Knäcketod - Björn Berenz - E-Book
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Knäcketod E-Book

Björn Berenz

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Beschreibung

Schöner morden in Schweden – eine Leiche im Knäckebrotteig kann einem schon mal den Appetit verderben ... Auftakt einer neuen Krimireihe mit Senioren!

Eigentlich möchte Ina in Schweden einen geruhsamen Lebensabend genießen. Tiefblaue Seen, endlose Wälder und tiefenentspannte Mitmenschen, dazu noch den richtigen Mann an ihrer Seite – was könnte es Schöneres geben? Doch bei ihrer Ankunft auf dem Tingsmålahof zerplatzen ihre Träume schneller, als man »dumm gelaufen« auf Schwedisch sagen kann. Statt ihres Geliebten Viggo empfängt sie nämlich seine Witwe Agneta und ein paar andere rüstige Senioren. Schlimmer noch: Plötzlich steigt die Rate verdächtiger Todesfälle in der Gegend sprunghaft an, und Ina bleibt nichts anderes übrig, als selbst zu ermitteln. Zum Glück kennt sie sich als Buchhändlerin bestens mit skandinavischen Krimis aus. Kein noch so raffinierter Mord kann sie erschüttern ...

Mordsspaß in Schweden: die neue Cosy-Crime-Reihe um eine Hobbydetektivin in den allerbesten Jahren - mit Schwedisch-Vokabeln für Anfänger*innen

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Buch

Eigentlich möchte Ina in Schweden einen geruhsamen Lebensabend genießen. Tiefblaue Seen, endlose Wälder und tiefenentspannte Mitmenschen, dazu noch den richtigen Mann an ihrer Seite – was könnte es Schöneres geben? Doch bei ihrer Ankunft auf dem Tingsmålahof zerplatzen ihre Träume schneller, als man »dumm gelaufen« auf Schwedisch sagen kann. Statt ihres Geliebten Viggo empfängt sie nämlich seine Witwe Agneta und ein paar andere rüstige Senioren. Schlimmer noch: Plötzlich steigt die Rate verdächtiger Todesfälle in der Gegend sprunghaft an, und Ina bleibt nichts anderes übrig, als selbst zu ermitteln. Zum Glück kennt sie sich als Buchhändlerin bestens mit skandinavischen Krimis aus. Kein noch so raffinierter Mord kann sie erschüttern …

Autor

Björn Berenz ist Jahrgang 1977 und gebürtiger Koblenzer. Als Redakteur war er jahrelang in einem süddeutschen Verlag tätig. Schon in Zeiten seiner hauptberuflichen Verlagslaufbahn hat er mit dem Schreiben von Geschichten begonnen und seitdem viele Romane und Hörspiele in den unterschiedlichsten Genres veröffentlicht. Seine Wurzeln als Bäckerssohn, eine eigensinnige Mutter und eine Autopanne, die ihn bei einem ausgedehnten Schwedentrip auf einem von Senioren geführten Aussiedlerhof stranden ließ, brachten ihn schließlich auf die Idee zu seinem ersten Schwedenkrimi »Knäcketod«. Björn Berenz lebt als freier Autor mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in der Vulkaneifel.

BJÖRN BERENZ

KNÄCKE

TOD

KRIMINALROMAN

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Copyright © 2023 by Blanvalet

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung: Patrizia di Stefano, Berlin

Umschlagmotiv: © Patrizia Di Stefano unter Verwendung von Motiven

von Shutterstock.com (mspoint; Ilya Bolotov; MMShopArt)

BSt · Herstellung: sam

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-29908-8V001

www.blanvalet.de

PROLOG

»Waschbären!«, brummte es düster durch den Vorgarten. »Das sind diese verdammten Waschbären!«

Ina traf es wie der Schlag, als sie die Tür ihrer Ferienwohnung öffnete und Svante sah, der gerade das Gartentörchen aufzog, nichts weiter tragend als eine karierte Schlafanzughose. Trotz des Schreckmoments schenkte sie ihm einen zweiten Blick. Vielleicht waren es auch drei oder vier, bis sie die ausgestreckte Hand bemerkte, die eine Axt umklammert hielt. Zeus schoss schwanzwedelnd durch den Türspalt an ihr vorbei und begrüßte den Mann mit einem Kläffen, während er unentwegt an ihm hochsprang.

Ina ließ ihn gewähren und rieb sich die stechenden Schmerzen aus den Schläfen. Der Moltebeerschnaps hatte ihr Hirn zu sehr vernebelt, als dass sie sich in Sachen Hundeerziehung hätte üben wollen.

»Was machst du hier?« Eigentlich wollte sie das nicht fragen, schließlich gingen sie Svantes nächtliche Ausflüge überhaupt nichts an. Dennoch … So ein bisschen war das nun auch ihr Garten.

»Das ist meine Sache«, erwiderte Svante ruppig. Er zischte ein knurriges »Sittplats!«, worauf Zeus sich auf die Hinterbeine setzte und den Mann mit der Axt erwartungsfroh anhechelte. Der Hund hatte einen echten Narren an dem Eigenbrötler gefressen.

Ina trat nun ebenfalls in den Garten und hörte es neben sich rumpeln und poltern, gefolgt von einem wüsten Fluch, dessen Sinn sie nicht ganz verstand.

Das Geschimpfe kam aus dem Haupthaus, mit dem ihr kleiner Holzbungalow sich den Garten teilte. Unmittelbar darauf wurde die weiß getünchte Haustür mit einem lauten Scheppern aufgestoßen, und zwei Gestalten huschten über die Veranda. Erstere war Ebba, wie Ina anhand des Gehstocks im Schein des Mondlichts erkannte. Sie trug ein ausgewaschenes Nachthemd mit Bommelmütze. Die zweite war Agneta – in einem Negligé, das mehr offenbarte als verbarg.

»Habt ihr das auch gehört?«, fragte Ebba, was verwunderlich war. Die Frau war über neunzig und hörte sonst kaum noch etwas.

»Waschbären!«, schrie Svante ihr entgegen.

»Du musst nicht so schreien, ich bin nicht taub!«

»Waschbären veranstalten nicht solch einen Lärm«, entschied Agneta über die beiden hinweg.

Ina fand, dass sie ungewöhnlich besorgt aussah. Sie dachte an die Geräusche zurück, die sie so harsch aus dem Reich der Träume gerissen hatten. Dabei war es solch ein schöner Traum gewesen. Sie hatte vor dem Regal einer riesigen Buchhandlung gestanden, in der all ihre Lieblingsthriller-Autoren mit ihren Werken chronologisch geordnet waren. Ihre Hand hatte sich wie von allein ausgestreckt, weil sie in den Buchreihen den noch gar nicht erschienenen neuen Band ihres absoluten Lieblingsautors entdeckt hatte. Liebevoll hatte ihre Traumhand über den Buchrücken gestrichen, den Zeigefinger auf die Kante gelegt, um das Buch nach vorne zu kippen, damit sie es aus dem Regal ziehen konnte. Doch dann war da ebendieses Geräusch im Hintergrund gewesen, das sich zunehmend nach vorn gedrängt hatte. Und mit einem Mal hatte Ina kerzengerade im Bett gesessen und in die Dunkelheit ihres Schlafzimmers gelauscht. Es war ein konzentriertes Lauschen gewesen, mit zusammengekniffenen Augen, als würde sie dadurch besser hören. Eine Weile war es still geblieben, und sie hatte geglaubt, dass der Lärm ein Konstrukt ihrer Träume sei. Aber dann hatte es mit einem Mal einen unfassbar lauten Knall gegeben, der ihr das Herz gegen die Brust gedrückt hatte. Nein, eine Einbildung war das ganz und gar nicht.

Mit verschränkten Armen trat Agneta an ihr vorbei und schüttelte den Kopf. »Unsinn, hier gibt es doch gar keine Waschbären.«

»Waas?!«, Ebba fasste sich ans Ohr und drehte sich aufmerksam in die Richtung ihrer Schwiegertochter, die sich augenrollend eine Strähne aus der Stirn blies. Ihre Füße steckten in Filzpantoffeln, die einen äußerst interessanten Kontrast zum fliederfarbenen Nachthemd darstellten. Ein wenig unverschämt war das schon, dass sich unter dem seidig glatten Stoff keine nennenswerten Hautdellen abzeichneten.

»Natürlich gibt es hier Waschbären«, merkte Svante an. »Diese Biester sind einfach überall. Nicht mehr lange, und sie werden die Herrschaft über Schweden erlangen.« Er hob den Arm mit der Axt. »Wenn wir ihnen nicht endlich Einhalt gebieten.«

Ina wusste nicht, ob sein Zorn gespielt war oder nicht. Sie mochte Waschbären.

Fragend sah sie die drei Gestalten an. Ebba, ein herzhaftes Gähnen im Gesicht. Agneta in ihrem Nichts aus Seide. Und Svante. Mit einem bemerkenswert athletischen Oberkörper, der hier überhaupt nichts zu suchen hatte. Svante. Nicht der Oberkörper. Seine Blockhütte stand immerhin direkt am Wald, mehrere Hundert Meter vom Haupthaus entfernt. Und doch war er hier. Sie sah Agneta aufmerksam an, die jedoch ebenso aufmerksam an ihr vorbeischaute.

Ein ungewöhnlich frischer Windstoß fegte durch den Vorgarten. Ina schlang sich den Kimono enger um die Hüften.

»Das Geräusch kam aus der Backstube«, gab Agneta murmelnd von sich. Ihrer Stimme war das Frösteln anzuhören.

»Du solltest dir was überwerfen«, schlug Ina vor. »Sonst holst du dir noch den Tod hier draußen.«

»Wer liegt tot hier draußen?«, fragte Ebba schockiert.

