Klassenkampf - Lorenz Maroldt - E-Book

Klassenkampf E-Book

Lorenz Maroldt

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Beschreibung

Verschimmelte Ecken und einstürzende Sporthallendächer, undichte Fenster und verschleppte Digitalisierung – alles Symbole einer politischen Verwahrlosung, die Schüler*innen, Eltern und Lehrer*innen gleichermaßen betrifft.

Die Pandemie hat die angespannte Situation an deutschen Schulen noch einmal verschärft und sämtliche Schwachstellen des Systems freigelegt. Die Missstände im deutschen Bildungsapparat beschreiben Lorenz Maroldt und Susanne Vieth-Entus in Klassenkampf; einem angriffslustigen Sachbuch mit absurden Episoden und entlarvenden Recherchen, mit gewichtigen Stimmen und großen Ausflüchten, mit viel Empörendem; aber auch mit konstruktiven Vorschlägen. Lorenz Maroldt und Susanne Vieth-Entus sind selber Eltern. Und haben sich zu diesem Thema eine echte Ausnahmeposition erarbeitet; er als Chefredakteur, sie als Redakteurin für Bildungsfragen beim Tagesspiegel. Ihr Buch wird Debatten auslösen. Und ist ein Muss für Eltern, Großeltern, Lehrer*innen – und den Rest der Gesellschaft!

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Seitenzahl: 307

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Titel

Lorenz Maroldt Susanne Vieth-Entus

Klassenkampf

Was die Bildungspolitik aus Berlins Schuldesaster lernen kann

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5231.

Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022

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Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagfoto: Glasshouse Images / Getty Images

eISBN 978-3-518-77265-2

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Teil I Ein Parforceritt durch die Berliner Bildungslandschaft. Das kann ja wohl nicht wahr sein! Doch. Alles, was hier steht, ist wirklich passiert.

Teil II Rerum Cognoscere Causas: Die zehn Stationen des Politikversagens in der Berliner Schule

1. Das Land vertreibt seine Lehrkräfte

1.1. Wie es dazu kam, dass Berlin jenseits der Alpen nach Personal suchen musste

1.2. Die Universitäten fahren die Studienplätze runter – und keiner merkt’s

1.3. Warum die Schüler im sozialen Brennpunkt die Hauptlast des Personalmangels tragen

1.4. Überforderte Retter: Der schleichende Qualitätsverlust

2. Der unheilvolle Zwang zur Reform

2.1. Das JüL-Missverständnis: Die Wissenschaft warnt vergeblich

2.2. Früheinschulung ohne Pardon: Auch gute Ideen lassen sich ruinieren

3. Vergessene Pflichten und ignorierte Gesetze

3.1. Tausende Kinder sollen vor der Schule in die Kita. Aber sie kommen nie an.

3.2. Alle Lehrkräfte müssen sich der Bewertung durch ihre Klassen stellen. Eigentlich. Und wenn sie es einfach sein lassen?

4. Einstürzende Schulbauten: Wenn Sparsamkeit Substanz zerstört

4.1. Wie alles begann: Ein Adventskalender des Schreckens zeigt den Berlinern, was wirklich los ist

4.2. Unorganisierte Überzuständigkeit – wie Berlin eine Schulbauoffensive plant

4.3. Eine Schule wird zum BER von Kreuzberg

5. Wenn iPads mit Digitalisierung verwechselt werden

6. Alleingelassen im Brennpunkt

6.1. Der Bundespräsident mahnt, aber es ändert sich nichts

6.2. Kinder als Insolvenzverwalter

6.3. Zu gut für die Verwaltung – eine Schule fällt durch

7. Der Ungleichheit auf der Spur: Das Dilemma bei der Migrantenförderung

7.1. Als Ost-Berlin zum Drehkreuz für Flüchtlinge aus dem Libanon wurde – und was das mit Berlins Schule zu tun hat

7.2. Warum die Frühförderung viele Familien nicht erreicht

7.3. Fünfzig Jahre Zuwanderung, aber keine Professur für Deutsch als Zweitsprache

7.4. Wie sich das Millionenbudget für die Sprachförderung Jahr für Jahr auflöst

8. Die verprassten Chancen: viel Geld, aber keine Expertise

8.1. Ein Bonusprogramm verpufft

9. Das Schikanieren der Freien Schulen

9.1. Eine Schule macht alles richtig und wird doch ausgehungert

9.2. Eine Schule macht alles richtig, bekommt aber kein Haus

9.3. Eine Schule macht alles richtig, überlebt aber nur dank Sponsoren

10. Kein Mut zur Leistung

10.1. Wie ein Student aus Bayern die Berliner Abituraufgaben seziert

10.2. Vom gescheiterten Versuch, ein bisschen Eigeninitiative zuzulassen

Teil III Auswege aus dem Bildungsdesaster

1. Lehrkräftemangel

Staatsvertrag statt Kleinstaaterei

2. Reformgau

Lieber gut verwalten als schlecht reformieren

3. Beliebigkeit

Pflichten durchsetzen oder aufgeben

4. Marode Schulen

Von München und Hamburg lernen

5. Digitalisierung

Klarheit, Verlässlichkeit und Kommunikation

6. Schulen im sozialen Brennpunkt

Richtig fördern, notfalls schließen

7. Migration und Bildung

Durch Frühförderung Potentiale entfalten

8. Schulfinanzierung

Schluss mit dem Gießkannenprinzip

9. Freie Schulen

Vielfalt fördern

10. Schwache Leistung

Mehr Macht den Schulen

Ein Nachwort für Berliner Eltern

DANKSAGUNG

Literatur und Quellen

Teil I

Teil II

1.Das Land vertreibt seine Lehrkräfte

2.Der unheilvolle Zwang zur Reform

3.Vergessene Pflichten und ignorierte Gesetze

4.Einstürzende Schulbauten: Wenn Sparsamkeit Substanz zerstört

5.Wenn iPads mit Digitalisierung verwechselt werden

6.Alleingelassen im Brennpunkt

7.Der Ungleichheit auf der Spur: Das Dilemma bei der Migrantenförderung

8.Die verprassten Chancen: viel Geld, aber keine Expertise

9.Das Schikanieren der Freien Schulen

10.Kein Mut zur Leistung

Teil III: Auswege aus dem Bildungsdesaster

1.Lehrermangel

2.Reformgau

3.Beliebigkeit

4.Marode Schulen

5.Digitalisierung

6.Schulen im sozialen Brennpunkt

7.Migration und Bildung

8.Schulfinanzierung

9.Freie Schulen

10.Schwache Leistung

Informationen zum Buch

Teil I

Ein Parforceritt durch die Berliner Bildungslandschaft

Das kann ja wohl nicht wahr sein! Doch. Alles, was hier steht, ist wirklich passiert.

