Knotenbruch - Jana Beek - E-Book

Knotenbruch E-Book

Jana Beek

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Beschreibung

Auf der Suche nach einem Platz in der Welt taumelt Frederick von einem trostlosen Ort zum nächsten. Vor aufkommenden Herausforderungen flüchtet er konsequent. In einer sich immer schneller verändernden Umgebung, in der es vor Androiden, verwirrenden Realitätsebenen, mysteriösen Todesfällen und gesellschaftlichen Unruhen nur so wimmelt droht er immer wieder auseinanderzubrechen. Als er sich inmitten der globalen Konflikte wiederfindet und ein Wegrennen nicht mehr möglich ist wird es sich zeigen müssen, ob er im Kampf mit der inneren Zerrissenheit, den Traumata und gesellschaftlichen Veränderungen bestehen kann.

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„Du warst nachlässig“, erklärte Jorge in einem lapidaren Tonfall, „du musst mehr darauf achten, dass die Plastikelemente vollständig abgelöst werden“, er kritzelte irgendwas auf seinem Klemmbrett herum. „Der Recyclingvorgang…“

„Ich weiß, er kann nicht abgeschlossen werden, solange nicht die Rohstoffe ordentlich voneinander getrennt sind“, erwiderte De und knetete seine Hände.

Während Jorge weiter sprach, schweifte Des Blick durch die Halle, vorbei an den zischenden und ratternden Maschinen. Grau an Grau, stumpfe Geräusche, monotone Abläufe. Ein metallischer und gleichzeitig sumpfiger Geruch lag in der Luft, wie in einem alten Keller. Oder einer Gruft. Hoffentlich kam der Geruch nicht von ihm. De hob seine Schulter und hielt die Nase daran. Es war schwer zu sagen. Sein Arbeitsanzug roch auch nach altem Plastik aus der Wiederverwertung. Aber auch nach einem Gemisch aus Schweiß und Staub.

„Natürlich, ich werde stärker darauf schauen, dass das Plastik…“, klinkte De sich wieder ein.

„Es wird wiederverwertet, deswegen muss es frei von Rückständen sein“, erklärte Jorge und zupfte sich am Kragen.

„Das Prinzip habe ich schon verstanden.“

„Alles klar.“

Sie gingen auseinander und De nahm wieder seinen Platz bei der Bedienung der Recycling-Maschine ein. Mit einem Schalter nahm er sie in Betrieb und versuchte sich tatsächlich darauf zu konzentrieren, dass die verschiedenen Bestandteile, die früher mal zu Waggons, Computern, Heizungen, Schränken, Gartenwerkzeugen und vielem mehr gehört hatten, sorgfältig nach Rohstoffen getrennt zerlegt wurden. Es fiel ihm jedoch schwer die Vorgänge vor sich wahrzunehmen. Die Worte von Jorge hallten in seinem Kopf nach und bohrten sich ganz tief in sein Bewusstsein. Da, wo sie eigentlich nicht hin gehörten. Wo Erinnerungen an Enttäuschungen saßen. Mit aller Kraft versuchte er das zu verhindern und sich im Hier und Jetzt zu verankern. Er stoppte die Maschine und ließ die Greifarme nach oben gleiten, um in den Prozess einzugreifen und den Lampenschirm von einer Stange vollständig zu entfernen. Die Sinnlosigkeit dieser Tätigkeit war verblüffend.

„Hey“, sagte Mira hinter ihm und er drehte sich um, „was wollte er von dir?“

Sie lehnte an einer der Säulen und kaute auf einem Stück Holz herum. Ihre kurzen dunklen Locken standen in alle Richtungen ab und der schmutziggraue Overall war für ihre zierliche Statur etwas zu groß.

„Ach, nichts“, murmelte De und kroch vom Fließband wieder runter, griff nach der Fernbedienung, um weiter zu machen.

„Nimm dir das nicht zu Herzen, er meint es nicht so“, sprach sie weiter.

„Ich nehme es mir nicht zu Herzen“, grummelte De und drehte ihr den Rücken zu, „es ist doch richtig, mich auf meine Fehler hinzuweisen. Ich will die Arbeit gut machen.“

„Was hast du später noch vor?“, sie kam jetzt näher, stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute ihm über die Schulter.

Er konnte ihren Atem in seinem Nacken spüren und das war definitiv zu nah. Er ging möglichst beiläufig ein paar Schritte zur Seite. Reichte sich die Fernbedienung von einer Hand in die andere.

„Nichts, ich bin müde“, er schaute durch die Halle, ob Jorge zu sehen war. Er wollte nicht dabei beobachtet werden, wie er seine Arbeitszeit mit Gesprächen verbrachte.

„Super, wir treffen uns nach Dienstschluss bei Asger“, rief Mira ihm zu und er hörte, wie sich ihre Schritte entfernten.

Am frühen Abend, die Maschinen stellten eine nach der anderen ihren Dienst ein, steuerte er langsam den langen leeren Flur an, der nach draußen führte. Seine Schritte hallten durch das Gebäude, auch wenn er versuchte leise zu laufen. Die schweren Arbeitsschuhe verhinderten dies größtenteils. Der Flur war mit nacktem, grauem Beton ausgegossen und hatte eine raue Oberfläche, besonders an den Stellen, an denen die Masse nicht sehr gleichmäßig verteilt worden war. Das ganze Gebäude war etwas lieblos konstruiert worden, aber es war stabil. Die kleine Mitarbeitertür, welche in das große Tor integriert war, war noch einen Spalt geöffnet. Er war einer der letzten, die das Recycling-Werk verließen. Kurz vorher scannte er den implantierten Chip in seiner Hand, um die Arbeitszeit erfassen zu lassen.

