KNIGHTS - Ein gefährliches Vermächtnis - Lena Kiefer - E-Book
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KNIGHTS - Ein gefährliches Vermächtnis E-Book

Lena Kiefer

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Beschreibung

Verrate niemandem, wozu du fähig bist – oder es wird dich das Leben kosten!

Die 18-jährige Charlotte Stuart tut alles dafür, ihre einzigartige Gabe geheim zu halten. Denn sie weiß: Wenn ihre Fähigkeiten in die falschen Hände geraten, könnte das den Untergang der Welt bedeuten. Doch dann macht plötzlich jemand unerbittlich Jagd auf Charlotte und sie muss so schnell wie möglich aus London verschwinden. Auf ihrer Flucht läuft sie ausgerechnet der Organisation in die Arme, vor der sie sich jahrelang versteckt hat: den Knights of the Round Table. Die Nachfahren der Ritter der Tafelrunde verfügen selbst über besondere Gaben und Charlotte misstraut ihnen zutiefst. Dennoch bleibt ihr keine andere Wahl, als sich mit den Knights zu verbünden, um ihren übermächtigen Gegner zu stoppen. Unterstützung erhält sie dabei allen voran von Noel Mayfield, einem Lancelot-Erben, der in ihr unerwartete Gefühle weckt und mit dem sie ein gefährliches Schicksal verbindet …

Artus’ Erben, eine übermenschliche Liebe und ein Fluch, der die Welt für immer vernichten kann – der Auftakt zur neuen großen Fantasy-Trilogie von Leserliebling Lena Kiefer!

Alle Bände der Knights-Trilogie:
Knights – Ein gefährliches Vermächtnis (Band 1)
Knights – Ein gnadenloses Schicksal (Band 2)

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Seitenzahl: 592

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LENA KIEFER

EIN GEFÄHRLICHES VERMÄCHTNIS

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© 2021 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Carolin Liepins, München,

unter Verwendung mehrerer Motive von © Shutterstock.com(Regina Erofeeva/vs148/Bokeh Blur Background)

sh · Herstellung: AJ

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN978-3-641-25752-1V003

www.cbj-verlag.de

Für Gerlinde,

Knight-Gnaden – Team Stanham

ARTHUR

LANCELOT

GAWAIN

Oscar Blackwell

Noel Mayfield

Xavia Dupree

Macht

Liebe

Mut

Gerechtigkeitssinn

Vertrauen

Furchtlosigkeit

Willensstärke

Hingabe

Hoffnung

Verantwortungsgefühl

Inspiration

Zuversicht

 

 

 

KAY

TRISTAN

PERCIVAL

Zephaniah Marconi

Levi McGuire

Thora Lindholm

Treue

Mitgefühl

Glaube

Loyalität

Höflichkeit

Vertrauen

Ehrgefühl

Großzügigkeit

Zielstrebigkeit

Ergebenheit

Milde

Beharrlichkeit

Prolog

Homines sumus, non dei.

Vier Worte. Vier tiefschwarze Worte, die für die Ewigkeit auf meinen Unterarm geschrieben waren und nun sichtbar wurden, als wir den Pub betraten und ich meine Jacke auszog.

»Menschen sind wir, keine Götter«, übersetzte Oscar neben mir mit getragener Stimme und stieß mich in die Seite. »Dabei wissen wir doch beide, dass das nicht stimmt. Oder, Noel?«

»Understatement ist eine Tugend, Oz«, gab ich grinsend zurück. »Das wirst du auch noch irgendwann merken.«

»Ja, vielleicht. Aber heute sicher nicht.«

Ich zog den Ärmel meines Pullovers herunter und das Tattoo verschwand, als könnte ich so aus meinem Kopf verbannen, was diese Worte bedeuteten. Welche Verantwortung sie bedeuteten. Zumindest für diesen einen Abend.

Der Empty Grail war brechend voll und wir mussten uns den Weg durch die Menschen bahnen. Der einzige freie Tisch befand sich hinten in der Ecke, weit weg von der Tür. Oscar rutschte auf die Bank und griff gleichzeitig nach der folierten Speisekarte auf dem Tisch. »Ich habe noch nie so sehr einen Burger gebraucht. Wie viele Einsätze hatten wir allein in diesem Monat? Zwanzig? Oder sogar mehr?«

»Definitiv mehr.« Ich wusste, was er meinte. Wir hatten so viel zu tun, dass kaum genug Zeit zum Schlafen oder Essen blieb. Tage verschwammen ineinander, genau wie Zeitzonen und Aufträge. Das hier war der erste freie Abend seit Wochen. Was auch der Grund war, warum wir beschlossen hatten, nach London zu fahren – wir brauchten dringend ein bisschen Normalität. Oder eher die Illusion davon, denn an unserem Leben war gar nichts normal.

Aufmerksam sah ich mir die Leute um uns herum an: die Gruppe von Studentinnen am Nebentisch, den Junggesellenabschied in der Nähe der Toiletten, die beiden Pärchen direkt an der Garderobe. Sie wirkten alle harmlos. Kurz checkte ich die Uhr an meinem Handgelenk, die mit meinem Handy gekoppelt war. Keine neuen Nachrichten.

»Sieht so aus, als hätten wir Glück«, sagte ich. »Kein Auftrag in Sicht.«

»Gut so.« Oscar nickte zufrieden und schaute sich dann um. »Dafür irgendwelche großen Liebespaare? Ich wette, hier sind maximal drei, denen du mehr als fünf Jahre gibst.«

Ich musste lachen. Dieses Spiel hatten wir früher oft gespielt, als wir noch Teenager in der Ausbildung gewesen waren und bei jeder Gelegenheit unsere Kräfte getestet hatten. Jetzt war das Überprüfen zur Routine geworden, aber ich tat Oscar trotzdem den Gefallen.

Unauffällig deutete ich auf die Pärchen, die ich vorhin noch ins Visier genommen hatte. »Die da vorne, maximal zwei Monate. Die beiden hinten am Tresen, eventuell ein Jahr, wahrscheinlich weniger. Kommt darauf an, ob sie noch versuchen, es zu retten.« Ich drehte den Kopf und mein Blick blieb an zwei Jungs hängen, die so aussahen, als wären sie nur Freunde. Aber ich wusste es besser. »Die beiden Typen an der Dartscheibe, das hat Potenzial«, sagte ich und nahm dann die Karte. »Zumindest wenn sie damit aufhören, umeinander herumzuschleichen.«

Oscar grinste breit. »Gott, was würde ich dafür geben, deine Fähigkeit zu haben.«

»Warum, ist deine eigene dir langweilig geworden?« Ich hob eine Augenbraue.

»Ja, ein bisschen schon.« Mein Freund zuckte mit den Schultern. »Klar, Macht ist was Cooles, aber Liebe … daraus sind die wirklich großen Geschichten gemacht.«

»Nein, die sind aus Hass gemacht«, sagte ich sarkastisch. »Und den kann ich dir echt nicht empfehlen.« Bei meinen Worten tastete ich die Umgebung nach genau diesem Gefühl ab, konnte aber keine größeren Mengen davon finden. Allerdings wusste ich nicht, ob mich das tatsächlich beruhigte. Seit den Vorfällen in den letzten Monaten vermutete ich sie überall. Warum sollten sie uns nicht genau dann angreifen, wenn wir uns in Sicherheit glaubten? Ich hätte es so gemacht.

Eine der Bedienungen trat an unseren Tisch. »Hey, Jungs, was kann ich euch bringen?«

Ich ahnte, dass Oscar den Pub wegen der hübschen Studentinnen ausgesucht hatte, die hier kellnerten. Dieses Mädchen war da keine Ausnahme. Sie hatte blonde Haare, in der Farbe von hellem Stroh, zum Zopf gebunden. Ihre Augen waren braun, ein Karamellton, soweit ich es in diesem Licht erkennen konnte. Unter der Schürze, die sie um ihre Hüften gewickelt hatte, trug sie zerschlissene schwarze Jeans und Sneakers, darüber ein dunkelgraues T-Shirt mit dem Logo des Pubs. Ihre Finger hatten Schwielen, auf ihrem Handrücken war der verblasste Stempel eines Clubs zu sehen. Ich brauchte keine Sekunde, um das alles zu bemerken. Sie brauchte kaum länger, um Oscars Bestellung aufzunehmen.

»Und was ist mit dir, Champ?«, fragte sie und sah mich zum ersten Mal direkt an. Ich lächelte, aber als unsere Blicke sich trafen, erstarrte ich. Es war, als wären plötzlich nur noch sie und ich im Pub, alle anderen Menschen und Geräusche waren ausgeblendet. In meinem Inneren breitete sich eine Wärme aus, die ich in meinem Leben noch nie gespürt hatte, und die Sorge, die gerade noch da gewesen war, verschwand, ebenso wie sämtliche Ängste, die seit Monaten meine ständigen Begleiter waren. Es war, als hätte dieses Mädchen sie allein durch ihre Anwesenheit vollkommen ausradiert. Was unmöglich war.

Oder auch nicht.

Es dauerte nur einige Augenblicke, kam mir aber vor wie eine Ewigkeit. Kurz hatte ich das Gefühl, dass sie ebenfalls spürte, was da zwischen uns passierte. Aber dann wiederholte sie nur freundlich ihre Frage und zeigte ein unverbindliches Lächeln. Ich räusperte mich.