Es wäre eine schöne Aufgabe für den Deutschunterricht: »Welcher Gattung ordnen Sie das Drama ›Berliner Schule‹ zu: Komödie, Tragödie, Tragikomödie oder Trauerspiel? Begründen Sie Ihre Entscheidung anhand von Beispielen aus der Praxis.«

Andererseits wäre das aber auch eine ziemliche Gemeinheit. Wo sollten die Opfer des Berliner Klassenkampfs da anfangen?

Vielleicht bei dem vergammelten Fenster, das dem Lehrer einer der berüchtigten Berliner Schrottschulen mitten im Unterricht auf den Kopf fällt? Oder lieber bei den Freunden, die während ihrer gesamten Schulzeit nicht einen einzigen ausgebildeten Mathelehrer erleben? Bei dem Schulleiter, der einen neuen Kollegen mit den Worten »Ihre Schüler werden zum Großteil kriminell, arbeitslos oder landen auf der Straße« begrüßt? Oder bei der Meldung »Berliner Lehrer zündet aus Frust Rohrbomben«?

Die Stimmung ist jedenfalls explosiv – und die Bilanz verheerend: Bei allen Vergleichstests in Deutsch und Mathe landen die Berliner Schülerinnen und Schüler seit Jahren auf den schlechtesten Plätzen. In der neunten Klasse erreicht ein Drittel von ihnen nicht mal die Mindeststandards. Jeder fünfte Schüler hat am Ende so wenig gelernt, dass er oder sie wegen völlig unzureichender Fähigkeiten beim Rechnen, Lesen und Schreiben nicht berufsbildungsfähig ist. Und mehr als zehn von hundert Jugendlichen verlassen die Sekundarschule ganz ohne Abschluss. Dabei gibt Berlin inzwischen mehr Geld aus für Bildung als alle anderen Bundesländer. Aber das Resultat ist erbärmlich. Geradezu zynisch wirkt da die Eigenbeschreibung der Bildungsverwaltung auf ihrer Website: »Viele Wege führen zum Ziel.«

Tausende Eltern sind Jahr für Jahr auf der verzweifelten Suche nach einer geeigneten Schule. Nach offiziellen Angaben fehlen Lehrkräfte für Mathe, Deutsch, Englisch, Biologie, Physik, Chemie, Informatik, Wirtschaft, Technik, Musik und Sport – Geografie unterrichteten auch mal Reisekaufleute. Auf die Frage, welche seiner Schulen sanierungsbedürftig seien, sagte der Bürgermeister von Neukölln nur: »Alle.« Ein Stadtrat der Partei, die hier seit mehr als einem Vierteljahrhundert die Bildungspolitik bestimmt, gibt unumwunden zu: »Man kann sich bei den Schulen in Berlin nur noch entschuldigen.«

Versprochen hatte der Senat 2016, »die personelle Ausstattung der Schulen zu verbessern und damit einen entscheidenden Schritt zu gehen, um Unterrichtsausfall und Überlastung der Lehrkräfte deutlich zu reduzieren«. Daran glaubten nicht mal die Schulbuchverlage – im Mathe-Arbeitsheft für Klasse 5 druckten sie folgende Schätzaufgabe: »Wie viele eurer Unterrichtsstunden fallen diese Woche aus?« Tatsächlich verzweifeln auch fünf Jahre später überlastete Kollegien an ihrer Arbeit. Auf ihre Hilfe-Schreiben bekommen sie nicht einmal mehr eine Antwort. Und sogar Studierende werden akquiriert, Motto: »Unterrichten statt kellnern«. Na, dann Prost.

Eine Bildungsetage höher dagegen feiert sich die Berliner Politik für ihre vermeintliche Exzellenz: Die Wissenschaftslandschaft blüht, Berlin ist attraktiv für Forscherinnen und Forscher, für Lehrende und Lernende aus aller Welt, die Universitäten gehören zur Spitzenklasse. Und während die einen verkniffen die Schulmängel verwalten, tragen die anderen stolz das »World University Ranking« des britischen Magazins Times Higher Education mit sich durch die Gegend: Demnach gehören die Berliner Unis zu den besten 15 Hochschulen in Deutschland – und zu den 150 besten weltweit.

Im Penthouse der Berliner Bildungspolitik sind die Aussichten prächtig. Doch unten haust das Schulprekariat. Hier gibt es Schimmel statt Schampus. Als hätten Hochschule und Schule nichts miteinander zu tun, hat die Feiergesellschaft die Leiter nach oben gezogen und merkt dabei nicht, dass sie sich selbst aushungert. Denn die Schülerinnen und Schüler von heute sind die Studierenden von morgen – oder eben auch nicht. Und weil der Senat den Unis lange Zeit freie Hand bei der Studiengestaltung gab, blieb auch die Lehrerausbildung in Berlin auf der Strecke. Als Berlin 2016 für die Grundschulen tausend neue Lehrerinnen und Lehrer brauchte, schlossen hier gerade mal 175 ihr Studium ab – schlimmer plante kein anderes Bundesland am eigenen Bedarf vorbei.

Dazu verließen junge Lehrerinnen und Lehrer die Stadt in Scharen. Der Senat hatte Jahre zuvor entschieden, sie nicht mehr zu verbeamten, zur Freude der Gewerkschaft: So konnten sie wenigstens noch streiken. Der Finanzsenator hatte nicht nur die enormen Pensionslasten im Blick, sondern hielt die Verbeamtung offenbar auch für gesundheitsgefährdend. Die Statistik gibt ihm recht: Beamte sind 42 Tage im Jahr krank – Angestellte zehn Tage weniger.

Auch andere Bundesländer strichen anfangs die Verbeamtung, doch schon bald kehrten sie dazu zurück, um die Abwanderung der Lehrkräfte zu verhindern. Am Ende war Berlin das einzige Bundesland ohne verbeamtete Lehrerinnen und Lehrer – ein enormer Konkurrenznachteil, zumal die Stadt immer teurer wurde.