Agneta schnaufte, schien aber nicht im Traum daran zu denken, Inas Vorschlag in die Tat umzusetzen. Schnurstracks marschierte sie in Richtung Backstube. »Bestimmt ist es Nils. Er wollte doch das Knäckebrot backen.«

Ebba warf einen Blick auf die Uhr am Handgelenk, schien aber die Ziffern nicht ablesen zu können. Sie blickte mit zusammengezogenen Brauen zum Mond, der sich blass am heller werdenden Himmel abzeichnete, als könnte sie anhand seines Standes die Zeit einschätzen. »Der Knäckebrotteig muss eine Weile ruhen«, gab sie dann von sich. »Demnach dürfte Nils sich noch eine Runde aufs Ohr gehauen haben, bevor er mit dem Backen anfängt.«

»Außerdem brennt dort kein Licht«, sagte Svante in einem Tonfall, als wäre er Sherlock Holmes.

Agneta ging unbeirrt ihres Weges, überquerte den Schotterweg und hielt auf die Backstube zu.

Svante folgte ihr mit der Axt in der Hand. Zeus eilte kläffend hinterher. Ebba und Ina warfen sich einen kurzen Blick zu und schlossen zu dem Dreiergespann auf. Beim Gehen bückte sich Ina nach vorn, um sich den Knöchel zu kratzen. War das denn die Möglichkeit! Da hatte sie tatsächlich ein Mückenrüssel durch die dicken Socken hindurch erwischt.

»Das ist ein ziemlicher Aufwand für ein Rudel Waschbären«, stellte sie, weiter kratzend, fest, obwohl sie wusste, dass es dadurch nur noch schlimmer wurde.

»Wer hat von einem Rudel gesprochen?« Die Runzeln auf Svantes Stirn vertieften sich, während er den Kopf zu ihr drehte und sie ernst ansah.

»Ich weiß nicht.« Ina zuckte mit den Schultern. »Leben Waschbären denn nicht in Rudeln?«

Seine Miene wurde noch düsterer, während seine Hand die Axt fester umgriff.

Agneta hingegen tat das, was sie in dieser Nacht am besten konnte. Sie schnaufte. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Waschbären Einzelgänger sind.«

Mit dieser Aussage erntete sie fragende Blicke, als das ungleiche Rudel vor der Hintertür zur Backstube zum Stehen kam.

»Und wenn es gar kein Waschbär ist?«, fragte Ebba leise über das Zirpen der Grillen hinweg. »Sondern ein richtiger Bär?«

Zeus bellte. Genau ein Mal. Dann begann er zu winseln.

»Ein Bär?«, fragte Ina mit einem verhaltenen Lachen. »Aber … das ist ja …« Sie ließ den Satz unvollendet, weil sie selbst nicht so genau wusste, was es war. Zum Lachen war es anscheinend nicht, wie ihr ein Blick in die Gesichter der anderen sagte. Also räusperte sie sich umständlich. »Ich meine … gibt es hier denn Bären?«

Ihr Blick huschte in Richtung des angrenzenden Waldes, über dessen Tannenwipfeln ein Lichtstreifen auftauchte. Diese skandinavischen Sommernächte waren gewöhnungsbedürftig.

»Wir sind in Schweden«, erinnerte Svante sie. Und das war für ihn allem Anschein nach Antwort genug. Er packte den Stil der Axt mit beiden Händen und nickte Agneta zu, die die Türklinke zur Backstube herunterdrückte.

Als sie nach und nach eintraten, stiegen Ina ein süßlicher Geruch von Kardamom und die herbe Bitterkeit von Hefe in die Nase. Das brachte sie auf eine Idee. Wenn es ein Bär war, war er vielleicht aus gutem Grund eingebrochen.

»Gibt es hier nicht auch Honig?«, flüsterte sie, nach vorn gerichtet.

»Jede Menge davon«, bestätigte Ebba ebenso flüsternd. »Für unsere Haferplätzchen.«

Ina war überrascht, dass Ebba sie verstanden hatte. Ihr Gehör war die reinste Wundertüte. Mal bemerkte sie nicht mal einen Düsenflieger, der direkt über ihr die Schallmauer durchbrach, mal hörte sie das Gras wachsen. Wobei es mit ihrem eigenen Gehör auch nicht mehr zum Besten stand. Früher hatte sie ihre einstige Nachbarin Renate bereits beim Treppensteigen gehört. Doch seit einiger Zeit war sie immer öfter erschrocken aufgezuckt, wenn die Tür der Nachbarwohnung scheinbar wie aus dem Nichts ins Schloss gefallen war. Dabei war sie doch gerade erst Mitte sechzig und damit viel zu jung, um sich mit unangenehmen Themen wie einem Hörgerät auseinanderzusetzen.

»Wo ist der Lichtschalter?«, fragte Ina weiter.

»Pssst!«, zischte es direkt vor ihr.

Also schwieg Ina und trottete dem Trupp im Gänsemarsch hinterher. Für sie war die Vorstellung, auf einen Honig stibitzenden Bären zu treffen, schlichtweg unvorstellbar. Aber was wusste sie schon vom Leben am Rande der wilden Natur. Zeit ihres Lebens war sie Großstädterin gewesen. Das Gefährlichste, was einem dort am frühen Morgen begegnen konnte, waren die besoffenen Gestalten, die die Nacht aus den Clubs und Bars ausspuckte, und kein menschenfressendes Tier. Doch mit zunehmendem Alter machten ihr diese Menschen immer mehr Angst, was vielleicht ein wenig paranoid war. Früher als junges Ding hatte sie nie einen Gedanken daran verschwendet, wenn sie des Nachts unbekümmert durch die Straßen Berlins gestreift war. Nun aber ertappte sie sich immer öfter dabei, dass sie in manch zwielichtiger Person einen Triebtäter vermutete, der es auf sie abgesehen haben könnte. Dabei hätte es ein Triebtäter ja vermutlich wesentlich mehr auf sie abgesehen, als sie noch besagtes junges Ding gewesen war. Wie auch immer …

»Würde man einen Bären denn nicht riechen?«, fragte sie, wieder nach vorne gewandt, erntete aber nur ein weiteres »Pssst!« Allmählich wurde ihr die Sache zu bunt. »Hallo?«, rief sie in die Dunkelheit der Backstube. »Bär? Steckst du hier irgendwo?«

»Ina! Bitte!« Svante war so abrupt stehen geblieben, dass erst Agneta und dann Ebba in ihn hineinliefen und der Marsch zum Stehen kam. Ebba tastete die Wand ab, bis sie den Schalter fand und das Licht anknipste. Bloß, dass nichts geschah.

»Das Licht funktioniert nicht«, stellte sie fachmännisch fest.

Svante trat zu ihr und legte den Schalter ein weiteres Mal um. Noch nicht ganz vom Ergebnis überzeugt, versuchte er es einige weitere Male.

»Tatsächlich«, sagte er schließlich. »Er funktioniert nicht.«

»Ein Stromausfall?«, fragte Agneta.

Zur Antwort schoss ein einzelner Lichtstrahl auf sie zu und blieb an der Wand haften, direkt auf dem Schalter.

»Was denn?«, gab Ebba fragend von sich. »Bin ich etwa die Einzige, die daran gedacht hat, eine Taschenlampe mitzunehmen?« Sie atmete hörbar aus – ein Laut wie das Rauschen eines im Wind flatternden Gardinenvorhangs. »Habt ihr wenigstens eure Handys dabei, falls wir die Polizei rufen müssen? Immerhin könnten wir einen Einbrecher auf frischer Tat ertappen.«

Ihre Frage rief betretenes Schweigen hervor.

Mit einem »Das war ja klar« zog sie ihr Mobiltelefon aus den Untiefen ihres Nachthemds und hielt es präsentierend in die Höhe.

Im grellrunden Schein des Lampenlichts wirkte die Backstube ungewöhnlich nüchtern und kalt. Inas Blick raste durch den mit Gerätschaften vollgestellten Raum, dann atmete sie erleichtert aus. »Kein Braunbär.«

Svante hob derweil den Blick und schien die obersten Regalreihen zu inspizieren. »Dann doch Waschbären.«

Inas erleichtertem Ausatmen folgte ein Einatmen und darauf ein keuchendes Husten. Es kratzte in ihrem Hals, und augenblicklich wurde ihr Mund trocken. Nun fiel ihr auf, dass im Lichtkegel feinste Mehlpartikel umhertanzten. In der Tat hing ein pulvriger Nebel in der gesamten Backstube und machte ihr das Atmen schwer.

Ihr Blick richtete sich auf den Boden, der übersät war mit Mehl. Den Grund dafür erkannte sie sogleich. Einer der Mehlsäcke, die in der Ecke gestapelt waren, lag aufgerissen auf dem Boden.

»Was ist hier nur passiert?« Svante ging in die Hocke und zog einen Finger durch die Mehlspur. Ebba leuchtete ihm, und er sah sich seinen Finger genauer an. Prüfend zerrieb er das Mehl zwischen Daumen und Zeigefinger. Dabei legte sich wieder seine hohe Stirn in Falten. Auf Ina machte er den Eindruck eines Fährtenlesers. Überhaupt gab der Mann ein imposantes Erscheinungsbild ab, wie er so dahockte, in seiner Schlafanzughose und mit nacktem Oberkörper, der zeigte, dass er sein Leben lang Sport getrieben hatte. Sie jedenfalls hätte den Teufel getan und sich den anderen halb nackt präsentiert. Schon gar nicht in diesem schonungslos grellen Licht der Taschenlampe.