»Ich hätte gern den BBQ-Burger und ein Ale, bitte.«

»Klar.« Sie notierte sich nichts und nickte. »Kommt sofort. Wobei, das ist gelogen. Es ist viel los, wahrscheinlich müsst ihr ein bisschen warten.«

»Das macht nichts«, ließ Oscar sie wissen und grinste. »Du darfst uns gerne warten lassen.«

»Ach, wirklich?« Sie wirkte amüsiert. »Mal sehen, ob du das in einer Stunde auch noch sagst.« Damit ging sie zur Theke zurück, um unsere Bestellung aufzugeben. Ich sah ihr nach, bis Oscar mich anstieß.

»Alter, alles in Ordnung mit dir?«, fragte er.

»Klar«, sagte ich und riss meinen Blick los. »Warum?«

Mein Freund warf mir einen belustigten Blick zu. »Weil du diese süße Blonde gerade angesehen hast, als wolltest du ihr einen Antrag machen. Was war das, ein spontaner Anfall von Liebe auf den ersten Blick?« Sein Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. »Oh, fuck. Im Ernst? Du meinst, sie ist …?«

»Nein, ist sie nicht«, sagte ich schnell. »Ich finde sie nur hübsch, das ist alles. Es hat nichts zu bedeuten.«

Das war eine Lüge, und ich musste froh sein, dass Oscar sie schluckte. Die Wahrheit war: Leute wie ich waren Profis für das Erkennen von dauerhaften Verbindungen – und diese Fähigkeit endete nicht vor der eigenen Haustür. Wir brauchten keine fünf Dates, lange Gespräche oder eine gemeinsame Nacht, um zu wissen, ob jemand zu uns passte: Erben von Lancelot bemerkten es nach nur wenigen Sekunden. Ich hatte das gewusst, theoretisch. Aber erlebt hatte ich es bei mir selbst noch nie.

Bis jetzt. Eigentlich hätte ich sofort gehen müssen. Von hier zu verschwinden und den Pub nie wieder zu betreten, war das Beste, was ich in dieser Situation tun konnte. Ich durfte dem Gefühl keine Beachtung schenken, nicht bei der Lage, in der wir uns momentan befanden. Aber wenn ich Oscar sagte, dass ich gehen wollte, wusste er Bescheid und würde mich schon allein deswegen daran hindern. Also blieb ich, setzte mein bestes Pokerface auf und tat so, als wäre alles in bester Ordnung, während mein Herzschlag sich nur sehr langsam beruhigte.

Die Getränke und das Essen kamen, gebracht von einer anderen Bedienung, und die leeren Teller gingen wieder. Oscar und ich alberten herum und ich merkte, dass ich mich tatsächlich entspannte. Zwar wollte mein Blick immer wieder zu dem blonden Mädchen wandern, aber ich widerstand dem Drang eisern und sah nicht zu ihr.

Ablenkung nahte, als Oscar ein paar Studentinnen zu uns an den Tisch holte, weil er unseren Plan, sich heute zu amüsieren, im Gegensatz zu mir nicht vergessen hatte.

»Und, welche Fächer habt ihr belegt?«, fragte eine von ihnen, eine niedliche Brünette.

»Ach, so dies und das.« Oscar grinste.

»An welcher Uni?«

»Oh, wir sind an keiner Uni.«

»Das heißt, ihr macht ein Fernstudium?«

»Ja, so was in der Art. Es ist eine Mischung aus … Genetik und Geschichte.«

»Klingt spannend«, sagte die Brünette. Ich grinste. Das klang nicht spannend, sondern total absurd. Trotzdem kam es der Wahrheit ziemlich nahe.

»Was ist denn da los?« Eines der anderen Mädchen reckte den Hals in Richtung Theke. An der Bar gab es einen Tumult.

»Vergreif dich noch einmal an meiner Freundin und es setzt was!« Zwei Kerle hatten sich miteinander angelegt, es schien um eine Frau mit rot gefärbten Haaren zu gehen. Ich spürte eine Welle von Abneigung und Eifersucht, als ich mich auf die beiden konzentrierte. Der Größere der Kontrahenten, Marke Bodybuilder, schob die Rothaarige zur Seite. Dann ging er auf seinen Gegner zu.

Der reckte das Kinn. »Ach, komm schon, verpiss dich, Justin. In zwei Wochen hat sie eh genug von dir.«

Justin machte noch einen Schritt nach vorne – in der gleichen Sekunde standen Oscar und ich auf, eingespieltes Team, das wir waren. Wenn ich etwas näher herankam, konnte ich die Gefühle von beiden ohne große Anstrengung neutralisieren. Aber bevor sich einer von uns einmischen konnte, kam ein blonder Zopf dazwischen.

»Das ist ein Pub, kein Fight Club, okay? Regelt euren Mist draußen.« Die hübsche Bedienung schubste den Schmaleren der beiden weg und packte den bulligen Kerl an der Jacke. Ich bewunderte ihren Mut. Sie war nicht klein, aber doch zierlich und sicher nur halb so schwer wie der Unruhestifter.

»Hast du Todessehnsucht, Püppchen?« Justin baute sich drohend vor ihr auf. Ich schob mich durch die gaffende Meute, um ihr zu helfen. Allerdings hatte sie das nicht nötig.

»Nein, aber du offenbar schon.« Sie funkelte ihn an und ließ seinen Ärmel nicht los. »Was wird wohl deine Mum tun, wenn ich ihr erzähle, wie du dich hier aufführst? Ich glaube nicht, dass du dann noch viel zu lachen hast, sobald du nach Hause kommst.«

Der Schrank wurde mit einem Mal ganz blass.

»Du wirst ihr doch nichts davon verraten, oder?«, fragte er kleinlaut.

»Nicht wenn du dich verziehst und hier nie wieder Ärger machst.« Mit der freien Hand öffnete sie die Tür und stieß den Typen in die kalte Januarluft hinaus. Kaum war er weg, applaudierten die Gäste, Oscar pfiff sogar mit den Fingern. Das Mädchen verneigte sich spöttisch, bevor sie zurück an die Theke ging.

Dort wartete jemand auf sie, ein großer Mann Mitte dreißig mit unordentlichen blonden Haaren. Er wirkte besorgt und redete auf sie ein, aber sie winkte nur ab, bevor sie sich ein Tablett mit vollen Gläsern schnappte und es zu einem Ecktisch brachte. Ich beobachtete, wie sie über die Bemerkung eines Gastes lachte und tief in meinem Magen spürte ich wieder diese Wärme von vorhin. Verdammt, Schluss damit. Es gab wirklich keinen schlechteren Zeitpunkt dafür als jetzt.

Ich wollte zu meinem Tisch zurück, da bemerkte ich, dass der Typ hinter der Theke mich ansah. Es war kein normales Mustern, eher eine Art misstrauisches Starren. Erst dachte ich, es wäre der strenge Blick eines Chefs, der seine Bedienungen beschützen wollte. Aber als ich ihm in die Augen schaute, fühlte ich plötzlich einen tiefen Schmerz, der mir körperlich so wehtat, dass es mich für einen Moment lähmte. Ich konnte nicht wegsehen, bis er es schließlich tat. Er sprach mit dem Barkeeper, dann verschwand er durch eine Tür in den Gang dahinter.

»Noel, alles okay?« Oscar tauchte neben mir auf und folgte meinem Blick, zog aber nur die halbwegs richtigen Schlüsse. »Sicher, dass du nicht mit der hübschen Blonden reden willst?«

»Ja, ganz sicher«, antwortete ich und sagte nichts von dem, was ich da gerade wahrgenommen hatte. Dieser Mann musste einen heftigen Verlust erlitten haben – nach beinahe zehn Jahren Training kam es nur noch sehr selten vor, dass ich ungefragt etwas abbekam. Aber das war seine Angelegenheit und hatte mich nicht zu interessieren.

»Was dagegen, wenn wir noch woanders hingehen?«, fragte ich Oscar und mein Blick flog zu unserer Bedienung, ohne dass ich es verhindern konnte.

»Nein, gar nicht.« Mein Freund schüttelte den Kopf. »Gib mir nur zehn Minuten, damit ich die kleine Brünette und ihre Freundinnen überreden kann mitzukommen.«

Während er zurück an unseren Tisch ging, checkte ich meine Uhr und sah, dass ich einen verpassten Anruf von einer unbekannten Nummer hatte. Ich gab Oscar einen Wink, dass ich schon rausgehen würde und er zahlen sollte, schnappte mir meine Jacke und ging vor die Tür, um zurückzurufen. Eigentlich waren alle wichtigen Nummern unter Codenamen eingespeichert, aber es kam vor, dass jemand ein fremdes Telefon benutzen musste. Hoffentlich war es kein Notfall. Wobei, vielleicht wäre ein Einsatz jetzt genau das Richtige gewesen, um mich abzulenken.

Vor der Tür des Pubs war fast so viel los wie drinnen, also lief ich um die Ecke in die nächste Seitengasse, um die fremde Nummer anzurufen. Es klingelte, aber niemand ging ran. Ich versuchte es ein zweites Mal, wieder nichts.