Die Bildungsverwaltung begann 2014, um Quereinsteigende zu werben. 2018 reichten dann nicht mal mehr die, um die 400000 Schülerinnen und Schüler der Stadt zu unterrichten. Jetzt waren der Bildungsverwaltung wirklich alle willkommen: Pensionäre, Studierende, Logopäden … einzige Voraussetzung: »Aufgeschlossenheit gegenüber fachlichen und didaktisch-methodischen Entwicklungen.« Aber wer sich melden wollte, fand keinen Anschluss: Die »Service-Stelle« war nur an neun Stunden in der Woche besetzt. In Bayern, wo kein Lehrermangel herrscht, ging schon immer selbst am Freitagnachmittag noch jemand ans Telefon. »Eine Selbstverständlichkeit«, sagt die freundliche Dame in schönstem Bayerisch am Telefon.

Es fehlen Lehrer – und es fehlen Schulplätze, zehntausende. Als das im Sommer 2019 bekannt wurde, war die Stadt schockiert. Die Zahlen basierten auf einem Bericht der »Taskforce Schulbau«. Die Linken sprachen von einer »sehr beunruhigenden Information«, die Grünen von »alarmierenden Zahlen«. Der Berliner Landeselternausschuss attestiert der Senatorin in einem offenen Brief eine insgesamt katastrophale Bilanz. »Schönreden und Intransparenz helfen hier nicht weiter!«, schrieb der Vorsitzende Norman Heise (den die Senatorin zuvor für »seine ruhige Art, seine Gelassenheit« gelobt hatte). Heises Forderung: ein Krisengipfel. Auch die damalige GEW-Vorsitzende Doreen Siebernik unterstützte die Forderung des Landeselternausschusses. »Wir haben seit 2012 darauf hingewiesen, dass Plätze fehlen. Seitdem wird immer nur an der Oberfläche gekratzt. Ich erkenne keine Strategie«, sagte sie dem Newsletter Checkpoint, und: »Das ist schlimmer als ein Vulkanausbruch, das ist eine Explosion.«

Doch eine Bildungskrise vermochte die Senatorin nicht im Ansatz zu erkennen: »Sehe ich nicht«, sagte sie im selben Jahr in der Martin-Niemöller-Grundschule in Hohenschönhausen, wo sie das erste kostenlose Schulmittagessen als Erfolg verschenkte. Hätte sie ihr Paralleluniversum für einen Moment verlassen, wäre ihr vielleicht eine Umfrage unter fünfzig Schulleiterinnen und Schulleitern staatlicher Berliner Gymnasien aufgefallen – das Ergebnis: Mehr als die Hälfte von ihnen hatte fest eingeplante Lehrkräfte kurzfristig verloren. Siebzig voll ausgebildete Lehrkräfte hatten ihren Wegzug in ein anderes Bundesland angekündigt. Nahezu alle Gymnasien waren in den vergangenen drei Jahren von Abwanderungen aus Berlin betroffen. Achtzig Prozent der Wechsler begründeten ihren Fortgang mit einer Verbeamtung anderswo, wie die Umfrage der Vereinigung der Berliner Oberstudiendirektoren ergab. Von sieben Zielbundesländern war Brandenburg das beliebteste. Alle der nach Brandenburg abgewanderten Lehrerinnen und Lehrer wurden in Berlin ausgebildet, und alle unterrichteten mindestens ein Fach, das in Berlin als Mangelfach gilt.

Als zum Ende des Schuljahrs 2021 wieder 846 Lehrkräfte Berlin verlassen hatten, insgesamt waren es seit 2017 damit 3270, erklärte Staatssekretärin Beate Stoffers: »Die Gründe werden nicht statistisch erfasst, sind jedoch grundsätzlich bekannt.« Die Folgen jedenfalls sind schlimm, die Überforderung ist allgegenwärtig: Es macht sich mehr und mehr Fatalismus breit – und das in einer Stadt, in der Leistung ohnehin schwer verdächtig ist. So stellten Berlins Schulinspekteure den Schulen trotz niedrigster Schülerkompetenzen massenhaft hervorragende Zeugnisse aus, und die Voraussetzungen für den Übergang in die gymnasiale Oberstufe wurden einfach gesenkt, damit es wieder passt: Selbst mit einer Fünf in Mathe kommt man seitdem irgendwie durch.

Dass es nicht so genau darauf ankommt, das lebt die Verwaltung vor, auch und ausgerechnet bei Mathe und Deutsch. Monatelang gab die Bildungsbehörde auf ihrer Website bei der Beispielrechnung für eine Durchschnittsnote die Summe von »3 + 3« mit »5« an. Erst als jemand das schriftlich infrage stellte, wurde noch einmal nachgerechnet und dann geändert. Auf der Serviceseite der Bildungsverwaltung zu den Corona-Testzentren für Schulen sind drei von zwölf Straßennamen falsch geschrieben. Und die Senatspublikation »Grundwortschatz Deutsch« ging unkorrigiert mit dem Hinweis »1. und 2. Jahrgangssufe« in Druck, was sich nicht einmal mit der Berliner Begeisterung für das Pädagogik-Konzept »Schreiben nach Gehör« erklären ließ. Wegen des großen Erfolgs erschien der »Grundwortschatz Deutsch« dann in einer anderen Version auch für die etwas Älteren, und selbstverständlich lautete der Hinweis auf dem Titelumschlag hier: »3. und 4. Jahrgangssufe«.

Dass auf Berliner Zeugnissen zuweilen »Grunschule« steht, findet die Bildungsverwaltung aber nicht so lustig: »Grundsätzlich hat jedes Kind einen Anspruch auf ein formal korrektes Zeugnis«, teilt die Behörde dazu mit. Allerdings hat auch jedes Kind einen Anspruch auf eine formal korrekte Grundschulausbildung. Und eben die ist nicht gesichert, wenn weniger als die Hälfte der neuen Lehrkräfte eines Jahrgangs eine pädagogische Ausbildung hat.

