Knall 2 - Harald Kiwull - E-Book

Knall 2 E-Book

Harald Kiwull

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Beschreibung

Die nächtliche Gestalt in der Schlafzimmertür - Traum oder Wirklichkeit? Maximilian Knall, Strafrichter am Landgericht Karlsruhe, wird verdächtigt, den Überfall auf eine Sparkasse verübt zu haben, bei dem ein Mann lebensgefährlich verletzt wird. Auch der Anschlag auf einen Kollegen nur wenige Tage später wird ihm zur Last gelegt. Die Indizien sprechen gegen ihn. Versucht ihm jemand aus Justizkreisen die Taten anzuhängen? Das LKA schaltet sich ein. Die Aktionen der Polizei laufen sehr schleppend und führen in die Irre. Mysteriöse Hinweise des Täters können nicht entschlüsselt werden. Knall wird bedroht, sein Leben ist in Gefahr. Er nimmt die Ermittlungen selbst in die Hand. Eine Spur führt ihn nach Norddeutschland. - Ein Kriminalroman, der auch ohne durchgeschnittene Kehlen für große Spannung sorgt. Dr. Harald Kiwull war nach seiner Tätigkeit als Zivilrichter viele Jahre Vorsitzender Richter einer Strafkammer am Landgericht Karlsruhe. Bundesweit bekannt wurde er als Berufungsrichter im "Autobahnraser-Prozess". In seinem ersten Richter-Krimi "Die Trüffel-Connection", dessen ­Startauflage nach wenigen Wochen vergriffen war, schildert er packend den Gerichtsalltag und begleitet seine Hauptfigur, den ziemlich aus dem Rahmen fallenden Richter Maximilian Knall, auf unrichterlichen Wegen in kriminelle Niederungen. "Juristerei als unterhaltsame Randnotiz. Sehr kurzweilig." Stader Tagblatt "Rotlichtmilieu und Lokalkolorit." Badische Neueste Nachrichten

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Dr. Harald Kiwull, geboren 1943 in Litzmannstadt, heute Lodz. Aufgewachsen in einem Dorf in Norddeutschland. Studium der Rechtswissenschaft in Hamburg und Freiburg im Breisgau. War nach Tätigkeit als Zivilrichter lange Jahre Vorsitzender Richter einer Strafkammer am Landgericht Karlsruhe, deutschlandweit bekannt geworden als Berufungsrichter im sogenannten „Autobahnraser-Prozess“. Über 20 Jahre stellte er in dem von ihm mitbegründeten Verein „Kunst im Landgericht“ in 40 Ausstellungen Werke von mehr als 100 Künstlern aus. Seit seiner Pensionierung lebtKiwull in Deutschland und Spanien. Sein erster Roman „Die Trüffel-Connection“ (2016) war in der Startauflage nach nur wenigen Wochen vergriffen.

Harald Kiwull

Knall 2

Ein Richter-Krimi

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

wieder für Zottel

1

Ein leises, knirschendes Geräusch weckte mich. Ich hob den Kopf und blickte auf die Uhr. Es war Viertel vor fünf. Neben mir hörte ich die ruhigen Atemzüge von Felicitas. Der Mond warf einen schrägen, bleichen Lichtstreifen über das Fußende des Bettes auf die weiße Wand links von mir. Daneben schimmerte im Halbdunkel die leicht geöffnete Tür zum dunklen Flur. Ich horchte. Wieder ein Knirschen, irgendwo in der Wohnung.

Es war kalt im Zimmer. Ich zog die Wolldecke vom Fußende hoch. Plötzlich bemerkte ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Mir stockte der Atem. Ein Arm schob sich durch den schmalen Spalt in das Schlafzimmer. Eine Hand in schwarzem Lederhandschuh fasste den Griff der Tür und zog sie langsam, lautlos und gleichmäßig zu.

Ich schüttelte mich und kniff die Augen fest zusammen, öffnete sie wieder. Richtete mich weiter auf und starrte auf die Tür. Sie war jetzt geschlossen. Ein kalter Schauer fuhr mir über den Rücken.

Einen Augenblick verharrte ich entsetzt und regungslos, wie versteinert. Dann berührte ich leicht die Schulter von Felicitas, die aber nur etwas vor sich hin murmelte und weiterschlief. Ich packte sie etwas fester. Sie drehte sich verschlafen zu mir und wollte etwas sagen. Als ich ihr den Mund zuhielt, weiteten sich ihre Augen.

Leise flüsterte ich ganz dicht an ihrem Ohr: „Still! Sei still!“ Ich lauschte wieder einen Moment. „Es ist jemand in der Wohnung. Wirklich. Ich habe gesehen, wie die Tür zugezogen wurde.“

Sie sah erst mich erschrocken an, blickte zur Tür und flüsterte: „Das hast du doch geträumt!“

„Nein, nein, ich bin sicher. Da ist jemand“, antwortete ich leise. „Ich bin vollkommen sicher!“

Es war jetzt totenstill.

