KNIGHTS - Ein gnadenloses Schicksal - Lena Kiefer - E-Book

KNIGHTS - Ein gnadenloses Schicksal E-Book

Lena Kiefer

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Beschreibung

Füge dich deinem Schicksal – oder die Welt ist dem Untergang geweiht!

Nach dem verheerenden Kampf gegen die Darks müssen Charlotte und die Knights nicht nur mit den Folgen dieser Schlacht leben. Auch die Vorhersage der Divines stellt das Team vor eine riesige Herausforderung und Charlottes Herz mächtig auf die Probe. Die Lage scheint aussichtslos und auch Noel entfernt sich immer weiter von Charlotte. Da erscheint jedoch ein Silberstreif am Horizont: Der Heilige Gral könnte die Lösung aller Probleme sein und die Knights zum Sieg führen. Aber wie findet man ein sagenumwobenes Artefakt, bei dem nicht einmal sicher ist, ob es überhaupt existiert? Charlotte begibt sich auf die Suche – nicht nur, um die Welt zu retten, sondern auch ihre große Liebe.

Alle Bände der Knights-Trilogie:
Knights – Ein gefährliches Vermächtnis
Knights – Ein gnadenloses Schicksal

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Seitenzahl: 573

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LENA KIEFER

EIN GNADENLOSES SCHICKSAL

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. © 2022 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Carolin Liepins, München unter Verwendung mehrerer Motive von © Shutterstock.com (Regina Erofeeva / vs148 / Bokeh Blur Background) sh · Herstellung: AJ Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-25753-8V001www.cbj-verlag.de

Für Tanja, es sollte mehr Menschen wie dich geben.

Knight-Gnaden Team Stanham

ARTHUR

LANCELOT

GAWAIN

Oscar Blackwell

Noel Mayfield

Xavia Dupree

 

 

 

Macht

Liebe

Mut

Gerechtigkeitssinn

Vertrauen

Furchtlosigkeit

Willensstärke

Hingabe

Hoffnung

Verantwortungsgefühl

Inspiration

Zuversicht

 

 

 

 

 

 

 

 

 

KAY

TRISTAN

PERCIVAL

Zephaniah Marconi

Levi McGuire

Thora Lindholm

 

 

 

Treue

Mitgefühl

Glaube

Loyalität

Höflichkeit

Vertrauen

Ehrgefühl

Großzügigkeit

Zielstrebigkeit

Ergebenheit

Milde

Beharrlichkeit

Prolog

Prolog

Wachsam näherte ich mich dem Gebäude an der Ecke, über dessen Fenstern goldene Lettern angebracht waren. Der Schriftzug des Empty Grail war jedoch das einzig Leuchtende an dem Pub. Denn hinter dem Glas war es dunkel, die Tür abgesperrt. Jemand hatte ein Schild mit »Wegen Renovierung geschlossen« an den Kasten mit der Speisekarte gepinnt, aber drinnen regte sich nichts.

Mein Handy meldete eine Nachricht und ich zog es hervor. »Noel, verflucht noch mal, Mayfield«, wo bist du?, fragte mich Xavia. Ich runzelte die Stirn. Wenn sie mich so nannte, war es ernst. Trotzdem steckte ich das Telefon wieder weg, ohne ihr zu antworten. Ich wusste auch so, was sie von mir wollte. Genau deswegen war ich ja hier und nicht bei ihr und den anderen.

Ich ging um das Gebäude herum in den Hinterhof, wo die Mülltonnen des Grail standen, und drängte die Gefühle beiseite, die mich bei der Erinnerung an diesen Ort überfallen wollten. Auch diese Tür war zu, aber hier konnte mich immerhin niemand beobachten, wie ich sie öffnete. Aus der hinteren Hosentasche nahm ich mein Etui mit den Dietrichen, kniete mich vor das Schloss und hatte es innerhalb von zehn Sekunden geknackt. Wahrscheinlich sollte ich Bescheid sagen, dass es sich lohnen würde, über eine Sicherheitstür nachzudenken.

Nun begann mein Handy zu klingeln, ich drückte den Anruf jedoch weg und schaltete es auf Vibration. Dann schob ich die Tür auf und trat in den dunklen Flur dahinter. Der Geruch nach Fritteuse und kaltem Bratfett stieg mir in die Nase.

Ich war nur einmal hier hinten gewesen und fand mich trotzdem blind zurecht. Links ging es zu den Toiletten, auf der anderen Seite zum Büro und den Abstellräumen, geradeaus direkt in den Gastraum. Ich wandte mich nach rechts und steuerte die dunkle Holztür am Ende an. Zum Glück konnte ich den Gang zum Lager aufgrund der Dunkelheit nicht richtig sehen. Es erinnerte mich hier so schon alles an sie. Charlotte. Der Schmerz, den ich seit zwei Wochen ständig spürte, wurde für einen kurzen Moment stechend scharf. Ich atmete ein und öffnete die Tür.

Kurz dachte ich darüber nach, das Licht im Büro ausgeschaltet zu lassen, falls doch einer der Mitarbeiter hier vorbeikam, aber ehrlich: Keiner von ihnen würde ein Problem für mich sein. Auch vor dem Abend in Dartmoor hätte ich sie ohne große Probleme manipulieren können, aber mit meinen neuen Kräften war es eine Sache von Sekunden. Nicht, dass ich sie verwenden wollte. Es war besser, wenn ich dieser Seite von mir so wenig Auslauf wie möglich gewährte. Morganas Fähigkeit, die Sehnsüchte und Ängste von Menschen gegen sie zu verwenden, war gefährlich. Mehr als das.

Ich drückte den Schalter und die Deckenlampe tauchte das Büro in warmes, sattes Gelb. Der Schreibtisch war akkurat aufgeräumt, ein Stapel Rechnungen links, ein Haufen Lieferscheine rechts, die Kugelschreiber ordentlich in einem Pintglas mit dem Gral-Logo des Pubs. Mitten auf der Unterlage wartete ein geschlossener Brief mit einem offiziell aussehenden Stempel. Ich drehte ihn in den Händen und legte ihn dann wieder ab.

Mein Telefon gab keine Ruhe – nun vibrierte es in meiner Tasche, um mir zu sagen, dass jemand offenbar dringend mit mir reden wollte. Genervt nahm ich es heraus und den Anruf nun doch an.

»Xavia, was ist denn?«

»Wo bist du?«, fragte sie streng. »Wir wollten uns heute um drei alle bei Oz treffen, hast du das etwa vergessen?«

Nein, ich hatte es nicht vergessen, im Gegenteil. Ich hatte Oscars Krankenzimmer mit voller Absicht vor einer Stunde verlassen und mich von Canary Wharf auf den Weg nach Camden gemacht. Das ganze Team hatte einen gemeinsamen Besuch angekündigt – und mich damit vertrieben. Ich ertrug es gerade nicht, Charlotte zu sehen.

»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich dachte, das wäre erst morgen.«

»Lügner«, stieß Xavia aus, aber es klang eher traurig als wütend. »Warum tust du das? Es macht doch nichts besser, wenn du ihr aus dem Weg gehst. Irgendwann musst du –«

»Ich muss gar nichts!«, fiel ich ihr ins Wort. Wie stellten die sich das eigentlich vor? Dass ich einen Ausschalter für meine Gefühle hatte? Dass ich in einem Raum mit dem Mädchen sein konnte, das ich liebte – und meinem besten Freund, der für sie bestimmt war? Oder dass wir alle so weitermachen konnten wie bisher? Es riss mir das Herz heraus, nur an Charlotte zu denken. Sie zu sehen und zu wissen, dass ich sie nie wieder berühren oder küssen durfte, würde mich umbringen.

Eigentlich brachte es mich jetzt schon um.

»Ich habe etwas zu erledigen«, bat ich Xavia bemüht ruhig. »Es ist wichtig.«

»Klar«, sagte sie und wirkte resigniert. »Ich komme übermorgen allein mit Levi nach London. Können wir uns dann sehen?«

»Das kriege ich hin.« Es war nicht gelogen. Zwar war es auch so unangenehm, Xavias besorgtem Blick zu begegnen, aber wenn Charlotte nicht dabei war, konnte ich ihr vormachen, dass es mir gut ging. Oder nicht gut, aber immerhin nicht besorgniserregend schlecht. Mit Morganas Kräften war ich nämlich auch in der Lage, meine wahren Gefühle zu verbergen. Sogar vor den Menschen, die seit fast zehn Jahren meine Familie waren.

»Gut. Wenn nicht, spüre ich dich auf und verpasse dir eine. Ist das klar?«

»Glasklar.« Ich musste gegen meinen Willen lächeln. »Wir sehen uns am Freitag«, sagte ich dann.