Draußen begann es bereits dunkel zu werden. Es war nur ein kurzer Weg zu den Baracken. Er führte über eine Straße, die mit ausrangierten und miteinander verschmolzenen Plastikteilen gepflastert war. Sie waren erstaunlich stabil und hatten eine eigenwillige Formation an schmutzigen Farbtönen und schrägen Formen angenommen. Er konnte sich innerlich ganz gut damit identifizieren.

Von den vielen Straßen, auf denen er bisher unterwegs gewesen war, hatten die meisten aus Schotter und Sand bestanden. In der einzigen Stadt, in der er mal gewesen war, war natürlich Asphalt und Stein der bevorzugte Untergrund. Waldboden und Wiese hatte er bisher am seltensten betreten, es hatte sich noch nicht die Gelegenheit dafür ergeben.

„Das hat gedauert“, rief Mira und sprintete zu ihm heran. Strich sich ein paar Fransen aus dem Gesicht.

„Wirklich? Ich muss die Zeit vergessen haben“, erwiderte De, auch wenn es nicht ganz der Wahrheit entsprach. Er hatte gehofft, dass wirklich alle schon gegangen waren. „Hör mal, ich bin bestimmt keine gute Gesellschaft heute…“, versuchte er es.

Er wollte weder jetzt noch später einen anderen Menschen so nah neben sich haben. Nicht Mira und auch nicht jemand anderen. Während der Arbeit war dies zum Glück nicht notwendig. Dort konnte er sich etwas ablenken und dieses Gefühl verdrängen, aber jetzt, wo es nichts gab außer der Straße und der Abenddämmerung waren die Gedanken wieder unerträglich laut geworden. Sie erinnerten ihn daran, dass er eine unangenehm aussehende und riechende Person war, vor der sich andere sicherlich ekelten.

Er beugte seinen Kopf nach vorne und ließ die kinnlangen Haare vor das Gesicht fallen, um wenigstens diesen Körperteil verbergen zu können. Dann imaginierte er eine dicke Glasscheibe, die ihn von der Außenwelt trennte. Sie gab ihm etwas Schutz und Halt.

„Ach was. Sag mal, hast du diesen Bericht gelesen, der heute Morgen veröffentlicht wurde?“, sie wechselte geschickt das Thema. Mira ließ sich nichts anmerken, aber er war sich sicher, dass sie den fauligen Geruch, der ihn umgab, wahrnahm. „Es ging da um Todesfälle, die momentan gehäuft auftreten. Sie sind auf der ganzen Welt verteilt, auf allen Kontinenten und die Ursache ist völlig unklar…“

„Hm“, gab De von sich und ließ Mira weiter reden. Er bemühte sich angestrengt, sich auf ihre Worte zu konzentrieren, so wie er es bei Jorge versucht hatte. Um zu funktionieren, musste er immer wieder mal die Milchglaswand durchbrechen und Kontakt aufnehmen, aber heute schienen seine Kraftreserven dafür aufgebraucht zu sein. Stattdessen hob er den Kopf und visierte die Gebäude an, die langsam näher kamen. Graue Betonblöcke mit hunderten von Ein-Zimmer-Appartements. Die Fassade war abgenutzt und verwittert, die Fenster klein und stumm. Sie wurden nie geöffnet. Es gab keine Vorhänge. Keine Balkonpflanzen und keine Lichter von drinnen. Manches Glas war gesprungen und notdürftig geklebt worden. Eine Schicht von schmutzigem Regenwasser durchzog alle Scheiben und setzte sich an der Fassade fort, die in der Trendfarbe Grau gehalten war.

De senkte den Kopf wieder. An seinen Füßen schien Blei zu kleben, er konnte sich kaum nach vorne bewegen. Er schaute auf die klobigen Arbeitsschuhe, die sich verstaubt und abgenutzt über die Patchwork-Straße schoben.

„Also, was denkst du dazu?“, bohrte Mira nach. „Ist das nicht mysteriös?“

„Das Weltgeschehen? Ich interessiere mich nicht dafür. Warum auch, es ist alles so weit weg von mir.“

„Aber das ist ja das Abgefahrene, es gibt diese Fälle mittlerweile überall, es werden jeden Tag mehr und vielleicht sind wir auch bald betroffen. Das wäre furchtbar, oder? Ich muss unbedingt mehr darüber herausfinden.“

„Sterben die Leute einen qualvollen Tod dabei?“, fragte er.

„Nein, überhaupt nicht, es ist wohl so dass sie einfach stehen bleiben. Herzschlag, Atmung, Kreislauf, alles setzt aus und wenn man nicht sofort die Wiederbelebung startet sind sie weg.“

Wunderbar, dachte De, sprach es aber nicht aus. Wenigstens eine Krankheit, die ganz nach seinem Geschmack war.

Sie kamen zu dem dritten Eingang des etwas heruntergekommenen, aber noch funktionalen Gebäudes und De machte einen Schlenker, um abzubiegen.

„Wir wollten noch zu Asger“, sagte Mira im strengen Tonfall und fixierte ihn. Rührte sich nicht vom Fleck. Dabei hatte sie etwas leicht Kindliches an sich. Etwas Trotziges.