Ich schlug die Bettdecke zurück, schlich zum Fußende und drückte mein Ohr an die Tür. Kein Geräusch. Ich fasste die Klinke an. Felicitas hatte sich im Bett aufgerichtet und starrte her zu mir. „Bist du verrückt“, zischte sie. „Bleib hier. Du kannst nicht hinaus.“

Einen Augenblick blieb ich noch reglos stehen und überlegte. Dann versuchte ich, die Tür mit dem Schlüssel abzuschließen. Aber das Schloss war bei der letzten Renovierung überstrichen worden. Er ließ sich nicht bewegen. Von meinem Nachttisch nahm ich mein Schweizer Taschenmesser, klappte es auf und schob die Klinge als Keil unter die Tür in der wohl etwas verrückten Hoffnung, dass dem Einbrecher die Tür damit versperrt wäre. Felicitas war jetzt hellwach und beobachtete mich.

Ich lauschte erneut. Nichts.

Das Handy war natürlich wieder mal irgendwo anders, jedenfalls nicht auf dem Nachttisch.

Auf Zehenspitzen ging ich zu Felicitas und flüsterte ihr ins Ohr: „Wir klettern aus dem Fenster. Ich muss kontrollieren, ob die Wohnungstür oder die Rollläden auf der anderen Seite des Hauses aufgebrochen worden sind. Ob ich mich vielleicht doch getäuscht habe.“

Vor ungefähr zwei Monaten war ich aus dem Dachgeschosszimmer mit den schrägen Wänden des kleinen Ettlinger Hotels ausgezogen, das ich einige Monate bewohnt hatte. Nach der Trennung von meiner Frau war ich damals Hals über Kopf dorthin übergesiedelt. Und eigentlich und etwas überraschend hatte ich mich da oben ganz wohlgefühlt zwischen diesen merkwürdigen Mitbewohnern mit ihren eigenartigen Tagesabläufen und Nachtunruhen. Aber natürlich nicht als Dauerzustand.

Durch Zufall war es mir schließlich gelungen, eine gemütliche, ebenerdige Wohnung in einem alten, romantischen Haus am Hang im Vogelsang in Ettlingen zu mieten.

Kupfer, der Präsident des Landgerichtes, hatte damals im Vorbeigehen auf dem Flur zu mir gesagt: „Das wurde aber wirklich Zeit, Knall. Dass Sie da ausziehen. War ja langsam peinlich.“ Dabei hatte er mich ziemlich vernichtend angesehen.

Ich heiße Maximilian Knall, genauer gesagt Dr. Maximilian Knall und bin Richter am Landgericht Karlsruhe. Strafsachen seit vielen Jahren. Kupfer kenne ich schon lange Zeit. Wir haben ein gutes Verhältnis zueinander.

Vor dem Schlaf- und dem Wohnzimmer erstreckt sich ein kleiner Garten schräg hinunter zur Straße, genau so breit wie das Haus und zu beiden Seiten durch hohe Mauern begrenzt, die an das Haus anschließen. Es ist nicht möglich, direkt um das Haus herumzugehen.

Der Eingang ist nur von der Nebenstraße auf der anderen Seite des Hauses zu erreichen. Dort liegen auch die Küche und das Badezimmer.

Ich überlegte und schüttelte den Gedanken an den breitschultrigen, tätowierten Angeklagten ab, der mich am Dienstag, als er aus dem Sitzungssaal von zwei Wachtmeistern hinausgeführt wurde, drohend angeblickt und irgendetwas vor sich hin gemurmelt hatte. Seine drei finsteren Kumpane aus der letzten Reihe waren schon während der Urteilsbegründung lärmend rausmarschiert.

Leise machte ich die beiden Fensterflügel auf. Die kalte Luft ließ mich schaudern. Den Garten bedeckte eine dünne Schneedecke.

„Wir klettern hier raus. Ich muss auf der anderen Seite nachsehen. Es geht nicht anders.“

Felicitas stand inzwischen neben mir und blickte aus dem Fenster hinunter in den offenen, tiefen Kellerschacht, der sich unter uns über die gesamte Breite des Fensters erstreckte. Sie sah mich etwas ratlos an. Ich zeigte auf den dicken Ast der japanischen Zierkirsche vor uns, der schräg über den Abgrund ragte. „Wenn wir uns daran festhalten, wird es klappen. Ich halte dich.“ Feli öffnete den Mund und schloss ihn wieder.

Wir horchten beide noch einmal. Nichts.

„Okay, ich fange an“, sagte ich, umklammerte mit beiden Händen den Ast und kletterte über die Fensterbrüstung nach draußen. Schräg über dem Schacht hängend gelang es mir, die Füße auf die seitliche Begrenzung zu bringen und mich hinüberzuziehen.

„Also, jetzt du. Ich stütze dich.“ Felicitas griff mutig den Ast, schwenkte die Füße aus dem Fenster, und ich konnte ihr zu mir herüberhelfen.

Erleichtert sahen wir uns im kalten Licht des Mondes an. Plötzlich schauderte Feli und blickte entsetzt auf ihre Füße. Sie stand barfuß im Schnee.

„Holst du mir meine Hausschuhe“, bat sie und blickte mich flehentlich an.

Fassungslos starrte ich auf ihre Füße, die sie nervös hin- und herbewegte. „Ich glaub es nicht“, stieß ich hervor. Kurz entschlossen packte ich erneut den Ast, zog mich in die Fensteröffnung und krabbelte so lautlos wie möglich wieder hinein. Ihre komfortablen grünen Filzpantoffeln standen friedlich, parallel zueinander vor ihrer Bettseite. Ich warf sie ihr nach draußen zu.