»Hey«, sagte jemand hinter mir. »Kann ich mal vorbei?«

Ich drehte mich um und schaute ausgerechnet dem blonden Mädchen aus dem Pub ins Gesicht. Sie stand im Schein der Lampe über der Seitentür, hatte einen ganzen Stapel flach gedrückter Kartons in den Armen und schien zu dem Container zu wollen, der etwas weiter vorne in der Gasse stand.

»Warte, ich helfe dir.« Ich steckte mein Telefon weg und griff nach den Kartons. Das Mädchen ging vor und öffnete den Deckel des Containers, damit ich den Müll hineinwerfen konnte. Dann schloss sie ihn wieder.

»Danke, nett von dir.« Sie lächelte.

»Kein Problem.« Ich erwiderte das Lächeln, und obwohl ich es besser wusste, ging ich nicht direkt wieder. Es lag aber nicht nur an der Anziehung, die sie auf mich ausübte. Es lag auch daran, dass ich ein Echo darauf von ihr wahrnahm. Ein Echo, das meinen Pulsschlag erneut nach oben trieb. Ich wollte sie noch nicht gehen lassen. »Gute Aktion, das mit den zwei Streithähnen vorhin«, sagte ich also.

Sie nickte, aber ihr Lächeln war jetzt ein bisschen stolz. »Es war auch nett, dass du und dein Freund helfen wolltet. Die meisten Leute gaffen immer nur.«

»Die Hilfe war ja nicht nötig«, erinnerte ich sie. »Du hattest die Sache schließlich vollkommen im Griff.«

Sie winkte ab. »Ach, mit der Zeit lernt man, wie man mit den schweren Jungs umgehen muss. Viele von denen sind eigentlich nur zu wenig geknuddelt worden, als sie Kinder waren.«

»Oder zu viel.« Ich grinste. »Woher wusstest du, dass er noch zu Hause wohnt?«

»Ich kenne seine Mum.« Sie zuckte mit den Schultern. »Sie kommt immer am Montag mit ihren Bridgefreundinnen her und jammert, dass der liebe Justin nicht ausziehen will.«

»Vielleicht sollte sie sich von dir erklären lassen, wie man jemanden rauswirft«, sagte ich trocken.

Sie lachte. »Ja, vielleicht. Wobei ich fast bereue, das getan zu haben. Ich hätte gern gesehen, wie du das ohne mein Insiderwissen erledigst.« Es klang neckend.

»Traust du mir das etwa nicht zu?« Ich hob amüsiert eine Augenbraue.

»Oh, doch. Ich traue dir das mehr als zu.« Sie sagte es auf eine Art, die mich für einen Moment glauben ließ, sie wüsste über mich Bescheid. Aber das konnte nicht sein – was wir taten, war mehr als nur geheim. »Ich meine, wer diese wirklich schweren Pappkartons tragen kann, wird sicherlich auch mit Justin fertig«, schob sie spöttisch nach.

»Autsch, das tat weh«, ich griff mir ans Herz. »Vielleicht sollte ich ein paar Getränkekisten für dich tragen, damit ich mein Ego wieder aufpolieren kann.«

»Volle oder leere Kisten?« Sie schaute mich unschuldig an und ich grinste.

»Okay«, lachte ich. »Jetzt bin ich wirklich beleidigt.«

»Nein, bist du nicht.« Ihr Widerspruch klang vertraut und das Gefühl in meinem Magen drehte eine Extrarunde. Da fiel mir auf, dass ich meine Manieren wohl im Pub gelassen hatte, als ich hier rausgekommen war.

»Ich bin übrigens Noel«, stellte ich mich vor.

Das Nennen meines Namens schien sie kurz aus dem Konzept zu bringen, denn für eine Sekunde schaute sie mich nur an, bis ihr einzufallen schien, dass sie noch nichts gesagt hatte. »Ich bin Charlotte.«

»Freut mich, Charlotte.«

»Ja, mich auch.« Sie nickte und lächelte, aber jetzt war es ein bisschen verlegen, was ich bei ihr nicht erwartet hätte. Dann zeigte sie zur Tür. »Ich sollte wohl besser wieder rein. Du hast ja gesehen, was los ist. Und die Getränkekisten tragen sich nicht von allein.«

»Mein Angebot steht noch«, sagte ich.

Charlotte schien einen Moment zu überlegen, dann nickte sie. »Okay, komm mit.«

Ich folgte ihr ins Innere und dann in einen Flur, der nach rechts um eine Ecke bog. Wir waren fast am Ende des Ganges angekommen, als plötzlich die Beleuchtung an der Decke ausging und alles dunkel wurde.

»Keine Sorge, ich kenne mich hier aus.« Charlotte streckte instinktiv die Hand nach mir aus und fand meinen Arm. Ich legte wie automatisch meine Finger auf ihre und unsere Blicke trafen sich im schwachen Licht der Notausgangsbeleuchtung.

Es war, als hätte jemand die Zeit für einen Moment angehalten. Ein Schlag fuhr durch meinen Körper wie eine Vorahnung. Der Blick aus Charlottes braunen Augen verband sich mit meinem zu etwas, das ich nie hätte benennen können. Und sie merkte es auch, ich konnte es fühlen, klarer als jemals etwas zuvor.

Sie kam so nah, dass ich die Wärme ihres Körpers an meinem spüren konnte. Ich hörte sie zitternd einatmen, hatte den Drang, ihr noch näher zu kommen, aber ich beherrschte mich, überließ die Entscheidung ihr. Es dauerte nur eine Sekunde, dann verschwand das Zögern aus Charlottes Blick. Sie hob die Hand und berührte mich an der Wange, ich spürte ihren Atem auf meiner Haut. Und endlich erlöste sie uns beide und küsste mich.

Im ersten Moment war der Kuss sehr sanft und trotzdem heftiger als alles, was ich bisher erlebt hatte. Tausend Empfindungen explodierten in meinem Körper, es fühlte sich an, als hätte ich mein ganzes Leben nur darauf gewartet, sie zu küssen – als hätte ich genau gewusst, dass ich es irgendwann tun würde. Aber es war nicht genug, ich wollte mehr, wir beide wollten mehr. Ich zog Charlotte enger an mich, sie schlang ihre Arme um meinen Hals und öffnete ihren Mund. Ich spürte ihre Zunge an meiner und unterdrückte den Laut, der mir die Kehle hochstieg, als Charlotte mir meine Jacke von den Schultern zog und ihre Hände unter meinen Pullover schob. Unsere Lippen trafen sich erneut, ich vertiefte den Kuss, löste ihren Zopf, vergrub meine Hände in ihren Haaren.

Da ging das Licht plötzlich wieder an.

Charlotte versteifte sich, als wäre ihr plötzlich klar geworden, was wir da taten. Dann machte sie sich von mir los. »Scheiße«, stieß sie aus und trat einen Schritt zurück, jetzt nur noch Verunsicherung und Bedauern in ihren Augen. »Es tut mir leid, ich hätte nicht … es tut mir leid.« Sie sah mich nicht an, während sie ihre Entschuldigung stammelte. Dann drehte sie sich um und stürmte in die Richtung davon, aus der wir gekommen waren.

Ich blieb allein zurück, holte Luft, weil ich sie die ganze Zeit angehalten hatte. Was war das denn gewesen? Das weißt du genau, sagte eine Stimme in meinem Kopf, und sie hatte recht. Mein Gefühl, als ich Charlotte zum ersten Mal angesehen hatte, war richtig gewesen – sie hatte mich völlig aus der Bahn geworfen. Aber das hieß nicht, dass ich dem Gefühl nachgeben musste. Ich konnte mich dagegen entscheiden, und genau das war es, was ich tun würde. Ganz egal, wer ich war und was ich in ihrer Gegenwart fühlte. Wir befanden uns im Krieg. Ich durfte mich im Moment auf nichts einlassen, das mich von meiner Pflicht ablenkte. Und wenn ich es noch so sehr wollte.

Ich nahm meine Jacke vom Boden und ging zurück in den Pub, um Oscar zu holen, damit wir endlich gehen konnten. Aber als ich meinen Blick über die Leute schweifen ließ, konnte ich sein Gesicht nirgendwo entdecken. Wo bist du, verdammt noch mal? Die Brünette, mit der er geflirtet hatte, war an den Nebentisch verschwunden, wo sie Selfies mit jemandem machte, der aussah wie Ed Sheeran. Aber mein Freund war nirgends zu sehen. Ich benutzte meine Fähigkeit, aber bei dem Chaos in meinem Inneren war sie alles andere als zuverlässig. Also half nur die altmodische Suche.

Ich nahm mein Handy und rief ihn an, aber er ging nicht ran. Also zwängte mich eilig durch die Menge zu den Toiletten, folgte dem miesen Gefühl, das ich hatte. Dabei rempelte ich zwei Typen an.

»Hey, Alter, pass gefälligst auf!«, raunzte der eine.

Ich murmelte eine Entschuldigung. Da trat mir der andere in den Weg.

»Willst du Ärger, Mann?«

Ich verdrehte die Augen. Natürlich hätte ich mich mit ihnen anlegen können und wäre garantiert nicht als Verlierer aus der Nummer rausgegangen. Aber ich suchte meinen Freund. Ich hatte keine Zeit für eine Prügelei.

