Klappersteine - Jürgen Borchert - E-Book

Klappersteine E-Book

Jürgen Borchert

4,9

Beschreibung

Zu den vergnüglichsten Texten in diesem Debütband mit Feuilletons des damals 36-jährigen Schriftstellers Jürgen Borchert gehört der mit dem wahrlich feuilletonistischen Titel „Vorschlag, ein Feuilleton über das Luftschiff zu schreiben“. Gewidmet hatte Borchert dieses Feuilleton seinem Lehrer, Mentor und späteren Freund Heinz Knobloch, der viel dafür getan hat, dass sich dieses journalistisch-literarische Genre in der DDR ausbreiten durfte und viel dafür, dass sich auch Leute fanden, die Feuilletons schreiben konnten – wie eben Jürgen Borchert. Schon in seinem Debütband zeigt der noch junge Feuilletonist, dass er sein Handwerk versteht, blickt auf seinen eigenen Balkon, auf allerhand Leute und Landschaften, auf das eintönige Leben und auf die Relativitätstheorie sowie in Familienpapiere. Manches von dem, was er später und manchmal noch ausführlicher veröffentlicht, wird hier vorbereitet. Außerdem beantwortet Jürgen Borchert in dem gleichnamigen und titelgebenden Feuilleton die Frage, was denn überhaupt Klappersteine sind: „Rund sind sie, meist hühnereigroß, schwarz, mit weißen und grauen Einsprengseln und Löchern, und hier und da führen winzige, weiß umrandete Gänge in das geheimnisvolle Innere der Feuersteinknolle. Wenn man sie leicht schüttelt, klappert es in ihrem schwarzen Bauch. Da staunt man, wiegt die Steinknolle prüfend in der Hand, schüttelt erst den Kopf und dann noch einmal den Stein - kein Zweifel, es klappert, wider alle Logik. Ein Klapperstein.“ Und was haben sie mit Feuilletons gemeinsam? Auch die muss man ein wenig schütteln, um alles zu hören …

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Impressum

Jürgen Borchert

Klappersteine

Feuilletons

ISBN 978-3-86394-696-8 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1977 im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®

Pekrul & Sohn GbR

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Godern

Tel.: 03860-505 788

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.ddrautoren.de

Auf dem Balkon

Auf den Balkon gehen: das heißt für mich, eine nahrhafte und durchaus ländliche Gegend, einen ganzen Kosmos agrarischer Produktion vor mir ausgebreitet zu sehen, heißt also die Empfindung zu registrieren, dass da unten für unser leibliches Wohl und die Schönheit unserer Welt vergnüglich und unvoreingenommen gesorgt wird. Mancher wird nun denken, dass ich auf dem Lande wohnte, Orpheus über den Schnittern gewissermaßen, dass ich also von meinem Balkon Brötchen kauend herabblickte auf das produzierende Landvolk da unten: nichts da, ich bin Städter. Doch genieße ich den unzweifelhaften Vorteil, nicht in einer Groß-, sondern in einer Kleinstadt zu leben und noch dazu an deren äußerstem Rande, dort, wo die hansische Urbanität des engen Zentrums schon völlig verwässert, das Netz der Straßen schon sehr weitmaschig geworden und die städtische Landschaft von Gärten, Grünland, Wald durchsetzt ist, wo die Stadt ins Land versickert und wo also unser Neubaublock mit Fernheizung und Bad als letztes Monument städtischen Selbstbewusstseins aufgerichtet ist, bevor sie endgültig vor dem Lande kapituliert. Denn hier, direkt zu Füßen unserer 60-Familien-Wabe, beginnt die nahrhaft-nützliche Welt der Förster, Gärtner, Landwirte, Schweizer, Schlachter und Hühnerfeen.