»Und?«, fragte sie. Etwas umschwirrte sie schrill summend, landete auf ihrem Nacken. Mit einem beherzten Klatscher hatte es sich für immer ausgesummt.

»Mehl«, sagte Svante.

»Vielleicht sind wir in eine Waschbärparty geplatzt«, versuchte Agneta die Situation aufzulockern. Dabei war sie jedoch kaum zu verstehen, weil ihre Zähne so sehr klapperten.

»Wohl eher nicht«, gab Svante zögerlich zurück. Er nickte in Richtung eines umgefallenen Regals, auf dem sie erst gestern noch die Kanelbullar zum Auskühlen gestapelt hatten. Die kleinen Hefeschnecken waren nun kreuz und quer in der Backstube verteilt. Rundum lag der Hagelzucker auf dem Boden, was bei jedem Schritt ein Knirschen nach sich zog, als stapfte man im Winter über einen frisch gestreuten Weg.

»Das war wohl eher eine Waschbär-Stampede«, schlussfolgerte Ina, der das alles mächtig spanisch vorkam. Auf jeden Fall erklärte sich mit dem Anblick des umgestürzten Regals der Lärm, der sie aus dem Traum gerissen hatte.

Zeus drückte sich an ihr Bein und hob die Nase, witterte.

Irgendetwas stimmte hier nicht. Mit vorsichtigen Schritten glitt sie über den mit Mehl und Zucker besprenkelten Fliesenboden und atmete flach durch die Nase, um nicht zu viel von den Partikeln einzuatmen, die in der Luft herumschwirrten. Dank ihrer Pollenallergie litt sie ohnehin schon unter einer viel zu empfindlichen Nasenschleimhaut.

Zeus gab ein nervöses Fiepen von sich.

Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.

Behutsam trat sie um das umgestürzte Regal herum und stapfte versehentlich in eines der auf dem Boden liegenden Hefeteilchen, das unter ihren Füßen zermatschte.

Jählings sauste der Hund an ihr vorbei und bog als Erstes um die Ecke. Mit einem Mal bellte er wüst. Ina erstarrte, riss sich dann aber aus der Bewegungslosigkeit. Rasch wandte sie den Kopf nach hinten, wo sie Svantes Blick einfing, der wieder die Axt erhoben hatte und angestrengt die Richtung fixierte, aus der das Hundegebell kam. Wenn es einen Einbrecher gab, standen die Chancen gut, dass Zeus ihn gerade gestellt hatte. Diese Erkenntnis erfüllte Ina mit einer gewissen Portion Stolz. Sie fasste sich ein Herz und bog um die Ecke. Dort sah sie ihren kleinen Mischlingsterrier, der mit ausgestreckten Vorderläufen vor einem Rührbottich stand und diesen wütend anbellte. Der Hund war überhaupt nicht mehr zu beruhigen. Doch da war kein Einbrecher. Weder in Gestalt eines Bären noch eines Menschen, der sich mit den frisch gebackenen Teigwaren aus dem Staub machen wollte.

Warum genau der Hund bellte, erkannte sie erst auf den zweiten Blick. Es war solch ein schräges Bild, dass ihr Gehirn noch einige Blicke mehr brauchte, um es zu erfassen.

Dieser verfluchte Moltebeerschnaps!

Ebba war weitaus schneller mit den Tatsachen beisammen. »Grundgütiger«, fuhr es holprig aus ihr heraus, als sie zu Ina aufgeschlossen hatte. »Sind das etwa Beine, die aus dem Rührbottich ragen?«

Ina gab ein ersticktes Krächzen von sich. Fassungslos sah sie dabei zu, wie Svante an ihr vorbeitrat und den Kopf nach unten in den Bottich senkte.

»Grundgütiger«, sagte auch er.

Hinter sich hörte Ina, wie Agneta erschrocken nach Luft japste.

Ina starrte die Beine an, die weit nach oben ragten und jemandem gehörten, der eine dunkle Stoffhose und Budapester trug. Sowohl Hose als auch Schuhe waren vollkommen mit Mehl und Teig beschmiert. Dennoch kannte sie diese Schuhe. Und damit wohl auch den dazugehörigen Mann.

Agneta fasste sich an den Hals. »Ist er …?« Weiter kam sie nicht. Dafür schluckte sie hörbar, als Svante meinte:

»Ist er.«

Ina spürte Ebbas Blick auf sich ruhen. Als sie den Kopf in ihre Richtung drehte, erkannte sie deren mahnende Miene.

»Ehrlich, Ina. Kaum bist du hier, haben wir nichts als Probleme!«

»Und Tote«, fügte Svante hinzu, der die Axt ablegte und mit den Händen in den Bottich abtauchte.

Die alte Frau sah ihm unbewegt dabei zu. »Und Tote«, wiederholte sie und ließ ein tiefes Seufzen folgen.

Zeus bellte zustimmend.

Dieser miese Verräter!

Schwedisch für Anfänger – Teil 1

– Mångata

Da könnte man glatt neidisch werden, denn die Schweden haben ein eigenes Wort für die Spiegelung des Mondes auf der Oberfläche eines ruhigen Gewässers.

KAPITEL 1

Einige Tage zuvor

»Sag mir, wie fühlt sich das Sterben an?«

Dü-Dü-Dü!

Vielleicht hätte sie ihm sogar geantwortet, wäre da nicht all das Blut gewesen. Auf dem Boden, an den Wänden. Ihr Blut.

Doch Debby war nicht tot. Noch nicht. Ein letzter Funke Leben loderte in ihr …

Dü-Dü Dü-Dü-Dü-Dü!

»Warum jetzt! Herrgott?!« Wutentbrannt schlug Ina das Buch zu und nestelte in der Handtasche nach dem klingelnden Mobiltelefon. Sie musste eine ganze Weile suchen, weil ihre Tasche voll wie nie zuvor war. Beim Wühlen fluchte sie wie ein Rohrspatz. Gut nur, dass sie und Zeus das Abteil für sich allein hatten. Als sie das Telefon endlich hinter einer Packung ihrer Lieblingslutschpastillen hervorgenestelt hatte und die eingehende Nummer sah, drückte sie den Anrufer weg. »Oh, nein«, sagte sie entschlossen zu sich selbst. »Du störst mich nicht mehr!« Die Entschlossenheit brach jedoch wie ein Kartenhaus in sich zusammen, als sie feststellte, dass das Display nicht das anzeigte, was es anzeigen sollte. Im Eifer des Gefechts hatte sie offenbar die falsche Taste gedrückt und das Gespräch nicht abgelehnt, sondern angenommen.

»Hallo?«, drang eine blecherne Stimme aus den winzigen Öffnungen des Lautsprechers.

Verflixt! Ina stöhnte lautlos vor sich hin. Blöd aber auch, dass sie sich eigens für ihre Reise ein nigelnagelneues Handy gegönnt hatte und sich mit der Bedienung schwertat.

»Hallo? Christina? Hörst du mich!?«

Mit einem unterdrückten Seufzer hielt sie sich den Hörer ans Ohr.

»Renate«, säuselte sie in liebreizendem Tonfall, von dem sie sich selbst fragte, wo sie ihn auf die Schnelle hergezaubert hatte. Dabei hatte sie sich doch fest vorgenommen, diese Heuchelei abzulegen.

Nun ja, alte Gewohnheiten eben.

»Habe ich den Zettel an deiner Haustür richtig interpretiert, Christina?« Die Stimme ihrer Nachbarin wühlte sich voller Vorwurf durch den Hörer. Sie war die einzige Person auf dieser Welt, die Ina bei vollem Namen nannte.

»Nun, das hängt davon ab, wie du ihn interpretiert hast.«

»Na, dass du dich klammheimlich aus dem Staub gemacht hast, ohne dich von mir zu verabschieden …«

»Dann hast du das vollkommen richtig erkannt.«

Stille stahl sich in die Leitung, gefolgt von einem schweren Seufzen. Schließlich: »Das ist äußerst beunruhigend.«

Ina war es schnuppe, was ihre Nachbarin beruhigte und was nicht. Vielleicht war es nicht die feine Art, sich einfach so davonzuschleichen. Aber sie war nichts und niemandem Rechenschaft schuldig. Schon gar nicht ihrer Nachbarin. Außerdem verabscheute sie Abschiede.

»Ich meine … solch ein Risiko auf sich zu nehmen. In deinem Alter!«

»Was ist denn mit meinem Alter nicht in Ordnung?«, fragte Ina, vielleicht ein wenig zu scharf im Tonfall.

»Nun ja«, hörte sie Renates Stimme nach einigem Zögern. »Wir sind schließlich nicht mehr die Jüngsten.«

»Wir?« Ina unterdrückte ein Aufschnaufen, denn soweit sie wusste, war ihre Exnachbarin ganze sechs Jahre älter als sie. Und damit gehörte sie beinahe einer vollkommen anderen Generation an. Der direkten Nachkriegsgeneration sozusagen. Als Ina geboren worden war, hatte Renate immerhin schon die Schule besucht.

Sie klappte das Buch zu, das sie bereits zu drei Vierteln fertig hatte. Ganze vier Jahre lang hatte sie warten müssen, bis sich der Autor dazu erbarmt hatte, es zu schreiben. Es war das große Finale einer Reihe, die sie seit dreizehn Bänden verfolgte. In diesem Band ging es um eine an Gedächtnisverlust leidende Buchhändlerin, die von dem Serienkiller Harvey Buckett heimgesucht wurde, der eine Rechnung aus der Vergangenheit begleichen wollte. Nun endlich würde der Leser erkennen, worum es sich dabei handelte. Welch abtrünniges Geheimnis verband die beiden, dass er ihre gesamte Familie ausgelöscht hatte? Ihren Mann. Ihre Kinder. Sogar den geliebten Chihuahua. Auf den nächsten zweihundert Seiten würde Ina es erfahren. Früher oder später.