In einem grotesken Missverhältnis zu den Zuständen an den Schulen stehen die politischen Versprechen und Absichtserklärungen. Die Koalitionsverträge, alle fünf Jahre aufs Neue verfasst, sind Dokumente des Scheiterns und der Hilflosigkeit, und das seit mehreren Schülergenerationen. »Bildung hat Priorität!«, heißt es da im Jahr 2001, und »Wir wollen die beste Bildung für alle« 2011. Doch in den zehn Jahren dazwischen wurde die Bildung in Berlin vor allem kaputtgespart. Priorität hatte die Haushaltskonsolidierung, nichts wurde besser. Wie zum Hohn erklärte der Senat dann 2016 auf den Trümmern seiner eigenen Politik: »Wir wissen: Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung (…) sind die Stärken Berlins.«

Drei Jahre später wurde die Bildungssenatorin von einem Stadtmagazin zur peinlichsten Berlinerin gekürt, die Begründung: »Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist die SPD in Berlin für die Bildung zuständig. Die auch schon acht Jahre unter Sandra Scheeres reihen sich nahtlos ein: Vollfrust.«

Vermutlich handelte es sich dabei um ein Missverständnis: So richtig zuständig ist in Berlin für Missstände niemand. Schriftliche Beschwerden von Eltern etwa über einstürzende Schulbauten ihrer Kinder werden von der Bildungsverwaltung rigoros abgebügelt: »In der Sache muss ich Ihnen leider mitteilen, dass Frau Senatorin Scheeres die falsche Adressatin für Ihre Anliegen ist«, heißt es beispielsweise in einem Antwortschreiben, und: »Insofern bitte ich von der weiteren Versendung von Postkarten abzusehen.«

Es ist das größte Verdienst der damaligen Senatorin, dass sie noch im selben Jahr, in dem sie zur unbeliebtesten Berlinerin gekürt wurde, eine unabhängige Expertenkommission zur Schulqualität damit beauftragte, die Missstände zu analysieren und Wege aus dem Bildungsdesaster zu weisen. Es bleibt ihr Geheimnis, warum sie das erst im achten Jahr ihrer Amtszeit tat und nicht gleich zu Beginn. Aber sie erwies damit nicht nur der Berliner Schule einen letzten Dienst, sondern der gesamten deutschen Bildungspolitik.

Was in Berlin passiert ist, das passiert im Kleinen und in Teilen auch anderswo in der Republik. Nur bündelt sich eben in Berlin all das, was auch anderswo schiefläuft. Das Berliner Bildungsdesaster ist deshalb Warnung und Lehrstück zugleich. Hier lässt sich erkennen, was geschieht, wenn Bildungspolitik zum Klassenkampf wird. Hier lässt sich aber auch ableiten, wie es besser geht – und was es zu verhindern gilt. Das eine Vorbild, das eine Land, das alles richtig macht, gibt es nicht. Aber Berlin scheint alles, na gut: fast alles falsch anzugehen – und wird so unfreiwillig für alle, die es ernst meinen mit besseren Bildungschancen, mit einer besseren Schule, zum »Anti-Role Model« einer modernen Fehlerkultur: Nur aus der Beschäftigung mit dem Falschen erwächst das Wissen um das Richtige. Was in Berlin passiert, im Guten wie im Schlechten, kann deshalb allen helfen: von der Bestandsaufnahme über die Analyse bis zur Schlussfolgerung.

Die Qualitätskommission, die den Anfang machen sollte und fulminant an die Arbeit ging, bestand aus zwei Gruppen: einer wissenschaftlichen Expertenkommission und einer Praxiskommission. Zu Letzterer gehörten relevante Akteure im Bildungsbereich sowie Praktikerinnen und Praktiker aus Kindertagesstätten, Schulen, Instituten und der Bildungsverwaltung, die der Expertenkommission regelmäßig Rückmeldungen gab. An deren Spitze stand Olaf Köller vom Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik. Die Kommission setzte sich zusammen aus hochrangigen Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft und Forschung, unter anderem vom Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, der Alice Salomon Hochschule Berlin und des Kölner Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache. Als Berater und Moderator fungierte der Hamburger Staatsrat a.D. Michael Voges. Kompetenter konnte eine Bildungskommission kaum besetzt sein. Im Oktober 2020 lag das 101 Seiten umfassende Gutachten vor.

Wer die Berliner Zustände kennt und beginnt, das Gutachten zu lesen, meint, in einer anderen Welt zu leben. Kaum zu fassen, was dort steht – es klingt ja auch wirklich märchenhaft: In Berlin, so die Erkenntnis der Kommission, wird nach den Jahren der Knappheit heute nicht nur mehr Geld in die Bildung gepumpt als überall sonst in Deutschland, nein: Auch verfügt die Stadt »über Ressourcen und Potenziale für die Gestaltung des Schulsystems, die in anderen Ländern nicht im selben Ausmaß vorhanden sind«. Und das beginnt laut Gutachten bereits dort, wo der weitere Verlauf der Schulkarriere maßgeblich angelegt wird: in den Kitas. Berlin habe auch dort »große Erfahrung und besitzt eine vergleichsweise gut ausgebaute institutionelle Infrastruktur für die Betreuung von Kindern unter drei Jahren«. Geradezu vorbildlich ist nach Auffassung der Expertinnen und Experten, was die Stadt in den Kitas zu bieten hat. Demnach gilt Berlin für viele Bundesländer sogar als Referenzmodell.

Auch was die Hochschulausbildung künftiger Erzieherinnen und Erzieher betrifft, sieht die Kommission das Bild eines Bildungsmusterlandes: Die Frühpädagogik spielt hier bereits seit vielen Jahren eine wichtige Rolle, zudem sind wissenschaftliche Forschung und Praxis eng verknüpft. Sogar die Kontrolle erscheint absolut vorbildlich, jedenfalls auf dem Papier: »In Berlin existiert ein gesetzlicher Rahmen zur Qualitätssicherung.« Es gibt interne und externe Evaluationsverfahren, auch hier war Berlin wieder einmal schneller als alle anderen Länder.

Wow … Wer das so liest, reibt sich verwundert die Augen: Meckert Berlin da einfach nur auf sehr hohem Niveau? Haben die Eltern Wahrnehmungsstörungen? Sind die Kita-Beschäftigten und die Lehrkräfte zu faul, oder die Schüler zu doof? Ist die politische Opposition in einem beständigen, destruktivem Wahlkampfmodus? Sind da Berlinhasser am Werk? Werden die Zahlen, Daten und Fakten von Fans Rühmann’scher Feuerzangenpädagogik absichtlich heruntergerechnet und fehlinterpretiert? Ist die Diskrepanz zwischen Schein und Sein das Ergebnis eines Klassenkampfes, der ausgetragen wird auf dem Rücken der Schwächsten? Und, nicht zu vergessen: Machen die Medien in Wahrheit alles nur schlecht?

Das jedenfalls gehörte zur Botschaft von Mark Rackles. Sieben Jahre führte der von vielen geschätzte Staatssekretär die Bildungsverwaltung. Sein Idealbild von Bildung war streng theoretisch, Abweichler waren ihm ein Graus; fast eine Dekade lang war er Sprecher der SPD-Linken in Berlin. Anfang 2019 zog er sich aus dem Amt zurück, »im gegenseitigen Einvernehmen«, wie es hieß – und um zu »verstehen, was ich selbst falsch gemacht habe, woran ich gescheitert bin«, wie er zwei Jahre später in einem Interview sagte.