„Ich…“, ihm fiel keine gute Ausrede ein, außer, dass er Blei an den Füßen kleben hatte und nach faulen Eiern roch. Er suchte nach Worten und drehte dabei seinen Kopf wie ein Vogel, der aus dem Nest gefallen war. „Okay“, sagte er schließlich genervt und schloss sich ihr wieder an. Er würde sehr kurz bleiben und sofort verschwinden, sobald Mira ihm den Rücken zugewandt hatte. Er kannte diesen Asger nicht und er wollte weder ihn noch jemand anderes kennenlernen.

Am fünften Eingang stiegen sie die Treppen nach oben. Sechster Stock. Das letzte Mal, dass er in einem so hohen Gebäude unterwegs war, war in einem Verwaltungsgebäude der Hauptstadt des Stromversorgungskontinents. Die mit den Asphaltstraßen. Dort hatte aber ein anderer Wind geweht. Moderne Aufzüge, Teppichböden, breite Türen und Besprechungsräume. Das hier dagegen war eine unverhohlene Verwahranstalt. Steinstufen, Metallgeländer, nackte Betonwände. Von Aufenthaltsräumen keine Spur. Deswegen mussten sie sich auf dem Hausflur treffen, die Wohnungen waren einfach zu klein für mehr als zwei Personen.

Es waren schon ein paar Leute da, die an den Wänden lehnten oder auf dem Boden saßen und sich im gedämpften Tonfall unterhielten. In den Händen hielten sie aussortierte Reste von Alkohol oder anderen Getränken. Diejenigen von ihnen, die im Lebensmittelrecycling arbeiteten konnten diese Produkte semilegal abzweigen und selbst verbrauchen.

Alle Reste des Planeten landeten früher oder später hier. Auch die Menschen, die aussortiert wurden. So wie er, er hatte sich selbst aussortiert. Es schien ihm das einzig sinnvolle, was er noch mit seinem Leben anstellen konnte. Und ihre Treffen liefen immer gleich ab, sie unterhielten sich, doch dann wurde es stiller und düsterer und alle gingen in ihre Schlafräume. Zuhause konnte man das nicht nennen. Aber das hatte ihm auch keiner versprochen.

De wusste nicht, warum Mira ihn unbedingt mitnehmen wollte, sie schnappte sich gleich eine halbleere Flasche abgelaufenen Erdbeerwein und mischte sich unter die Leute.

„Du bist neu hier, stimmts?“, fragte ihn ein wesentlich jünger aussehender Typ, der als einer der wenigen keinen Overall, sondern ein zerknittertes weißes T-Shirt und eine Jeans trug.

Wie immer stand sein Gegenüber zu nah an ihm. Tagsüber hatte er noch die Kraft immer wieder darüber hinwegzusehen, aber je später es wurde, desto mehr belasteten die Menschen ihn mit ihrer Präsenz. Zwei Schritte Abstand waren für De okay, hier war es ein Schritt. Er hatte sich an die Spezies Mensch immer noch nicht gewöhnen können, auch wenn er sie schon seit dem ersten Tag seines Lebens kannte. Sie waren unberechenbar und für De schwer zu lesen. Besonders den Freundlichen misstraute er, denn sie zeigten nicht, wie er es erwarten würde, dass sie sich vor ihm ekelten. Das hier war auch so ein Exemplar. De musterte das Gesicht seines Gegenübers. Er hatte dunkle Haut, lange wellige Haare und ausgesprochen weiße Zähne. Zu weiße Zähne waren immer ein Grund für Skepsis.

„Ich heiße Ante“, stellte der andere sich vor und reichte ihm die Hand.

„Ich bin Frederick, die meisten sagen De zu mir“, sagte er und drückte Antes Hand. Noch schlimmer als zu wenig Abstand waren diese körperlichen Berührungen, zu denen De sich quälen musste, um andere nicht zu sehr zu enttäuschen. Er hielt dabei immer die Luft an, wie in der Hoffnung, dass er sich vorher vielleicht doch unsichtbar machen könnte. Hatte bisher noch nicht funktioniert. „Ich bin seit zwei Wochen hier. Und du?“, schaffte De es noch zu sagen beim Ausatmen.

„Paar Jahre“, Ante lachte unbestimmt. Seine Lachfalten an Augen und Mund sprachen Bände von einem unbeschwerten, lockeren Leben, auch wenn das sicherlich so auf niemanden in der Produktion zutraf.

Sie setzten sich auf den Boden. De lehnte an der Wand und Ante war links von ihm. Zwischendurch ging das Flurlicht aus und jemand schaltete es wieder an. Ein unangenehmes Flackern entstand. De hatte dabei einen Bruchteil einer Sekunde für die Frage, warum er immer noch hier war und ein Gespräch führte. Sicherlich musste dieser Ante ihn mit jemandem verwechselt haben. Mit jemandem, der nett und wohlriechend war. Es konnte nur noch wenige Minuten dauern, bis ihm sein Fehler auffiel.

„Welche Branche?“, fragte De und begann an einem Faden, der sich von seiner Hose gelöst hatte, zu friemeln.

„Wir stellen Eisenbahnteile her, in der Halle hinter dem Hügel“, erklärte Ante und platzierte die Flasche vor sich.

„De kommt vom Stromversorgungskontinent“, Mira tauchte wieder auf, setzte sich ihm gegenüber und lächelte verklärt, sie hatte schon deutlich etwas intus.