»Okay. Pass auf dich auf.«

»Du auch. Grüß die anderen.« Ich legte auf. Und hatte prompt das Bild vor Augen, wie Xavia von dem schicken Flur im Krankenflügel des KORT-Hauptquartiers in das Zimmer von Oscar ging, um den anderen meine Grüße auszurichten. Ich stellte mir vor, wie sie meinen Namen aussprechen würde und Charlotte … ja, was? Würde sie verärgert das Gesicht verziehen, weil sie immer noch wütend auf mich war? Oder würde es ihr den gleichen schmerzhaften Druck im Magen bescheren, der seit unserer letzten Begegnung auch mein permanenter Begleiter war? Ich wusste es nicht. Es machte mich schier wahnsinnig, nicht zu wissen, was sie dachte oder fühlte. Wie sie mit allem zurechtkam. Trotzdem rief ich sie nicht an. Mit ihr zu sprechen, würde es nur schlimmer machen. Und ich konnte ihr ohnehin nichts Neues sagen. Noch nicht.

Ich setzte mich auf die verschlissene Couch neben dem Schreibtisch und wartete. Irgendwann würde er auftauchen, das war sicher, denn er war in der Nähe, schon seit gestern. Ich brauchte nur etwas Geduld.

Und wie es schien, nicht mal allzu viel. Ich saß keine zehn Minuten auf dem fadenscheinigen Stoff, als Schritte im Flur jemanden ankündigten. Nein, nicht jemanden. Ihn. Ich konnte ihn nicht sehen, aber spüren. Seit dem Abend in Dartmoor, als ich Morganas Kräfte zum ersten Mal benutzt hatte, war dieser Mann wie ein fünf Meter hoher Eisenblock und ich ein Metalldetektor. Nicht, dass ich das schon in dem Moment gemerkt hatte. Erst am nächsten Morgen, als meine Welt längst in Trümmern gelegen hatte, war mir klar geworden, dass er lebte. Wahrscheinlich, weil ich an ihn gedacht und mir gewünscht hatte, dass er Morgana für uns besiegen würde. Ich wusste nicht genau, wie es funktionierte, aber es war mir auch egal.

Die Schritte wurden langsamer, als wäre derjenige auf der Hut. Dann ging die Tür auf und ein großer Mann mit dunkelblondem, wirren Haar schob sich in den Raum. Dex blieb stehen, musterte mich ohne jede Überraschung und verzog dann den Mund.

»Noel.« Es war weder Begrüßung noch Frage. Er wusste, wer ich war.

Das Gleiche galt für mich. »Merlin.« Ich stand auf.

Seine Augenbrauen hoben sich gerade so weit, dass ich erkennen konnte: Das hatte er nicht erwartet.

»Direkt mit der Tür ins Haus?«, fragte er mich. »Ich kenne euch Morgana-Erben weniger direkt.«

»In erster Linie bin ich ein Lancelot-Erbe.« Die Korrektur kam schärfer heraus als beabsichtigt.

»Wenn du das sagst. Ich habe anderes gehört.« Merlin ging zum Schreibtisch und sah sich den Stapel Rechnungen an, der dort lag. »Du bist also ohne Charlotte hier. Das überrascht mich, um ehrlich zu sein.«

Meine Hände zitterten, als ich ihren Namen hörte. Ich ballte sie zu Fäusten. »Charlotte und ich reden nicht viel zurzeit.«

»Richtig. Das Universum hat ja andere Pläne für euch.« Merlin nahm den verschlossenen Brief vom Tisch, öffnete ihn jedoch nicht, sondern legte ihn zu den anderen. Seine Teilnahmslosigkeit machte mich wütend. Wie konnte er so tun, als ginge es hier um nichts von Bedeutung?

Ich trat einen Schritt näher. »Das Universum? Oder du?«

Merlin drehte sich um und sah mir in die Augen. »Ich? Du denkst, ich habe damit etwas zu tun?« Sein Blick schien in mich hineinzugehen und wahrscheinlich tat er das auch. Die Kräfte dieses Mannes waren einmal unvorstellbar gewesen. Selbst wenn er nur noch einen Bruchteil davon besaß, konnte er mich so leicht lesen wie ein Bilderbuch für Dreijährige. »Warum sollte ich das tun?«

»Weil du sie beschützen willst.« Ich sagte es, als handele es sich dabei um einen Fakt. Dabei war es einfach nur eine Hoffnung. Meine letzte.

»Noel.« Er atmete meinen Namen aus, als würde es ihm wehtun. Dann sank er auf die Couch und plötzlich war seine unbeteiligte Miene verschwunden. Stattdessen sah ich wieder jenen tiefen Kummer, den ich schon bei unserer ersten Begegnung in diesem Pub vor fast acht Monaten bemerkt hatte. »Ich kenne diese Gefühle, die du hast. Ich kenne sie besser als du, besser als Charlotte. Glaub mir, diese Ansage der Map ist das Beste, was euch passieren konnte. Sie wird euch beide retten. Genau wie alle anderen.«

»Das ist nicht wahr.« Wütend funkelte ich ihn an. »Und es ist keine Antwort auf meine Frage.« Ich spürte, wie meine Gefühle für Charlotte an die Oberfläche kamen – egal, wie sehr ich es auch wollte, sie ließen sich nicht wegsperren. Ich hatte es versucht, ich versuchte es immer noch. Aber das zwischen uns war zu stark. Und es fraß mich auf.

Merlin seufzte. »Was euer Divine gesehen hat, ist das, was geschehen muss. Selbst wenn ich in der Lage wäre, ihn auf diese Art zu manipulieren, wäre es nicht ratsam, das zu tun. Das Schicksal zu verbiegen, ist immer gefährlich. Meistens sogar tödlich.« Er schaute auf und ich sah so etwas wie Bedauern in seinen Augen. »Die Kräfte von Arthur und Merlin müssen sich verbinden, so eng wie nur möglich. Du weißt selbst, was die Liebe aus euren Fähigkeiten macht. Sie wird Oscar und Charlotte eine Macht verleihen, mit der sie Morgana besiegen können. Seine reine, aufrichtige Stärke gemeinsam mit ihrer klaren und ungebändigten Kraft … dem wird Morgana nichts entgegenzusetzen haben.«

Ich merkte, wie die sterbende Hoffnung in meinem Inneren eine Leere erzeugte, die mir die Luft zum Atmen nahm. Er sagte die Wahrheit. Ich war zwar nicht Zeph und konnte eigentlich nicht feststellen, ob jemand log, aber wenn es um Liebe ging, wusste ich instinktiv, ob es stimmte oder nicht. Charlotte und Oscar waren kein Trick eines uralten Magiers. Sie waren die einzige Lösung für die Rettung unserer Welt. Genau, wie die Divines es gesehen hatten.

Allerdings nur, wenn …

»Wieso kannst du sie nicht besiegen?«, fragte ich, und ein Vorwurf schwang darin mit. Merlin lächelte traurig.

»Weißt du, wie ich unsterblich geworden bin? Oder Morgana?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Wir haben unsere Kräfte aufgegeben. Vollständig. Zurück bekommen wir sie nur, wenn wir unsere eigenen Nachfahren töten – ein guter Kniff des Zaubers. Er verhindert, dass ich wieder zu alter Stärke zurückfinde. Denn wie du sicher mitbekommen hast, habe ich dank KORT kaum noch Nachfahren. Und ich habe Skrupel, sie umzubringen.«

»Anders als Morgana«, stellte ich fest.

»Das ist richtig. Deswegen ist sie mir überlegen und wird es wohl immer sein. Charlotte und Oscar sind nicht nur die Hoffnung dieser Welt, sondern auch meine.«

»Warum denn nicht sie und ich?«, fragte ich verzweifelt. »Wir waren wahnsinnig stark in Dartmoor, wir haben Morgana geschwächt, für den Moment sogar besiegt. Wenn wir nur etwas mehr –«

»Mehr was?«, fiel mir Merlin ins Wort. »Mehr Liebe? Mehr Willen? Nichts davon wird etwas ändern. Du willst das nicht wahrhaben, aber du hast ihr Blut in dir, Morganas Blut, und du besitzt ihre Kräfte. Das bedeutet, du bist ein Teil von ihr. Du kannst sie nicht besiegen. Nicht auf diese Art.«

»Auf welche dann?« Es kam fast schon gierig heraus. Er sollte mir einfach irgendetwas geben, einen Strohhalm, an den ich mich klammern konnte. Wenn es eine Möglichkeit gab, wie ich Morgana und damit auch diese Ansage der Divines vernichten konnte, würde ich es tun. Keine Morgana, keine Notwendigkeit von Oscar und Charlotte als Paar. Ich würde nicht mehr gegen die Darks kämpfen müssen, ich würde nie wieder diesen Hass spüren müssen. Mit Morganas Tod konnte ich jede Erinnerung daran, dass sie meine Vorfahrin war, löschen.

Merlin schüttelte heftig den Kopf. »Vergiss es. Das ist ein Weg, der direkt in die tiefste Dunkelheit führt. Ohne Rückfahrschein.«

»Das ist mir egal«, knurrte ich. »Ich tue alles, was nötig ist.«

Meine Wut sprang auf Merlin über. Er sah mich an, und ich bildete mir ein, Charlotte in seinem Blick zu sehen.