Bei seinem Abschiedsempfang im Juni 2919 trug Rackles in der Bruno-Taut-Schule zu den Klängen von Wolf Biermanns Lass dich nicht verhärten seine Sicht der Dinge vor und verteilte dazu ein Thesenpapier. Rackles beklagte darin eine zunehmende Empörungskultur und Beschleunigung, dazu Aggressivität, Empathieverlust, Vereinzelung, Entsozialisierung, Populismus, institutionelle Delegitimation, Entwertung von Bildung und soziale Segregation.

Daran ist einiges richtig. Rackles beschrieb auch die Diskrepanz zwischen dem politischen Willen und der Wirklichkeit in der Bildungspolitik. Aber eine Verantwortung für die Probleme, gar eine Schuld daran sah Rackles nicht etwa in einer ideologisch überfrachteten und zugleich überforderten Politik, nein: Schuld waren für ihn die Medien, die Eltern, die Schüler, Ex-Politiker, grundständige Gymnasien, Privatschulen, soziale Netzwerke, TV-Serien und das Internet. Keine Rolle spielten bei seiner Rede dagegen fehlende Lehrer, marode Gebäude oder eine mangelnde Ausstattung. Um die Schulen besser davor zu schützen, zum »Gewächshaus für Empörungsrituale« zu werden, schlug Rackles unter anderem vor, eigene Redaktionen für die Verwaltung aufzubauen, den Pressekodex zu verschärfen, Anfragen von »Skandaljournalisten« zu verschleppen und über alle Schulakteure ein »Mäßigungsgebot« zu verhängen.

Tatsächlich hatte die Verwaltung unter seiner Führung bereits damit begonnen, die Kommunikation besser zu »kontrollieren«, und das bedeutete konkret: eine heilere Welt zu simulieren. So warnte Senatorin Scheeres in einem internen Newsletter die Schulleitungen davor, als »Kronzeugen gegenüber den Medien ihre eigene Schule zur Schrottimmobilie zu erklären«. Das sei eine »Frage des Stils«. Abgesehen von der Frage, dass es »manchmal schon zum Selbstschutz der Schule angezeigt ist, Drehtermine und Presseanfragen an die Pressestelle der Senatsverwaltung zu melden«, gehe es hier um »die Haltung«: Schulleiter sollten »Eltern und Kollegium eine wie immer geartete motivierende Perspektive anbieten, die ihre Schule interessant macht«. Das sei Teil der Führungsverantwortung.

Als Der Tagesspiegel die Schulleiterschelte publik machte, schickte die Senatorin für Bildung und Bruchbuden ein weiteres, etwas kleinlauteres Schreiben als Lesehilfe hinterher: Es habe sich bei ihren Worten nicht etwa um einen »Maulkorberlass« oder eine »Tagesparole der preußischen Verwaltung« gehandelt, sondern nur um einen »Meinungsbeitrag zur bildungspolitischen Positionierung«.

Als Anfang 2018 pünktlich zum ersten Schultag nach den Winterferien die Ergebnisse der Drittklässler-Vergleichsarbeiten (Vera 3) auf dem Pult lagen, zeigte sich, dass an den Berliner Grundschulen mal wieder nichts besser geworden war: 24000 Drittklässler hatten an den Arbeiten teilgenommen, knapp die Hälfte blieb bei der Rechtschreibung unter den Minimalanforderungen, in Mathe schaffte mehr als ein Drittel nicht einmal die einfachsten Aufgaben. Die Reaktion der Bildungssenatorin: Sie beschied, die Ergebnisse nicht mehr zu veröffentlichen – eine Abkehr von der Linie ihres sozialdemokratischen Vorgängers Jürgen Zöllner.

Vermeintliche »Internationale Klassen« entpuppten sich als wohlklingender, aber irreführender Euphemismus: Hier war nicht Papa in der Botschaft und Mama im Businesskostüm, hier saßen ausschließlich Flüchtlingskinder zusammen. Eigentlich hatten die nach dem kurzen Besuch der »Willkommensklassen« in die Regelklassen wechseln sollen. Doch dort gab es für sie gar keinen Platz – Integration fand nur auf dem Wunschzettel der Politik statt. In 16 Schulen wurden solche Klassenverbunde versteckt. Sogar die Koalitionspartner der SPD nannten dieses Vorgehen der überforderten Bildungsverwaltung »Segregation«.

Staatssekretär Rackles selbst wiederum zeigte sich als Meister der organisierten Unzuständigkeit, neben dem beliebten Behörden-Pingpong die Lieblingsbeschäftigung von Politik und Verwaltung in Berlin. So bügelte er naheliegende Fragen des oppositionellen CDU-Politikers Mario Czaja nach der offenkundigen Überlastung von Lehrkräften mit einem gekonnten Griff in den Satzbaukasten ab: »Entsprechende Daten werden statistisch nicht erfasst und liegen daher nicht vor«, »… werden nicht zentral erfasst und liegen daher nicht vor«, »… unterliegt den Schulleitungen«.

Wenn es denn überhaupt Schulleitungen gibt: Jede sechste Schule war 2019 ohne vollständige Leitung, dreißig offene Stellen waren länger als drei Monate unbesetzt. Der Ausnahmefall wurde zum Dauerzustand. Es hatte sich offenbar herumgesprochen, dass die offizielle Aufgabenbeschreibung in den Stellenausschreibungen mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat. Ehrlicherweise müsste dort stehen: Gesucht wird ein/e Facility-Manager/in mit Erfahrungen in Bauleitung, Sanierung, Umzügen, Provisorien und Notfällen aller Art sowie Orientierungsgeschick im Ämterdschungel. Pädagogische Kenntnisse wären schön, sind aber kaum erforderlich.

Das erklärt vielleicht auch, warum die Bildungsverwaltung selbst völlig ungeeignetes Führungspersonal im Amt hält. An einer Marzahner Schule fiel die Leiterin durch massives Missmanagement und fehlende Kommunikationsfähigkeit auf. Eltern, Schüler und auch die Kollegen rebellierten, protestierten und schrieben Beschwerdebriefe an die Senatorin. Dort wurde abgewiegelt: Man möge der Kollegin eine zweite Chance geben, bisher sei sie unauffällig gewesen.