Wieder im Garten, nahm ich sie bei der Hand. Wir gingen zusammen den kleinen Weg schräg hinunter, vorbei an den fünf links an der Mauer stehenden, kleinen Buchsbäumen mit ihren runden, weiß gepuderten Köpfen. In unseren Schlafanzügen, die bloßen Füße in Hausschuhen, traten wir durch das Gartentürchen hinaus auf die Straße, auf der eine jungfräulich unberührte Schneeschicht durchaus romantisch im Mondlicht glitzerte.

Als wir um die Ecke bogen, zuckte ich zusammen. Von der Straße führte über den kleinen Fußweg eine Trittspur zum Haus. Abdrücke von großen Männerschuhen im Schnee. Zum Eingang und wieder zurück. Feli trabte vor mir her, ohne dass es ihr auffiel. Ich entspannte mich jedoch gleich wieder, als ich die „Badischen Neuesten Nachrichten“, unsere Tageszeitung, im Briefkasten stecken sah. Der Zusteller hatte schon in aller Frühe seine Arbeit getan.

Vor der unversehrten Tür und den makellos geschlossenen Rollläden der Fenster stampfte Feli wütend mit dem Fuß im Pantoffel auf.

„Du bist doch wirklich ein blöder Trottel“, schnaubte sie zitternd vor Kälte, drehte auf dem Absatz um und rauschte in ihrem Schlafanzug davon, was mich – vielleicht auch wegen der jetzt entspannten Einbruchssituation – zu einem nervösen Gekicher veranlasste, bevor ich ihr folgte. Einen Schlüssel für die Eingangstür hatten wir natürlich auch nicht.

Als ich gegen Mittag des nächsten Tages den Schwurgerichtsvorsitzenden und Freund Johannes Anglerter auf dem Gerichtsflur traf und anhielt, um ihm das nächtliche Erlebnis zu erzählen, unterbrach er mich schon nach den ersten drei Sätzen und sagte: „Das hast du nur geträumt“, während er weitereilte. Für mich hatte sich damit allerdings die Darstellung als spannendes und auch ziemlich kreatives Drama enttäuschend erledigt.

Kurze Zeit später traf ich die Kollegin Dr. Ilse Friedrich auf der Treppe und überlegte, ob ich einen zweiten Versuch starten sollte. Ich unterließ es dann aber lieber. Zivilrichterin Friedrich gehört zu der Sorte von Menschen, die schon nach einem Halbsatz brutal unterbrechen und in überbordendem Selbstbewusstsein mit einem kurzen, verblüffenden Schlenker auf ein Thema kommen, in dem sie selbst im Mittelpunkt stehen. Von dem sie dann nicht mehr abzubringen sind. Es bleibt einem dann nichts anderes übrig, als die weiße Fahne zu hissen und zu kapitulieren.

Im Weitergehen dachte ich darüber nach, ob diese Gesprächsdiktatur möglicherweise Folge einer genetischen Veranlagung, einer frühkindlichen Fehlerziehung oder die Auswirkung der grenzenlosen Bewunderung durch den unscheinbaren Ehemann sein könnte.

Felicitas, Richterin in Berlin, die mich eine Woche lang besucht hatte, war von mir am frühen Vormittag an den Zug nach Frankfurt gebracht worden. Sie wollte zu ihren spanischen Großeltern fliegen. Der Großvater war schwer erkrankt, und sie musste ihm und ihrer Großmutter beistehen. Es tat mir weh, sie so schnell wieder zu verlieren, und das vielleicht für lange Zeit.

Vor Jahren hatte ich sie kennengelernt, als ich als Assistent an der Uni in Hamburg tätig war und sie in einem Kurs betreute. Sie fiel mir damals auf, weil sie nicht nur ungewöhnlich attraktiv und sympathisch war, sondern auch besonders intelligent. Ihr Vater war Spanier und ihre Mutter Deutsche, und sie lebte seit Jahren in Deutschland.

Gegen Ende des Semesters schaffte ich es, sie näher kennenzulernen und verliebte mich in sie. Aber kurz danach verschwand sie aus Hamburg ohne Erklärung oder Abschied. Für mich äußerst rätselhaft und frustrierend. Ich litt sehr darunter.

Sie war sozusagen eine Jugendliebe von mir gewesen und erst vor wenigen Monaten überraschend wieder aus der Versenkung aufgetaucht. Eine intensive, großartige Zeit hatte sich angeschlossen.

Zum Abschied umarmte sie mich zärtlich. Sie unterließ es nicht, mir ins Gewissen zu reden. Ich solle versuchen, mein Leben etwas entspannter zu gestalten. Meine Strafsitzungen etwas weiträumiger terminieren und überhaupt ruhiger werden. Solche Albträume seien doch schon wirklich bedenklich. Meine Nervosität gehe ihr langsam ziemlich auf die Nerven. Dabei strahlte sie mich aber liebevoll mit ihren blaugrünen Augen an.

Irgendwie hatte sie schon recht. Seit der Trüffel-Geschichte vor einigen Monaten war ich nicht mehr der Alte.