»Dabei habe ich dir doch noch so viel zu erzählen, Ina!«

Wohl eher später, wenn das Gespräch mit Renate länger dauern sollte. Mit rollenden Augen blickte sie aus dem Fenster, an dem die Landschaft vorbeizog. Schwermütig verstaute sie das Buch in der vollen Handtasche. Sie verstand selbst nicht richtig, warum sie diese Buchreihe anzog. Sie war nicht sonderlich erfolgreich und hatte nur deshalb einen Platz im Bestseller-Regal gefunden, weil Ina ihn freigeräumt hatte, damit die Serie zumindest in ihrer Buchhandlung ihre Leser fand. Ob es daran lag, dass die Hauptfigur wie sie selbst Buchhändlerin war?

»Dabei hätte ich dich so gerne noch getroffen und gewusst, wie es dir geht«, mischte Renates quakende Stimme sich in ihre Gedanken.

»Gut geht’s mir.« Ina horchte in sich hinein, während sie das sagte. Das war nicht einmal gelogen. Erstaunlich gut ging es ihr. Und das verwunderte sie doch ein wenig. Eigentlich sollte ihr Herz schwer sein. Immerhin hatte sie gerade ihr gewohntes Leben aufgegeben, all ihr Hab und Gut in einer Mietgarage eingelagert und den Laden, der ihr wirklich etwas bedeutete, an eine große Buchhandlungskette verkauft. Doch das Einzige, was sie verspürte, war das aufregende Gefühl von Freiheit. Und vielleicht noch den stürmischen Duft des Neuanfangs, der ihr um die Nase wehte.

»Ich störe dich doch nicht etwa bei etwas Wichtigem?«, fragte Renate unwillkürlich und klang dabei tatsächlich so, als sorgte sie sich darum. Das war eine absolute Heuchelei. Denn wenn ein Mensch auf diesem Planeten zuletzt bemerkte, dass er störte, dann war es ihre Exnachbarin.

»Nun, ich sitze im Zug und lese«, erwiderte Ina, ohne damit die Frage wirklich zu beantworten. Gedankenlos zog sie eine Strähne nach vorn und betrachtete ihr honigbraunes Haar, das mal wieder eine Tönungsauffrischung vertragen könnte. Vielleicht sollte sie es mal mit Nussbraun versuchen.

»Wieder einen deiner blutrünstigen Friller?«, fragte Renate in einem Ton, dem man die gerümpfte Nase förmlich anhörte.

»Es heißt Thriller.«

»Hab ich doch gesagt!« Renate schnappte, nun ja, eingeschnappt nach Luft. »Friller!«

Ina brummte ein kaum hörbares Om vor sich hin und übte sich in der Gelassenheit einer Zen-Meisterin.

»Überhaupt ist das eine Schnapsidee.«

Ihr Hund Zeus sprang mit einem Satz auf ihren Schoß und machte es sich dort bequem, als wäre er eine Katze.

»Was genau?« Sie klemmte sich den Hörer zwischen Nacken und Ohr, um eine halbwegs bequeme Position einzunehmen, was Zeus überhaupt nicht gefiel. Dabei waren sie nach wie vor ganz alleine im Abteil, ihr Hund hatte also freie Sitzwahl. Aber nein, er musste es sich ausgerechnet auf ihr gemütlich machen.

»Na, eben alles.« Renate schnaufte angestrengt in den Hörer. »Dass du alles aufgibst, was du dir aufgebaut hast.«

Ina zuckte unbekümmert mit den Schultern, sagte aber nichts dazu.

»Und nun geht alles weg.«

»Unsinn. Nur ich bin weggegangen.« Sie lachte befreit vor sich hin. »Das Bücherwürmchen wird ebenso bleiben wie deine Nachbarwohnung. Bloß eben mit neuen Besitzern.«

»Trotzdem«, sagte Renate und klang sogar trotzig. »Wenn eine Kette den Laden betreibt, ist es nicht mehr dasselbe.«

»Du liest doch gar nicht.«

»Aber ich könnte.« Ein wüstes Schnauben drang durchs Telefon. Vor ihrem geistigen Auge sah Ina, wie sich Renates Nasenlöcher blähten. »Doch jetzt nicht mehr. Mein Geld bekommen die großen Ketten nicht.«

Ina unterdrückte ein Keuchen, denn sie hatte das Geld ihrer Nachbarin auch nicht bekommen.

Dennoch. Das Gesagte beschäftigte Ina tatsächlich. Bereute sie nicht doch ein klitzekleines bisschen den Entschluss, ihren Buchladen an einen der Großen verkauft zu haben? Wobei er so klein gar nicht war. Immerhin hatte das Bücherwürmchen eine Verkaufsfläche von einhundertvierzig Quadratmetern. Eine Fläche, die früher einmal ihre ganze Welt bedeutet hatte. Aber das hatte ihr Exmann auch getan – und den auf den Mond geschossen zu haben hatte sie noch nie bereut. Nicht eine einzige Sekunde. Ohne Unglück gibt es kein Glück – das hatte ihre Mutter ihr schon beigebracht.

»Ohne dich wird es nicht mehr dasselbe sein«, bemerkte Renate.

Ina sah das Telefon schweigend an. Sie empfand nicht so. Schließlich nahm sie sich selbst in ihr neues Leben mit. Und Zeus!

»Und überhaupt … bist du nicht zu alt für einen Neuanfang?«

Diese Frage traf Ina. Nicht, weil Renate schon wieder die Alterskarte ausspielte. Nein, vielmehr weil das genau die Frage war, die sie sich selbst so oft in den letzten Wochen gestellt hatte. War sie zu alt für einen Neubeginn?

»Und das bloß wegen einer SMS«, stichelte Renate weiter.

Ina seufzte leise. Sie hätte ihr nie davon erzählen dürfen.

»Ich meine, du bist doch kein Teenager mehr. Wegen einiger verliebter Textnachrichten alles stehen und liegen zu lassen.«

Nun schnappte Ina nach Luft, entschieden und empört zugleich. Schließlich war sie keine der Frührentnerinnen, die ihr Leben aufgaben, um in Jamaika mit einem mindestens dreißig Jahre jüngeren Mann durchzubrennen, der ihnen in den sozialen Netzwerken das Blaue vom Himmel versprochen hatte. Nein, ihre Liebesgeschichte hatte Hand und Fuß und führte sie nicht auf eine karibische Insel, sondern nach Småland. Bodenständiger ging es ja wohl kaum.

Von wegen zu alt!

Und schon gar nicht stammten die Nachrichten von irgendeinem dahergelaufenen Schwerenöter, den sie kaum kannte. Nein, sie waren von Viggo, und genau genommen waren es keine Liebesnachrichten, sondern eine Einladung. Eine Einladung, wie man sie wohl nur einmal im Leben erhielt. Und für eine einmalige Chance war man schließlich nie zu alt.

So!

War ihre Entscheidung womöglich unvernünftig?

Und ob!

»Das war es dann also.« Renate zögerte und fuhr schließlich fort: »Du gehst wirklich.«

Ina nickte. Genau ein Mal. Nicht, dass es Renate hätte sehen können.

»Hast du dir das auch wirklich gut überlegt?«

»Himmel! Natürlich hab ich mir das gut überlegt!«

Eine unheilvolle Stille legte sich in die Leitung. Ina hegte schon die Hoffnung, dass die Verbindung unterbrochen worden war, doch dann ertönte Renates Stimme aufs Neue. Schrill und vorwurfsvoll. »Und du willst wirklich alles aufgeben?«

Am liebsten hätte Ina aufgelacht. Was ließ sie denn schon zurück? Eine schicke Altbauwohnung in einem Potsdamer Szeneviertel, die für sie allein viel zu groß war. Einen geschiedenen Mann, der ihr egaler nicht hätte sein können. Und obendrein ein zerrüttetes Verhältnis zu ihrer Tochter. Gut, das Bücherwürmchen, dachte sie mit einem Anflug von Trübsinn. Das habe ich wirklich gut hinbekommen. Aber auch der Laden hatte für sie mit den Jahren seinen Zauber verloren. Zwar gab es immer noch die besonderen Highlights unter den Büchern und Kunden, aber in den letzten Jahren hatte sich doch mehr Routine eingeschlichen, als Ina lieb war.

Mit einem Mal überfiel sie die Melancholie. Denn es war nie alles nur schlecht. Sie hatte auch ihre guten Zeiten gehabt. Selbst mit Renate.

»Ich werde dich vermissen«, sagte sie aus einem Impuls heraus. Irgendwie machte sie dieser Moment emotional, wie sie Renates Stimme im Ohr hatte, obwohl sie schon so weit weg von Potsdam war. Lange Zeit hatten die beiden Frauen nebeneinander gewohnt. Eine echte freundschaftliche Beziehung hatten sie nie zueinander aufgebaut. Und dennoch war Renate jemand, der einer Freundin ziemlich nahekam.

»Unsinn.« Renate lachte auf, ruppig und scheppernd. »Wir beide konnten uns doch nie richtig leiden.«

»Trotzdem!«, sagte Ina. »Deine unbeholfene, cholerische Art werde ich vermissen.«

Renate lachte noch lauter. Es klang wie ein altes Auto, das langsam in die Gänge kam. »Na, das ist doch etwas.«

»Kommst du mich besuchen? In Schweden?«

»Um nichts auf der Welt würde ich mir das antun«, drang es prompt aus dem Hörer. »Ich muss dann jetzt auch wieder«, sagte Renate nüchtern. »Die Wäsche.« Und dann legte sie auf. Ohne ein »Tschüss«, ohne ein »Lebe wohl«, ohne ein »Mach’s gut«.