Schnell packte ich den zweiten Kerl an den Schultern und drückte ihn an die Wand. Dann sah ich ihm fest in die Augen und dachte an etwas anderes als meine Panik und seine Wut. Der Willen des Typen wehrte sich nur einen winzigen Moment, dann gab er nach. Sein Blick wurde leer und ich schob ihn zur Seite.

»Geht doch.« Ich ging vorbei zu den Toiletten und stieß die Tür auf, um mich umzusehen. Zwei Kerle standen an den Pissoirs und beäugten mich misstrauisch. »Bist du schwul oder was?«, fragte der eine aggressiv.

»Japp, bin ich«, sagte ich sarkastisch. Was hatte ich an mir, dass jeder Ärger mit mir anfangen wollte? Ach ja, richtig. Mein Erbe. »Und hey, weil ich mich mit euch im selben Raum aufgehalten habe, seid ihr es jetzt auch. Gratulation.«

Oscar war nicht in den Kabinen, und bevor zwei weitere Manipulationen fällig wurden, trat ich den Rückzug an. Aber auch im Flur war er nicht, ebenso wenig an der Theke. Ich suchte den gesamten Gastraum nach ihm ab, aber er war nicht mit irgendeinem Mädchen in eine Ecke verschwunden. Also ging ich wieder vor die Tür. Vielleicht war Oscar eine rauchen gegangen. Wenn wir unterwegs waren, tat er das manchmal.

Immer noch standen viele Leute vor dem Pub, Oscar war nicht dabei. Ich fragte mich durch, ob sie ihn gesehen hatten – Fehlanzeige. Aber wer achtete heutzutage noch auf einen Typen, der Feuer schnorrte oder auf dem Bürgersteig neben einem stand?

Ich wollte gerade loslaufen, um in der Hauptstraße von Camden nach Oscar zu suchen, als sich zwanzig Meter vor mir wieder die Tür vom Seitenausgang öffnete und ein blonder Zopf auftauchte. Charlotte. Sie sah mich nicht, sondern stellte eine Kiste mit Altglas auf den Boden und verschwand dann wieder.

Ich folgte ihr mit den Augen und schob den Schmerz weg, der sich mir aufdrängte und sich anfühlte, als hätte ich sie verloren. Es war unlogisch, aber trotzdem erschreckend real. Deswegen dauerte es, bis mich etwas aus meiner Erstarrung riss: ein Funkeln auf dem Gehsteig, das Display eines Handys. Ich lief hin, rutschte auf einem vereisten Stück Boden beinahe aus und fing mich nur dank guter Reflexe. Dann ging ich in die Hocke.

Die anderen nannten mich oft paranoid und vielleicht hatten sie recht. Der Rest des Teams hätte behauptet, Oscar wäre mit einem Mädchen ins Wohnheim verschwunden, und sie hätten prophezeit, dass ich mir vollkommen umsonst Sorgen machte. Aber in dieser Sekunde, als ich sein kaputtes Smartphone vom Asphalt hob, wusste ich es: Sie hatten ihn. Sie hatten Oscar.

Und das war meine Schuld.

Vier Monate später

1

»Guten Abend, Charlotte. Das Gleiche wie immer?«

Ich grinste. »Du kennst mich, Mohana. Ich bin ein Gewohnheitstier.«

»Das sind mir die liebsten.« Die Inderin lächelte breit. »Ich bin gleich wieder da. Amar hat die Bestellung bestimmt schnell fertig.«

»Macht euch keinen Stress, ich habe Zeit.« Ich sah Mohana nach, wie sie in der Küche verschwand. Dann stellte ich meine Sporttasche ab und lehnte mich gegen den mit orangefarbenem Stoff bespannten Tresen.

Das Indian Dreams war an diesem Dienstagabend mäßig besucht, nur drei Tische waren besetzt. An einem lärmte eine Familie mit vier Kindern, der zweite wurde von einem Paar um die fünfzig in Beschlag genommen. Am letzten saß eine junge Frau allein vor drei vollen Platten, ohne etwas anzurühren. Sie hatte die Hände gefaltet, als würde sie beten. Es wirkte merkwürdig, sogar hier. In London gab es so ziemlich jede Religion, die unsere Welt zu bieten hatte. Aber diese Frau, in ihrem Kapuzenpulli und mit dem unordentlich gebundenen Zopf, sah nicht so aus, als würde das tägliche Gebet zu ihr passen.

Ich beobachtete sie einen Moment, da sah sie plötzlich auf und schaute mich direkt an. Fast wäre ich einen Schritt zurückgewichen, so durchdringend war ihr Blick. Trotzdem schaute ich nicht weg, das tat ich nie. Stattdessen straffte ich die Schultern und hob das Kinn. Die Frau quittierte es mit einem schmalen Lächeln. Dann senkte sie den Kopf und faltete ihre Hände erneut.

»So.« Mohana kam zurück und lenkte mich von ihrem unheimlichen Gast ab. »Hier haben wir einmal die 24, dann noch die 48 und zweimal die 12. Das macht 26 Pfund und 30 Pence.«

Ich nahm einen Fünfziger und schob ihn über den Tresen. »Machen wir dreißig.«

»Vielen Dank.« Mohana gab mir einen Zwanziger zurück.

»Nein, ich danke dir.« Ich schob das Restgeld in die Hosentasche. »Wenn ihr nicht wärt, bekäme ich nicht jeden Dienstag das beste indische Essen in ganz London.«

»Wenn das nur mehr Leute so sehen würden …« Mohana seufzte, als sie einen Blick in den Gastraum warf. Ich konnte die dunkle Wolke mit all den Sorgen über ihrem Kopf förmlich sehen. Zu gerne hätte ich dafür gesorgt, dass es ihr besser ging. Aber das durfte ich nicht. Nicht so.

»Läuft es zurzeit nicht gut?«, fragte ich stattdessen vorsichtig. Das Restaurant von Mohana und ihrem Mann Amar Batra war wie die beiden selbst in die Jahre gekommen, aber trotzdem sehr gemütlich. Gut, ich hätte wahrscheinlich ein paar der 364 Elefanten entfernt und das Orange reduziert. Aber sonst gab es nichts zu meckern.

»Wir hatten ein paar schlechte Google-Bewertungen in den letzten Monaten, und seit an der Early der Schickimicki-Inder aufgemacht hat, ist es noch schwieriger geworden.« Mohana hob die Schultern. Ich sah sie mitfühlend an.

»Kann ich irgendetwas tun? Soll ich Dex fragen, ob er eine Idee hat?«

»Nein, bitte nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir möchten deinem Bruder nicht zur Last fallen.«

»Das tut ihr nicht. Er freut sich, wenn er helfen kann.«

Mohana schüttelte den Kopf. »Danke für das Angebot, aber das ist nicht nötig.«

»Okay.« Mehr konnte ich nicht tun.

»Aber sag Dex einen lieben Gruß. Wenn er zur nächsten Versammlung mit der Gastro-Gewerkschaft kommen würde, wäre das eine große Hilfe.«

»Ich richte es ihm aus.« Mit Schwung hob ich die Papiertüte vom Tresen und nahm meine Tasche. »Einen schönen Abend, Mohana. Grüß Amar von mir.«

»Dir auch, Liebes. Ich richte es ihm aus.«

Ich ging zur Tür und war schon fast draußen, da fiel mir die unheimliche Frau wieder ein. Schnell warf ich einen Blick über die Schulter, um zu ihr zu schauen, aber sie war weg. Auf dem Tisch stand nur das unberührte Essen.

Es dampfte immer noch.

Bis nach Hause war es nicht weit, deswegen ging ich zu Fuß. Gemächlich schlenderte ich durch die Straßen und versuchte, niemanden mit meiner Sporttasche anzurempeln. Camden war um diese Uhrzeit ziemlich belebt – Studenten, die noch keine Lust auf ihr Acht-Quadratmeter-Zimmer hatten, Leute auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, Touristen mit ihren Einkäufen vom Market. Einige von ihnen hatten das gleiche Ziel wie ich: Sie steuerten direkt auf einen Pub zu, der prominent an der Ecke thronte. Die dunkle Holzvertäfelung brauchte demnächst eine Renovierung, aber der goldene Schriftzug über den Buntglasfenstern trotzte Wind und Wetter.

»The Empty Grail?«, motzte davor ein Tourist mit deutlichem US-Akzent. Um seinen Bauch baumelte eine Gürteltasche. »Die spinnen doch, die Briten. Überall Arthur und Ritter und die Tafelrunde. Das sind alles nur Mythen, aber die tun so, als gäbe es den Heiligen Gral wirklich. Und dann noch dieses Wortspiel! Hier esse ich nicht.«

Ich lächelte in mich hinein, ignorierte die beiden und schob die Tür zum Pub auf. Sofort empfing mich eine vertraute Atmosphäre. Die abgewetzten dunklen Tische, die alten Leuchter und der honigfarbene Dielenboden, dazu der Geruch nach Ale, deftigem Essen und günstigen Kerzen aus dem Großhandelsmarkt – das war meine Heimat. Wenn ich nicht gerade meinen Hobbys nachging, spielte sich mein Leben in diesen vier Wänden ab. Zwar war Dex nicht begeistert gewesen, als ich ihm im letzten Sommer gesagt hatte, ich wolle ein Jahr warten, bevor ich mich für ein Studium entschied, aber ich wusste, er war froh, dass ich regelmäßig im Grail bediente oder am Tresen stand.