Bei mir war damals eingebrochen und ich brutal überfallen worden. Man hatte mich in den Kofferraum eines Autos eingesperrt, und nur durch einen glücklichen Zufall war ich freigekommen. Das anschließende Drama in den spanischen Bergen machte mir auch noch zu schaffen: Eine Bande hatte Felicitas’ Großvater erpresst und mit allen Mitteln versucht, an die Rezeptur für künstliche Trüffel zu kommen, die dieser erfunden hatte. Mit meiner Hilfe war es schließlich in Spanien gelungen, die Ganoven hinter Schloss und Riegel zu bringen. Die Rezeptur ging allerdings dabei endgültig verloren.

Obwohl das Abenteuer gut ausgegangen war, hatte es anscheinend meine Psyche doch ziemlich angeknackst. Mindestens einmal in der Woche wachte ich eine Zeit lang nachts aus einem Albtraum auf, in dem ich mich in einer dunklen Kiste befand und mir ganz stark bewusst war, dass mir etwas Grauenhaftes bevorstand. Der Traum endete immer, bevor dies eintrat, ließ mich aber ziemlich fertig zurück, wenn ich hochschreckte.

Irgendwie wurde dadurch auch einige Male eine Variante dieses Traumes aufgerührt: Ein frühes, eigentlich längst vergessenes Erlebnis bahnte sich den Weg in mein nächtliches Bewusstsein. Mein älterer Bruder und ich, er vielleicht vierzehn und ich zehn, fuhren am Spätnachmittag mit unserem Paddelboot den Entwässerungskanal zur Oste hinunter. Vor dem kleinen, offenen Eisentor der Deichdurchführung, einem dunklen, schmalen Tunnel durch den Deich, zögerte er kurz. Dann paddelte er hinein in die Dunkelheit. Mir war etwas mulmig, aber ich hatte natürlich nichts zu sagen. Nach etwa fünfzig Metern und kurz nach dem Passieren des zweiten Tores knallte dieses mit lautem Krachen direkt hinter dem Heck unseres Zweisitzers zu und einen Augenblick später danach war das Schließen des ersten Tores von der anderen Seite zu hören. Wir waren gerade noch davongekommen. Bleich im Gesicht drehte sich mein Bruder zu mir um, sagte aber kein Wort.

Auch später habe ich nie mit ihm darüber gesprochen. Aber es kamen einige Zeit Albträume bei dem Gedanken, dass wir eingesperrt zwischen den beiden Toren unter dem Deich und weitab von irgendjemand, der uns hätte helfen können, langsam im steigenden Wasser der Flut elend ertrunken wären. Eine Tragödie im Kanal, der dazu dient, die Felder bei Ebbe in die Oste zu entwässern und der automatisch verschlossen wird, wenn mit der Flut ein höherer Wasserstand im Fluss erreicht wird.

Die Erinnerung an die Herstellung des Paddelbootes im Flur unserer Dachgeschosswohnung über der Post, wo wir die frühen Jahre mit der Mutter wohnten, konnte mich nach solchen Albträumen immer etwas aufheitern.

Mein kreativer, aber etwas blauäugiger Bruder baute das vier Meter achtzig lange Boot aus Sperrholz im Flur ohne zu bedenken, dass es unmöglich sein würde, das Produkt über die enge Treppe nach draußen zu transportieren. Meine lässige Mutter ging während der monatelangen Bauzeit geduldig und lächelnd um Bretterstapel und Werkzeuge herum vom Wohnzimmer in die Küche und zurück. Auch sie machte sich keine Gedanken. Von mir konnte keine Rede sein.

Erst als das fertige Werk von Familie und Freunden bestaunt wurde, dämmerte es uns.

Unter dem Gejohle der Dorfbevölkerung wurde der dunkelgrün gestrichene Kahn schließlich aus dem kleinen Fenster des Wohnzimmers weit oben an der Stirnseite des Hauses eindrucksvoll, waagerecht hinaus in die Luft geschoben, bis es schließlich nach unten gegen die Wand krachte und an dem angeknüpften Strick herumpendelte. Der Reparaturbedarf war erheblich, und im Dorf wurde mindestens zwei Jahre lang die Geschichte in immer kurioseren Varianten erzählt und dem Brüderchen „Luftschipper“ hinterhergerufen, was ihn aber anscheinend überhaupt nicht kratzte. Seinem Erfinderimage tat es erstaunlicherweise keinen Abbruch.

Die Angeklagte in der Strafsitzung am Nachmittag trat vehement und lautstark dafür ein, dass strafmildernd bis strafausschließend zu berücksichtigen sei, dass das Opfer den Betrug hätte erkennen müssen. Wer so dumm sei, sei selbst schuld. Ihr dürfe nur ein geringer Vorwurf gemacht werden, wenn überhaupt. Ihr Verteidiger, der sie dabei ab und zu etwas gramvoll anblickte, versuchte das rechtlich zu untermauern, vermied es aber, mich bei seinen Ausführungen anzusehen.