Das Halbrund des von meinem Balkon aus sichtbaren Weltkreises wird eingefasst von einer derzeit weißrosa blühenden Apfelplantage, einem oder zwei Hektar schwarzer Johannisbeeren, die sich vor der weißen Kartoffellagerhalle ausbreiten, vom Zierpflanzengut weiterhin, bei dem es momentan rot aus allen Gewächshäusern glüht, vom Fleischkombinat schließlich, in dem Tag für Tag zweitausend Schweine zu Tode kommen. Ihr geschmolzenes Fett wird von riesigen holländischen und französischen Tankfahrzeugen abtransportiert - wir sind ja mehr für das Magere. Rechts: der Wald, Kiefern mit roten Stämmen und tiefgrünen Wipfeln. Fernerhin: ein paar Dörfer mit dicken Kirchtürmen. Eine Fabrik für Hühnerställe, sprich: Geflügelintensivhaltungsanlagen, die man in die UdSSR exportiert. Dem Horizont zu, in Sonnenaufgangsrichtung, reihen sich Felder, darunter eines, das dem schon erwähnten Zierpflanzengut zugehört und aus ein paar Hunderttausend Tulpen besteht; es macht einen brennend roten Strich durch die flache märkische Gegend und lockt natürlich zu Raubzügen. Klug wie sie sind, unsere Gärtner, haben sie den Tulpenacker an Wege gelegt, die weder Trabant- noch Radfahrern Vergnügen bereiten. Vor Fußgängern schützt die Entfernung. Wer wird schon mit einem Trecker aufbrechen, um Tulpen zu stehlen?

Dies alles kann ich von meinem Balkon aus sehen, und manchmal stelle ich die spiegelnde Balkontür so ein, dass sich die ganze Gegend, gehorchend den Gesetzen der Optik, verdoppelt, ein gaukelhaftes Spiel, denn die Landschaft, so betrachtet, kommt einem irgendwie schöner vor, woraus sich die Notwendigkeit erkennen lässt, bekannte Sachen doch hin und wieder aus einem neuen Winkel zu betrachten.

Wenn ich also, ob nun seitenrichtig oder spiegelverkehrt, von meinem Balkon blicke, bin ich auf dem Lande. Wenn ich aus der Haustür gehe, bin ich in der Stadt. Ich befinde mich gewissermaßen auf der Grenze zwischen Stadt und Land, wo ich auch bleiben möchte und was nicht nur geografisch zu verstehen ist.

Familienpapiere

In manchen vornehmen Büchern kommt es vor, dass sich betagte Grafen zur Durchsicht alter Familienpapiere auf ihren Landsitz zurückziehen. Auch ich widme mich gern solchem Studium, nur bedarf es dazu keines Landsitzes, denn so umfangreich sind sie nicht, meine Familienpapiere. Das liegt, sagt man, an der Herkunft.

Den Urgroßvater meines Großvaters entließ die Herrschaft von Fahrenheit auf Dombrowken in Ostpreußen im Jahre 1807 aus der »Erbunterthänigkeit«. So ward Carl Friedrich Borchert statt eines Leibeigenen ein »Losmann« und heiratete die ebenso besitzlose Anna Maria Jaquet, Tochter eines hugenottischen Schreinerknechts zu Drengfurth.

In diesem Landnest nahe den Masurischen Seen wurde denn auch die Hochzeit gefeiert, die dürftig genug ausgefallen sein mag. Tausend Kilometer weiter westlich, in der Stadt Perleberg in der Prignitz, wurde im gleichen Jahre ein Haus gebaut, dessen heute noch lesbarer Giebelspruch lautet: »Erbauet mit Gottes Hülfe 1808, nach dem Frieden zu Tilsit 1807, und darum nicht hoeher.« Die mangelnde Höhe des Hauses in Perleberg und die Dürftigkeit der Hochzeit zu Drengfurth hatten die gleiche Ursache, die hieß Bonaparte, und die durch diesen Herren erzeugte Geldknappheit in Preußen brachte auch jenes Gut Dombrowken unter den Hammer. Die Dönhoffs, die es erwarben, fanden aus diesem Grunde auch das Gehalt des Schulmeisters zu hoch, strichen es also und sorgten so dafür, dass der neben elf weiteren Kindern der Ehe von Drengfurth entsprossene Sohn Friedrich den Tod seines Vaters mit drei Kreuzen bezeugte. Das Stück Papier mit dieser ungelenken, aber lesbaren Unterschrift meines Vorfahren trägt die Jahreszahl 1841. Im gleichen Jahr prangerte Johann Jacobi in Königsberg die preußischen Zustände erheblich an und wurde demzufolge des Hochverrats bezichtigt. Mein Ahn hätte die Schrift Jacobis sicher mit Gewinn gelesen, konnte es aber nicht aus schon bekannten Gründen. So blieb dem Friedrich Borchert auch anderes fremd, jenes schmale Heftchen zum Beispiel, das mit den Worten beginnt »Ein Gespenst geht um in Europa«. Da passten die Dönhoffs schon auf, dass solcherlei nicht umgehen konnte.