Das war eine Falschauskunft, wie bereits ein Blick in den Inspektionsbericht ihrer Vorgängerschule zeigte, von der sie sogar suspendiert worden war. An der Marzahner Schule wurde es noch schlimmer. Sie sei »unorganisiert«, »unkoordiniert«, »überfordert«, »desinteressiert«, lauteten einige der Beurteilungen und Vorwürfe, die dort erhoben wurden. Für eine Versetzung oder gar Entlassung reicht nichts von alledem, denn das öffentliche Personalrecht schützt Schulleitungen. Um wiederum eine Schule vor einer schlechten Führung schützen zu können, müsste die Schulaufsicht der Bildungsverwaltung ihre Arbeit tun und schwaches Personal schon in der Probezeit identifizieren. Das aber ist nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme in einer Behörde, in der gute Schulaufsichtsbeamte ebenfalls zur Mangelware gehören.

Genau das aber machte die Expertenkommission zur Schulqualität anders, ganz anders. Denn die Bestandsaufnahme der wirklichen Wirklichkeit, nicht der theoretischen, vorgelegt im Herbst 2020, fiel trotz der anfangs lobenden Worte am Ende tatsächlich verheerend aus – zumal vor dem Hintergrund der Möglichkeiten und Voraussetzungen, die so vorbildlich, so märchenhaft klangen. Und erst recht musste die Bilanz eine Politik beschämen, die für sich in Anspruch nahm, sich besonders um die Schwächsten zu kümmern.

Die Kommission stellte in ihrem Gutachten jedenfalls fest, »dass es in Berlin nicht hinreichend gelingt, die Kompetenzen von Kindern in den vorschulischen Bildungseinrichtungen zu fördern und soziale sowie herkunftsbedingte Disparitäten zu reduzieren«. Ein politischer Killer-Satz. Dabei hatte der Senat doch noch 2016 ein Bildungssystem versprochen, »das zur Entkoppelung des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft beiträgt«. Und jetzt das! Stets bemüht sei die Politik, befand die Kommission wohlwollend, aber: »Einer Vielzahl der politischen Maßnahmen zur Weiterentwicklung der Qualität früher Bildung fehlt es an Verbindlichkeit und Effizienz.«

Und es kam Satz für Satz schlimmer. Trotz vorhandener Ressourcen und teilweise beachtlicher Anstrengungen sei es nicht gelungen, die Leistungen der Berliner Schülerinnen und Schüler in Mathematik und Deutsch substanziell zu verbessern. Ebenfalls hatte es die Politik dem Bericht zufolge nicht geschafft, die große Zahl an Schülerinnen und Schüler zu reduzieren, die die Mindest- beziehungsweise Regelstandards in diesen Fächern nicht erreichen. Genau das aber war seit Jahren das erklärte Ziel der Berliner Bildungspolitik, eben daran wollte sich der Senat messen lassen. Was für eine Verschwendung von Möglichkeiten, was für eine verprasste Chance. Und dann räumte die Kommission auch gleich noch eine Verteidigungslinie, ja: einen Selbstbetrug ab: »Diese Schwierigkeiten lassen sich nicht allein darauf zurückführen, dass Berlin als Stadtstaat mit besonderen Herausforderungen konfrontiert ist.« Mit anderen Worten: Die Misere ist selbstverschuldet – und das bei besten Möglichkeiten.

Zwar attestierte die Kommission den Verantwortlichen, einen engagierten Eindruck zu machen. Aber ihre Schulpolitik sei am Ende nicht ausreichend wirksam und fokussiert, sondern oft »von der Ad-hoc-Suche nach Lösungen für aktuelle Problemlagen geprägt«. Was dagegen fehle: »eine zielgerichtete und selbstreflexive Steuerungsstrategie«.

Dass es schlimm kommen würde, hatten die meisten Bildungsexperten und -expertinnen erwartet. Aber so schlimm? Die große Frage lag nun klar auf dem Tisch: Was ist da bloß los? Warum schafft es Berlin nicht, das umzusetzen, was als richtig erkannt wird? Wer kämpft da gegen wen? Liegt es an den Schülerinnen und Schülern, an den Eltern, den Lehrkräften, den Schulleitungen, der Bildungspolitik? Hatte etwa Rudi Carrell recht, und schuld daran ist nur die SPD?

Wer sich auf die Spuren des Berliner Bildungsdesasters macht, stolpert zwangsläufig über die allgegenwärtigen Schlingpflanzen des Berliner Verwaltungsgestrüpps. Wo vier Senatsverwaltungen mit dem Einbau eines Schulklos befasst sind, wo acht Stellen zuständig sind für die Genehmigung eines Kinderflohmarkts, wo vierzehn Behördenstufen vor einem neuen Zebrastreifen zum Schutz von Kindern vor rasenden Elterntaxis liegen, da ist das Schicksal eines großen Bildungsprogramms klar: Es dauert alles doppelt so lange und wird doppelt so teuer – aber es funktioniert einfach nicht.

Andere Dinge werden nicht angefasst, weil sie unbequem sind. So darf jede Lehrkraft an einem beliebigen Tag pro Jahr zusätzlich frei nehmen. Eine sachgerechte Vertretung ist aber kaum möglich, der freie Tag wird damit zu einem weiteren Faktor in der ständigen Zufuhr für die Ausfallstatistik. Die Bildungsverwaltung lässt das seit 2003 zu: als schwachen Ausgleich, weil damals die Arbeitszeit der Lehrkräfte deutlich heraufgesetzt worden war. Mithin handelt es sich um einen Deal zwischen Senat und Gewerkschaft auf Kosten der Berliner Schülerschaft. Ein Deal, der unbefristet ist und sich bereits über vier Legislaturen erstreckt hat. Die fünfte hat begonnen.