Die 64-jährige ziemlich korpulente, wasserstoffblonde Angeklagte hatte dem Bauarbeiter, der dafür seine gesamten Ersparnisse lockermachte, zwei Kilo feine Goldkettchen, angeblich aus russischen Beständen, zum halben Preis verkauft. Tatsächlich war es natürlich kein Gold, sondern glänzend aufgearbeitetes Messing und fast wertlos.

Laut auf die Ungerechtigkeit vor Gericht schimpfend, verließ sie nach ihrer Verurteilung den Gerichtssaal, gefolgt von ihrem Rechtsanwalt, der beim Hinausgehen etwas hilflos mit seinen Händen wedelte.

Am späten Nachmittag stieg ich in einer plötzlichen Anwandlung von Einsamkeit die Stufen zu meiner Stammkneipe hinunter und setzte mich an die halbkreisförmige Holztheke.

Die gleichen Gestalten wie immer in der Runde, die ich deswegen die „Wohnsitzlosen“ getauft hatte, begrüßten mich mit einem Gemurmel und schwiegen gleich wieder. Merlin, der Mischlingshund von Karl, gegenüber auf der Sitzbank, hob kurz seinen Kopf, blinzelte mir zu und stank weiter vor sich hin. Molly schob, ohne zu fragen, ein Bier herüber und blätterte dann in ihrer Zeitschrift. An den im Hintergrund des Raumes im Halbdunkel stehenden zwei, drei Tischen saß kein Gast.

Ab und zu tat es mir gut, hier abzuspannen und vollkommen sicher zu sein, dass ich keinem Kollegen begegnen werde. Ich nahm einen großen Schluck von meinem Bier.

Irgendwie fühlte ich mich in letzter Zeit nicht gut. Vielleicht war das Drama der letzten Monate aus Spannung, Frustration und Euphorie doch zu viel für mich gewesen. Außerdem bedrückte mich, dass ich bei mir in idiotischer Weise ein finanzielles Chaos angerichtet hatte.

Vor einigen Wochen erklärte mir bei einer Geburtstagseinladung meines Freundes Wolfhart zu später Stunde ein Gast aus England das Rätsel des Geldgewinns durch fallende Kurse. John war unglaublich überzeugend. Gegen Mitternacht flüsterte er mir den absoluten Geheimtipp ins Ohr, wobei er sich immer wieder vorsichtig umsah. Er selbst habe auch sein ganzes Geld investiert. „Hundertprozentig“.

In meinem Hinterkopf spukte zu der Zeit die starke Sehnsucht nach einer großen Segeljacht. Ein Wunsch, den ich mir bei meinem Gehalt nie würde erfüllen können. Die unglaublich wunderbare Zeit im Mittelmeer auf der Segeljacht „Esperanza“ von Felicitas’ Großvater hatte sich tief in meinem Gemüt eingenistet. Wir waren nach unserem spanischen Abenteuer drei Wochen im Mittelmeer herumgegondelt. Es war traumhaft gewesen.

Je später der Abend, umso konkreter sah ich die eigene Jacht in allen Einzelheiten vor mir, lehnte schließlich auf der Luvseite, die salzigen Gischtspritzer im Gesicht und über mir das blendend weiße Großsegel.

Jedenfalls machte ich am nächsten Tag meine ganzen Ersparnisse locker, schöpfte die Kreditlinie aus und beging diesen wirklich üblen Fehler. Meinen Freunden und auch Felicitas erzählte ich vorsichtshalber nichts davon.

Das Geld war verschwunden und ebenso der englische Freund von Wolfhart. Nicht ganz verblüffend hinterließ er noch die Zeche für seinen Hotelaufenthalt und die Bewirtungen, mit denen er freigiebig um sich geworfen hatte. Wolfhart erzählte mir dann, er habe den Burschen auch nur kurz gekannt, aber er sei ihm ganz besonders sympathisch gewesen. Na, ja ...

Rudi, mein Nachbar zur Linken, fing an, mir eine etwas verworrene Geschichte über das zu erzählen, was ihm am Vortag passiert war. Meine Gedanken schweiften ab, aber ich schaffte es, ihm ab und zu Bemerkungen zuzuwerfen wie „Was du nicht sagst“ oder „Das glaubt man ja nicht“.

Ich dachte darüber nach, dass ich als Strafrichter und erfahren im täglichen Umgang mit Ganoven, diese doch eigentlich als solche erkennen müsste. Wenn nicht ein Richter, wer denn dann? Aber diese Gedanken machten mich nur noch depressiver.

Ob mir ein Ortswechsel über das verlängerte Wochenende vielleicht doch guttun würde? Ein paar Tage im Norden, wie geplant, wären möglicherweise das Richtige.

Ich hatte nämlich diesen Trip schon vor drei Wochen vorbereitet, aber eben mit Felicitas. Auch die Hotels schon reserviert und dann wieder abbestellt, als sich herausstellte, dass Feli nach Spanien fahren musste. Wir wollten eine Nacht in Stade und eine in Hamburg übernachten und jeweils unsere Freunde besuchen. Feli war vor einiger Zeit von Hamburg nach Berlin versetzt worden und ich in Stade zur Schule gegangen.

Nach dem zweiten Bier und einem Schnaps, den mir Rudi wegen meines einfühlsamen und geduldigen Zuhörens ausgegeben hatte, war ich entschlossen zu fahren.