Das gefiel Ina, denn es war eine ehrliche Verabschiedung. Zum ersten Mal überhaupt war ihr Renate in diesem Moment sympathisch. Sie legte das Telefon beiseite und kraulte Zeus’ Hinterohren, der genüsslich schnurrte. Als wüsste er gar nicht, dass er keine Katze, sondern ein Hund war.

So wie die Landschaft vorbeizog, taten es auch ihre Gedanken. Sie dachte über die Dinge nach, die sie noch erledigen sollte, bevor sie alles hinter sich ließ. Schließlich war es dafür nun wirklich allerhöchste Eisenbahn.

Als sie mit dem Kraulen aufhörte und wieder zum Telefon griff, gab ihr Terrier-Mischling ein übellauniges Knurren von sich.

Ina hob eine Braue. In Sachen Erziehung hatte sie wahrlich kein gutes Händchen. Nicht mal bei Hunden.

Sie hielt das Mobiltelefon in der Hand und betrachtete das Display. Dann gab sie den Kontakt ein, starrte noch länger auf den Namen, der ihr alles bedeutete und doch so viel Schmerz in ihr hervorrief. Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen und drückte die Wahltaste. Sofort meldete sich die Mailbox. Eine tiefe Enttäuschung breitete sich in ihr aus. Natürlich!

Dennoch warf sie so viel gute Laune in ihre Stimme, wie es nur ging, ohne allzu überdreht zu klingen. Es misslang ihr komplett.

»Hallo, Paula, ich bin’s. Deine Mutter. Ina. Ich bin jetzt fort. Ich wollte dir bloß … Auf Wiedersehen sagen.«

Sie atmete ein. Und aus. Und legte auf. In ihrem Mund hatte ein Lebewohl gelegen, doch das hatte sie nicht über die Lippen gebracht. Wenigstens einen letzten Funken Hoffnung brauchte sie. Wenn auch nur für sich selbst.

KAPITEL 2

»Wirklich, Agneta. Als hätten wir nicht genug Probleme.«

Svante sah sie mit steinharten Augen an und verstärkte seine Worte mit einem missmutigen Brummen.

Sie nahm die Nase aus dem Beet, in dem sie gerade an einem besonders hübsch blühenden Siebenstern geschnuppert hatte. Der Duft des Sommers war allgegenwärtig. »Du hältst es für keine gute Idee?« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, beglückwünschte sie sich für diese unklug gestellte Frage, denn auch der Kopf ihrer Schwiegermutter schob sich in ihr Blickfeld, um sie scharf anzusehen. »Er hält es sogar für eine absolut bescheuerte Idee, Aga.«

Agneta sah einfach an ihr vorbei, streckte das Gesicht in den Himmel und genoss die kühler werdende Luft, die durch ihr Haar wehte. Die Sonne stand tief und malte einen rötlichen Schimmer auf die angrenzenden Tannenwipfel. Es war ein wundervoller Frühsommerabend, perfekt für einen gemütlichen Spaziergang zum See. Noch perfekter wäre es, wenn sie diesen Spaziergang alleine führen könnte. Ohne Svante. Und ganz bestimmt ohne ihre Schwiegermutter.

»Ich halte das tatsächlich für eine ausgesprochen dumme Idee!«, bestätigte Svante, ohne dabei die Hand von Ebbas Oberarm zu nehmen. Schritt um Schritt schoben sich die beiden über den rotsandigen Weg.

»Und du brauchst mir nicht ständig unter die Arme zu greifen«, bekam Svante nun sein Fett weg.

»Aber wenn du fällst«, verteidigte er sich.

»Dann stehe ich wieder auf. Ich habe ein neues Hüftgelenk und keinen amputierten Unterschenkel.«

»Der Arzt meinte, dass du es erst einmal langsam angehen lassen solltest.«

»Noch langsamer, und ich laufe rückwärts.«

Ebba schwang den Gehstock, als wollte sie damit ausholen. Agneta war erleichtert, als die Stockspitze den Weg zurück auf den Boden gefunden hatte und ihre Schwiegermutter sich wieder auf ihre Füße konzentrierte. Sie seufzte. Was sollte das noch werden. Ebba war nie einfach im Umgang gewesen. Doch mit den Jahren wurde es zunehmend schlimmer. Schon seit einer ganzen Weile führte sie sich auf wie eine sizilianische Patin, die ein Mafiasyndikat zu leiten hatte.

Agneta schloss zu den beiden auf und reihte sich ein. Jedoch schlug sie sich auf Svantes Seite, der einen lebenden Puffer zwischen ihr und ihrer Schwiegermutter bildete.

»Dir muss es auch nicht gefallen«, sagte sie an ihn gewandt und wollte dabei entschieden, wenigstens souverän klingen. Natürlich folgte ein weiteres Aufbrummen seinerseits.

»Erst der Junge«, sagte Svante, »dann diese Frau.«

»Lass den Jungen«, meldete Ebba sich ruppig zu Wort. »Der ist in Ordnung.«

Svante sah sie finster an. »Und doch gehört er hier nicht hin.«

»Der Junge ist kein Problem«, beharrte Agneta. »Nicht, wenn wir es nicht zu einem machen.«

Mit dieser Weisheit erntete sie einen missmutigen Seitenblick Svantes, der sie durch die weißen Strähnen hindurch anfunkelte. Aber Agneta gab nicht klein bei. Dieses Mal nicht.

»Und die Frau ist ganz allein meine Angelegenheit, hörst du?« Ihr stieg der Geruch gebratener Fische in die Nase. Ihr Blick wanderte zum See, an dessen Ufer ein Lagerfeuer loderte. Janis und Hanna hielten ihre frisch gefangenen Forellen, aufgespießt auf Stöcken, direkt über den Flammen. Der Geruch brachte die Kindheit zurück in ihre Erinnerungen. Wie oft hatte sie mit ihrem Vater bei unzähligen Angelausflügen an einem See wie diesem gesessen, mit genau diesem Duft in der Nase und dem Herzen voller Träume, Wünsche und Sehnsüchte. Nicht alle hatten sich in ihrem ereignisreichen Leben erfüllt, aber die wichtigsten. Dass ihr einige dieser Träume wieder genommen worden waren, das war Schicksal. Schon immer hatte sie nach vorn geschaut. Selten zurück. Denn dort lag oftmals der Schmerz, der einem das Hier und Jetzt versalzen konnte.

Aber die Zukunft …

Der Sommer kündigte sich in großen Schritten an. Aus den Blüten der Apfelbäume waren bereits kleine Früchte geworden. Nicht mehr lange bis zum großen Mittsommerfest. Agneta freute sich diebisch auf diese Zeit. Sie liebte es, wenn der Hof voller Menschen aus den angrenzenden Dörfern war, die gemeinsam mit ihnen feierten.

In der Ferne kreischte eine Säge. Kurz darauf folgte monotones Gehämmer. Es waren keine störenden Geräusche. Sie gehörten einfach zum Soundtrack ihres Lebens. Neues entstand. Neues und Gutes. Beides wusste sie sehr zu schätzen.

»Ich meine es nur gut«, sagte Svante nach einer Weile.

»Dann lass den Jungen aus dem Spiel.« Ohne aufzuschauen, spürte sie seinen Blick, hart und undurchsichtig.

»Das liegt nicht an mir – solange es auch alle anderen tun.«

Agneta war klar, dass er den Jungen von Anfang nicht hatte hierhaben wollen. Und tief in ihrem Innersten wusste sie, dass er recht damit hatte. Svante war ein intelligenter Mann. Weitaus aufgeweckter, als ihr lieb war. Sie wusste Männer zu schätzen, die etwas im Kopf hatten. Weniger mochte sie es, wenn sie ihr überlegen waren. Das könnte ihn zu einem Problem machen, doch das sagte sie ihm natürlich nicht. Dafür wiederum war sie zu intelligent. Sie betrachtete ihn von der Seite, den Mann, den sie schon so lange kannte und der dennoch wirkte wie ein Buch mit sieben Siegeln.

»Hör auf, so an mir zu zerren«, fuhr Ebba ihn an. »Ich bin doch kein Hund.«

»Aber die Frau«, er richtete den Zeigefinger auf Agneta, ohne auf Ebbas Genörgel zu achten. »Sie wird ein Problem werden.«

»Bereiten wir Frauen euch Männern nicht immer Probleme?«, stellte Ebba mit einem knarzenden Lachen fest. »Warum sonst bist du bei uns? Und nicht bei irgendeiner Frau, mit der du ein halbes Dutzend Kinder hast?«

»Weil ich es so wollte«, entschied Svante, während er sich zu Agneta drehte und theatralisch mit den Augen rollte.

»Lass das!«, fuhr Ebba ihn an. »Ich bekomme das mit, wenn du dich über mich lustig machst.«

Agneta schüttelte schmunzelnd den Kopf, wurde aber sogleich wieder ernst. »Ich muss sie einfach kennenlernen.« Nun hatte ihre Stimme die Souveränität, die sie sich gewünscht hatte. »Ich brauche das für meinen Seelenfrieden.«

Svante lachte hart. »Seelenfrieden«, wiederholte er. »Wie willst du den erlangen, wenn du dem Teufel Tür und Hof öffnest?«

Sie sah stur an ihm vorbei. Als wüsste sie es selbst nicht am besten, auf was sie sich da einließ. Lange hatte sie überlegt, ob sie diese Sache einfach auf sich beruhen lassen sollte. Aber das konnte sie nicht. Auch wenn sie fürchterliche Angst vor den Gefühlen hatte, die dieses Treffen hervorrufen würde, musste sie sich ihnen stellen. Sonst würde sie niemals mehr auch nur eine ruhige Minute in ihrem Leben haben.