Zu solchen faulen Kompromissen kommt bei der Berliner Bildungspolitik pädagogischer, ja ideologischer Trotz: Deutsch schlecht, Mathe mies – aber die Parteilinie wird mit aller Entschlossenheit weiterverfolgt. Nicht einmal die grundlegenden Aufgaben bekommt die Bildungsverwaltung in den Griff, also verlegt man sich darauf, Traumschlösser zu bauen. So sollen künftig alle Schülerinnen und Schüler, deren Erstsprache eine andere als Deutsch ist, »Angebote für ergänzenden Unterricht in ihrer Erstsprache« erhalten. Von wem, wird nicht gesagt. Aber das per Gesetz festgeschriebene Angebot soll »in Kooperation mit dem frühkindlichen Bereich (…) durchgängig bis zum Schulabschluss gestaltet sein«. Und weiter: »Es wird insbesondere von immersiven Sprachlernmethoden sowie von der Möglichkeit, Sachfachunterricht in einer Zweit- beziehungsweise Fremdsprache zu erteilen, Gebrauch gemacht.«

Sicher, das ist gut gemeint. Doch wie soll das gehen? In Berlin gibt es ungefähr 190 verschiedene Herkunftssprachen, aber nicht mal genug Lehrerinnen und Lehrer für die Alphabetisierung im Deutschen. An Schulen, wo es am Nötigsten fehlt – vor allem an qualifizierten Lehrkräften für die Basisfächer –, führt das allenfalls zu bitterer Heiterkeit. Viele von ihnen haben seit Jahren keinen einzigen ausgebildeten neuen Pädagogen dazubekommen. Mark Twain hatte recht: »Ich glaube nicht, dass es irgendetwas auf der ganzen Welt gibt, was man in Berlin nicht lernen könnte – außer der deutschen Sprache!«

Strikt verteidigt die SPD auch ihre pazifistischen Werte. So beschloss die Partei 2019, dass sie die Bundeswehr nicht mehr an Schulen um Nachwuchs werben lassen will. Die Begründung: Die Schüler wären noch anfällig »für militärische Propaganda und Verharmlosung der realen Gefahren eines militärischen Einsatzes«. Parteifreund Thomas Oppermann, damals Fraktionschef der Bundestagsfraktion, schrieb dazu: »Wer so einen Unsinn beschließt, sollte sich selbst von unseren Schulen fernhalten.«

Aber wo immer es geht, zieht der Senat seine Linie durch, koste es, was es wolle. Nach dem alten Fußballermotto »Wenn wir hier schon nicht gewinnen können, treten wir ihnen wenigstens den Rasen kaputt«, versucht die Bildungsverwaltung, ihre weitgehend erfolglose Politik auch dort durchzusetzen, wo mit anderen, der offiziellen Linie entgegengesetzten Mitteln erstaunlich gute Ergebnisse erzielt werden. Das trifft unorthodoxe Eigeninitiativen, das trifft Freie Schulen – und das trifft ambitionierte Schulleitungen, wie folgendes Beispiel zeigt:

Dem neuen Leiter der Friedrich-Bergius-Schule, die als hoffnungsloser Problemfall galt, war es gelungen, ein kleines Wunder zu vollbringen. Bevor er kam, gab es hier eine hohe Quote an Schuldistanz, viel Gewalt und schlechte Noten. Kurzzeitig stand die Schule sogar vor der Schließung. Der neue Schulleiter krempelte alles um. Er führte eine strenge Disziplin ein, ab 7.30 Uhr, mit Unterrichtsbeginn, wurde die Schultür für Zuspätkommer geschlossen, aus Respekt vor den Pünktlichen. Mützen und Handys wurden verboten, bei Verstößen mussten die Schüler den Hof fegen und einiges mehr. Mit anderen Worten: Hier zog ein Schulleiter das exakte Gegenmodell zur modischen Wunschvorstellung des Senats auf – streng und autoritär.

Er schaffte es, seine Schule zu einer übernachgefragten, erfolgreichen Instanz zu entwickeln. Das vermerkten in ihrem Bericht zunächst auch die Schulinspektoren, die im Auftrag der Bildungsverwaltung vorbeischauten: Das Klima: »zu 100% freundlich«. Die Arbeitsatmosphäre: »konzentriert und störungsfrei«, »niemand wird ausgegrenzt«. Die Lernatmosphäre: »angstfrei«. Auch Pünktlichkeit und Wissensvermittlung wurden positiv hervorgehoben. Das Beste kam zum Schluss: »Tatsächlich schaffen hier überdurchschnittlich viele Schüler einen Abschluss« – fast die Hälfte sogar einen MSA mit Gymnasialempfehlung. Also genau das, wonach die SPD-geführte Bildungsverwaltung sich seit langem sehnte.

Aber weil das richtige Ergebnis aus Sicht der von der Schulverwaltung entsandten Inspekteure mit den falschen Mitteln zustande kam, lautete ihre Bilanz: »Schule mit erheblichem Entwicklungsbedarf« – im Klartext: eine Vollkatastrophe. Die Schulinspektion, so wurde mitgeteilt, sähe hier gern mehr »andere Werte« vermittelt, und auch mehr Bürokratie: »Zu wenige Teams, zu wenige Gremien, zu wenig Verschriftlichung schulischer Prozesse«, lautete das vernichtende Urteil. Auch seien andere Schulen ebenfalls erfolgreich, und zwar »auf die richtige Art und Weise«. So wurde eine wirklich erfolgreiche Schule genauso erfolgreich niedergemacht.

Dass die Ideologie einen zu starken Einfluss auf Berlins Schulen hat, sagen selbst der Senatspolitik grundsätzlich wohlgesonnene Experten. Die Bildungsverwaltung steckt voller Ex-Lehrerinnen und -Lehrer – der Senat schätzt ihren Anteil auf achtzig Prozent – und die versuchen, die Pragmatiker an den Schulen auf die reine Lehre einzuschwören; oder sie ihnen im Zweifel überzustülpen.

Der Sozialdemokrat Wilfried Seiring, lange Zeit Leiter des Landesschulamts, hat im Laufe seiner Berufszeit sieben Senatorinnen und Senatoren erlebt und weiß, wie der Klassenkampf an den Schulen verläuft. Rückblickend sagt er: »Die Ideologie hat einen zu starken Einfluss in Berlins Schulpolitik.« Mit Beginn der sozialdemokratischen Ära im Bildungsressort, also seit Mitte der neunziger Jahre, habe der Einfluss der Sozialpädagogen zugenommen, der Leistungsaspekt sei dagegen mehr und mehr in den Hintergrund geraten. »Elite gilt hier schon lange als böses Wort, im Grunde ist es tabu«, bilanziert Seiring. Der Anspruch an die Schülerinnen und Schüler wurde immer stärker relativiert, besonders im Fach Deutsch, wenn es um die Rechtschreibung ging. Die Fehlertoleranz wurde größer, es wurde von den Schülern immer weniger gefordert. Für Seiring war das auch ein Ausdruck mangelnder Achtung den Schülerinnen und Schülern gegenüber. Gesellschaftliche Diskussionen wie nach der »Ruck-Rede« des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, der sich gegen Lähmung, Bürokratismus und für Leistungsbereitschaft ausgesprochen hatte, gingen an der Berliner Schule spurlos vorbei. »Das war eine meiner großen Berufsenttäuschungen«, sagt Seiring.