Wenn auch, trotz fast ausgefallener Revolution, die Schule wieder eröffnet wurde und Friedrichs Kinder einigermaßen Schreibkunst, Katechismus und Ehrfurcht vor der Obrigkeit erlernten, so blieben doch auch sie Tagelöhner. Der Älteste, mein Urgroßvater Gustav Borchert, ging als Brettschneider in die Sägerei zu Lötzen und ehelichte zurück aufs Gut, als er des Brettschneidens müde war. Da war er schon 32, und so blieben ihm noch drei Jahre; dann biss er irgendwo in Frankreichs Gras, denn inzwischen war Krieg.

Sein Sohn August, geboren 70, wurde getauft, da war der Vater schon dahin. Der Zeitersparnis wegen taufte der Pfarrer gleich noch ein Mädchen mit, das hat der Großvater später geheiratet, und das ist die einzige romantische Episode in unserer Familiengeschichte. August Borchert zog die Bilanz aus den ostpreußischen Erfahrungen seiner Voreltern und mit seiner Amalie in Richtung Westen davon. In Perleberg, nachdem er zwölf Jahre bei den Ulanen gedient hatte, vertauschte er den Schleppsäbel gegen die Peitsche des Bierfahrers, bis schließlich der Krieg ihn dahin zurückschleuderte, wo er herkam. Die Winterschlacht in den Masuren war lang und kalt, die Ruhr ging um und an ihm nicht vorbei. »Gefr. Aug. Borchert am 14. 3. 15 im Feldlazarett Komorowo in Ostpreußen an Ruhr gestorben. Beileid. Unleserlich. Ofeldarzt.«

Das Telegramm lag zwischen den Seiten von Großmutters Bibel. Wir fanden es nach ihrem Tod. Nun legen wir es in die Mappe zurück, zu den anderen Familienpapieren, zu deren Studium man keines Ruhesitzes bedarf.

Kleinstädtische Charaktere

Medaillons in der Manier Spitzwegs

Wer diese Blätter zur Hand nimmt, sei von vornherein gebeten, hier nicht nur historische Miniaturen zu erwarten, eine Krähwinkliade gar, deren kleinstädtischer Prospekt idyllischer Bilder und Vergleiche wegen um die auftretenden Figuren aufgerichtet worden ist. Es soll von Menschen erzählt werden, die alle miteinander gemeinsam haben, dass sich ihr Leben oder doch ein großer Teil ihres Lebens in der Kleinstadt abgespielt hat, von Menschen aus verschiedenen Jahrhunderten, aus verschiedenen Klassen, aus verschiedenen Berufen. Ihre Lebensgeschichten erscheinen auf den ersten Blick nicht sehr interessant, aber es gibt in ihnen wie in jeder Biografie bemerkenswerte Momente, und mitunter ist es dem einen oder anderen gelungen, über den Lebenskreis der Kleinstadt hinauszuwachsen oder doch wenigstens einmal über die Gartenmauer kleinstädtischer Beschränktheit zu schauen in das Rädergetriebe der großen Welt. Andere wieder haben die Welt kurzerhand in die Mauern der Stadt hineingeholt und auf diese Weise frisch und unbekümmert zu dem Fortschreiten der gesellschaftlichen Umstände in der Stadt beigetragen.

Dass sich diese Geschichten in meiner alten Vaterstadt Perleberg zugetragen haben, mag für die Bewohner dieser Stadt interessant sein - für die Geschichten selbst ist es ohne Belang. Sie könnten ebenso in irgendeiner der anderen 333 Kleinstädte unseres Landes spielen, in Salzwedel oder Heiligenstadt, in Freyburg an der Unstrut oder Kyritz an der Knatter. Ebenso belanglos ist die Tatsache, dass wir es hier mit einer Rückwärtsschau in die Vergangenheit zu tun haben. Die Gegenwart nämlich, die unsere tätige Mitwirkung verlangt, ist doch immer der eigentliche Gegenstand der Schreibenden - sie finden sie in der Vergangenheit ebenso wie in der Zukunft abgebildet und wollen sie durch das Weitererzählen ihrer Beobachtung für jedermann auffindbar machen. Indem wir Tote beleben und Vergangenes vergegenwärtigen, lassen wir genügend Komisches, Merkwürdiges und Bemerkenswertes sichtbar werden. Und nun und deshalb wollen wir uns den Menschen zuwenden.