»Und was soll das bringen, wenn am Ende nichts mehr von dir übrig ist?!«, fuhr er mich an. »Glaubst du, ich sehe nicht, dass du am Limit bist? Wie deine Hände zittern, wie du um jeden Atemzug kämpfst, weil es so unglaublich wehtut, nur zu existieren? Ich kann dein Feld sehen, und ich weiß, wo das endet, ich habe es selbst erlebt. Du musst Charlotte loslassen, sonst bringt es dich um, auf die eine oder andere Art.«

Ich holte tief Luft. Er hatte recht, ich war wie ein Junkie auf Entzug. Aber ich war auch ein Knight. Und die hielten mehr aus als andere. »Du hast gesagt, du weißt, wie sich das anfühlt. Dann weißt du auch, dass ich sie nicht loslassen kann. Niemals.«

»Wenn das so ist, bist du verloren.« Merlin atmete aus und der Zorn in seinen Augen erlosch. »Es gibt keinen Ausweg für dich. Du weißt besser als ich, was KORT tut, wenn Charlotte sich den Vorgaben der Map nicht fügen will oder kann.« Merlins Mund verzog sich zu einem schmalen Strich. »Schließlich sind genau solche Fälle seit einigen Jahren dein Geschäft, oder nicht?«

Ich wäre fast in die Knie gegangen, weil mich die Wucht dieser Worte völlig erschütterte. Seit zwei Wochen dachte ich fieberhaft über eine Lösung nach, am Tag und in den schlaflosen Nächten, die ich an Oscars Bett saß und mich dafür verurteilte, dass ich ebenso hoffte wie bangte, dass er sich erholen würde. Aber keine Sekunde hatte ich daran gedacht, was die Ansage der Map am Ende war: ein Auftrag. Ein Auftrag, den ein Lancelot-Erbe erfüllen musste, sobald Oscar wach war. Nicht ich, natürlich. Aber Jade oder jemand aus den Teams in Leeds, Newcastle oder Tintagel. Man würde Charlotte die Gefühle für mich nehmen, so wie ich es Hunderte Male bei anderen Menschen getan hatte. Es sei denn …

»Man kann sie nicht manipulieren«, stieß ich aus. »Sie ist zu stark.«

»Nicht gegen ihren Willen«, nickte Merlin. »Aber wenn sie einverstanden ist, dann ist es möglich.«

»Wieso sollte sie einverstanden sein? Sie kennt Oscar kaum, sie liebt ihn nicht, sie liebt mich.« Das waren genau ihre Worte gewesen, in dem Haus von Levis Bruder Toby, bevor sie weggefahren war, weil ich ihr vor lauter Schock keine Hoffnung hatte machen können. Aber jetzt wollte ich ihr Hoffnung machen. Uns beiden. Es musste einen Weg geben. Wenn nicht, wusste ich nicht, wie ich weiterleben sollte.

»Vielleicht weil sie, genau wie du, verstehen wird, dass diese Sache zwischen euch die ganze Welt in Schutt und Asche legen kann. Denn sonst wärst du nicht hier, sondern an irgendeinem weit entfernten Ort, gemeinsam mit ihr.«

Wie konnte er ahnen, dass sie mir genau das vorgeschlagen hatte? »Es gab keinerlei Anzeichen für den Fluch, bevor das alles passiert ist.« Ich hatte bis heute keinen Funken Abneigung gegen Charlotte gespürt. Ganz im Gegenteil. Ich liebte sie mit jedem Atemzug mehr. Und das würde ich bis zu meinem Ende – denn selbst wenn einer meiner Kollegen stark genug war, mich manipulieren zu können, ich wollte diese Gefühle niemals verlieren. Ganz egal, wie weh sie taten.

»Und trotzdem hast du Angst davor, dass es passiert. Dass dieser Hass auf dein Schicksal, den du jetzt spürst, irgendwann auftaucht, wenn du ihr gegenüberstehst.«

Bilderbuch für Dreijährige, dachte ich bitter.

»Wenn ich Morgana aus dem Weg räume, dann ist diese Gefahr vom Tisch«, sagte ich hart.

»Morganas Tod beseitigt nicht den Fluch«, korrigierte Merlin. »Der ist unausweichlich.«

Ich trat an das Sideboard, auf dem einige Fotos standen. Eins davon zeigte Charlotte, als sie noch ein Kind gewesen war, strahlend mit einem Eis in der Hand. Mein Innerstes fühlte sich an, als hätte ich Stacheldraht geschluckt.

»Wie erklärst du dir dann, dass wir bisher nichts davon gemerkt haben?«, fragte ich und drehte mich um. »Es ist Monate her, dass Morgana Charlotte entführt hat.«

»Die dunkle Seite des Fluchs tritt erst ein, wenn die Liebe den höchsten Punkt erreicht hat.« Merlin legte die Hände aneinander. »Offenbar war das bei euch noch nicht der Fall.«

»Oder wir sind anders als die Erben vorher«, beharrte ich.

»Was denkst du, wie oft ich das schon jemanden habe sagen hören? Mit der gleichen Überzeugung, dem gleichen unerschütterlichen Glauben daran, dass es bei ihnen anders ist. Ich halte von Charlotte unglaublich viel, und ich weiß, dass du einer der stärksten Erben bist, die KORT seit langer Zeit hatte. Aber bisher hat niemand den Fluch gebrochen.«

Ich wollte das nicht hören. Ich wollte nicht wissen, warum Merlin nicht an uns glaubte, ich wollte einen Ausweg. »Du hast Charlotte großgezogen«, sagte ich. »Du musst doch wollen, dass sie glücklich ist.«

Merlin sah mich kühl an. »Genau wie du, oder nicht? Du redest von Liebe, aber am Ende bist du doch nur egoistisch. Du willst nicht, dass sie glücklich ist. Du willst, dass sie mit dir glücklich ist.«

Seine Worte waren wie ein Schwert, dass er mir in den Bauch rammte und herumdrehte. »Das ist nicht wahr«, knurrte ich.

»Doch, ist es. Oscar ist dein Freund, einer deiner besten, und trotzdem traust du ihm nicht zu, dass er Charlotte geben kann, was sie braucht?« Merlin fixierte mich mit eisernem Blick. »Du willst eine Lösung für dieses Problem, Noel. Aber es gibt keine Lösung, weil es kein Problem gibt. Oscar und Charlotte sind für alle Beteiligten das Beste. Er ist ein guter Kerl, und gemeinsam können sie diese Welt retten, während du und sie alles vernichten könntet. Du weißt das, deine Knight-Seite weiß das. Es wäre das Beste, danach zu handeln.«

Etwas in mir wollte ihn angreifen, wollte ihm zeigen, dass er Unrecht hatte, aber auch wenn Merlin behauptete, seine alten Kräfte nicht mehr zu besitzen … ich spürte seine Macht. Und ich war nicht dumm genug, ihn herauszufordern.

»Dann sollte es dir doch egal sein, wenn ich versuche, Morgana auf andere Weise zu besiegen, oder nicht?«, fragte ich stattdessen. »Also sag mir: Diese Lösung, von der du gesprochen hast und die in die Dunkelheit führt.«

»Ja?« Merlin sah mich alarmiert an.

»Was muss ich dafür tun?«

EINE WOCHE SPÄTER

1

1

Der Jet ging in den Sinkflug und hielt auf den Militärflughafen von Stockbridge zu, der zwischen den grünen Feldern sichtbar wurde. Ich sah aus dem Fenster und fragte mich, wie ich das Flugzeug daran hindern konnte, an diesem Morgen auf der Insel zu landen. Solange ich in der Luft war, konnte ich wegschieben, dass da unten nichts auf mich wartete. Nichts außer Kummer, Schmerz und einer Zukunft, die ich nicht wollte.

»Charles? Hey, Charlotte.« Jemand berührte mich am Arm. Ich sah Zeph an, der mir gegenüber auf einem der bequemen Sessel saß und mich besorgt anschaute.

»Hm? Sorry, ich hab nicht zugehört.« Ich holte ruckartig Luft, mein übliches Ritual, um mich aus dem Abgrund zu ziehen, in den ich mit jedem neuen Tag wieder stürzte. »Was gibt’s?«

»Ich wollte wissen, ob nach dem Auftrag mit dir alles okay ist.«

»Nach dem Auftrag? Ja, alles in Ordnung.« Die Aufträge waren nicht das Problem. Es hatte zwar heute Schwierigkeiten mit den Eltern des Ziels gegeben, weil die nicht verstanden hatten, was drei junge Briten allein mit ihrer zwölfjährigen Tochter besprechen wollten. Aber wir hatten das hingebogen.

Xavia saß auf der anderen Seite des Gangs und wechselte einen Blick mit Zeph. Dann fixierte sie wieder das Tablet, auf dem die Map zu sehen war. Übelkeit stieg in mir hoch, aber das lag nicht an dem holprigen Landeanflug. Der Anblick der Map war für mich wie ein Auslöser: Immer, wenn ich sie anschauen musste, erinnerte ich mich daran, was sie mir vor drei Wochen in Tobys Haus gezeigt hatte. Und was danach passiert war. Der Schmerz in meinem Magen wurde stärker, aber ich widerstand dem Drang, die Hand daraufzupressen. Die anderen wussten es zwar, aber ich wollte ihnen nicht ständig zeigen, wie es mir ging. Wie wenig ich der Sehnsucht entgegenzusetzen hatte, die mich fest in den Klauen hielt. Oder der Wut, mit der sie sich abwechselte.

