen.

 

Stumm lag Oliver in der Dunkelheit seines Zimmers und beobachtete Anna neben sich. Ihre Brust hob und senkte sich in einem gleichmäßigen Takt. Sie wirkte so friedlich und entspannt, während er innerlich aufgewühlt war und keine Ruhe fand. In Gedanken wog er ab, wann und wo er ihr seine Entscheidung mitteilen und wie sie es wohl aufnehmen würde. Es gab keinen Zweifel, sie hatte seine Welt auf den Kopf gestellt, doch das durfte seinen Entschluss nicht beeinflussen.

Seufzend drehte er sich auf die Seite, als er bemerkte, dass sein Handy zu leuchten und leise zu vibrieren begann.

»Hallo?«, flüsterte Oliver und eilte sofort auf die Terrasse.

»Oli?« Sofort erkannte er die aufgeregte Stimme seiner jüngeren Schwester. »Oli, es geht um unsere Eltern.«

 

 

Die Dunkelheit. Olivers nachdenklicher Gesichtsausdruck. Du bist etwas ganz Besonderes. Der Kuss. Sie waren sich so nah, so unendlich nah.

Langsam kam Anna zu sich, spürte das weiche Bettlaken unter sich und hüllte sich in die seidige Decke.

Sie genoss das Prickeln auf ihrer Haut. Seine zärtlichen Berührungen und drängenden Küsse. Ein Traum, ein wunderschöner Traum.

Anna drehte sich zur Seite und tastete vorsichtig die andere Seite des Bettes ab. Ihre Fingerspitzen fuhren leicht über das Laken des fremden Bettes, doch sie fanden nichts.

Wo ist er nur?, dachte sie und kämpfte damit, die Augen zu öffnen. Es gelang ihr nicht. Zu stark war die Traumwelt, die weiterhin versuchte, sie mit Erinnerungen an die letzte Nacht zu locken. Und zu schwach war sie, die sich diesen Erinnerungen mit größter Freude hingab. Anna genoss den bloßen Gedanken an Olivers Hände auf ihrer nackten Haut, sie genoss die Gedanken an seine Küsse, wie er ihre Lippen sanft berührte und den verträumten Blick, mit dem er sie danach angesehen hatte. »Oliver«, murmelte Anna und befand sich noch in einer ganz anderen Welt. Sie tastete weiter, fuhr über sein leeres Kissen und fühlte auf einmal etwas Fremdartiges. Unter Mühen öffnete Anna die Augen, griff nach dem Stück Papier auf Olivers Kopfkissen und las mit klopfendem Herzen seine Nachricht.

 

 

Anna,

 

ich schäme mich dafür, dass ich gestern nicht den Mut hatte, dir die Wahrheit zu sagen. Ich hätte es nicht ertragen, dich zu verletzen, und doch muss ich dich hier viel zu zeitig zurücklassen, mit dem Wissen, dass ich dir mit diesem feigen Schritt noch viel mehr wehtun werde.

Wenn du aufwachst, werde ich bereits in einem Flugzeug nach Deutschland sitzen.

---ENDE DER LESEPROBE---