Anstatt pragmatische Wege zur Verbesserung einzuschlagen, wird weiter eine vermeintliche Gerechtigkeit angestrebt, die in der Konsequenz zur Verschlechterung führt. »Das Mantra, dass keiner lernen darf, was nicht alle lernen können, hat sich wie Mehltau auf die Stadt gelegt«, sagt Sybille Volkholz, Bildungsexpertin und frühere Berliner Schulsenatorin der Grünen, auch wenn sich in den letzten Jahren bei der Begabtenförderung einiges getan habe. So bremsen Sozialneid und missionarischer Eifer diejenigen aus, die es besser machen wollen. Deshalb werden Gymnasien und Freie Schulen bekämpft, selbst dann, wenn sie sich gezielt um die Aufnahme und Förderungen benachteiligter Schülerinnen und Schüler kümmern. Leistung darf sich nicht lohnen – da wiegt die angebliche »Vernachlässigung des Schulprogramms« natürlich schwerer als das Erreichen des Ziels, mehr Schüler als anderswo zu einem Abschluss zu führen.

Anstatt die staatlichen Schulen zu stärken und Fluchtorte wie Freie Schulen oder Ausnahmeschulen dadurch weniger attraktiv erscheinen zu lassen, machte der Senat diesen das Leben schwer. Am liebsten wäre es der regierenden Schulpolitik, es würde die Freien Schulen gar nicht erst geben. Zu dramatisch sind die Unterschiede, und es drängt sich die unangenehme Frage auf: Wenn es dort geht, warum geht es dann nicht überall?

Zum Beispiel die Klassengröße: Viele der Expertinnen und Experten sind der Ansicht, dass der Schulerfolg maßgeblich abhängig ist vom Betreuungsschlüssel, vor allem in Brennpunktgebieten – mit anderen Worten: je kleiner die Klassen, desto größer die Chancen. Aber in der Hauptstadt gilt das offizielle Motto des Senats: »Berlin bleibt anders.« Zeitweise lernen etwa 30.000 Kinder und Jugendliche an Grund- und Sekundarschulen in Klassen mit mehr als 26 Mitschülern – die Anzahl, die Bildungsfachleute für maximal vertretbar halten. Doch Staatssekretärin Beate Stoffers sagt: »Dem Senat sind keine Erkenntnisse bekannt, dass allein eine Verringerung oder Erhöhung der Klassenstärke im Rahmen der geltenden Regelungen die Qualität des Lernens der Schüler/innen einschränkt oder befördert.«

Es ist schon erhellend, was der Senat alles nicht weiß. Noch interessanter ist nur, was der Senat alles zu wissen verlangt. So fragte die Wiener Sigmund-Freud-Universität im Auftrag der Bildungsverwaltung die Berliner Lehrerschaft: »Was ist Ihre sexuelle Orientierung?« Die Pädagoginnen und Pädagogen sollten detailliert Auskunft geben über die Adresse ihrer Schule, ihr Alter, ihre Dienstjahre … ihren Namen brauchten sie da gar nicht mehr anzugeben, den bekommt der Leistungskurs Informatik selbst in Berlin noch vor der kleinen Pause heraus. »Die Teilnahme ist freiwillig, wird aber von der Senatsverwaltung ausdrücklich gewünscht«, hieß es noch. Nicht nur hier wirkt die versprochene Bildungsoffensive etwas … nun ja: orientierungslos.

Die Probleme beginnen in der Kita. Viele Kinder haben den Anschluss schon verloren, wenn sie in die Grundschule kommen, vor allem diejenigen, die eine besondere Sprachförderung brauchen. Denn ausgerechnet der Sprachförderunterricht in den ersten Klassen konnte zuletzt lediglich zu 5,9 Prozent durch ausgebildete Fachkräfte erteilt werden. Und trotz der Millionensummen, die sich das Land die anspruchslose Gebührenfreiheit Jahr für Jahr kosten lässt, besuchen in einigen Bezirken bis zu vierzig Prozent der über Dreijährigen mit Migrationshintergrund gar keine Kita. Oft mangelt es hier allerdings nicht nur am Willen der Eltern, sondern wieder an Kapazität: Im Jahr 2020 hatte die rot-rot-grüne Koalition entschieden, tausende zusätzliche Kitaplätze vorerst nicht zu fördern.

Wie eine Untersuchung zeigte, sind deutschstämmige Familien vom Kitaplatzmangel kaum tangiert. Sie müssen zwar mitunter ebenfalls lange suchen und zur Not mit Klage drohen, finden aber letztlich einen Platz. So weist die Kinderbetreuungsstudie des Deutschen Kinder- und Jugendinstituts für Kinder ohne Migrationshintergrund einen nahezu hundertprozentigen Kitabesuch nach. Berlinweit gehen demnach aber nicht einmal 85 Prozent der mindestens drei Jahre alten Kinder aus migrantischen Familien in die Kita oder zur Tagesmutter.

Zur Wahrheit gehört: Es gäbe für alle auch gar keinen Platz. Schuld daran sind, wen wundert’s, unter anderem bürokratische Hürden. So kappen viele Betreiber die Zahl ihrer Plätze bei 25, weil sie die Auflagen für eine höhere Belegung nicht erfüllen können. Sie wären sonst zum Beispiel verpflichtet, einen eigenen Open-Air-Spielplatz anzulegen, selbst wenn in der Nähe ein öffentlicher ist; das geht aber beim besten Willen vor allem in der engen Innenstadt kaum. Ein paar weitere Beispiele: Eine Mini-Kita in Wedding sollte ein teures Behinderten-WC einbauen, obwohl die Klos im Hochparterre liegen und nur per Treppe erreichbar sind; andere Kitas scheitern aus Platzgründen an der Auflage, einen WC-Vorraum anzubieten, und ohne eigene Dusche für den Koch geht auch nichts. Da verzichten manche lieber gleich auf eine Kita-Gründung, zu Lasten der Eltern, die können sich dafür Seite 69 des Koalitionsvertrags von 2016 ins Kinderzimmer kleben: »Die Koalition wird zudem die Kitas ausbauen und deren Qualität sowie das Angebot verbessern durch die Senkung des Kita-Leitungsschlüssels und einen Rechtsanspruch auf eine siebenstündige Unterbringung.«