»Charles?«, fragte Zeph mich sanft. Er spürte besser als alle anderen, wie es in mir aussah. »Kommst du wirklich klar?«

Darauf hätte es so viele Antworten gegeben. Ein einfaches Nein, ein hysterisches Kichern, mehrere trockene Schluchzer oder gleich einen Sturzbach an Tränen. Jede einzelne davon wäre die Wahrheit gewesen. Aber ich entschied mich für eine Lüge – in dem Wissen, dass Zeph sie durchschaute.

»Ja.« Ich lächelte tapfer. »Ich komme klar.«

»Okay.« Er nickte und schien mir das für den Moment durchgehen zu lassen. Aber ich spürte die Besorgnis von Xavia und ihm trotzdem so deutlich, als würden sie mir ihre Felder wie Decken überwerfen. Das ganze Team verhielt sich, als wäre ich ein rohes Ei, und ich wusste nicht, ob es mir lieber gewesen wäre, sie hätten so getan, als sei alles wie immer.

»Wirklich. Es ist alles gut.« Vielleicht konnte ich sie so dazu bringen, ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten.

Zeph sah aus, als wollte er etwas sagen. Aber da ging Xavia an ihr Telefon. Ein Hoch auf die moderne Technik, die uns sogar in einem Flugzeug erreichbar machte. Leider half sie weder gegen Morgana noch gegen die Darks.

»Levi, hey. Wir sind fast da. In einer Dreiviertelstunde sollten wir in Stanham sein.« Xavia hörte zu und plötzlich zeigte sich Überraschung auf ihrem Gesicht. »Was, jetzt schon? Wie kann das sein? Okay, sag Thora Bescheid.« Dann streifte ihr Blick mich. »Verstehe. Ist vielleicht besser so. Bis gleich.« Sie legte auf.

»Gute Nachrichten?«, fragte Zeph. »So etwas hatten wir ja seit Wochen nicht.«

Xavia nickte. »Oscar kommt nach Hause.«

Ich starrte sie an. Oscar? Nach Hause?

»Was? Wann?« Meine Stimme klang kieksig.

»Heute schon. Die Ärzte waren einverstanden. Er ist ihnen wohl so lange auf den Wecker gegangen, bis sie Ja gesagt haben.«

»Das passt zu ihm«, lachte Zeph. Aber ich teilte die Freude über diese Nachricht nicht. Im Gegenteil: Sie löste nackte Panik in mir aus. Meine Hände waren plötzlich so schweißnass, als hätte ich sie unter fließendes Wasser gehalten. Ich wischte sie an meiner Jeans ab und versuchte, ruhig zu atmen.

Seit drei Wochen wusste ich, dass Oscar und ich uns ineinander verlieben mussten, um Morgana aufhalten zu können. Morgana, die Noel und ich zwar in dieser Nacht in Dartmoor besiegt hatten, die aber sicher bald wieder auftauchen würde. Ihre Darks waren im Gegensatz zu ihr nicht verschwunden, sie wüteten nach wie vor in der Welt, stifteten Chaos und Verzweiflung, mühsam in Schach gehalten von den Knights, die meist nur hinter ihnen herräumen konnten. Es kam nicht oft vor, dass wir so wie heute als Erste da waren. Aber wahrscheinlich war die kleine Kroatin, die wir besucht hatten, nicht wichtig genug gewesen.

»Cool bleiben, Wundermädchen.« Zeph lächelte mich an. »Das ist nur Oscar.« Er sagte es, um mich zu beruhigen, aber genau das Gegenteil war der Fall. Ich hatte all die Zeit verdrängt, was die Map anzeigte. Ich hatte so sehr gehofft, dass Juleon anrufen und sagen würde: »Hey, sorry, ich habe mich geirrt.« Aber er hatte nicht angerufen, und seit man Oscar vor einer Woche aus dem künstlichen Koma geholt hatte, war die Vorhersage erschreckend real geworden. Und jetzt würde er sehr bald vor mir stehen und genau wie ich wissen, was die Map ausgespuckt hatte.

Bei dem Gedanken zog sich mein Magen erneut zusammen. Ich mochte Oscar – soweit man jemanden mögen konnte, den man zweimal gesehen hatte. Aber ich wollte ihn nicht. Ich wollte das nicht, was man für uns vorgesehen hatte. Unwillkürlich ballte ich meine Hände zu Fäusten. Zeph bemerkte es.

»Mach dir keinen Kopf, Charles. Niemand erwartet etwas von dir.«

Nein, nur dass ich mit Oscar die Welt rette, ergänzte ich in Gedanken. Und dafür brauchte es Gefühle, echte, aufrichtige Gefühle. Die es zwischen uns nie geben würde. Nie geben konnte.

»Für Oz ist das genauso komisch wie für dich«, pflichtete Xavia bei.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es irgendeine Situation gab, die für Oscar Blackwell unangenehm war. Er schien der Typ Mensch zu sein, der mit allem zurechtkam. Aber trotzdem wäre es beruhigend zu wissen gewesen, dass es für ihn auch eigenartig war, ein Mädchen wiederzutreffen, das ihm das Schicksal zugelost hatte – und das eigentlich mit seinem besten Freund zusammen war. Aber ich wusste nicht, wie er sich damit fühlte. Nach der ersten Woche, die wir um sein Leben gebangt hatten, war ich nicht mehr in London gewesen, um ihn zu besuchen. Schließlich hätte es sein können, dass er aufwachte und ich mit ihm reden musste.

Ich atmete noch einmal ein und wiederholte Zephs Satz immer und immer wieder. Das ist nur Oscar. Das ist nur Oscar. Aber plötzlich schoss mir ein Gedanke in den Kopf und die Sehnsucht in mir übernahm das Kommando. War Oscar der Einzige, den die anderen erwarteten?

»Kommt Noel –« Ich brach ab. Als wäre sein Name ein geheimes Codewort, konnte ich ihn kaum aussprechen, ohne dass eine Lawine aus Schmerz, Wut und Vermissen über mich hinwegrollte. Drei Wochen. Drei Wochen war es her, dass ich ihn zuletzt gesehen hatte, kurz bevor er mit Zeph Oscar nach London gebracht hatte und ich mit den anderen im Safe House geblieben war. Er ging mir aus dem Weg, das wusste ich. Wie hätte es sonst sein können, dass er beide Male, als ich in London auf Krankenbesuch bei Oscar gewesen war, zufällig etwas Wichtiges zu erledigen gehabt hatte? Und das, obwohl er quasi Tag und Nacht bei seinem Freund gewesen war. Würde ich ihn heute endlich wiedersehen? Mit ihm reden können?

Das Bedauern stand Xavia ins Gesicht geschrieben. »Er kommt nicht mit, das Londoner Team braucht ihn für einen Auftrag. Es tut mir leid.«

»Verstehe«, sagte ich und presste die Lippen aufeinander. Meine Wut führte mit meiner Enttäuschung ein paar Kunststückchen auf. Ich wusste, dass ich nicht darauf hoffen durfte, Noel zu sehen. Es würde nur noch schlimmer werden, wenn wir einander begegneten. Und trotzdem hatte ich das Gefühl, keine weitere Stunde überleben zu können, ohne in seiner Nähe zu sein. Ich vermisste ihn so sehr, dass ich oft genug keine Luft bekam.

Ich sprach kein Wort mehr, bis wir gelandet waren, das Flugzeug verließen und in den Wagen stiegen, der im Hangar wartete. Ich ließ mich in den weichen Sitz des Bentley sinken, ein neues Modell, das auch genauso roch. Die Gilde hatte nach dem letzten Kampf gegen die Darks unser Budget massiv aufgestockt, und die Teams hatten noch mehr Fahrzeuge, mehr Waffen, mehr Technik zur Verfügung. Half uns das? Vielleicht. Aber am Ende brauchte es die Liebe zweier Menschen, um Morgana und die Darks zu besiegen. Einer dieser Menschen war ich. Der andere war nicht Noel. Und deswegen war dieses Vorhaben zum Scheitern verurteilt.

Xavia fuhr uns direkt nach Stanham, eine Fahrt von einer guten halben Stunde. Zeph und sie sprachen über die Willkommensparty, die Thora auf die Beine stellen wollte, während Levi Oscar in London abholte. Ich hörte weg und checkte mein Telefon, mehr aus Gewohnheit als Notwendigkeit. Es gab keine neuen Nachrichten, und mein Blick fiel automatisch auf den Chat, der mit »Lancelot Stanham« beschriftet war, die übliche Codierung für die Knights, damit bei Verlust oder Diebstahl des Telefons keine Namen offenbart wurden. Mein Herz tat einen heftigen Schlag, als ich den Chat öffnete und die letzte Nachricht ansah. »Ich vermisse dich«, stand da, aber sie war nicht von Noel. Sie war von mir. Ich hatte sie in einem schwachen Moment vor zwei Wochen geschrieben, irgendwann mitten in der Nacht, als die Dunkelheit meine Sehnsucht in ein tiefschwarzes Loch verwandelt hatte. Eine Antwort hatte ich jedoch nie bekommen.