Ungefähr zwei Stunden später saß ich in einem Abteil erster Klasse im ICE nach Hamburg. Ich würde kurz vor Mitternacht dort ankommen.

Im Gericht war ich noch vorbeigegangen und hatte das Urlaubsgesuch für den Freitag in meiner Geschäftsstelle bei Frau Kuch auf den Schreibtisch gelegt. Sie würde es am nächsten Morgen weiterleiten.

Zu meiner Verblüffung hatte ich dort trotz recht später Stunde meine Vertreterin Frau von Hühnlein angetroffen, wieder einmal in einem ihrer ungewöhnlich kurzen Röcke. Sie begann sofort, rasant mit mir zu plaudern–ihre Spezialität–, um ausführlich zu begründen, warum sie gerade heute bis jetzt im Gericht herumsprang.

Wir vertreten uns gegenseitig. Ich vermied es aber vorsichtshalber, ihr mitzuteilen, dass sie am Freitag eventuell für mich in Anspruch genommen werden könnte, und schaffte es, mich nach kurzer Zeit dem Gesprächsstrom zu entziehen.

In meiner Wohnung hatte ich ein paar Sachen in eine Tasche geworfen, außerdem in Stade und Hamburg in denselben Hotels angerufen und erneut die Zimmer für mich reserviert. In Stade würde ich am Burggraben wohnen, und in Erinnerung an alte Zeiten hatte ich in Hamburg ein Hotel im Ortsteil Bergedorf herausgesucht. Außerdem hatte ich erneut einen Mietwagen am Hauptbahnhof gebucht.

Ich war bei der Reiseplanung geblieben, weil es mir auch Vergnügen machen würde, durch Hamburg zu bummeln.

Meine ersten Semester hatte ich nämlich dort verbracht und während dieser Zeit eine kleine, dunkle Studentenbude in Bergedorf angemietet. Im Souterrain, wie man so schön sagt. Tatsächlich traf es Kellerraum besser. Aber im Sommer kühl und mit einem Fenster auf Erdniveau.

Davor hatte ich meinen Schreibtisch postiert, was zur Folge hatte, dass Henner, Jogi und meine anderen Freunde über Schreibtischstuhl, Tischplatte, Fensterbrett bei mir ein und aus gingen. Sehr lustig. Jogi konnte übrigens exzellent Klavier spielen und verblüffte einmal auf einer Nordlandreise die Finnen bei einer Faschingsveranstaltung am Polarkreis, was ja schon merkwürdig genug ist, dadurch, dass er im Pyjama zum Fest erschien.

Über mir wohnte mein Vermieter, der Herr Knannt. Er war Single und hatte bedauerlicherweise zwei Holzbeine. Was ihn aber nicht hinderte, ab und zu eine Party zu feiern, auf der getanzt wurde, auch von ihm. Das führte zu ganz ungewöhnlichen Geräuschen, die zu mir herabschallten. Insgesamt gesehen eine wunderbare Zeit.

Ein bisschen dort herumzulaufen und vielleicht auch mal nach dem Haus zu sehen, würde mir guttun.

Der Zug war ziemlich leer, und ich hatte ein Abteil für mich allein. Mit dem Rattern des Zuges und den vor dem Fenster vorbeihuschenden Lichtern der Ortschaften trat bei mir allmählich eine Entspannung ein, und ich fühlte, dass die Spontanaktion ein guter Entschluss gewesen war.

Ich würde morgen in Stade ein paar Freunde aus meiner Schulzeit anrufen, um sie zu treffen. Es könnte ein schönes Wochenende werden.

Ich lehnte meinen Kopf zurück und schloss die Augen. Das Athenaeum tauchte vor meinem Geiste auf, die alte Schule. Von der Grundschule auf dem kleinen Dorf war ich dorthin mit einer gewissen und, wie sich dann zeigte, nicht unberechtigten Scheu gekommen, denn am ersten Tag meines Aufenthaltes gab mir Henner in städtischem Hochmut gegenüber dem Typ vom Land einen Tritt in den Hintern. Das war der Auftakt. Henner wurde später übrigens mein bester Freund, und seine Begrüßungsaktion tat ihm danach sehr leid.

Mit ihm und zwei weiteren Freunden gründete ich in der letzten Klasse den Geheimbund „Kokytos“. Bekanntlich in der Unterwelt der griechischen Mythologie ein Fluss, der das Totenreich umfließt. Wir fühlten uns den Kameraden damit ungeheuer überlegen und hielten ihn aus diesem Grund natürlich auch nicht geheim. Das kreidegemalte, altdeutsche „K“ mit Ausrufungszeichen dahinter war das Markenzeichen und wurde zu nächtlicher Stunde, oft dabei übereinander auf den Schultern stehend und nicht ganz nüchtern, überall in der Stadt und vorzugsweise an der Mädchenschule „Lyzeum“ angepinselt. Von den Lehrern wurde es als ein „R“ angesehen, für „Rache“. Das erfuhren wir aber erst viele Jahre später.

Vielleicht könnte ich ja mal ein bisschen herumstreifen und nachsehen, ob nach Jahrzehnten noch Fragmente unserer nächtlichen Eskapaden zu finden waren.