„Nein!“, rief Ante eine Spur theatralisch aus. Da war es wieder, diese Unbeschwertheit der anderen Menschen. Ein verrücktes Phänomen, zu dem er keinen Zugang hatte. Er hatte bloß seine Glaswand. „Wie kommts?“, jetzt wurde Antes Gesicht wieder ernst und er beugte sich nach vorne, sodass De die Erdbeeren deutlich riechen konnte.

„Ich…“, stotterte De und schaute hektisch umher. Es wäre gut gewesen, mit der Wand hinter ihm verschmelzen zu können. Stattdessen zog er sich den Faden seiner Hose noch enger um den Zeigefinger, ein wohliger Schmerz durchfuhr ihn.

„Er muss sich jetzt jeden Tag von Jorge anhören, was er alles falsch macht“, Mira kicherte los und schlug sich mit der Hand auf den Oberschenkel. De war froh um den Themenwechsel, so musste er keine komplizierten Fragen beantworten.

Noch ein paar Leute kamen dazu, sodass De sich nicht unauffällig vom Acker machen konnte. Und sie waren alle weniger als zwei Schritte von ihm entfernt, leider.

„Du willst immer nur über die Arbeit reden, bei dir gibt es kein anderes Thema“, warf eine Frau ein, die jetzt hinter Mira stand und deren Namen De entgangen war, aber er hatte sie schon mehrmals bei den Treffen gesehen.

„Das stimmt nicht“, Mira schaute säuerlich hoch. Es stimmte vielleicht, aber De fand es nicht schlimm. Etwas anderes als Arbeit hatten sie hier ja nicht.

Jemand tippte De von rechts an die Schulter und er zuckte zusammen. Für einen kurzen Augenblick trafen sich seine und Miras Blicke. Er dachte erkennen zu können, dass sie mittlerweile wusste, wie störend das für ihn war. Mira tippte ihn nie an, das war angenehm. De löste den Faden von seinem Finger, um die Blutzufuhr wieder herzustellen und drehte den Kopf nach rechts. Dort sah er geblendet vom Flurlicht eine Person stehen, die ihn zu sich winkte. Mühsam rappelte De sich auf und verließ die illustre Runde. Er folgte dem Mann zu einem der schmutzigen Fenster des Treppenhauses.

„Kommst du zurecht?“, fragte sein Gegenüber und De traute sich nicht, ihn anzusehen. Wenigstens der räumliche Abstand zwischen ihnen stimmte. „Ich glaube wir haben uns noch nicht einander vorgestellt. Ich bin Asger.“

De zwang sich den Kopf zu heben, denn zu lange konnte er sich bei einem Gespräch nicht verstecken, es war sozial nicht angebracht. Er streifte Asgers Gesicht nur kurz, um zu registrieren, dass er einen halben Kopf größer war, blaue Augen und wie alle Männer überschulterlanges Haar hatte, das er als ordentlich zusammengebundenes Gesamtkunstwerk inklusive zweier Seitenzöpfe, die darin eingeflochten waren, trug.

„De“, sagte De und nickte kaum wahrnehmbar, was so viel heißen sollte wie, danke, dass du mich von diesem immer größer werdenden Menschenpulk gerettet hast.

„Mira hat mir von dir erzählt“, Asger schaute aus dem Fenster, bei dem es außer Schwärze nichts zu sehen gab. „Du bist neu im Recycling. Schön, dass du hierhergekommen bist. Ich bin in der Warenannahme, ist nicht so weit weg von euch.“

De wollte irgendwas erwidern. Er wollte von dem Blei in seinen Füßen und dem Lampenschirm erzählen, aber sein Mund konnte nicht sprechen, seine Gedanken waren verknotet. Er betrachtete Asgers Profil und seine Hände, die auf der Fensterbank ruhten. Sie wirkten knochig, abgearbeitet und sanft zugleich. Im nächsten Moment rief jemand Asgers Namen.

„Bis später“, lächelte Asger und lief an ihm vorbei.

De setzte sich auf die Fensterbank, um noch etwas Kraft für den Heimweg zu sammeln. Die Scheibe war an mehreren Stellen gesprungen, kühle Luft sickerte hindurch. In der Ferne waren kleine Lichter des Industriegebiets zu erkennen, der Rest versank in der Schwärze der Nacht. Er warf noch einen letzten Blick zurück auf die kleinen Grüppchen von Leuten, bei denen es immer stiller wurde. Hoffentlich war er den Leuten hier nicht zu unangenehm aufgefallen, mit was auch immer. Hoffentlich waren sie alle so betrunken, dass sie seinen ekligen Körpergeruch nicht wahrgenommen hatten. Hoffentlich hatte er sich nicht blamiert, mit was auch immer. Er seufzte und rappelte sich schließlich auf, um den Heimweg anzutreten.

Im Treppenhaus liefen vor ihm zwei Frauen, die sich unterhielten. Er hätte sie in der Enge nicht überholen können, ohne ihnen zu nahe zu kommen. Also musste er hinter ihnen her schleichen. Es war anstrengend.

„Meine Freundin ist daran gestorben“, sagte die erste. Auch diese beiden hatte er in diesem wirren Armeisenhaufen des Recyclings schon einmal gesehen, konnte sie aber nicht zuordnen. „Letzte Woche, in meiner Heimatstadt. Sie lebte sehr ländlich, hatte keine Familie.“

„Das tut mir leid“, erwiderte die andere. „Das sind ja wohl die Risikofaktoren. Je einsamer, desto gefährdeter. Nur diese Sonderlinge auf dem Schreiberkontinent sind da ausgenommen, keiner weiß warum. Wer schreibt, der bleibt“, sie zuckte mit den Schultern.