»Charles, was willst du zum Frühstück?«, fragte Zeph über seine Schulter. »Thora holt was in der Bäckerei im Ort.«

Am liebsten hätte ich geantwortet, dass ich keinen Hunger hatte, wenn mein Magen wilde Kapriolen schlug, weil ich gleich Oscar gegenübertreten musste. Aber ich wollte nicht, dass sie sich noch mehr Sorgen machten. »Scones«, sagte ich also, »und ein paar Cookies, wenn sie welche haben.« Ich würde nichts davon runterbringen, aber an einem vollen Tisch merkte das niemand.

Zeph gab es durch und ich driftete wieder von seinem Gespräch weg. Die Landschaft rauschte an mir vorbei und ich schaltete Noels Ansicht der Map ein. Das war mein einziger Kontakt zu ihm, die Anzeige seines Herzschlags auf dem Display, weil er die Uhr trug, die seine Vitalwerte übermittelte. Unwillkürlich wünschte ich mir, dass ich Noel wahrnehmen konnte, wie ich es in seiner Nähe immer getan hatte. Ich wusste nicht, was er dachte. Ich wusste nicht, was er fühlte. Ob er immer noch glaubte, dass die Map richtiglag – dass Oscar die bessere, die sicherere Wahl war. Dass Noel mit Morganas Kräften einen Teil in sich hatte, den er nur schwer kontrollieren konnte und der irgendwann dafür sorgen würde, dass wir einander hassten. Ich hatte diese Furcht in seinen Augen gesehen, die Angst davor, dass die Vorhersage der Divines keine grausame Laune des Schicksals war – sondern unsere Rettung.

Er hätte nicht falscherliegen können.

Ich strich über die Anzeige der Vitalwerte, als wäre sie Noel: sein Arm, seine Wange. Und dann brachen die Bilder über mich herein. Die Erinnerung daran, wie es sich anfühlte, ihm nah zu sein, ihn zu berühren, von ihm berührt zu werden. Die Erkenntnis, dass es das nie wieder geben würde, riss meine Fassung brutal in Fetzen. Meine Finger begannen zu zittern, und ich ballte sie zu Fäusten, aber es half nicht. Mein Magen begann zu krampfen, mir wurde schwindelig. Scheiße.

»Xav?«, bat ich dünn. »Kannst du kurz anhalten?«

Zephs Kopf flog herum, während Xavia den Wagen rasant in einen Seitenweg steuerte und bremste. »Charles? Was ist los?«

Ich hatte keine Zeit für Erklärungen. Schnell hechtete ich aus dem Wagen, ging nur drei Schritte weiter in die Knie und würgte über dem borstigen britischen Gras. Aber ich hatte nichts gegessen, also kam nichts heraus. Mein Magen zog sich noch ein paarmal zusammen, dann sank ich auf die Knie.

»So schlimm?« Zeph hockte sich neben mich und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. Ich wollte irgendeine Ausrede erfinden, aber das war sinnlos. Er war ein Erbe von Kay. Treue, Loyalität oder Ergebenheit zu erspüren, das war für ihn leichter als Atmen. Und der heutige Tag brachte alles davon bei mir ins Wanken.

Also antwortete ich nicht und rappelte mich stattdessen auf.

Zeph richtete sich ebenfalls auf, dann zog er mich in eine feste Umarmung und strich mir über den Rücken. »Alles wird gut, Charles. Wir kriegen das hin. Ich verspreche es dir.«

»Das kannst du nicht«, sagte ich leise. Trotzdem tat es gut, den Kopf an seine Schulter zu lehnen und ihm für ein paar Sekunden glauben zu wollen.

Xavia kam um das Auto herum. »Was war das?«

Zeph ließ mich los und ich atmete durch.

»Nur eine kleine Panikattacke«, sagte ich. »Es geht schon wieder.«

»Hier.« Xavia hielt mir eine Flasche mit Wasser hin. Ich nahm sie und trank zwei Schlucke.

»Brauchst du noch ein bisschen?«, fragte Zeph.

Ich schüttelte den Kopf. Zwar hätte ich gerne noch ein paar Stunden oder gleich Tage hier gesessen, aber ich musste einsehen, dass es sinnlos war. Genau wie die Idee, einfach davonzulaufen. All das würde das Unvermeidliche nur herauszögern. Ich musste mich dem stellen, was auf mich wartete, musste versuchen, eine Lösung zu finden. Die Zeiten, wo ich den Kopf in den Sand stecken konnte, waren lange vorbei. Ich war jetzt ein Knight.

Und Knights liefen nicht davon.

2

2

Ich stieg wieder in den Wagen, und es dauerte keine zehn Minuten, bis wir unsere Basis in Stanham erreichten. Als wir in die Tiefgarage fuhren und auf einem der weiß umrandeten Plätze parkten, sah ich, dass der Land Rover fehlte. Also war Levi noch nicht mit Oscar da. Plötzlich hatte ich das Gefühl, wieder etwas freier atmen zu können.

Wir gingen ins Haus und luden unser Equipment in der Cave ab. Ich war nach der Reise verschwitzt und wollte vor Oscars Ankunft zumindest einen Moment allein sein, also sagte ich, dass ich duschen musste, und verschwand in Richtung des Gästezimmers, das ich seit meiner Ankunft bewohnte. Als ich dort war, schloss ich jedoch nicht die Tür, während ich frische Kleidung aus dem Schrank nahm. Ich wollte hören, ob die anderen über mich redeten.

In der letzten Zeit wurde in diesem Haus wenig gelacht und viel in Flüsterstimme gesprochen, so als würde man sonst böse Geister heraufbeschwören. Dabei waren sie schon längst da: die Darks genau wie Morgana. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie uns wieder direkt angreifen würden. Und deswegen ging es sehr häufig um mich, wenn die anderen miteinander sprachen.

So wie jetzt.

»Denkt ihr, Charles kommt zurecht?« Thora klang besorgt. Ich hörte, wie jemand etwas auf dem Tisch abstellte.

»Nein«, sagte Zeph. »Sie sagt Ja, aber es ist gelogen. Offenbar dachte sie, Noel würde mitkommen. Sie hofft wohl darauf, dass das mit ihnen doch irgendwie eine Chance hat.«

Schnell schloss ich nun doch die Tür, weil ich den Rest nicht hören wollte. Denn obwohl das Team alles tat, um mir zu helfen, fühlte es sich falsch an, hier zu sein. Als wäre ich ein Fremdkörper in einem Gefüge, das durch meine Anwesenheit ins Unglück gestürzt worden war. Egal, wie viele Aufträge Noel für London hatte, egal, ob er an Oscars Seite hatte bleiben wollen, bis es seinem Freund besser ging – ich wusste, dass er meinetwegen nicht nach Stanham kam. Und es war falsch, denn das hier war seine Familie, nicht meine. Manchmal fragte ich mich, ob es nicht doch das Klügste war, einfach zu gehen und sie wieder ein Team sein zu lassen, so wie vorher.

An dem Abend, als die Map ihre fatale Vorhersage ausgespuckt hatte, war ich schon auf dem Weg nach Irgendwo gewesen und hatte dann beinahe Oscar überfahren. Danach hatte ich zwar mehrfach darüber nachgedacht, zu verschwinden, es aber nicht mehr durchgezogen. Warum? Nicht nur, weil ich jetzt ein Teil von KORT war und keine Ahnung hatte, wohin ich gehen sollte, ohne mich zum Freiwild für Morgana zu machen. Ich hatte auch Angst. Angst davor, Noel nie wiederzusehen, wenn ich verschwand.

Ich drehte die Dusche auf und seufzte wohlig, als das heiße Wasser mir wenigstens für ein paar Minuten alle Gedanken aus dem Kopf spülte. Aber kaum war ich wieder draußen, kamen sie zurück. Ich kämmte meine Haare und flocht sie zu einem unordentlichen Zopf zusammen. Fast kam es mir vor, als würde ein Teil von mir mich vorwurfsvoll mustern.

»Was denn?«, murrte ich mein Spiegelbild an. »Muss ich mich etwa hübsch machen für den Kerl, in den ich mich verlieben soll? Steht das irgendwo im Handbuch für dämliche Divine-Vorhersagen? Paragraf fünf, Absatz drei: Bitte wählen Sie für den von uns ausgesuchten Mann ein ansprechendes Erscheinungsbild?«

Jetzt redest du sogar schon mit dir selbst wie so eine Verrückte, sagte eine boshafte Stimme in meinem Kopf. Aber sie hatte recht.

Eigentlich war es ein Wunder, dass ich noch bei halbwegs klarem Verstand war. Ich erinnerte mich sehr gut daran, wie grauenhaft es gewesen war, in Morganas Gefangenschaft von Noel getrennt zu sein. Klar, sie hatte nachgeholfen, aber drei Wochen waren trotzdem eine lange Zeit. Noel und ich waren so stark aneinander gebunden, dass es uns eigentlich wahnsinnig machen musste, wenn wir uns voneinander fernhielten. Das Einzige, was das verhinderte, war – so ironisch das auch klingen mochte – die Vorhersage der Divines.