Ich versuchte, mich bequemer hinzusetzen, und lehnte mich an meine in der Ecke am Fenster hängende Jacke. Mit dem Kopf stieß ich gegen einen harten Gegenstand in einer der Taschen. Ich hatte den alten, schweren, gefütterten Parka, den ich seit Jahren nicht nutzte, wegen der unerfreulichen Temperaturen aus dem Schrank genommen und angezogen. Aus der Innentasche zog ich ein kleines Buch. Überrascht blickte ich darauf. Ich hatte es vor langer Zeit zum letzten Mal gesehen. Beim Anblick des Titels musste ich schmunzeln: „Die offene Ehe“.

Ich blätterte kurz darin herum, ließ es dann sinken und meine Gedanken schweiften zurück in vergangene Jahre.

Durch das Geräusch der Schiebetür des Abteils wurde ich aufgeschreckt. Ich war tatsächlich eingeschlafen und immer noch allein im Abteil. Eine schlanke, attraktive Frau im Pelzmantel mit kurzen, blonden Haaren schob ihren großen Koffer herein.

Ich half ihr aus dem Mantel und versorgte das schwere Gepäckstück. Als ich mich wieder zu ihr umdrehte, hatte sie mein Buch, das zu Boden gefallen und von ihr aufgehoben worden war, in der Hand. Sie las den Titel und sah mich mit einem reizenden, etwas spöttischen Lächeln an.

2

Am Dienstagmorgen um halb acht bog ich mit meinem geliebten alten Lancia HP Executive durch das Tor in den Hof des Landgerichtes. Es war ein klarer, kalter Wintertag. Der große Parkplatz war nur etwa zur Hälfte belegt. Die Richterschaft pflegt eher etwas später einzutreffen. Nach einer Stunde würde er bis auf den letzten Platz besetzt sein. Ich hatte ein wunderbares, abwechslungsreiches und interessantes Wochenende im Norden hinter mir und fühlte mich ausgeruht und entspannt. Am späten Sonntagabend war ich zurückgekommen.

Am Montag hatte ich nach dem wöchentlichen Referendarskurs Strafrecht noch einmal bis in den Abend die Vorbereitung für meine Strafsitzung am nächsten Tag überprüft. Angeklagt waren der Führer einer Rangierlokomotive und der Leiter einer Arbeitskolonne im Gleisbau der Bundesbahn. Beide etwa fünfzig und seit Jahren im Dienst. Bei Arbeiten in einer Baustelle an einer Bahnlinie erfasste die möglicherweise zu schnell fahrende Lokomotive einen 30-jährigen Bauarbeiter aus Polen, der dabei ums Leben kam. Er hinterließ eine schwangere Ehefrau und zwei Kinder, die in Polen lebten. Es waren zwölf Zeugen und zwei Sachverständige, verteilt auf zwei Sitzungstage am Dienstag und Donnerstag, von mir geladen worden. In den Wochen zuvor hatte ich mich intensiv mit den umfangreichen Sicherheitsvorschriften im Gleisbau der Bahn und den polizeilichen Ermittlungen, zusammengefasst in vierundzwanzig Leitz-Ordnern, beschäftigt. Ich war gut vorbereitet.

Kurz vor neun betrat ich das Beratungszimmer, wo mich schon die beiden Schöffen erwarteten. Darunter auch Immerle, ein Konditor, den ich wegen seiner vorzüglichen, selbst gemachten Pralinen, die er regelmäßig mitbrachte, ins Herz geschlossen hatte.

Ich informierte die beiden, worum es heute gehen werde. Sie hatten schon an vielen Strafsitzungen teilgenommen, hörten aufmerksam zu, und ich musste ihnen nicht mehr die Einzelheiten des Ablaufes erklären. Ihren Fragen merkte ich das Interesse und auch die aus den früheren Verhandlungen gewonnene Sachkunde an. Eine Strafsitzung mit solchen Schöffen war für mich immer eine echte Hilfe, was ich ihnen auch sagte.

Auf dem Weg zum Sitzungssaal war mir im Treppenhaus Frau von Hühnlein entgegengekommen. Ganz gegen ihre Gewohnheit hatte sie mich nicht angesprochen, sondern war mit finsterem Gesicht an mir vorbeigerauscht. Mir war auch klar, warum. Frau Kuch, verantwortlich für unsere gemeinsame Geschäftsstelle, hatte mir nämlich schon in der Frühe mit einer gewissen Empörung in der Stimme mitgeteilt, dass Frau von Hühnlein am Freitag eine Haftbefehlsbeschwerde habe bearbeiten müssen. Als Vertreterin, eigentlich wäre ich zuständig gewesen. Hühnlein ist ihr Liebling, und ab und zu muss ich darunter leiden.

Als ich gemeinsam mit den Schöffen den Sitzungssaal betrat, erhoben sich die Anwesenden. In den etwa zwanzig Sitzreihen mit Klappstühlen waren fast alle Plätze belegt. Das schreckliche Ereignis hatte in der Öffentlichkeit ziemliches Aufsehen erregt und war auch in der Presse über Tage erörtert worden. Auch einen Vertreter der Karlsruher Presse erkannte ich und im Hintergrund den Rentner Paul Zuber, der keine meiner Verhandlungen versäumte, und den ich deswegen „meine Öffentlichkeit“ getauft hatte.