»Wie war das Training, Charles?« Mortimer, unser Barkeeper, bediente die Zapfanlage, denn im Gegensatz zum Indian Dreams war der Pub gut gefüllt. Auf dem Fernseher hinter der Bar liefen die Nachrichten, irgendetwas über den Brexit und die Auswirkungen davon. Unten im Bild kreisten weitere Schlagzeilen, allesamt Negativmeldungen über verstorbene Musiker, einen Militärputsch und Selbstmordattentate. Die Welt hatte momentan ganz schön zu kämpfen. Noch mehr als sonst auf jeden Fall.

»Das Training? Anstrengend.« Ich stellte das mitgebrachte Essen auf den Tresen. »Aber es war trotzdem gut.«

»Ich habe immer noch Probleme, mir dich als Ballerina vorzustellen, wenn du hier die Störenfriede rauswirfst.« Mortimer lächelte breit unter seinem liebevoll gezüchteten Schnurrbart.

»Erstens werfe ich nur selten jemanden raus. Und zweitens tanze ich nicht Ballett, sondern Hip-Hop. Das ist viel cooler.« Und es passte besser zu mir. Bei dem Gedanken daran, wie ich versuchte, in einem Tutu in die Luft zu hüpfen, musste ich grinsen.

»Solange du nicht halb nackt bei MTV herumspringst.« Der Barkeeper warf mir einen strengen Blick zu. »Ich habe die Musikvideos gesehen.«

Ich schnalzte mit der Zunge. »Wann war das, 1995? MTV ist lange tot, Morty. Fang endlich an, YouTube zu gucken.«

Morty brummte etwas Unverständliches in seinen Bart, vermutlich über die verdammte moderne Technik und dass niemand diesen Unfug brauchte. Ich sah mich im Pub um.

»Wie macht sich die Neue?« An dem voll besetzten Ecktisch stand eine junge Frau mit Kurzhaarschnitt und versuchte, alle Bestellungen auf ihrem Block zu notieren.

»Ganz gut«, nickte Morty. »Aber ob sie durchhält, werden wir wohl erst am Wochenende sehen, wenn es wirklich stressig wird.«

Da hatte er recht. An Tagen wie heute war zwar auch etwas los, aber es war kein Vergleich zu der Hölle, die freitags und samstags über uns hereinbrach.

»Wir geben ihr einfach ein paar Tische weniger«, sagte ich. »Den Rest kann ich übernehmen.«

Morty sah mich an. »Ich dachte, du wolltest am Wochenende zu diesem Festival oben in Glasgow. Hatten Otis und du das nicht schon seit Monaten geplant?«

»Oh, das …« Ich rieb über einen Brandfleck auf der Holzoberfläche des Tresens. »Das wird nichts. Otis und ich haben uns getrennt. Und da er gesagt hat, dass es ihm lieber wäre, wenn wir uns erst mal nicht sehen, bleibe ich hier.«

»Getrennt?« Morty machte große Augen. »Wann ist denn das passiert?«

»Letzten Monat oder so«, sagte ich vage. Dabei erinnerte ich mich sehr gut an den Tag, als ich meinem Freund gesagt hatte, dass ich unsere Beziehung beenden würde. Wir waren seit letztem Sommer zusammen gewesen und ich hatte geglaubt, es könnte etwas Ernsteres werden, denn Otis und ich kannten uns schon ewig und waren gute Freunde gewesen, bevor wir gemerkt hatten, dass da vielleicht mehr war. Aber seit diesem einen Abend im Januar hatte mich das Gefühl nicht mehr losgelassen, dass es anders sein sollte, wenn man sich in jemanden verliebte – von meinem schlechten Gewissen ganz zu schweigen. Ich hatte versucht, das Ganze wegzuschieben und zu vergessen, aber Otis hatte gemerkt, dass etwas nicht stimmte, und schließlich hatte ich ihm die Wahrheit gesagt: dass zwischen uns Freundschaft war, aber eben doch nicht mehr.

»Das tut mir leid«, sagte Morty. »Ich mochte den Kerl, auch wenn ich mich erst an den Gedanken gewöhnen musste, dass du langsam erwachsen wirst. Für mich bist du nicht achtzehn, sondern wirst auf ewig zwölf Jahre alt sein und am Tresen deine Matheaufgaben machen. Jungs passen da nicht ins Bild.«

Ich grinste. »Sorry, Morty, ich kann nicht ewig Single bleiben, damit du beruhigt bist.«

»Ach, dann gibt es schon jemand Neues?«

»Nein.« Obwohl es nicht gelogen war, kam mir bei Mortys Worten sofort jemand in den Sinn. Jemand mit dunkelbraunen Haaren, die ihm in die Stirn gefallen waren, als wir uns geküsst hatten. Jemand mit grünen Augen, die mich angesehen hatten, als wüsste er etwas über uns, das mir bisher verborgen geblieben war. Obwohl seitdem vier Monate vergangen waren, erinnerte ich mich genau an seine Gesichtszüge, an seine Stimme, an dieses Gefühl, das seine Gegenwart in mir ausgelöst hatte. Noel. Ich würde ihn niemals vergessen können, das wusste ich. Schließlich hatte ich es mit aller Macht versucht.

Er war mir bereits aufgefallen, als er den Pub betreten hatte – aber nicht wegen seines Äußeren. Unser Pub war ein Anlaufpunkt für Studenten, jedes Wochenende tauchten gut aussehende Jungs auf, daran war ich gewöhnt. Nein, ich hatte Noel wiedererkannt. Ich hatte zwar kein gutes Gedächtnis für Gesichter und seinen Namen hatte ich bis zu diesem Tag nicht gewusst. Trotzdem waren Menschen für mich unverwechselbar. Das Gesamtpaket ihrer Eigenschaften und Gefühle war wie Lichter in einem zugefrorenen See, heller oder dunkler, stärker oder schwächer, je nach Person. Es war eine Signatur, die man nicht vor mir verstecken konnte, vor allem Noel nicht. Nicht hinter zehn Jahren verstrichener Zeit, nicht hinter einer trainierten Statur oder einer selbstsicheren Ausstrahlung.

Ich hatte mir nichts anmerken lassen, obwohl all meine inneren Alarmglocken gleichzeitig geschrillt hatten. Trotz des warnenden Pochens in meinen Fingerspitzen hatte ich meine Bedienungsnummer abgezogen wie sonst auch, hatte mit ihm und seinem Freund geflirtet, ich hatte Noel sogar »Champ« genannt. Und ich hatte mich krampfhaft davon abgehalten, zu ihm zu sehen, obwohl jeder Nerv in mir genau das gewollt hatte. Es hatte halbwegs funktioniert – bis wir uns hinten in der Gasse begegnet waren und ich ihn schließlich im dunklen Gang zum Lager am Arm berührt hatte.

In diesem Augenblick war da etwas gewesen, das ich bis heute nicht richtig beschreiben konnte. Ein Gefühl von Vollkommenheit, so als hätten alle Fragen, die ich je gestellt hatte, eine Antwort bekommen. Und eine Anziehung, die weit über die körperliche Ebene hinausging. Es hätte mich nicht überraschen sollen, nicht überraschen dürfen. Und trotzdem hatte es mich vollkommen überwältigt, wie stark dieses Gefühl gewesen war, genau wie der Drang, Noel zu küssen. Es war mir so richtig vorgekommen, ihm nachzugeben, und es hatte sich unglaublich angefühlt – bis das Licht wieder angegangen und mir klar geworden war, dass ich das nie hätte tun dürfen. Also war ich schnell verschwunden, hatte meine Schicht beendet und war in die Wohnung geflüchtet. Gesehen hatte ich Noel seit diesem Abend nie wieder. Erst hatte ich an den Wochenenden ständig voller Hoffnung zur Tür geschaut, aber dann war ich erleichtert gewesen. Es war gut, dass er nicht wiedergekommen war. Es war sicherer so.

»Hey, Erde an Charlotte, jemand zu Hause?« Morty wedelte mit dem Geschirrtuch vor meinem Gesicht herum.

»Ja, sorry.« Ich packte Noel und diesen Abend inklusive aller Gefühle wieder in das abschließbare Fach in meinem Gedächtnis.

»Es ist schon fast acht. Ist alles bereit für euren Geschwisterabend?«

»Natürlich.« Ich nickte und zeigte auf das Essen. »Fehlen nur noch unsere Couch und die Fernbedienung.«

»Was schaut ihr euch heute an?« Morty wusste, dass Dex und ich den Dienstagabend grundsätzlich nutzten, um aufgenommenen Quatsch der letzten Woche zu gucken und darüber zu lästern. Mein Bruder hatte mit dem Pub so viel zu tun, dass er schon seit Jahren einen Abend freihielt, damit wir Zeit miteinander verbringen konnten.