»Jetzt übertreibst du aber!«, befand Ebba. Ohne Vorwarnung befreite sie sich aus seiner Umklammerung und legte eine Agilität an den Tag, die Agneta und Svante stirnrunzelnd zurückließ.

»Riecht ihr das nicht auch?«, rief sie ihnen zu. »Ashley hat Mazarintårta gebacken!« Wie ein witterndes Raubtier auf dem Sprung zur Beute hielt sie auf den Wohnwagen zu, ein betagter schmutzig weißer Zweiachser, der direkt am Ufer des Sees stand. »Eine Schande, dass eine Nichtschwedin einen derart guten Kuchen hinbekommt.«

Kaum hatte sie das gesagt, öffnete sich die Tür des Wohnwagens, und eine Frau mit dunklen Locken lugte heraus.

»Ebba!«, freute Ashley sich. »Schön, dich zu sehen! Ich habe euch durch das Fenster beobachtet, du bewegst dich ja wieder wie eine junge Ballerina.« Zwinkernd winkte sie Agneta und Svante zu, die gleichzeitig die Hände hoben und zurückwinkten.

Agneta war immer wieder erstaunt, wie gut die Amerikanerin die schwedische Sprache im Griff hatte. Zwar ließ sich ein ausgeprägter Akzent nicht verleugnen, doch es gab kaum noch Worte, die sie nicht kannte und die man ihr erklären musste. Ashley war nun schon seit über einem Jahr auf dem Hof, und Agneta erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen, als sie mit nichts weiter als einem großen Rucksack vor ihr gestanden und nach Arbeit gefragt hatte. Als Backpackerin war sie auf ihrer Europareise auf dem Weg nach Norwegen gewesen. Eigentlich hatte sie nur ein paar Tage bleiben wollen. Doch nun lebte sie in dem Wohnwagen, kümmerte sich um den Tretbootverleih und hatte eine Tauchschule ins Leben gerufen. Das aber nur übergangsweise, wie sie nie müde wurde, allen zu erzählen. So jäh, wie sie gekommen war, würde sie auch wieder aufbrechen. Agneta hoffte, dass es eine leere Drohung war. Denn sie hatte Ashley längst ins Herz geschlossen.

»Ich habe deinen Kuchen gerochen«, sagte Ebba.

»Ich backe Probe«, erklärte Ashley. »Für das große Fest.« Sie zögerte einen Augenblick und sah Ebba forschend an. »Möchtest du ein Stück?«

Svante machte Anstalten, Ebba in den Wohnwagen zu folgen, doch Agneta hielt ihn zurück. Sie sah ihn entschlossen an. »Ich will sie kennenlernen«, beharrte sie. »Wissen, wer sie ist und warum …« Sie ließ den Satz unausgesprochen. Nicht, weil es ihr an Worten fehlte. Das tat es nie. Doch es waren Worte, die den Schmerz zurückbrachten. Und den duldete sie nicht. Noch nicht. Die Zeit würde kommen, wo sie sich ihrem Schmerz stellen würde. Doch dieser Tag war nicht heute.

Mit einem Mal hob Svante den Kopf, sah über sie hinweg. »Was ist das für ein Licht?«

Agneta bemerkte den Ernst in seinen Zügen. Ernster als ohnehin. Sofort war auch sie alarmiert, fuhr herum, folgte seinem Blick – und verstand, was er meinte. Seine Augen fixierten den hellen Schein, der über den Siedlungsdächern leuchtete. Etwas daran war seltsam, es erweckte den Eindruck, als würde das Licht sich bewegen. Der Schein wurde größer und wieder kleiner, zuckte ausgefranst an den Spitzen. Natürlich war es Unsinn, doch für eine winzige Sekunde glaubte Agneta, das Licht sei lebendig, als würde es … atmen. Doch dann begriff sie. »Das ist kein Licht.«

»Nein, ist es nicht«, sagte Svante mit der Inbrunst der Gewissheit. »Da brennt es!«

KAPITEL 3

Lars biss herzhaft in die letzte Hälfte seines Rollmopsbrötchens und warf den Rest dem Hund zu, der die Leckerei mit einem Happen verschlang. Er wischte sich die Hände an seiner dunkelblauen Uniformjacke ab und trat hinter der Fahrertür des Einsatzwagens hervor. Der Schäferhund wich ihm nicht von der Seite. Er hasste es, beim Abendessen gestört zu werden. Sie beide hassten es. Und da Gus ein Hund war und sich nicht um die Meinung anderer scherte, stieg er brummend und knurrend in den Wagen, während Lars sich zusammenriss und seinem Job nachkam.

Noch mehr, als beim Essen gestört zu werden, hasste Lars es, hinaus in die Einöde zu müssen, wenn seine Lieblingsmannschaft, der IF Elfsborg, spielte. Ausgerechnet solch ein wichtiges Spiel gegen Tabellenführer Malmö ging ihm durch die Lappen. Er versuchte, sich seine schlechte Laune nicht anmerken zu lassen, als zwei Menschen wild gestikulierend auf ihn zu hetzten. Er schirmte die Augen vor dem grellen Schein der Blaulichter ab. Gleichzeitig stieg ihm der beißende Brandgeruch in die Nase.

Die beiden Gestalten kamen näher, zu nah, wie Gus fand. Er reckte die Schnauze nach vorn und gab ein leises Knurren von sich. Lars schnalzte mit der Zunge, und der Hund verstummte.

Ein älterer Mann und eine etwas jüngere Frau blieben prompt stehen. Der Mann musterte den Hund, die Frau schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln. »Hej!« Eine Hand schoss winkend nach oben. »Endlich bist du da!«

»Das kann man sehen, wie man will«, murmelte Lars und nickte den beiden zu. Wo brennt’s denn?, lag ihm auf der Zunge. Aber er beherrschte sich noch gerade so. Zumindest das war offensichtlich. Schließlich zog die lichterloh in Flammen stehende Scheune die Feuerwehrleute an wie ein großer Misthaufen die Fliegen. Die Dämmerung um ihn herum wurde zerrissen vom Blaulicht der Feuerwehr. Nur sein Einsatzwagen stand ein Stück entfernt. Bei all dem Trara musste er nicht auch noch mitmischen.

Den salzigen Geschmack des Fischbrötchens noch im Mund, betrachtete er die beiden abwechselnd: »Warum habt ihr die Polizei verständigt?«

»Warum wohl?«, erwiderte der Mann in hartem Tonfall. »Weil es Brandstiftung war.« Während er sprach, kratzte er sich fortwährend den weißstoppeligen Bart. Er hatte ungewöhnlich lange Haare. Zumindest für einen Mann. Für einen älteren Mann obendrein. Harte Züge waren in sein Gesicht gezeichnet. Auf Lars machte er einen beinahe rohen Eindruck. Wie jemand, der ohne Weiteres, völlig auf sich allein gestellt, eine Weile in der Wildnis überleben konnte.

Lars hob die Mütze ein Stück an, um das Gesicht des Mannes besser zu erkennen.

»Und du bist?«

»Ich bin Svante. Ich wohne hier auf dem Tingsmålahof.« Seine Hand gestikulierte rechts an Lars vorbei. Vermutlich war eines der dort stehenden kleinen Holzhäuser seins.

»Und das ist Agneta. Ihr gehört der Hof.« Das zappelnde Blaulicht der Feuerwehren brannte sich tief in sein faltiges Gesicht. Lars überlegte kurz, nach dem Nachnamen des Mannes zu fragen, ließ es dann aber bleiben. Er würde ihn sich ohnehin nicht merken.

»Brandstiftung also«, wiederholte er. Nur zur Sicherheit.

Seine Worte wurden mit einem eifrigen Nicken quittiert. Lars betrachtete die Frau, die hinüber zur Scheune sah und etwas Unverständliches vor sich hin murmelte. Doch ehe er nachhaken konnte, kam Svante ihm zuvor.

»Warum hast du einen Hund dabei? Ist das ein Polizeihund?«

»Das ist Gus«, sagte Lars nur.

»Es ist uns ein absolutes Rätsel.« Die Frau sah ihn an, und es war Lars sofort klar, dass sie nicht den Namen seines Hundes meinte. »Eigentlich ist es unmöglich, dass da einfach so ein Feuer ausbricht. Aber das muss es ja wohl …«

Nichts war unmöglich. Wer wusste das besser als Lars nach all den Dienstjahren bei der Polizei in Stockholm. Er war noch jung. Verhältnismäßig. Dennoch war er Kriminalinspektor. Weil er seinen Job ernst nahm und sich abrackerte, während seine Freunde feierten und unsinnige Kreuzfahrten auf der Meeresstraße zwischen Schweden und Finnland unternahmen, weil dort der Alkohol so gut wie nichts kostete.

Er blickte zur Scheune, deren lodernde Flammen mit dem Strahl der Wasserwerfer niedergerungen wurden. Der Qualm brannte ihm in den Augen. »Was wird denn dort drinnen gelagert?«

»Landwirtschaftliche Geräte«, sagte Svante aus dem Stegreif.

»Heu und Futter für den Streichelzoo«, ergänzte die Frau.

»Das Mehl für die Bäckerei«, führte der Mann bartkratzend weiter aus.

Lars nickte. Da war es wahrlich kein Wunder, dass die Kollegen von der Feuerwehr alle Hände voll zu tun hatten, um dem Brand Herr zu werden.