Die Angeklagten mit den Rechtsanwälten und ebenso die Nebenklägerin, die aus Polen angereiste Witwe des Opfers, mit ihrer Rechtsanwältin blickten mir ernst entgegen. Als Vertreter der Staatsanwaltschaft war Dr. Hofer erschienen, den ich bereits über Jahre kannte und zu dem ich ein gutes Verhältnis hatte.

Nach einigen Formalien und dem Verlesen der Anklage begann ich mit den Vernehmungen der Angeklagten zur Person. Man merkte beiden die Erschütterung über das Geschehen an, und sie wiederholten mehrfach, wie unendlich leid ihnen alles tue. Die Verteidiger waren mir gut bekannt und auch, dass ihnen eine Konfliktverteidigung mit zermürbenden Ablehnungs- und sachwidrigen Beweisanträgen fern lag. Sie waren, wie das Gericht, an der Aufklärung des Sachverhaltes interessiert und natürlich an dem, was zugunsten ihrer Mandanten sprach.

Ich befand mich im gewohnten Ablauf. Es würde eine zwar schwierige und wahrscheinlich auch sehr belastende, aber nicht nervige Verhandlung werden.

Gegen halb elf öffnete sich die Tür zum Sitzungssaal und Präsident Kupfer trat mit angespanntem Gesicht herein, dahinter Kommissar Haken von der Kriminalpolizei und ein weiterer groß gewachsener Herr, den ich nicht kannte. Erstaunt unterbrach ich meine Befragung und blickte Kupfer entgegen, der zu mir an den etwas erhöhten Richtertisch trat.

„Dr. Knall, Sie müssen die Sitzung unterbrechen. Es hat sich ein Problem ergeben. Wir müssen mit Ihnen sprechen.“

Fassungslos sah ich ihn an. „Aber ich bin mitten in der Verhandlung. Vor der Tür stehen die Zeugen und warten auf ihre Vernehmung. Die Sachverständigen werden auch demnächst erscheinen.“

Der Präsident blickte mich eindringlich an. „Die Sache duldet keinen Aufschub. Sie müssen sofort mitkommen.“

„Das darf doch wohl nicht wahr sein. Man kann doch nicht so ohne Weiteres meine Verhandlung unterbrechen. Worum geht es denn, zum Teufel? Was ist denn so wichtig?“, fauchte ich, inzwischen richtig wütend.

„Knall, machen Sie keine Schwierigkeiten. Unterbrechen Sie, und kommen Sie mit!“, zischte er zurück.

Die Schöffen beobachteten uns erschrocken von beiden Seiten. Im Sitzungssaal versuchte man mitzubekommen, was da am Richtertisch vor sich ging.

Ich sah Kupfer an und schüttelte den Kopf. „Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund, mich in meiner richterlichen Unabhängigkeit zu beeinträchtigen.“

Ich merkte, dass ihm die Sache unheimlich peinlich war. „Es geht nicht anders. Vielleicht klärt sich alles schnell auf.“

„Die Sitzung wird für eine Stunde unterbrochen. Fortsetzung der Verhandlung um halb zwölf“, teilte ich den Anwesenden mit, die sich unter lautem Gemurmel erhoben.

Mit den Schöffen ging ich durch die Tür hinter dem Richtertisch in das Beratungszimmer. Während ich meine Robe auszog, waren mir der Präsident, Haken und der weitere Herr gefolgt.

„Gehen wir in mein Büro“, sprach mich der Präsident an und öffnete die Tür zum Flur. Durch Gruppen der aufgeregt miteinander sprechenden Zuhörer, die aus dem Sitzungssaal strömten, vorbei an den immer noch erstaunt blickenden Verteidigern, folgte ich dem Präsidenten in das hohe Treppenhaus und hinauf in das obere Stockwerk. An den Wänden hingen großformatige, sehr farbige Arbeiten der aktuellen Ausstellung unseres Kunstvereins „Kunst im Landgericht“ mit Künstlern aus der Pfalz. Grafit, Pigment, Leinöl auf Papier schoss es mir im Vorbeigehen durch den Kopf. Mehrere Kollegen, die uns entgegen kamen, blieben stehen und sahen verblüfft der eiligen Gruppe nach. Mein Freund Johannes, der Vorsitzende des Schwurgerichtes, trat mir in den Weg und wollte mich ansprechen.

„Nicht jetzt, Herr Anglerter!“, herrschte Kupfer ihn an und schob den Kollegen zur Seite. Verdattert blickte Johannes uns hinterher.

Anita Steinert, die Vorzimmerdame des Präsidenten, zu der ich ein herzliches Verhältnis habe, blickte mich beim Eintreten nicht an, sondern vielmehr verlegen auf die Papiere auf ihrem Schreibtisch.

Langsam wurde mir etwas mulmig zumute. Vor allem, weil ich keine Ahnung hatte, was eigentlich vorging. Ich kannte Kupfer gut genug um zu wissen, dass er für eine derartige Aktion triftige Gründe haben musste. Ich merkte, dass ich ziemlich nervös wurde.

Nachdem wir sein Büro betreten hatten, schloss er die Tür zum Vorzimmer und drehte sich zu mir um.