Noch zwei Stockwerke.

„Bei den Androiden werden wohl jetzt ein paar Leute ausgebildet, die sich speziell mit diesem Problem befassen werden. Dann kann die Ursache wohl schneller gefunden werden.“

Ihre Schritte hallten durch die Leere.

„Hoffentlich bringt es etwas. Wer sagt uns, dass es nicht die Androiden selbst sind, die das verursachen? Sie sind ja schließlich nicht von der Krankheit betroffen.“

Noch ein Stockwerk. Die Leute waren immer für Verschwörungstheorien zu haben, besonders wenn nicht Bio-Menschen daran beteiligt waren, dachte De.

„Du weißt ja, es gibt immer neue Katastrophen. Zuerst die Engpässe bei der Stromversorgung, dann die gekappte Verbindung zu den Schreibern und jetzt fallen die Leute einfach tot um. Ich bin mir sicher, das wird kein gutes Ende nehmen.“

Die beiden Frauen verließen das Gebäude und ihre Stimmen entfernten sich in eine andere Richtung. De trat in die eiskalte Nacht und spurtete zu seinem Appartement. Dort angekommen zog er sich den Anzug aus und holte unter dem Bett eine Stofftasche hervor. Sie war noch gut gefüllt, also war die Versorgung für die nächsten Wochen sichergestellt. Leckere Kohlenhydrate, Eiweiß und Fett. Er nahm einen Beutel mitsamt Plastikschlauch, schraubte den Verschluss auf und verband ihn mit dem intravenösen Zugang, der in seinen Oberkörper implantiert war. Augenblicklich spürte er die kühle Flüssigkeit in seinen Venen. Er hängte den Beutel etwas höher an einen Haken in der Wand und legte sich hin.

Die Decke war klamm und ungemütlich, sodass er sich ewig herumwälzen musste. Er wollte nichts als schlafen, doch aus allen Ecken seines Bewusstseins krochen Eindrücke des Tages an ihn heran wie seltsame Lebewesen, die sonst das Licht scheuten. Sie türmten sich auf ihm auf als wäre er ein deklarierter Platz für Ablagerungen aller Art. Ausrangierte Möbel zogen an seinem inneren Auge vorbei, manchmal kam ein Schwall flüssiges Blei auf ihn nieder, dann Gesprächsfetzen und Gesichtsausdrücke, die wie Masken auf ihn geworfen wurden, dann kamen Gerüche, Farben und nicht funktionierende Körperteile. Ein amputierter Arm, ein kaputter und durchlöcherter Magen, eine abgehackte Nase.

De atmete schwer unter dieser ganzen Last. Und dann machte er damit das einzige, was er konnte. Niemand hatte es ihm gezeigt oder beigebracht, es kam einfach so zu ihm wie das Atmen und sein Herzschlag. Er schloss die Augen und nahm jedes einzelne Teil, welches auf ihn runtergeregnet war und verknotete es in einer langen Reihe zuerst mit einem Strang, der immer länger und länger wurde. Er meinte ihn in seinen Händen spüren zu können. Und dann waren es mehrere dicke und dünne Fäden, Seile. An manchen Stellen waren diese Gebilde faserig und rau, an anderen glatt poliert wie Stein oder Glas, manchmal so nachgiebig wie Plastik oder so stabil wie Eisen. Auch die Gespräche, Emotionen, Blicke und Berührungen verflocht er mit den Fäden, sodass sie einen Platz bekamen und zugeordnet werden konnten. Nur das Blei, welches sich als Masse durch alles zog konnte er nicht verwerten, es blieb überall kleben. Über dieser Tätigkeit schlief er schließlich ein.

×××

Am nächsten Tag, auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle, musste er an die Fragmente der gestrigen Gespräche denken und an die merkwürdigen Erzählungen über die Todesfälle. Das alles klang besorgniserregend und mysteriös. Aber vielleicht war ja auch nichts dran an den Vermutungen und die vermeintliche Krankheit, die dafür verantwortlich war, würde sich beim näheren Hinsehen sehr schnell in Luft auflösen. Menschen starben die ganze Zeit und es gab niemanden, den er schmerzlich vermissen würde, niemanden, zu dem er eine ausgesprochen enge Bindung hätte. Das war schade, aber es hatte sich bisher nicht ergeben. Wegen seiner ansteckenden Krankheit konnte er niemanden in seine Nähe lassen und so musste er mit der Distanz leben.

Trotzdem ging es ihm nicht aus dem Kopf, wissen zu wollen, was von dem, das er gehört hatte, stimmte und was dazu gedichtet worden war. Er dachte kurz darüber nach, eine Recherche zu starten, nachzulesen, welche Forschungsergebnisse wirklich publiziert und ob sie von anderen Wissenschaftlern überprüft worden waren. Doch augenblicklich spürte er den altbekannten grauen Schleier der Trägheit über sich und der Gedanke rückte in weite Ferne. Er erinnerte sich daran, sich auf das zu konzentrieren, weswegen er hierhergekommen war. Und noch war er von seinem Ziel unendlich weit entfernt.