Lars zückte einen Notizblock aus der Brusttasche seiner Uniform und schrieb mit. Kaum hatte er den Blick gesenkt, jaulte ein schrilles Zischen auf, und über der Scheune rieselte ein bunter Funkenregen herab.

»Ach ja, und dann noch das Feuerwerk für das Mittsommerfest«, erklärte Svante weiter, während er gedankenverloren den hell erleuchteten Himmel betrachtete. Nun war es eine Armada an Raketen, die das Abenddunkel in einem bunten Glitzerregen funkeln ließ.

»Es soll ein großes Fest werden.«

Lars glaubte, einen freudigen Schimmer in den Augen des alten Mannes zu erkennen, als er das Himmelsspektakel betrachtete.

Gus jaulte unruhig. Ein Schnalzen, und er verstummte.

»Ihr habt also ein Feuerwerk in der Scheune gelagert.«

»Für das Mittsommerfest.« Die Frau klang verunsichert. »Das ist doch nicht verboten. Oder?« Sie hatte die Arme eng vor der Brust verschränkt, als würde sie frieren.

Lars schüttelte den Kopf, gab sich einem Lächeln hin. Irgendetwas mochte er an ihr. Er versuchte, sich an ihren Namen zu erinnern, tappte aber im Dunkeln. »Nein, ist es nicht. Aber es kann gefährlich sein. Manchmal reicht ein Funke aus, um …« Den Rest des Satzes ließ er unausgesprochen.

»Aber das Feuerwerk ist erst jetzt losgegangen«, beharrte Svante. »Gebrannt hat die Scheune schon länger.«

»Und wenn schon«, sagte Lars. »Wieso glaubst du, dass es Brandstiftung war?«

»Nun ja, weil …«

»Es war ganz bestimmt keine Brandstiftung.« Die Frau kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum. Auf Lars machte sie einen leicht gequälten Eindruck. Er neigte den Kopf, musterte sie. Sie hatte interessante Augen, außerordentlich hell. Vielleicht grün – sofern das im Schein der Blaulichter zu erkennen war. »Aber ihr habt doch die Polizei gerufen.«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Oh nein!« Nun war es ein eindeutig verkrampftes Lächeln, das sich in ihren Zügen abmalte. »Das war meine Schwiegermutter. Sie lebt auch hier auf dem Hof.«

»Aha. Und wo ist sie?«

»Sie schläft. Der Brand hat sie doch arg aufgeregt.«

»Nur zu verständlich«, meinte Lars.

Die drei gaben sich mitsamt Hund einem Moment des brütenden Schweigens hin, während sie dem Feuer zusahen. Lars mochte Feuer. Ganz besonders liebte er große Feuer, bei denen ihm die Hitze entgegenschlug. Das hier war ein Feuer ganz nach seinem Geschmack.

»Und was wirst du nun tun?«

Nur widerwillig nahm er den Blick von der Scheune und sah diesen Svante an.

»Nun, ich werde mich mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr unterhalten und mit meinem Team wiederkommen, wenn der Brand gelöscht ist.«

»Du kommst wieder?«, fragte die Frau überrascht und nicht gerade in einem Tonfall, der Freude versprühte. »Mit deinem Team?«

»Natürlich. Sobald die Scheune betreten werden kann, werden wir uns umsehen und Ausschau halten, ob irgendwelche Brandbeschleuniger im Einsatz waren.« Zu gerne hätte er einen Sachverständigen mit ins Boot geholt. Doch den gab es in der Provinz schlichtweg nicht. In Stockholm wäre das undenkbar gewesen. Aber in dieser Einöde … Er klappte das Notizbuch zu. »Bald werden wir wissen, ob es Brandstiftung war oder nicht.« Er glaubte nicht daran. Würde er es tun, hätte er seine Kollegen längst herbeordert, um den vermeintlichen Tatort abzusichern. Doch nach dem, was in der Scheune lagerte, war es sicher nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ein Funken sich entzündete und alles in Brand geriet.

»Feuerwerksraketen«, murmelte er in sich hinein. »Also wirklich.«

Schwedisch für Anfänger – Teil 2

– Fredagsmys

Gemeinsam zu Hause gemütlich an einem Freitagabend das wohlige Wochenende einläuten. Freitagsgemütlichkeit eben.

KAPITEL 4

Da war sie nun, gestrandet am Bahnhof von Lindshammar, der die Bezeichnung nicht einmal im Ansatz verdiente. Umgeben von ihrem pfuschneuen Reisekofferset, stand sie vor den Gleisen und wusste nicht, wohin mit sich. Zeus schien es nicht anders zu gehen. Er setzte sich auf die Hinterbeine und kratzte sich das rechte Ohr. Das tat er immer, wenn er nervös war. Nicht weniger unsicher betrachtete Ina das erleuchtete Display ihres Handys, das alles anzeigte, nur keinen Empfangsbalken.

Unweit von ihr blökte ein Schaf. Sie sah das Tier nicht, bildete sich aber ein, es riechen zu können. Überhaupt lag ein Geruch in der Luft, der sie an Ferien auf dem Bauernhof erinnerte. Sie lauschte in die Stille der Landschaft hinein. Das Blöken, dazu ein lauer Wind, der über die Felder fegte und das zerzauste Gras zum Rascheln brachte. Darüber lag Vogelgezwitscher. Sie hob den Kopf, erkannte ein Schwalbennest unter dem Dachvorsprung und glaubte, kleine Schnäbel zu erkennen, die gierig nach Nahrung schrien. Sie befand sich in absoluter ländlicher Idylle. Gefiel ihr das? Eine kleine Stimme in ihrem Kopf sagte ihr, dass sie das Treiben der Großstadt schon jetzt vermisste. Sie hörte nicht auf sie. Stattdessen tat sie das einzig Richtige in dieser Situation. Sie lächelte. Nicht, weil ihr danach war, sondern weil sie in einem Selbstfindungsseminar gelernt hatte, dass man auch dann lächeln sollte, wenn einem nicht danach zumute war. Denn das Unterbewusstsein merke den Unterschied nicht, und so lasse sich die schlechte Laune austricksen, hatte es geheißen. Einen Versuch ist es wert, dachte sie und lächelte so sehr, bis ihr die Wangenmuskulatur wehtat, was sie bloß noch übellauniger werden ließ.

Sie blickte nach links, und sie blickte nach rechts. Dann konnte sie ihr Glück kaum fassen. Am Anfang der Straße, die vom Bahnhof wegführte, erspähte sie tatsächlich ein Objekt, das auf den ersten Blick wirkte wie die Miniaturversion eines Kirchturms. Allerdings ohne dazugehörige Kirche und höchstens zwei Meter hoch. Sogleich fühlte sie sich mehrere Jahrzehnte zurück in ihre Jugend versetzt, als sie das erste Mal schwedischen Boden betreten hatte. Denn dieses altertümliche Bauwerk war nichts anderes als ein Münztelefon. Es handelte sich um ein blassgrünes Metallgestell mit roter Zwiebelhaube. Genau vor solch einem Teil hatte die jüngere Version ihrer selbst im strahlenden Sonnenschein oder strömenden Regen gestanden, als das Heimweh unerträglich gewesen war und sie Tag für Tag mit ihrer besten Freundin in Deutschland telefoniert hatte. Mit den Anrufen war es jedoch schnell vorbei gewesen, als sie Viggo für sich entdeckt hatte.

Sie eilte auf die Zelle zu. Zeus bellte sie an, bewegte sich aber nicht von der Stelle, als wäre es nun seine Aufgabe, die Koffer zu bewachen. Vielleicht sah er das tatsächlich als seine große Mission an, immerhin hatte er mitbekommen, wie sie seinen besten Freund, das Stoffwiesel, den Fressnapf und seine Wechselhalsbänder darin verstaut hatte. Beim Näherkommen las sie das ihr so vertraute Wort Rikstelefon. Darüber war die schwedische Krone aufgemalt. Voller Tatendrang riss sie die Flügeltüren auf, die wie die Fensterläden eines alten Bauernhauses wirkten – und erspähte anstelle des erhofften Fernsprechers Dutzende Bücher, die wild übereinandergestapelt waren.

»Was zum …!«

Entgeistert stand sie da und starrte das Bücherchaos an. Mit Kennerblick überflog sie die Buchrücken. Kinderbücher, Krimis, Liebesromane – davon am meisten – tummelten sich im Innern der ausgeweideten Telefonzelle und bettelten um ein neues Zuhause.

Mit einem tiefen Seufzer tat Ina das, was in dieser Situation wohl jede Buchhändlerin getan hätte: Sie versuchte, dem Chaos Herr zu werden und brachte Disziplin in den Bücherwust. Dabei entschied sie sich für die klassische Anordnung in alphabetischer Reihenfolge, entsann sich aber schnell eines Besseren und unterteilte die Bücher zunächst in die jeweiligen Genres und dann in die alphabetische Reihenfolge.

Sie war gerade beim Buchstaben K angekommen, als es laut neben ihr hupte und ihr vor Schreck das Buch mit dem Titel Låt oss hoppas pådet bästa aus der Hand flutschte. Sie fuhr herum und sah das Dach eines Autos in der Farbe ihres Koffersets, das unmittelbar hinter ihr zum Stehen gekommen war.

Das Seitenfenster war zur Hälfte heruntergelassen, und ein bärtiger Mann schaute grinsend heraus. »Behöver du en taxi?«

Ina schüttelte sich die Verwirrung aus dem Gesicht. Vor ihr stand tatsächlich ein kükengelbes Auto mit blauer Aufschrift. Taxi.