In dem Moment, als ich den Stein berührt hatte, war ich, war jede einzelne Zelle meines Körpers Mitglied von KORT geworden. Alle Knights waren den Vorhersagen verpflichtet, und deswegen gab es einen Teil in mir, der danach strebte, sie zu erfüllen. Das bedeutete nicht, dass ich mich in Oscar verlieben wollte oder konnte – mein Herz gehörte allein Noel. Aber auch wenn es unendlich wehtat und ich keine Worte dafür hatte, wie sehr ich ihn vermisste, brach ich nie endgültig zusammen. Die Tatsache, dass ich dazu auserkoren war, die Menschheit zu retten, hielt mich aufrecht. Wenn die Sehnsucht nach Noel eine blutende Wunde war, dann war mein Dasein als Knight eine Klammer, die verhinderte, dass ich daran starb.

Während ich mich anzog, spürte ich die Umgebung nach Feldern ab. Seit ich mich von den Darks befreit hatte, war diese Seite meiner Gnade mir immer mehr in Fleisch und Blut übergegangen. Deswegen konnte ich auch die Spaziergänger wahrnehmen, die im Wald hinter dem Haus unterwegs waren. Wir hatten September und noch war es schön, so wie heute. Ich folgte einer Signatur, die so hell war, dass sie mich wärmte – ich war neidisch auf jemanden, der derartig glücklich war. Aber plötzlich erkannte ich das, wonach ich eigentlich gesucht hatte: zwei Knights, deren Felder immer ein bisschen anders aussahen als die normaler Menschen. Sie bewegten sich auf das Haus zu und hielten dann irgendwo unter mir in der Tiefgarage.

Levi und Oscar waren da.

Ich atmete durch, dann ging ich hinaus und runter ins Erdgeschoss. Thora hatte mal wieder die halbe Bäckerei leer gekauft: Der Esstisch war voll mit Brötchen, Kuchen und anderen Leckereien und am Geländer zum oberen Stockwerk hing eine »WELCOMEBACK, OZ«-Girlande. Mein Herz machte ein paar schmerzhafte Schläge, als ich seinen Namen sah.

»Wie gesagt«, raunte mir Zeph zu. »Keine Panik.«

Die Aufzugtür öffnete sich, und man hörte zwei männliche Stimmen, die sich unterhielten – die von Levi mit dem starken Londoner Akzent und eine tiefere, die mehr nach dem Norden klang. Als Oscar in Sicht kam, quiekte Thora begeistert und flog in seine Arme. Xavia folgte ihr und schnell fanden sich alle außer mir in einer Gruppenumarmung wieder. Ich spürte, dass sich bei dem Anblick ein bisschen Wärme in mein gequältes Herz schlich. Oscar war Teil des Teams, Teil dieser Familie. Und sie hatten monatelang nicht gewusst, wo er war und ob er heil zu ihnen zurückkam. Dass es ihm gut ging, war ein Geschenk für sie.

Erst als sie einander wieder freigaben, fiel Oscars Blick auf mich. Die anderen wuselten wie auf ein Stichwort an die Kaffeemaschine und den Kühlschrank, nur wir beide waren völlig reglos.

»Hi, Retterin.« Er lächelte.

»Hi.« Ich versuchte, das Lächeln zu erwidern.

Wir standen voreinander, hatten beide keine Ahnung, wie wir miteinander umgehen sollten. Dann schüttelte Oscar leicht den Kopf, trat auf mich zu und drückte mich an sich. Ich atmete erleichtert auf, als ich merkte, dass es nicht unangenehm war, auch nicht aufregend. Es war einfach nur eine Umarmung, völlig freundschaftlich.

»Ich bin ein bisschen beleidigt, dass du mich nicht besucht hast, als ich wach war«, sagte Oscar und ließ mich los. »Du lässt dir ernsthaft die Chance entgehen, mit mir eine Runde Scrabble zu spielen?«

Sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen. Oscar war halb tot gewesen, als ich ihn gefunden hatte, und trotzdem war ich lieber hiergeblieben, in sicherer Entfernung zu ihm und dem, was man uns auferlegt hatte. Aber das wollte ich ihm nicht sagen. »Scrabble?«, fragte ich also nur.

»Japp. Es ist das einzige Brettspiel, das es in dem verdammten Krankenflügel gibt. Sie haben Fernseher für 2.000 Pfund inklusive Pay-TV, aber nichts, das Spaß macht.«

»Es gibt Leute, die Pay-TV für großen Spaß halten«, meinte ich.

»Nicht mit aktivierter Kindersicherung.« Oscar verzog das Gesicht wie ein kleiner Junge, dem man gesagt hatte, dass der Osterhase sein Dad ist.

Ich musste lachen und war selbst überrascht von dem Geräusch. Ich hatte seit Wochen nicht mehr gelacht. Aber gleichzeitig kam ich mir wie eine Verräterin vor. So als hätte ich Oscar geküsst und mich nicht nur über einen Witz von ihm amüsiert.

»Setzt euch«, sagte Xavia und schob mich, sicher nicht absichtlich, zu dem Stuhl, auf dem sonst Noel saß. Ich drehte ab und ließ mich auf einen anderen fallen. Levi merkte es und setzte sich auf Noels Platz, ohne mein Manöver zu kommentieren. Das tat er nie, aber ich wusste, er behielt mich mit seiner Gnade genau im Blick. Alle taten das. Sie hatten Sorge, ich würde zusammenbrechen oder nachts ein Auto klauen und abhauen, wie an diesem Abend nach dem Kampf gegen die Darks. Mir wäre es lieber gewesen, sie hätten mich ganz normal behandelt, denn ihr Mitleid erdrückte mich förmlich. Auch jetzt war es wieder in allen Feldern zu sehen – außer in dem von Oscar. Ich erkannte zwar einiges an Gefühlen bei ihm, aber kein Mitleid. Und ich war sehr dankbar dafür.

Das Willkommensfrühstück verlief anders als die meisten Zusammenkünfte des Teams – es war nicht laut oder chaotisch. Stattdessen wurde ruhig und ernst über Morgana und die Darks gesprochen, über Aufträge der Knights und was die Divines in der letzten Woche gesehen hatten. Ich hörte zu, aber ich bekam kaum etwas herunter und nur wenige Worte über die Lippen.

»Also«, sagte Oscar irgendwann und sah mich an. Ich versteifte mich unwillkürlich. »Niemand bei KORT weiß, dass du eine Merlin-Erbin bist, oder?«

Ich atmete auf. Darum ging es. »Niemand außer euch und dem Team in Caerleon«, korrigierte ich. »Aber keiner aus der Gilde, wenn du das meinst.«

»Wie lange werden wir das noch verheimlichen können?« Die Frage galt den anderen.

Xavia hob die Schultern. »Keine Ahnung. Aber momentan hat KORT genug andere Probleme, also sollten wir noch eine Weile sicher sein. Wir hoffen nur, dass nichts von Noels Morgana-Verwandtschaft zur Gilde oder den anderen Teams durchdringt. Wenn das passiert, dann hat er ein großes Problem.«

Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Wenn das rauskam, würde die Gilde ihn garantiert einsperren oder Schlimmeres. Deswegen taten wir alles, um es weiterhin zu verheimlichen.

»Wie geht es Noel denn?«, fragte Thora da. Sofort schnellte mein Puls in ungesunde Höhen. An ihn zu denken, war schwer genug. Aber nun zu hören, wie er sich schlug, während er jeden Kontakt zu mir vermied, das konnte nur unangenehm enden. Entweder kam er damit zurecht, dann tat es weh, oder er litt genau wie ich, dann war es noch schlimmer.

Bevor jemand antworten konnte, stand ich schnell auf. »Ich muss noch … meine Sachen von unserem Auftrag ausräumen«, sagte ich wenig überzeugend, dann lief ich zum Aufzug und fuhr ins Untergeschoss. Dort angekommen, ging ich unschlüssig den Flur entlang und landete schließlich im Trainingsraum, wo ich mich auf die Bank sinken ließ und mir die schmerzenden Schläfen rieb.

Wie lange soll das noch so weitergehen?, fragte ich mich selbst. Wie oft sollte ich noch wie eine labile Irre vom Tisch weglaufen, mich irgendwo in der Pampa übergeben, mit angehaltenem Atem auf mein Handy starren und hoffen, dass Noel mich anrief? Ich kannte die Antwort.

So lange, bis irgendjemand mir sagte, dass das alles nur ein Fehler gewesen war.

3

3

Es dauerte nicht lange, bis ich hörte, dass die Aufzugtüren sich erneut öffneten – und es wunderte mich nicht, dass mir jemand nachgekommen war. Aber als ich sah, wer da an den Glaswänden entlangschlenderte und mich schließlich im Trainingsraum entdeckte, war ich doch überrascht.

»Hey.« Oscar schaute mich an. »Stör ich dich?«

Am liebsten hätte ich das bejaht und ihn gebeten, zu gehen. Ich fühlte mich nicht wohl in seiner Nähe. Nicht mit der Vorhersage der Map im Nacken und dem, was man von uns erwartete. Aber das war unhöflich. Und außerdem sinnlos. Wir mussten miteinander auskommen, da half es nicht, wenn ich jedes Zusammentreffen mit ihm vermied.