Ich seufzte. »Britain’s got Talent ist seit zwei Wochen vorbei und X-Factor läuft noch nicht. Also habe ich mich von Dex breitschlagen lassen, endlich Star Trek eine Chance zu geben.«

»Ist das diese Sache mit dem Typen, der ein Atemwegsproblem hat?«

»Nein, das ist Star Wars. Und du kannst froh sein, dass Dex das nicht gehört hat.« Ich hob mahnend den Zeigefinger. »Ist er im Büro?«

»Kann sein. Ich habe ihn heute noch gar nicht gesehen.«

»Den ganzen Tag nicht?« Ich nahm mein Telefon und checkte meine Nachrichten. Vor einer halben Stunde hatte ich Dex ein »Bin mit Warpgeschwindigkeit auf dem Weg nach Hause« geschickt, aber er war schon seit dem Morgen nicht mehr online gewesen. Komisch. Normalerweise sah mein Bruder regelmäßig auf sein Handy. »Ich gehe mal hoch, vielleicht ist er dort.«

»Mach das. Er ist sicher da, er vergisst euren Abend doch nie.«

Das stimmte. Dex war ein impulsiver und manchmal nervtötend sprunghafter Mensch, aber der Dienstagabend war ihm heilig. Uns beiden. Ich nahm das Essen und ging zum Durchgang hinter dem Tresen.

»Bis später, Morty.«

»Schönen Abend, Charles.« Morty zwirbelte seinen Bart, drehte mir seinen massigen Rücken zu und widmete sich wieder dem Bier.

Das Treppenhaus roch wie immer nach Holz, Frittierfett und alter Tapete. Ich atmete tief ein, ging eine Etage nach oben, das Essen in einer Hand, meine Sportsachen in der anderen. Vor unserer Tür kramte ich nach meinem Hausschlüssel, der sich in der letzten Ecke der Tasche versteckt hatte. Dann schloss ich auf und ging in die Wohnung.

»Dex?« Niemand antwortete. »Dex, bist du da?« Immer noch nichts.

Die Tasche landete in der Ecke, direkt neben meinen Schuhen und meiner Jacke. Warum war Dex nicht da? Wie Morty gesagt hatte: Mein Bruder verpasste nie einen Geschwisterabend.

Ich lief einmal durch unsere Wohnung und das liebevolle Chaos, das wir in den letzten zehn Jahren zu unserem Zuhause gemacht hatten. Das Wohnzimmer mit der alten und löchrigen Ledercouch, die Küche mit dem abgetretenen Fliesenboden und das Bad, in dem der Boiler nie richtig funktionierte und daher entweder kaltes oder kochend heißes Wasser ausspuckte. Daneben lag mein Zimmer mit Blick auf den Kanal, eingerichtet mit Möbeln von Trödelmärkten und Ikea, die wir mit Farbe und Halbwissen aufgehübscht hatten. Dex’ Zimmer gegenüber hatte den zweckmäßigen Charme einer Junggesellenbude, mit Bett, Schrank und einem Sessel für die Dreckwäsche. Wir hatten seit meinem Einzug kaum etwas geändert, aber mir war das nur recht. Ich war vorher genug umgezogen, um eine Wohnung zu schätzen, die immer gleich blieb.

Das Festnetztelefon zeigte keinen verpassten Anruf an und ich griff nach dem Handy, um die Nummer meines Bruders zu wählen. Es klingelte lange, dann ging die Mailbox ran. Ich versuchte es ein zweites Mal. Gleiches Ergebnis.

Ich zog die Schuhe wieder an, schob mein Handy in die hintere Hosentasche, schnappte meinen Schlüssel und wanderte zurück ins Erdgeschoss. Mein Ziel war das Büro am Ende des Flurs. Dort brannte Licht, Dex war trotzdem nicht da. Ich wollte gerade die Lampe ausschalten und gehen, da fiel es mir auf: Der Schreibtisch war aufgeräumt. Was zur Hölle? Dex räumte nie auf. Warum also lagen nun penibel aufgeschichtete Papierstapel auf dem matt glänzenden Holz? Und wann hatte ich dieses Holz zum letzten Mal gesehen? Seit ich mich erinnern konnte, war der Tisch unter Lieferscheinen, Getränkebestellungen und Rechnungen begraben gewesen. Ein ungutes Gefühl kroch meinen Nacken hinauf. Irgendetwas stimmte nicht.

Morty hatte zwar gesagt, dass er Dex den ganzen Tag nicht gesehen hatte, aber ich ging trotzdem Richtung Pub, um die anderen zu fragen. Vielleicht wusste unsere Köchin Eliza, wo mein Bruder war. Sie kam meist früher als der Barkeeper.

In der Küche war es gefühlt zehn Grad wärmer, der Grill zischte, der Fettabzug röhrte. Eliza und ihre beiden Hilfen Ed und Lewis flitzten von einer Seite auf die andere. Die Luft waberte von dem Duft nach Steak, Chili und Pommes.

»Hey, Charles.« Eliza, mit einer Grillzange bewaffnet und einem roten Bandana über den schwarzen Locken, grinste. »Brauchst du was? Ich dachte, heute ist Geschwisterabend.« Jeder im Pub wusste, dass wir dann Essen von Mohana und Amar holten.

»Ja, ist er auch … eigentlich. Aber Dex ist nicht da. Hat einer von euch ihn heute gesehen?«

Ed und Lewis schüttelten die Köpfe. Aber Eliza nickte.

»Heute Morgen, bevor ich zum Großmarkt gefahren bin. Dex war im Büro und hat irgendetwas gesucht. Es schien wichtig zu sein – und eilig. Ich wollte ihn nach der Speisekarte fürs Wochenende fragen, aber er hat gemeint, er hätte keine Zeit dafür und ich solle das allein entscheiden.«

»Hat er gesagt, wo er hingeht?«

»Nein, tut mir leid.« Eliza sah mich bedauernd an. »Aber du kennst doch Dex und seine Flausen. Er ist sicher bald wieder da.«

»Ja, bestimmt.« Ich quetschte ein Lächeln hervor. In dem Moment kam die Neue durch die Schwingtür in die Küche, in der Hand mehrere Bons. Ihre Tirade über das bösartige Kassensystem füllte den Raum, aber ich nahm sie gar nicht richtig wahr. Ich sah nur die beiden Typen, die bei Morty an der Bar standen.

Sie waren jung, Mitte zwanzig, gekleidet wie Studenten. Aber das konnte mich nicht täuschen, denn ich sah viel mehr als nur ihre Kleidung oder Gesichter – und was ich sah, jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken.

Dunkelheit.

Es dauerte nur eine Sekunde, dann schwang die Tür wieder zurück und ich ging eilig zur Durchreiche, um zu hören, was gesprochen wurde. Das zischende Fett und der Lärm der Abzugshaube machten es mir schwer, aber ich verstand ein paar Fetzen.

»… müssen sie dringend finden …«

»… vielleicht in Gefahr …«

»… eine Frage der Sicherheit …«

Ich wagte es und warf einen Blick durch die Öffnung zum Gastraum. Einer der jungen Männer zeigte Morty gerade ein Bild auf seinem Handy. Ich konnte sehen, dass es abfotografiert und von schlechter Qualität war. Aber wen es zeigte, konnte ich trotzdem sehr gut erkennen.

Das war ich vor zehn Jahren.

Ruckartig wich ich zurück. Mein Körper wurde taub, mein Hirn stellte vor Schock den Dienst ein. Aber eine Erkenntnis kam noch durch, so klar, als hätte man sie vor mir in die Luft geschrieben.

Sie sind hier. Sie haben mich gefunden.

2

Du musst verschwinden! Los, beweg dich!

Obwohl meine innere Stimme mich anschrie, blieb ich stocksteif stehen wie einer der Pantomimen, die in der Camden Street die Touristen unterhielten. Aber immerhin sprang mein Kopf wieder an. Dieses Foto. Diese Typen. Dex’ Verschwinden. Hing das zusammen?

»Tut mir leid, ich kenne das Mädchen nicht.« Die Abzugshaube war nun leiser, deswegen konnte ich Morty besser verstehen. »Ich habe sie noch nie hier gesehen.«

»Soll das ein Witz sein?«, fragte einer der Typen. »Wir wissen, dass dieser Pub dem Bruder von Charlotte Stuart gehört. Sie sollten uns besser nicht anlügen.«

Plötzlich tauchte Eliza vor mir auf und ich erschrak.

»Charles, ist alles in Ordnung? Du bist weiß wie ein Seelachs.«

Ich hörte sie kaum. Ich hörte nur Mortys brummenden Bass und dann wieder den Kerl, der nach mir suchte: »Wenn Sie uns nicht helfen, werden wir uns selbst umsehen müssen.«

Er hatte eine angenehme Tonlage, irgendwie warm und behaglich. Aber seine Worte waren für mich trotzdem wie scharfkantige Scherben aus Eis.

»Charlotte? Hey.« Eliza berührte meine Schulter.

»Es ist alles okay«, murmelte ich. »Ich muss nur …« Keine Ahnung, was ich musste.

Die Schwingtür machte einen Satz, als die Neue mit zwei Tellern hinausstürmte. Das Geräusch riss mich aus meiner Starre. Weg hier!, brüllte die Stimme noch einmal. Aber ich hörte nicht darauf. Dex hatte einmal gesagt, dass jeder normale Mensch vor gefährlichen Situationen davonlief – nur ich nicht. Ich hatte die Angewohnheit, direkt darauf zuzulaufen.