Nun grinste auch sie. »Und ob ich das brauche!« Sie warf dem Mann ein strahlendes Lächeln zu, das aus tiefstem Herzen kam. »Gib mir bitte noch einen Augenblick, um hier aufzuräumen.« In Schweden waren alle per Du. Das gefiel ihr.

Das Taxi parkte direkt neben ihr, und unmittelbar darauf stieg ein jüngerer Mann mit Hippiebart und gestreiftem Trainingsanzug aus dem Wagen, der von Zeus bellend begrüßt wurde. Ohne auf den Hund zu achten, sah er sie kurz an und richtete dann den Blick auf den Bahnhof. »Är det här dina resväskor?«

Wieder nistete sich ein Grinsen in Inas Gesicht ein. Es tat unendlich gut, diese Sprache zu hören. Eigens für Viggo hatte sie Schwedisch gelernt. So intensiv, dass sie es nahezu perfekt beherrschte. Doch mit dem Perfektionismus war das so eine Sache, wenn man keine Muttersprachlerin war. Neben der Fernschule hatte sie sich eine wahre Videothek an originalen schwedischen Filmen und Serien besorgt. Hauptsächlich waren es Kurt-Wallander-Verfilmungen gewesen, die sie verinnerlicht hatte, weil sie Henning Mankell als Schriftsteller vergötterte. Das hatte jedoch zum Nachteil, dass sie sich unwissend einen Ystad-Dialekt angeeignet hatte, worüber Viggo sich gerne lustig machte. Ebenso bedauerlich war es, dass weder in ihren Sprachkursen noch in den Filmen und Serien großartig geflucht wurde. Hier hatte sie ordentlich Nachholbedarf.

»Ja, das sind alles meine Sachen.«

Der Mann warf einen leicht besorgten Blick auf die Kofferburg, dann auf seinen Wagen. Doch schließlich nickte er gut gelaunt. »Det är okej.«

Ina liebte die schwedische Zuversicht.

Seinen Hippiebart glatt streichend, machte er sich mit wogenden Schritten an die Arbeit. »Ich lade die Koffer ein«, sagte er auf Schwedisch.

Ina warf einen letzten Blick in die als Bücherschrank umfunktionierte Telefonzelle, die sie einigermaßen auf Vordermann gebracht hatte. Einzig schwer tat sie sich mit dem mittleren Band einer Enzyklopädie über psychoaktive Pflanzen. Da er so gar nicht in ihr Grundordnungssystem passen wollte, stopfte sie ihn kurzerhand hinter die Bücher, sodass er nicht mehr sichtbar war.

Zufrieden mit ihrer Arbeit, nahm sie auf dem Vordersitz Platz – und das bloß, weil die komplette Rückbank von ihren Koffern eingenommen wurde. Zeus hüpfte auf ihren Schoß und stützte sich mit den Vorderpfoten auf dem Armaturenbrett ab, von wo aus er schwanzwedelnd durch die Windschutzscheibe glotzte.

»Wo soll es denn hingehen?«

Ina nannte dem Taxifahrer die Adresse. Sie hatte sie so oft gelesen, dass sie sie mittlerweile auswendig konnte. Doch der Mann fuhr nicht los, sondern sah sie mit zusammengezogenen Brauen an. »Das ist aber ein ganzes Stück entfernt.«

»Dessen bin ich mir bewusst, junger Mann.«

»Das wird nicht billig.«

»Geld spielt keine Rolle.« Diesen Satz sagte sie nur, weil sie ihn liebte. Natürlich spielte Geld eine Rolle. Das tat es immer. Als geschiedene Buchhändlerin war ihr kein Leben in Reichtum vergönnt. Aber mit dem Erlös vom Verkauf ihrer Buchhandlung musste sie sich erst einmal keine Sorgen machen.

Auf jeden Fall brachte dieser Satz den Mann nur noch mehr zum Grinsen. »Ich bin übrigens Gunnar.«

Der Fahrer mit dem wohlklingenden Namen schaltete das Taxameter ein und nuschelte etwas in ein Funkgerät. Er sprach einen fürchterlichen Dialekt. Doch wenn sie es richtig verstanden hatte, wusste nun auch die Taxizentrale, dass Gunnar für den Rest des Tages keinem anderen Fahrgast mehr zur Verfügung stand.

KAPITEL 5

Inas Anspannung wuchs mit jedem Kilometer. Seit zweieinhalb Stunden waren sie nun schon unterwegs. Zweieinhalb Stunden, in denen Taxifahrer Gunnar sein ganzes Leben wie einen Perserteppich vor ihren Füßen ausgebreitet hatte. Vielleicht war es eine Gabe, dass wildfremde Menschen Ina ihr Herz öffneten. Für sie selbst jedoch fühlte es sich bisweilen wie ein Fluch an. Zu gerne hätte sie die wundervolle, geradezu unberührte Naturlandschaft in Ruhe auf sich wirken lassen. Doch nun musste sie sich mit der Frage rumschlagen, ob es von Gunnars Exfrau wirklich in Ordnung war, dass er die gemeinsame fünfjährige Tochter an jedem Samstag zu sich nehmen sollte, damit seine Exfrau mit ihrem neuen Freund, einem indischen Guru, in den umliegenden Kaufhäusern Hausfrauen für seine Lachyoga-Kurse akquirieren konnte. Und als wäre dies nicht genug, überschlugen sich ihre Gedanken, ob sie ihr kleines Vermögen nicht doch besser in Kryptowährung hätte anlegen sollen, wie Gunnar es ihr eindringlich geraten hatte. Er selbst setzte voll und ganz auf die Bitcoin-Alternative Ethereum und fuhr Taxi eigentlich nur noch zum Spaß.

Ina seufzte im Stillen. Es hätte eine so schöne und beschauliche Fahrt werden können. Die Landschaft glich einem paradiesischen Ort. Das Taxi hatte sie vorbeigeführt an tiefblauen Seen, denen das Schilf zu Füßen lag. An Wäldern, auf deren Lichtungen sie Hirsche erblickt hatte. Richtige Hirsche! Småland offenbarte sich ihr in seiner atemberaubenden Schönheit.

»Gleich sind wir da!« Hinter dem Steuer warf Gunnar ihr ein wohlwollendes Lächeln zu. Doch Ina konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass das Lächeln weder ihr noch Zeus galt, sondern der stetig steigenden Zahl auf dem Taxameter.

Und wenn schon, dachte sie. Für den Start in ein neues Leben war sie bereit, einen hohen Kronenbetrag zu zahlen.

»Dort liegt es.« Gunnar tippte einen Punkt auf der Windschutzscheibe an. Das Taxi schlängelte sich eine grün schimmernde Senke hinunter. An der Talsohle erblickte Ina eine Ansammlung roter Holzhäuser mit weißen Fenstern und Türen, die in der Mittagssonne förmlich leuchteten. Mit einem Mal raste ihr Puls. Kurzzeitig tauchten Sternchen vor ihren Augen auf.

»Alles in Ordnung mit dir?« Gunnar sah sie bestürzt an, doch Ina fächelte sich abwehrend Luft zu.

»Alles ist gut«, sagte sie. »Mehr als das sogar.« Ihre Miene erhellte sich. Sie schaffte es nicht, den Blick von dem Hof zu nehmen, der wie ein roter Klecks im sattgrünen Tal lag, direkt vor den Füßen eines kleinen Sees, der auf der anderen Seite an einen Wald grenzte. Sie kannte diesen Flecken nur zu gut. Genau an diesem Ort hatte sie im zarten Alter von sechzehn Jahren ihr Herz verloren. Seitdem hatte sich vieles verändert. Das Haupthaus stand noch an Ort und Stelle, doch drum herum gab es nun eine Vielzahl weiterer Gebäude. Sie war erstaunt. Aus dem einsamen Bauernhof mit der Scheune und dem Stall war beinahe ein kleines Dorf geworden. Was hatte Viggo da nur entstehen lassen? Sie dachte an ihre letzte Begegnung mit ihm zurück. Eineinhalb Jahre war dies nun her. Zuletzt hatten sie ein Wochenende in Budapest verbracht, in einem historischen Grandhotel auf der Margareteninsel. Damals hatte sie gedacht, dass es womöglich der Anfang vom Ende sei, weil Viggo sich auffallend schweigsam gegeben hatte. Diese ungewohnte Stille zwischen ihnen hatte aber nicht die Leidenschaft vermissen lassen. Sie war ungebremst – auch nach all den Jahren ihrer Affäre. Und doch war etwas anders gewesen, das hatte Ina gespürt, zumal bald danach die Kurznachrichten weniger und weniger geworden waren, bis der Kontakt schließlich ganz erloschen war. Und nun war Viggo wieder da. Mitten in ihrem Leben. Mehr denn je sogar. Und jetzt war auch sie da, bei ihm, an diesem wundervollen Ort, der bei ihrer ersten Ankunft ihr Leben verändert hatte. Sie schmunzelte, als sie sich der Tiefgründigkeit dieses Gedankens bewusst wurde. Denn genau das geschah gerade erneut.

Sie verlor sich weiter in dem Anblick und bemerkte, dass mit der Scheune etwas nicht stimmte. Anders als die übrigen farbenfroh gestrichenen Häuser wirkte sie unnatürlich dunkel. Als wäre sie über die Jahre einfach vergessen worden.

»Ein schöner Ort, nicht wahr?«, meinte Gunnar.

Ina summte Zustimmung. »Geradezu traumhaft.«

Das Taxi passierte ein hölzernes Balkenkonstrukt, das Ina an ein Ranchtor erinnerte. Darauf war in großen Buchstaben der Name Tingsmåla eingebrannt. Sie ließ alles auf sich wirken. So viele längst verblasste Erinnerungen prasselten gleichzeitig auf sie ein.