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf, und Oscar kam in den Raum, setzte sich jedoch nicht neben mich auf die Bank, sondern ließ sich gegenüber von mir auf den Matten nieder, mit denen der Boden ausgelegt war. Als ich bemerkte, wie er dabei das Gesicht verzog, wurde ich kurz von meinen eigenen Gefühlen abgelenkt.

»Wie geht es dir? Hast du noch Schmerzen?« Es war so lächerlich, wie dünn meine Stimme klang, wenn ich mit ihm sprach. Unter anderen Umständen hätten wir die besten Freunde werden können. Wir hatten im Pub herumgealbert, wir hatten sogar in der Gefangenschaft der Darks einen Draht zueinander gehabt. Und nun saß ich hier vor ihm und fühlte nichts außer Angst und Unsicherheit.

Oscar legte die Arme auf seine Knie. »Kaum. Wir Knights heilen ja schneller als andere.«

»Aber du warst so gut wie tot«, entfuhr es mir, bevor ich merkte, dass das ziemlich taktlos war. »Tut mir leid, ich bin …«

»… von der Rolle? Dünnhäutig? Kurz vor dem Durchdrehen?« Seine Schultern zuckten nach oben. »Ich weiß.«

»Woher?« Hatten wir jetzt plötzlich eine Verbindung, nur weil die Map es wollte? Wenn es so war, merkte ich zumindest nichts davon.

Oscar zeigte an sich herunter. »Meine Gnade. Arthur-Erben haben ein gutes Gespür dafür, wie gefestigt jemand ist. Und du bist eine glatte 0 auf der Skala.«

»Vielen Dank«, schnaubte ich. »Wie nett von dir.«

»Ich glaube nicht, dass Nettsein dir gerade etwas nützen würde.« Er sah mich ernst an.

Nein, dachte ich. Das Einzige, was mir etwas nützt, wäre eine Änderung auf der Map. Aber natürlich sagte ich das nicht. Ich sagte in letzter Zeit so gut wie nie, was ich dachte.

»Was die Map angeht …«, begann Oscar da auch schon, als hätte er meine Gedanken gehört.

»Hör auf mit der beschissenen Map!«, platzte es aus mir heraus. »Ich weiß, dass ihr auf das verdammte Ding hört, als wäre es irgendeine Art technokratische Gottheit. Als wären die Divines eure Götter! Aber das gilt nicht für mich! Ich kann nicht irgendeine scheiß Kategorie-10-Verbindung sehen und sagen ›Oh klar, natürlich schalte ich meine Gefühle für Noel aus und knipse die für Oscar an‹. Das geht nicht!«

»Das weiß ich«, hielt er dagegen. »Niemand verlangt das von dir.«

»Doch, natürlich, alle verlangen das von mir! Von dir übrigens auch, aber dich scheint das nicht zu kümmern. Hat die Map dir vielleicht auf magische Weise Gefühle für mich eingepflanzt? Bist du deswegen hier?« Ich zeigte auf die Matten auf dem Boden. »Sollen wir es vielleicht direkt jetzt erledigen? Damit alle zufrieden sind?«

Oscars Mund wurde sehr schmal, genau wie seine Augen. »Himmel, natürlich nicht! Glaubst du im Ernst, ich würde auf diese Art … verdammt, Charlotte! Ich bin hier, weil ich diese Vorhersage genauso beschissen finde wie du.«

Meine Wut verrauchte augenblicklich. Ich starrte ihn an. »Ehrlich?«

»Ja, ehrlich.« Oscar wirkte angefressen. »Alle aus dem Team sind wie Familie für mich, aber Noel ist mir näher als jeder andere Mensch auf der Welt. Was denkst du, wie ich mich gefühlt habe, als ich aufgewacht bin und er mir gesagt hat, was die Map ausgespuckt hat? Dass ich dazu bestimmt sein soll, mit genau dem Mädchen zusammen zu sein, das er liebt?« Er stieß die Luft aus. »Ganz ehrlich: Ich habe mir gewünscht, ich wäre nicht aufgewacht. Dass Morgana mich erledigt hätte. Und nun sitzt du vor mir und leidest – und da denkst du, ich würde das alles wollen?«

Ich schwieg, mehr als betreten. »Es tut mir leid«, brachte ich schließlich leise hervor.

»Das sollte es auch.« Oscars Blick wurde weicher und er atmete aus. »Egal, ob wir Knights sind oder nicht, Noel wird mir immer wichtiger sein als irgendetwas, das die Divines sagen. Ich verstehe nicht, wie du seit Monaten Teil dieses Teams sein kannst und trotzdem glaubst, es wäre anders.«

»Ich wollte nicht … es ist … ich weiß auch nicht. Alle sind furchtbar nett, aber jedem ist bewusst, was die Map sagt, und ich habe das Gefühl, wenn ich mich nicht auf der Stelle in dich verliebe, dann enttäusche ich sie.« Ich zog meine Füße auf die Bank hoch.

»Ja, das Gefühl kenne ich.« Oscar nickte. »Es wirkt komplett falsch, oder nicht? Ich frage mich die ganze Zeit, warum es eine solche Vorhersage geben kann, wenn die Realität doch eine vollkommen andere ist.«

Ich nickte, weil ich genau wusste, was er meinte. »Können wir denn gar nichts dagegen machen?« Ein Schatten breitete sich plötzlich in Oscars Feld aus, aber es hatte nichts damit zu tun, dass wir uns quasi gegenseitig einen Korb gegeben hatten. »Was?«, fragte ich alarmiert. »Weißt du etwas, das ich nicht weiß?«

Er atmete aus. »Das ist nichts, was du nicht weißt«, sagte er. »Du bist lange genug hier, um zu wissen, wie KORT vorgeht, wenn eine Vorhersage durchgesetzt werden soll.«

Oh Gott. Er hatte recht. Wieso hatte ich daran noch nicht gedacht, obwohl es vollkommen auf der Hand lag?

»Nein.« Ich schnappte nach Luft. »Sie wollen … uns manipulieren?« Natürlich wollten sie das. Das war schließlich das Prozedere – das war es, was die Knights taten. Sie bekamen einen Auftrag, um jemanden dazu zu bringen, sich zu verlieben oder mutig zu sein, inspiriert, großzügig oder überzeugt. Nur dass ich diesmal der Auftrag sein würde. Sie wollten mir meine Liebe zu Noel nehmen. Mir vielleicht sogar Zuneigung zu Oscar einpflanzen.

Zum Glück ging das nicht.

»Das lasse ich nicht zu«, stieß ich aus. »Mich kann man nicht gegen meinen Willen leiten. Ich bin in der Lage, das abzuwehren.« Als Merlin-Erbin war ich die Einzige, die das konnte.

Oscar nickte. »Davon habe ich gehört.«

»Aber?«, fragte ich. Er antwortete nicht und ich spürte ein dumpfes Gefühl im Bauch. »Also doch. Du glaubst auch daran, dass es stimmt. Dass KORT uns vorschreiben darf, wen wir lieben?« Ich hatte für einen Moment gedacht, in ihm einen Gleichgesinnten gefunden zu haben. Aber das war falsch. Oscar war ein Knight, genau wie Noel. Sie waren von ihrer Jugend an darauf gedrillt, KORTs Anweisungen Folge zu leisten.

»Es geht dabei nicht um KORT. Ich weiß, dass du den Laden nicht magst, und ich kann verstehen, warum. Aber die Divines sind nicht die Gilde. Juleon und Scarlett haben keine Visionen, weil irgendein Gremium aus adeligen Säcken das von ihnen verlangt. Sie haben sie, weil wir nur so überleben können. Und damit meine ich nicht dich und mich oder Stanham oder Großbritannien. Sondern die Welt.«

Ich schnaubte. »Ja, weil es der Welt so super geht dank der Knights. Überall gibt es Krieg und Hunger und Idioten. Wer sagt denn, dass es anders wäre, wenn wir einfach nicht eingreifen würden? Die Darks haben in den letzten Monaten Dutzende von Aufträgen vereitelt, und trotzdem ist der Himmel nicht über uns eingestürzt.«

»Noch nicht jedenfalls. Aber woher willst du wissen, ob es nicht schlimmer wäre, wenn es uns nicht gäbe?« Falls Oscar sich von meinem Angriff auf die Knights beleidigt fühlte, ließ er mich das nicht spüren.

»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte ich. »Glaubst du, dass KORT … oder die Divines uns vorschreiben sollten, mit wem wir zusammen sind? Du hast schließlich gesagt, dass du das hier«, ich zeigte zwischen uns hin und her, »genauso wenig willst wie ich.«

Oscar seufzte. »Dabei bleibe ich auch. Aber wenn ich dir sage, dass ich generell nicht glaube, die Divines würden sehen, was das Beste für die Welt ist, dann würde ich das System verraten, dem ich seit zehn Jahren diene.«

Ich atmete aus. »Also sind wir was? Die Ausnahme?«

»Keine Ahnung. Ich habe nie darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn ich Teil einer Vorhersage werde. Das kommt so gut wie nie vor. Knights spielen normalerweise keine Rolle in Kunst, Kultur, Politik oder anderen Bereichen.«

Gegen meinen Willen musste ich grinsen. »Ja, ihr seid alle wirklich sehr durchschnittliche Leute.«

Oscar lachte, und mir fiel ein, dass ich ihn noch gar nicht nach Morgana gefragt hatte. Ich drehte mich so um mein eigenes Drama, dass ich völlig vergessen hatte, wo Oscar die letzten Monate gewesen war.