So wie jetzt.

Ich machte meinen Rücken gerade, strich mir eine lose Strähne aus dem Gesicht und öffnete die Schwingtür. Mit festem Schritt ging ich zum Tresen und trat neben Morty. Ich musste wissen, wer die beiden geschickt hatte und wie viel sie über mich wussten.

»Kann ich euch helfen?«, fragte ich und sah die Typen an. Der eine war groß und kräftig, der andere etwas schmaler, hatte sehr gut aussehende Züge, tiefbraune Haare und ein Lächeln im Mundwinkel, mit dem er mich jedoch nicht täuschen konnte.

»Bist du Charlotte Stuart?« Er sah mich aus dunklen Augen an. Sein Blick schien mich abzutasten, blieb an verschiedenen Stellen in meinem Gesicht hängen. Ich versuchte, meine Abneigung gegen diese Musterung nicht zu zeigen.

»Kann sein«, sagte ich kühl. »Allerdings dachte ich immer, wir Briten wären so ein höfliches Volk. Vielleicht sagt ihr mir erst, wer ihr seid. Dann kann ich mir überlegen, ob ich den Gefallen erwidere.«

Die Augenbraue des Typen zuckte, trotzdem nickte er. »Gerne. Aber nicht in aller Öffentlichkeit.« Er sah kurz zu seinem Kollegen, dann ging er allein zu einem Tisch am Fenster. Morty sah mich besorgt an, aber ich schüttelte den Kopf und folgte dem Fremden.

»Also, wer seid ihr?« Ich setzte mich und verschränkte die Arme. Hinter der Theke hatte ich mich sicherer gefühlt.

»Warum so feindselig? Wir sind die Guten.« Der Kerl mit den dunklen Augen sah mich immer noch mit diesem forschenden Blick an. Das war allerdings nicht das, was meine Hände klamm werden ließ. Es war das, was ich Feld nannte, die Gesamtheit der Gefühle eines Menschen, für mich sichtbar durch Licht und Schatten. Zwischen Dunkel und Hell gab es Unmengen von Abstufungen, die mir sagten, ob jemand Liebe, Hass, Wut, Kummer, Unbehagen, Trauer, Begeisterung oder etwas anderes empfand. Aber das Feld des Typen vor mir war anders. Wo bei normalen Menschen Lichter und Schatten sich meist die Waage hielten, herrschte bei ihm beinahe vollständige Dunkelheit. So etwas hatte ich noch nie gesehen.

»Wenn du Freundlichkeit erwartest, solltest du nicht mit einem alten Foto hier auftauchen und von Gefahr und Sicherheit reden, als wärst du von Scotland Yard.« Er hatte mir seinen Namen immer noch nicht gesagt. »Oder bist du von Scotland Yard?«

»Nein«, sagte er offen. »Wir sind von einer anderen Organisation.«

Das wusste ich längst. Ich wusste auch, dass er mich niemals hätte finden dürfen. »Und was will diese Organisation von mir …?« Ich ließ das Ende des Satzes als Frage ausklingen, um herauszufinden, wie er hieß. Er kannte meinen Namen, da war es nur fair, wenn ich gleichzog.

»Killian. Ich bin Killian Mayfield.« Er lächelte halb und streckte die Hand aus. Ich ergriff sie nicht. »Du stehst wohl nicht auf Small Talk«, stellte er fest. »Sollen wir lieber Klartext reden?«

»Ich bitte darum«, sagte ich. »Du und deine Freunde seid ja sicher nicht wegen der 84 Biersorten hier, die wir haben.« Mir war aufgefallen, dass nicht nur Killian und sein Kumpel im Pub waren, sondern noch zwei weitere Männer und eine Frau. Sie verhielten sich unauffällig, aber ihre Felder … es war die gleiche Dunkelheit, nicht so stark wie bei Killian, aber deutlich genug.

»Du kannst es also tatsächlich.« Seine Augen leuchteten auf. »Auch die Sache mit den Essenzen? Oder ist das nur ein Gerücht?«

Essenzen? »Ich kann mir acht Bestellungen auf einmal merken und bin echt gut im Tischkickern. Von Essenzen weiß ich nichts.« Meine Lässigkeit war nicht besonders gut gespielt. Killian bemerkte es.

»Ich dachte, wir wollten Klartext reden?«

»Du wolltest Klartext reden«, stellte ich richtig. »Nur habe ich bisher nichts in der Richtung von dir gehört.« Ich wich seinem Blick nicht aus, obwohl es unangenehm war, ihm in die Augen zu sehen.

»Also gut.« Killian nickte und die Maske aus Freundlichkeit verschwand. Seine Stimme wurde leise und messerscharf. »Wir wissen, was du kannst, Charlotte. Wir wissen es, weil du bei uns warst, bevor Dex so dumm war, dich und deine Gnade vor der Welt zu verstecken.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.« Meine Stimme zitterte. »Ich habe keine Gnade.« Ich sprach das Wort aus, als hätte ich es noch nie gehört.

»Ach nein?« Killian lehnte sich vor. »Du hast nie dieses besondere Vibrieren gespürt, wenn du jemandem begegnet bist? Du hast Menschen nie verändern wollen, vor allem jene, deren Abgründe so tief und dunkel waren, dass man sich hoffnungslos darin verirren konnte? Hast nie daran gedacht, dass du mit einer kleinen Anstrengung deines Geistes einen anderen, einen besseren Menschen aus ihnen machen kannst? Niemals, Charlotte?«

Während er sprach, wurde es still um uns herum, als hätte jemand den Ton abgedreht. Das Lärmen des Pubs war noch da, aber ich hörte es nicht mehr. Ich hörte nur Killian, und seine Worte trafen nicht einen Nerv, sondern Tausende. Seit Jahren hatte ich mit niemandem außer Dex über meine Gnade gesprochen. Manchmal hatten wir am Wochenende einen Ausflug gemacht, und mein Bruder hatte mich gebeten, die eine oder andere Essenz von Menschen zu verändern, die es nötig hatten. Aber niemand sonst wusste davon. Das war unser Geheimnis.

»Niemals«, krächzte ich.

Killian lachte auf. »Lügen ist offenbar nicht deine Stärke. Aber das macht nichts, dafür brauchen wir dich nicht.« Er beugte sich vor. »Ich erkläre dir jetzt, wie das hier laufen wird. Du wirst gleich aufstehen und mit uns kommen. Dabei wirst du kein Aufsehen erregen, keine Szene machen und niemandem hier das Gefühl geben, es wäre nicht deine freie Entscheidung, uns zu begleiten.«

Ich lachte zittrig. »Oh, aber sicher. Ich bin doch nicht irre. Du denkst, nur weil du mir das sagst, gehe ich mit dir mit?«

Killian sah mir erneut tief in die Augen. »Genau das glaube ich.«

Als er das sagte, spürte ich, wie etwas an meinem Willen kratzte wie eine Katze an einer Fußmatte. Es zog an mir, ließ meine Gedanken leicht werden, weich, biegsam. Plötzlich fühlte ich Zuneigung zu Killian und Hingabe für diese Organisation, von der er gesprochen hatte. Ich wollte mitkommen, ich wollte ihn begleiten, ganz egal, wohin er mich brachte.

Aber in dem Moment, als ich fast schon bereitwillig nickte, schoss ein anderer Gedanke wie eine Pistolenkugel dazwischen: Bist du eigentlich total bescheuert? Merkst du nicht, was er da tut?

Ich kam wieder zu mir, während Killian mich immer noch ansah, fast schon zufrieden. Da kapierte ich, was passiert war: Er hatte versucht, mich zu manipulieren. Das war schließlich das, was Typen wie er taten.

»Vergiss es«, knurrte ich. »Das funktioniert bei mir nicht.«

»Beeindruckend«, kommentierte er. »Es gibt nicht viele, die mir widerstehen können.«

»Da bin ich sicher. Dieses Psychopathen-Ding beschert dir bestimmt reihenweise Verabredungen.« Es gab mir neue Kraft, dass ich standgehalten hatte. »Meine Antwort ist Nein, also verschwindet«, sagte ich fest und erhob mich.

»Wir werden leider darauf bestehen müssen, dass du mitkommst.« Killian stand ebenfalls auf. »Anderenfalls kann das echt hässlich werden. Es gibt doch sicher ein paar Leute, die dir etwas bedeuten, oder?«

Plötzlich kam mir ein Gedanke in den Kopf. Dex, der nicht erreichbar war. Der unseren Geschwisterabend einfach vergessen hatte. Wütend starrte ich Killian an. »Was habt ihr mit meinem Bruder gemacht?«

»Mit deinem Bruder?« Seine Augen wurden schmaler. »Wir haben nichts mit ihm gemacht. Ist er etwa weg? Dann hat er wohl selbst entschieden, dich nicht länger zu beschützen.«

»Das ist Schwachsinn! Er würde mich niemals KORT überlassen!« Morty sah zu uns herüber. Killian bemerkte es und lachte, als hätte ich etwas Lustiges gesagt. Aber es fiel ihm so schnell aus dem Gesicht, wie es gekommen war.

»Also erinnerst du dich an KORT.« Es war keine Frage.