Kindersegen

Hier wird erzählt von Mathias Hasse, Bürgermeister der Stadt Perleberg von 1659 bis 1689, Sohn des Bürgermeisters Joachim Hasse und seiner Ehegemahlin Elisabeth, geborener Krusemarckin. Es wird erzählt von seiner erstaunlichen Manneskraft, die ihn befähigte, im Laufe von vierzig Jahren, nämlich von 1645 bis 1685, einundzwanzig Kinder zu zeugen, deren sieben älteste ihm zu seinen Lebzeiten vierundzwanzig teils tot, teils lebend geborene Enkel schenkten. Dass er dazu nur zwei Frauen hatte, nacheinander, versteht sich, und nicht dreihundert wie angeblich der starke August von Sachsen, spricht für ihn. Auch war er seinen Kindern ein guter Vater, was in jenen schweren Zeiten nach dem Dreißigjährigen Kriege sicher mancherlei Opfer verlangte. Seine Töchter verheiratete er vorteilhaft, seine Söhne protegierte er in ebenso vorteilhafte Stellungen, und als seine erste Frau, Margaretha Vogels, Anno 1662 das Zeitliche segnete, erst vierunddreißig Jahre alt, bei der Geburt ihres zehnten Kindes, bewarb sich ihr ältester Sohn Joachim bereits um die Stelle des Ratsverwalters zu Havelberg. Bald darauf heiratete die Schwester Elisabeth den reichen Bäcker Theodori, wurde Georgius Verwalter beim Freiherrn von Nettelbeck, Mathias jr. hingegen Pastor zu Lenzen und Andreas Apotheker zu Seehausen, Anna des Lenzener Bürgermeisters Ehweib; Margareten gab er einem Ruppiner Handelsherrn und verlobte Marien dem Wusterhausener Bürgermeister. Auf diese Weise überzog er Prignitz und Altmark mit seinem Geschlecht, war er doch nicht umsonst der »Priegnizischen und Alte Märckischen Stätte Schuldenwercksverordneter«.

Über den Tod seiner ersten Frau tröstete ihn die zweite bald hinweg, die er 1663, nach strikter Einhaltung des gebührlichen Trauerjahres, ehelichte: Anna, geborene Ratjen, nur zwei Jahre älter als sein ältester Sohn. Auch Anna war fruchtbar, ja schlug noch den Rekord ihrer bedauernswerten Vorgängerin. Sie schenkte dem Bürgermeister elf Kinder, von denen Daniel, das Jüngste, 1685 das Licht der Welt erblickte, nur vier Jahre vor dem Tode des Vaters, der 1689 starb, »66 Jar, 7 Wochen und 3 Tage alt«, damals ein biblisches Alter.

Kurz vor seinem Tode jedoch ließ er, ein Denkmal zu setzen, sich und seine Familie malen: Er selbst in der unteren Mitte des ovalen Riesenbildes, links die erste, rechts die zweite Frau, und dann nach links und rechts aufsteigend die jeweiligen Kinder, der Vollständigkeit halber auch die Totgeburten, kleine, zierlich in Steckkissen gebundene Leichen mit stereotypen Puppengesichtern in winzigen Särgen anstelle des Porträts. Oben, wiederum in der Mitte, treffen sich die Kinderreihen, die auf die Äste eines genealogischen Baumes gereihten Medaillons, und umrahmen so, von Joachimus bis zu Daniel, dem vierzig Jahre jüngeren Bruder, eine im Zentrum des Ovals befindliche Kreuztragungsszene; denn das Bild war für die Kirche bestimmt. Warum Mathias Hasse, der generöse Stifter, ausgerechnet eine Kreuztragung bestellte, mag symbolische Gründe gehabt haben, immerhin, bei einundzwanzig Kindern. Erheben sich nun im Hintergrunde der Szene die Türme und Zinnen Jerusalems, der hochgebauten Stadt? Mitnichten; Perlebergs Türme sind es, die da in die biblische Landschaft ragen, und recht klein ist dies Mitteloval, wenn man den Platz für die Familie dagegen hält: Allzu viel Gottesfurcht kann da nicht im Spiele gewesen sein.