Als er vor der riesigen Halle stand packte ihn die Angst. Er musste an Jorge und seine eine Million verschiedener Ansprüche denken. Arbeite präziser, merke dir alles was ich sage, bring die Reihenfolge nicht durcheinander, behalte immer die Ruhe und den Überblick, trödele nicht, mach keine Fehler und wenn doch, dann korrigiere sie sofort, halte alles sauber und ordentlich, sei freundlich, ausgeschlafen, pflichtbewusst, vorausschauend, besonnen. De rieb sich die Schläfen und versuchte, sich nicht verrückt zu machen. Er atmete tief durch und trat durch den schmalen Seiteneingang.

„Wir haben heute Morgen eine neue Lieferung reinbekommen“, rief Jorge ihm im Vorbeigehen hektisch zu und De fragte sich, was er mit der Information anfangen sollte.

Doch dann merkte er, dass alle anderen schneller als sonst durch die Gänge eilten und aus allen Richtungen die Maschinen quietschten und krachten. Schnell nahm er seinen Platz ein und legte los mit dem Recycling. Mira war nirgends zu sehen, aber sie wurde ja auch am anderen Ende der Halle eingesetzt. Schreibtische, Waschmaschinen, Türen, Schränke, Kinderwagen und alle möglichen Sachen kamen bei ihm vorbei und mussten sortenrein getrennt werden, sodass die Rohmaterialien wiederverwendet werden konnten. Aus dem Holz wurden Spanplatten. Aus Spanplatten wurde Heizmaterial. Und so weiter.

Bei einem undefinierbaren Gegenstand, aus dem Kabel hingen, Metallplatten halb abfielen und Platinen befestigt waren wusste er nicht, wie er es angehen sollte. Immer wieder setzte er den Greifarm an, um das Gebilde auseinander zu nehmen. Schon spürte er Jorge in seinem Rücken, der die Qualität seiner Arbeit bemängelte. So wie in der Verwaltung auf dem Stromversorgungskontinent, wo er sein Glück versucht hatte. Nachdem er es in seinem Heimatort nicht mehr ausgehalten hatte, war er dorthin gereist und wollte dort einen Neuanfang wagen.

Doch der Druck war zu groß gewesen. In seiner Abteilung waren alle sehr fixiert darauf gewesen die Vorgänge maximal akkurat, durchdacht und der Verwaltungslogik entsprechend abzuarbeiten. Und De fehlte einfach die jahrelange Erfahrung in diesen Dingen, die er nicht einfach in ein paar Wochen nachholen konnte, egal wie sehr er sich anstrengte. Es gab auch nette Kollegen, besonders an Naj konnte er sich erinnern, zu ihr hatte er einen guten Draht gehabt. Er vermisste sie etwas, ihre wirre Art, ihre Überforderung mit der Welt. Aber die anderen waren kühl, distanziert, oberflächlich. Er konnte nicht zu ihnen durchdringen. Er hatte da nicht reingepasst. Also musste er gehen, weiterreisen.

Die Arbeit hier war etwas stupide, aber wenigstens musste er nicht vorgeben, eine konsolidierte Persönlichkeit zu sein, ein erfolgreicher junger Mann, der wusste, wo er in fünf Jahren stehen würde. Das war eine große Erleichterung. Nur mit dem Erwartungsdruck kam er nicht so klar, aber das musste er aushalten.

„Du musst heute noch schneller als sonst arbeiten“, sagte Jorge und warf ihm ein halbherziges Lächeln zu. „Sonst kommen wir in Verzug, verstehst du? Wenn wir eine große Lieferung an Schrott bekommen, können wir die Sachen nur begrenzt lagern, morgen kommt schon der nächste Nachschub. Die Züge rollen, ich kann sie ja nicht aufhalten.“

„Kapiert“, sagte De knapp und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ja, die Züge rollten. Überall auf der Welt. Sie waren neben den Drohnen für die Warenlieferungen in alle Richtungen verantwortlich und fuhren autonom. Und wehe, jemand hielt sie auf, dann klappte das Wirtschaftssystem zusammen und das wollte nun wirklich niemand.

„Du machst das gut“, setzte Jorge noch hinterher und lief schnellen Schrittes weiter.

De wandte sich wieder dem Fließband zu und packte noch beherzter an. Eine scharfe Metallkante schnitt ihm augenblicklich in die rechte Handinnenfläche und er zog sie reflexhaft zurück, hielt die Hand mit voller Kraft zu und schaltete schnell mit der anderen Hand die Maschine aus. Er ging in die Hocke und krümmte sich vor Schmerz. Versuchte nicht zu schreien, verzerrte sein Gesicht und geriet noch mehr ins Schwitzen. Alle Welt kam in diesem Moment auf ihn nieder und er versuchte verzweifelt das innere seines Körpers in diese gebrochene Membran zu quetschen, sie daran zu hindern, auszutreten und eine konsistente Haltung zu bewahren. Es kostete ihn alle Kraft.

Nach unendlich langer Zeit wurde der Schmerz etwas weniger. Blut tropfte auf den Boden und De starrte geistesabwesend auf die dunklen Spuren seiner Selbst, die irgendwie ganz gut zu dem Betonboden passten. Er war solch ein Trottel, dachte De unaufhörlich, wie konnte das nur passieren. Noch mehr Probleme. Umständlich holte er ein Stofftuch, welches er immer für andere Membranbrüche dabei hatte, aus der Seitentasche seines Anzugs und wickelte es um die Wunde. Es war schwer zu sagen, ob sie tief war oder nicht. Nachdem er einen festen Knoten gedreht hatte presste er die Hand wieder zu einer Faust und atmete paar Mal tief durch. Der erste Schock war erstmal überstanden. Natürlich konnte er jetzt das Tempo erst recht nicht aufrecht erhalten, es war zum Heulen. Er holte die Arbeitshandschuhe, die in einer Ablage ihr Dasein fristeten, weil sie einfach zu klobig waren und zog sie sich über. So fiel hoffentlich niemandem auf, was passiert war.