Ich presste die Lippen aufeinander und sagte nichts. Natürlich erinnerte ich mich an KORT. An das Gerede über die Verantwortung des Erbes, über die Nachfahren der Ritter. Ich erinnerte mich an die ganzen Leute, die mit mir gesprochen, die mich analysiert und benutzt hatten. An dieses weiße, leere Zimmer und die endlosen Stunden allein. An die Beurteilung der Kinder, die auf die Initiation vorbereitet werden sollten. Sie hatten eine Wahl gehabt. Ich nicht.

Ich machte einen Schritt zurück. »Du kannst KORT ausrichten, dass ich kein Interesse habe, ihren illustren Reihen beizutreten. Und jetzt entschuldige mich. Wenn ihr etwas bestellen wollt, wir haben heute Chili auf der Tageskarte.« Ich machte einen Schritt zur Seite, da packte Killian mich unauffällig am Arm. Ein unangenehmes Ziehen kroch mir vom Handgelenk hoch bis zur Schulter. Seine Dunkelheit war wie ein Virus, das durch Berührung übertragen wurde.

»Letzte Chance, Charlotte.« Er sprach leise, fast schon vertraulich. »Hier sind um die fünfzig Leute, die einen schönen Abend haben wollen. London hatte in den letzten Monaten doch genug schlechte Presse, denkst du nicht?«

Mein Blick fiel auf die Gruppen von Studenten, auf die Touristen, auf Morty und die neue Bedienung, die gerade etwas in die Kasse tippte und dabei leise vor sich hin fluchte. Am Ecktisch saß ein junges Pärchen, das sich eine Portion Pommes teilte und verliebt anlächelte. Ich sah sie alle, mit ihren Mischungen aus guten und schlechten Gefühlen, aus Hell und Dunkel, sich keiner Gefahr bewusst. Und ich wusste, dass ich keine Wahl hatte.

»In Ordnung«, sagte ich mehr als widerwillig. »Ich komme mit.«

»Braves Mädchen.« Killian ließ meinen Arm los und wies zur Tür. »Nach dir.«

Ich gab Morty ein Zeichen, dass ich kurz nach draußen gehen würde, dann lief ich Richtung Ausgang. Killian war hinter mir, ich spürte ihn wie einen Schatten in meinem Nacken. An der Tür blieb ich stehen.

»Ich brauche meine Jacke«, sagte ich. »Draußen ist es nicht sonderlich warm.« Vielleicht konnte ich auf dem Weg nach hinten jemanden warnen, um die Leute rauszuschaffen. Ich hatte zwar mein Handy in der Hosentasche, aber ich würde es nicht herausholen können, ohne dass Killian es merkte.

Leider war er nicht dumm. Kurzerhand griff er an die Garderobe und nahm wahllos einen dunklen Mantel, der direkt unter dem »Für Garderobe keine Haftung«-Schild hing. Mit einer endgültigen Geste hielt er ihn mir hin.

»Hier. Sieh es als Typveränderung.« Abfällig ließ er seinen Blick über meine schwarzen Jeans und das ausgeleierte graue Sweatshirt schweifen. Ich riss ihm stumm den Mantel aus der Hand und trat nach draußen.

Direkt vor dem Pub parkte ein Wagen, ein bulliger SUV mit getönten Scheiben und eingeschalteten Scheinwerfern, deren Helligkeit mir in die Augen stach. Killian hielt mir die hintere Tür auf und ich stieg ein. Seine Begleiter nahmen links und rechts neben mir Platz, er selbst setzte sich auf den Beifahrersitz. Wenn ich keine Angst gehabt hätte, wäre mir sicher ein CIA-Vergleich über die Lippen gekommen. Aber so blieb ich still.

Die Türen schlossen sich und der Wagen fuhr an, schlängelte sich im Schritttempo durch den Abendverkehr von Camden. Niemand redete mit mir, aber das war mir recht. Ich musste nicht fragen, wofür sie mich brauchten, denn ich wusste es schon. Es würde genauso sein wie vor zehn Jahren. Vielleicht sogar schlimmer.

Es war höchste Zeit, einen Plan zu machen. Mir zu überlegen, wie ich aus dieser Nummer wieder herauskam. Wie ich mich selbst retten konnte, nachdem die Leute im Pub außer Gefahr waren. Nur war ich nicht gut im Planen. Wenn ich mal etwas im Voraus durchdachte, warf ich später immer alles über den Haufen.

»Die M1 ist dicht, da ist ein Unfall«, sagte der Fahrer des Wagens. »Wir müssen über Hendon.«

»Ein Unfall, klar.« Killian schnaubte. »Das sind sie, ganz sicher. Diese Dilettanten. Nimm trotzdem die 1, wir fahren nicht durch ein Wohngebiet.«

»Du glaubst, sie wollen uns unterwegs abfangen?«, fragte die Bewacherin auf meiner linken Seite. Sie hatte rotblonde Haare und wasserblaue Augen. Die verbliebenen Lichter in ihrem Feld flackerten schwach.

»Das passt doch zu ihnen, oder nicht?«, meinte Killian. »Ein Angriff ohne Finesse ist genau ihr Stil.«

Alle lachten, als wäre das lustig gewesen. Aber ich wurde hellhörig. Wer waren die? Vielleicht Leute, die mir helfen konnten? Die auch Dex helfen konnten, wenn er irgendwo gefangen war? Woher sollte ich wissen, dass Killian nicht gelogen hatte, was ihn betraf? KORT hatte eine Menge Macht.

Als ich an Dex dachte, kam mir plötzlich eine Erinnerung in den Sinn. Sie flatterte vorbei wie ein herrenloser Plastikbeutel im Wind.

Die dürfen dich nicht in die Finger kriegen, Charles. Niemals. Vielleicht werden sie irgendwann kommen, vielleicht werden sie uns finden. Aber ganz egal, was passiert, du darfst dich von ihnen nie wieder für ihre Zwecke benutzen lassen. Deine Gabe darf keinem von denen in die Hände fallen, sonst steht mehr auf dem Spiel als nur dein Leben. Versprich mir, dass du das verhindern wirst.

»Ich verspreche es«, murmelte ich.

»Was?«, fragte die Rothaarige neben mir.

»Nichts.«

Wir waren immer noch in Camden und kamen nicht besonders schnell voran. Das Auto rollte, gab mal mehr Gas, dann wieder weniger. Draußen sah ich ein rot geklinkertes Gebäude und ein vertrautes Schild, blau mit einem roten Kreis, angeleuchtet von einer Straßenlaterne. Das ist es. Ich war vielleicht nicht gut im Planen. Aber ich war echt gut darin, spontan zu handeln.

Ohne Vorwarnung holte ich aus und rammte der Rothaarigen meinen Ellenbogen ins Gesicht. Sie brüllte auf und griff sich an die Nase, der Fahrer bremste, aber da war ich schon am Türhebel und zerrte daran. In der nächsten Sekunde gab er nach und die Tür schwang auf. Jemand griff nach mir, ich schlug die Hand weg, hechtete an der Rothaarigen vorbei aus dem fahrenden Auto und knallte mit der Seite auf den Asphalt. Der Schmerz jagte durch meinen Körper, ich ignorierte ihn, sprang auf die Füße.

Dann rannte ich los.

3

So schnell ich konnte, sprintete ich über die Hauptstraße von Camden in Richtung U-Bahn-Station, rempelte einige Leute an und stieß einen Postkartenständer um. Viel Vorsprung hatte ich nicht. In meinem Rücken brüllte Killian seine Gefolgsleute an, mich ja nicht entwischen zu lassen.

Eigentlich hatte ich direkt zur Station laufen wollen, aber die Typen waren zu dicht hinter mir. Ich würde sie nicht abhängen können, bevor ich eine Bahn bekam. Aber zum Glück war das hier nicht Kensington oder Belgravia oder wo auch immer Killian und seine Leute herkamen. Camden war mein Zuhause. Ich hatte mein halbes Leben auf diesen Straßen verbracht.

Abrupt änderte ich meinen Kurs, tauchte in der Menge unter und lief zum Mass Market, einem Club direkt neben dem Ein-Pfund-Shop. Vor dem Eingang wandte ich mich nach links und riss eine rostige Metalltür auf, hinter der es stockdunkel war. Schnell schlüpfte ich hindurch und zog sie zu, bahnte mir blind einen Weg durch den schmalen Gang, bis ich an der anderen Seite ankam.

Hinter der zweiten Tür lag der Hauptraum des Clubs, in dem um diese Uhrzeit noch nicht viel los war. An den Tischen und am Tresen saßen und standen kleine Gruppen von Leuten zusammen. Einer der Barkeeper grüßte mich, als ich quer durch den Laden lief, und ich erwiderte es, bevor ich die Tür zum Lager aufstieß, nach links abbog und mich an einer Reihe Getränkekisten vorbeiquetschte. Die Hintertür führte direkt auf die Parallelstraße hinaus. Hektisch schaute ich mich um, aber niemand war zu sehen. Nehmt das, ihrKORT-Idioten, dachte ich. Es ging doch nichts über Ortskenntnis. Wenn ich Glück hatte, würde die Suche auf der Hauptstraße sie lange genug aufhalten, damit ich verschwinden konnte.