Das Bild, drei zu zwei Meter groß, in riesigem Eichenrahmen, zentnerschwer, hängt im Museum. Neulich stand eine junge Frau davor, die, Ursache, Wirkung und gewisse Errungenschaften der Neuzeit bedenkend, die staunenswerte Nachkommenschaft des barocken Bürgermeisters interessiert betrachtete, während ihr Mann eilig (Nun komm schon von dem ollen Bild weg!) der unverfänglicheren Frühgeschichte zustrebte.

Unten, ganz klein, steht Jesaja 8; 18: Siehe hier bin ich und die Kinder, die mir der Herr gegeben hat.

Dr. Carl Ganzel (1799-1888)

Nun zu Carl Ludwig Ganzel, Bürger, Arzt und Stadtverordneter, weiland Studiosus in Berlin und Burschenschafter, Bundesgenosse seines Landsmannes Jahn, des martialischen Turnvaters aus Lanz, deshalb auch Häftling in der Hausvogtei, freilich nur für einen Tag und eine Nacht; Freund Partheys und mit Thorwaldsens und Schadows Söhnen intim, Carl Ludwig Ganzel also, der mit Glanz 1819 promovierte und, wohl zur Dämpfung seiner demokratischen Neigungen, von der wohlhabenden Großmutter (sie hieß schlicht Neumann) mit einer Europareise ausgezeichnet wurde. Die führte den jungen Opponenten ein Jahr lang durch die Lande, er sah Rhein und Alpen, sah Paris, Avignon, die Loire, besuchte Nizza, Genua und Neapel, bewunderte Rom und wusste aus der Heiligen Stadt nicht nur Herrlichkeiten, sondern auch für unsere Zeit merkwürdig moderne Zeitungen zu melden. »Während meines Hierseins hat man tatsächlich sieben Mönche aus einem Kloster entführt, und Seine Heiligkeit der Papst hat richtig 7000 Scudi berappen müssen, um den geistlichen Bäuchen die Köpfe zu retten.« Überhaupt schrieb er ja Briefe aus allen Orten und Gegenden, die er durchfuhr, denn er besaß eine Tugend, die unserer Zeit weitgehend abhandengekommen ist - er reiste mit dem Verstande und zur Vervollkommnung seiner Ansichten und Kenntnisse, während sein leibliches Wohl oft genug ins Hintertreffen geriet. Die hoch entwickelte Fremdenindustrie unseres Kontinents möge mir verzeihen, wenn ich einen solchen Touristen wie den Dr. Ganzel lobe – es werden sich kaum Nachahmer finden und also wird eine Schädigung des Gewerbes nicht zu erwarten sein. Wer sagt uns denn, dass nicht auch Ganzel Eisenbahnen, Automobile oder Aeroplane benutzt hätte, wenn solche Fortbewegungsgeräte schon erfunden gewesen wären. So aber stieg er zu Fuß durch die Alpen, und mit Mühen und Beschwerden »wurde die furchtbare Gemmi überstiegen, aber wie durch Nacht und Graus zu Freud und Wonne, so folgte auch hier auf die grausig erstarrte Natur das liebliche Tal, wovon Frutingen der Hauptort ist.« So ging er durch Europa und das Jahr hin, und zu Schopfloch im Elsass, wo er im Gasthofe übernachtete, ärgerte ihn des Morgens seine Dummheit, denn »die Mädchen schliefen alle ohne Hemden«. Ein Jahr für 200 Thaler! Leider endet Ganzels Leben hier schon, das heißt: er wurde zwar noch 89 Jahre alt, aber gelebt hat er von nun an nicht mehr. Er kam zurück, der junge Feuerkopf, wurde Arzt und Bürger, Stadtverordneter, wie erwähnt, und Ehemann, Gatte des Freifräuleins von Quitzow, einer echten Nachfahrin der prignitzischen Raub- und Mordritter, und nicht einmal das Jahr 48 hat ihn noch interessiert. Besitz verpflichtet, alles Revolutionär-Demokratische fiel von ihm ab, Ganzel, dessen Leben so interessant begann, starb als Spießer. So geht es manchmal. Oder meistens. Trotzdem: Was das Briefeschreiben angeht, wollen wir ihn dennoch als Vorbild gelten lassen.

Braun