Als die Mittagspause näher rückte, strömten immer mehr Mitarbeiter in die winzige Küche, um sich einen Happen aussortierten Essens abzuholen und ihn an ihrem Arbeitsplatz zu verdrücken. De nahm nicht daran teil, weil er nichts aß, aber er überlegte in die Küche zu gehen und sich vielleicht irgendwo einen Ersatz für seinen Verband aufzutreiben, denn sein Stofftuch war schon längst durchgeweicht.

Immer wieder studierte er die Menschen, die allein oder zu zweit in die Küche liefen und beneidete sie um ihr Leben. Sie ertranken nicht tagtäglich in ihrem eigenen Saft, in ihren eigenen Gedärmen. Als der Ansturm abgeebbt hatte, traute er sich auch dorthin. Damit sein Herumschleichen nicht zu auffällig war, tat er einfach so, als würde er sich etwas zu essen aussuchen. An zwei Tischen standen Holzkisten mit Äpfeln, Kohlrabi, Gurken, Karotten, in einem Plastikcontainer befanden sich gekochte Kartoffeln, in einem anderen aufgeschnittenes Brot. So ging es weiter. De verspürte keinerlei Appetit. Es war schon Jahre her, dass er festes Essen zu sich genommen hatte. Interessiert nahm er die Gerüche war, die sich so deutlich von denen der Maschinenhalle unterschieden. Es roch fruchtig, säuerlich, würzig.

Tatsächlich lag an der Seite eines Tisches ein graues Geschirrtuch. De hatte ein schlechtes Gewissen, es verschwinden zu lassen, aber er musste es wohl tun. Als er sicher war, dass niemand ihn beobachtete, nahm er es und steckte es in eine Seitentasche seines Anzugs, der zum Glück sehr viele verschiedene solcher Stauräume aufwies.

Auf dem Weg nach draußen wollte er die Toilette ansteuern und war so in seine Gedanken vertieft, dass er fast mit jemandem zusammengestoßen wäre. Beherzt sprang er im letzten Moment zur Seite und wäre dabei fast über seine eigenen Füße gestolpert. Seine Körpervermeidungs-Performance musste schrecklich ausgesehen haben.

„Hi“, sagte Asger, der auch etwas erschreckt schaute. Immerhin hatten sie wieder zwei Schritte Abstand voneinander. Seine verbundene Hand hatte De zum Glück sowieso schon die ganze Zeit in der Hosentasche.

De presste die Lippen aufeinander, als wäre er bei einem Verbrechen erwischt worden.

„Ich wollte das hier gerade bei Jorge abgeben und dann kurz rausgehen, willst du mitkommen?“, fragte Asger schließlich, nachdem die Gesprächspause zu lang geworden war und De sich nicht dazu bringen konnte, mit seinem Gegenüber zu interagieren. Sein Kopf war einfach zu langsam, er steckte gedanklich immer noch im Handtuchdiebstahl fest.

Nein, wollte De eigentlich sagen. Er wollte so weit weg von Jorge sein wie möglich, er hatte seinen Arbeitsplatz sowieso schon zu lange verlassen und er wusste auch beim besten Willen nicht, was man hier vor der Tür machen sollte. Der Winter brach schon fast herein und es war permanent furchtbar kalt. Aber er wusste, dass er ein solches Angebot nicht ausschlagen konnte ohne wie ein Unmensch dazustehen.

„Ich hab keine Zeit“, murmelte De schließlich und trat noch ein paar Schritte zurück. Sicher war sicher.

„Wir sehen uns am rechten Eingang“, rief Asger und entfernte sich mit ein paar Zetteln in der Hand Richtung Jorges Büro.

De musste über so viel Dreistigkeit schmunzeln und vergaß sogar für einen Moment seine lädierte Hand.

Draußen waren überraschenderweise ein paar Leute unterwegs, die Zigaretten rauchten oder sich leise unterhielten. Manche hüpften dabei auf und ab, seit heute hatte es einen Temperatursturz gegeben, den sie deutlich spürten. In den Hallen wurde zwar nicht geheizt, aber es war dort wenigstens ein paar Grad wärmer.

„Jetzt ist gerade eine sehr stressige Phase, nicht?“, sagte Asger und lehnte sich neben ihn an die Außenfassade, die aus gewelltem Metall bestand, welches mittlerweile Rost angesetzt hatte. Sein Blick ging nach oben, auch wenn da nur ein grauer Himmel zu sehen war. „Da sind wir alle gefordert. Die Weltwirtschaft brummt jetzt nach der langen Stagnation infolge der Energiekrise. Hattest du das mitbekommen?“

„Ja, ich war sogar noch vor Ort. Der Vogelwald, als er abgerissen wurde“, erwiderte De und dachte an diese merkwürdige ferne Welt auf dem anderen Kontinent, die jetzt irgendwie keinen Sinn zu machen schien.

„Wie meinst du das?“, Asger starrte ihn verblüfft an.