»Sag mal … ist sie eigentlich wirklich weg? Aus deinem Kopf?« Ich hatte während meiner Gefangenschaft mitbekommen, wie es war, wenn man von Morgana gequält wurde. Und das waren nur zwei Tage gewesen, nicht acht Monate.

»Ja, ist sie.« Oscar rieb sich über die Schläfe, als wollte er sich selbst davon überzeugen. »Als sie beschlossen hat, mich zu töten, war es ihr wohl nicht mehr so wichtig, mich zu kontrollieren.« Er sagte es gelassen, aber ich sah seinem Feld an, dass er es alles andere als leichtnahm.

»Wie bist du denn da rausgekommen?« Als ich ihn gefunden hatte, war er bewusstlos und so schwer verletzt gewesen, dass er garantiert nicht allein in die südenglische Einöde gelaufen war.

Unwillig hob Oscar die Schultern. »Das weiß ich nicht genau. Die Handlanger der Darks haben angefangen, mich zusammenzuschlagen, und plötzlich war da gleißendes Licht, zumindest kam es mir so vor. Dann hat mich jemand hochgehoben und in ein Auto getragen, jemand mit leuchtenden Händen.« Er schüttelte den Kopf. »Das klingt echt bescheuert. Wahrscheinlich habe ich mir das meiste davon nur eingebildet, weil mein Kopf Matsch war.«

Wohl kaum, dachte ich. Es gab in diesem Spiel immer noch Mächte, die wir nicht verstanden. Die wir vermutlich nie verstehen würden. Wer oder was auch immer Oscar gerettet hatte, musste jedoch auf unserer Seite sein. Oder auf der des Schicksals, das uns beide zusammen sehen wollte. Die Vorhersage der Divines hatte es gegeben, bevor Oscar befreit worden war. Vielleicht hatte jemand dafür gesorgt, dass sie wahr werden konnte.

»Charlotte, alles klar?« Oscar beugte sich vor.

Ich seufzte. »Bitte versprich mir, dass du mich das nie wieder fragst, okay?«

»Okay.« Er schwieg, genau wie ich, und das Schweigen war zum Glück nicht unangenehm. Ich war erleichtert, dass Oscar ebenso wenig wie ich die Vorhersage der Divines umsetzen wollte. Es war nur die Frage, wie lange wir in dieser Sache noch frei entscheiden konnten.

»Wie viel Zeit haben wir, bis man jemanden schickt, der uns manipulieren soll?«, fragte ich.

»Kommt darauf an.«

»Worauf?«

»Wie schnell die Lage sich entwickelt«, sagte Oscar. »Noch haben wir keinen Alert auf der Map, noch ist niemand auf uns angesetzt. Wie ich Juleon und Scarlett kenne, werden sie das so lange herauszögern wie möglich, aber irgendwann müssen sie handeln. Es gibt nur eine Chance, das zu verhindern: eine andere Möglichkeit.«

»Eine andere Möglichkeit, Morgana zu besiegen? Wenn es eine gäbe, wüssten wir wohl davon.« Mein Mut sank erneut. Das konnte doch alles nicht funktionieren.

»Bist du immer so negativ?« Oscar fuhr sich durch die dunkelblonden Haare und sein Lächeln war mild. »Kein Wunder, dass du bisher keine Lösung gefunden hast.«

Ich warf ihm einen beleidigten Blick zu. »Entschuldige bitte, dass ich keine Ahnung habe, wie man die Divines austrickst. Oder ihre Vorhersagen.« Die beiden Seher waren die heiligen Kühe von KORT. Niemand stellte sie jemals infrage.

»Man kann sie nicht austricksen. Aber sie sehen nicht alles. Und sie sehen auch nicht alle Alternativen. Für den Sieg über Morgana sind du und ich die beste, einfachste oder vielversprechendste Lösung. Aber das heißt nicht unbedingt, dass wir die einzige sind.«

Seine Worte wirkten in mir nach. »Du meinst … wenn wir einen anderen Weg finden, sie zu besiegen, dann wird die Vorhersage hinfällig?«

»Verdammt richtig.« Oscar grinste. »Wenn wir uns ein bisschen Zeit verschaffen, können wir sie dafür nutzen, etwas anderes zu finden, dass der alten Hexe den Stecker zieht.«

Das klang gut, es klang endlich nach einem Plan. Aber da gab es ein Problem: Wir wussten nicht, wie man Morgana besiegen konnte. Noel und ich hatten sie in Dartmoor zwar für den Moment schwächen und vertreiben können, aber das hatte sie nicht getötet. Merlin hatten wir nicht befreien können, er fiel also auch aus. Und Oscars und meine Kräfte waren ohne Gefühle füreinander sicher nicht stark genug, sonst hätte die Vorhersage anders gelautet.

»Du klingst definitiv optimistischer, als ich mich fühle.«

»Was soll ich sagen? Optimismus ist meine Kernkompetenz.« Oscar stand auf und reichte mir die Hand, um mich von der Bank hochzuziehen. Ich ergriff sie ohne Zögern. »Und jetzt lass uns was essen, okay? Ich habe fürchterlichen Hunger, und ich kann mir nicht vorstellen, dass es dir anders geht.«

Ich folgte ihm in den Gang Richtung Aufzug. »Eigentlich hatte ich schon seit Wochen keinen Hunger mehr.« Mein Magen strafte mich Lügen, denn er knurrte laut, als wir in den Fahrstuhl stiegen. Ich drückte die Hand darauf und musste lächeln. Oscar hatte mir ein bisschen Zuversicht zurückgegeben – und offenbar auch etwas Appetit. Vielleicht gab es wirklich eine Lösung.

Wir mussten sie nur finden.

4

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Als ich an diesem Abend schlafen ging, fühlte ich mich zum ersten Mal seit Wochen nicht vollkommen niedergeschlagen. Oscars pragmatische Art und Weise, an unser Morgana-Problem heranzugehen, gab mir Hoffnung – und dass er keinerlei Interesse an uns als Paar hatte, beruhigte mich mehr, als ich sagen konnte. Dabei war es eigentlich albern, welche Schreckensszenarien ich mir vorher ausgemalt hatte, denn ich wusste schließlich, wer Oscar war. Ich hatte es die ganze Zeit gewusst, obwohl wir uns nur zweimal begegnet waren. Aber meine Sorgen hatten meinen gesunden Menschenverstand schon vor einer Weile abgeschaltet.

Irgendwann in der Nacht schreckte ich aus einem der typischen Träume auf, die ich seit dem Besuch in Dartmoor hatte. Häufig handelten sie von der Anderswelt und der nebligen Gestalt, die versucht hatte, an meiner Stelle in unsere Welt zurückzugelangen. Manchmal war es auch Morgana, die in meinem Kopf herumgeisterte, ohne jemals ein Wort zu sagen. Wovon ich jedoch nie träumte, war Noel – so als würden meine Knight-Sinne auch das verhindern. Ich wusste nicht, ob ich es begrüßen oder bedauern sollte.

Der Wecker, den Levi mir zum Geburtstag geschenkt hatte, zeigte kurz nach zwei Uhr an, aber ich fühlte mich hellwach. Genervt setzte ich mich auf und beschloss, irgendetwas zu tun, bis ich wieder müde wurde. Auf meinem Nachttisch lag eine Ausgabe von The Story of King Arthur and His Knights von Howard Pyle – Zeph hatte es mir empfohlen, nachdem ich ihn darum gebeten hatte, mir in Sachen Tafelrunde ein wenig Nachhilfe zu geben. Aber jetzt verspürte ich kein Verlangen, mich in das Werk zu vertiefen. Nur Durst. Und da die Wasserflasche neben meinem Bett leer war, blieb mir nichts anderes übrig, als aufzustehen. Vielleicht konnte ich unten ein bisschen fernsehen, wenn ich den Ton leise drehte. Das erschien mir gerade wesentlich verlockender als Mr Pyles Ausführungen über Lancelot.

Ich zog mir einen Hoodie und eine Jogginghose an und verließ mein Zimmer, machte mich auf den Weg nach unten. Dabei ließ ich aus Gewohnheit meine Gnade in die Umgebung schweifen – und hielt inne. Nicht, weil ich deutlich sehen konnte, dass alle aus dem Team schliefen, Oscar jedoch wach war. Sondern weil da noch andere Signaturen in der Nähe waren. Nein, nicht irgendwelche Signaturen. Es waren dunkle Felder, in denen beinahe alle Lichter erloschen waren.

Darks.

Mir stockte der Atem, mein Puls schnellte nach oben. Dann drehte ich auf dem Absatz um.