De war das alles etwas unangenehm. Er kam sich vor, als würde er sich aufspielen.

„Ach, das ist nicht der Rede wert“, De winkte ab und lief dabei ein paar Schritte vor und zurück. „Ich wurde doch auf dem Stromversorgungskontinent geboren, an der Küste, bei den Windrädern bin ich aufgewachsen. Und als ich größer war, hab ich es da nicht mehr ausgehalten, bin in die Großstadt, hab da gearbeitet. Aber das war nicht das richtige. Bin dann hierher gekommen. Klingt nach mehr, als es ist.“

„Ich würde sagen, du bist mehr herumgekommen, als die meisten von uns hier.“

„Wo kommst du denn her?“, fragte De und fixierte Asgers Anzug, der in einem viel besseren Zustand war als seiner. Weniger Flecken und Löcher, keine abgerissenen Knöpfe.

Asger schaute ihn mit einem unbestimmten Blick an und De hatte augenblicklich das Gefühl etwas Unpassendes gesagt zu haben. Panisch scannte er sein Gehirn danach ab, in welches Fettnäpfchen er getappt sein könnte. Es war nicht so einfach mit den Umgangsformen, Tabus und Gewohnheiten hier, die er noch gar nicht kannte. Die rechte Hand presste er reflexhaft noch stärker zusammen, sodass die Wunde schmerzte. Das war wenigstens eine angenehme Rückkopplung in der Überforderungssituation.

„Du…“, stotterte De und sein Blick haschte herum, „du bist also…“

Langsam dämmerte es ihm. Die, die keine Herkunft hatten, beziehungsweise alle aus dem selben Ort stammten.

Asger nickte stumm und versuchte ein Lächeln aufzusetzen.

„Du bist ein Android“, sagte De tonlos und wusste im selben Moment, dass er das Wort nicht aussprechen durfte. Auch wenn es ihm bisher niemand gesagt hatte. Es hing ganz schräg zwischen ihnen in der Luft. Sie kamen aus den Fabriken unweit von hier. Dort, wo De unbedingt hinwollte. Er wollte Asger sofort fragen, wie er da hin kam. Da rein kam. Aber er traute sich jetzt nicht, es war alles zu angespannt. Er drückte seine Hand noch ein paar Mal zusammen, warum auch immer. Sie fühlte sich feucht an, das war bestimmt nicht gut.

„Ich arbeite seit fünf Jahren hier“, nahm Asger den Faden schließlich wieder auf und erlöste sie aus der unangenehmen Stille.

De sah, dass immer mehr Leute wieder rein gingen und auch er spürte das Pflichtbewusstsein in seinem Nacken.

„Am Anfang war ich in deinem Bereich“, fuhr Asger fort, „jetzt bin ich froh nicht mehr anpacken zu müssen, das Verletzungsrisiko ist auch viel geringer.“

De hielt die Luft an und senkte seinen Blick. War das eine Anspielung? Hatten Androiden etwa einen Röntgenblick? De fühlte sich plötzlich noch viel kleiner und bedeutungsloser als sonst. Mit einem Mal spürte er nicht nur den Schmerz des Schnittes überdeutlich, sondern auch ein Stechen an der Stelle seines Brustkorbs, an der wieder ein Geschwür wuchs. Er fuhr sich mit der linken Hand über die noch unscheinbare Wucherung unter seinem Anzug und dachte mit Schrecken daran, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er sich mit diesem Problem auseinandersetzen musste.

„Ich bin halt einfach ein Trottel“, sagte De und lächelte schief, blickte vorsichtig wieder auf.

„Mach dir keinen Kopf“, sagte Asger. „Du solltest deine Hand verarzten, sonst kann es ein schlechtes Ende nehmen. Ihr Biomenschen seid verletzlicher als ihr denkt. Soll ich dir dabei helfen?“

„Es ist wirklich okay“, winkte De mit seiner gesunden Hand ab.

„Also sehen wir uns später bei mir“, erklärte Asger. „Komm einfach nach Dienstschluss, auch wenn es spät wird“, er schlenderte davon.

Für den Rest des Tages versteckte De seine Hand wieder im Arbeitshandschuh und versuchte sie minimal einzusetzen, auch wenn er sie nicht öffnen konnte. Das Ergebnis war sehr überschaubar. Er assistierte seiner Maschine beim Zerlegen eines alten Fernsehers, riss die Metallstreben eines Sonnenschirms ab, verfing sich in einem überlangen Kabel und verzweifelte an dem Stoffbezug eines Holzstuhls. Wenigstens kam Jorge kein einziges Mal vorbei, er hatte wohl besseres zu tun.

In einem unbeobachteten Moment entfernte er blitzschnell den rotgetränkten Stofffetzen und ersetzte ihn durch das gestohlene Handtuch, welches zwar viel zu groß war, aber sich trotzdem besser anfühlte. Dabei vermied er es die Wunde anzuschauen, den Anblick konnte er nicht ertragen.

Aus der Entfernung sah er, dass seine Kollegen sehr flott ihre Recyclingstraßen abwickelten und mit viel Leichtigkeit den Schrott zerlegten und er fragte sich, wie sie das nur hinbekamen. Er kam schon bei den kleinsten Problemen ins Schwitzen und dann noch das mit seiner Hand. Dabei hatte er immer gedacht, dass er motorisch sehr geschickt sei. In seiner Heimat hatte er mühelos Windkraftanlagen erklettert und repariert, Elektroleitungen verlegt und Stromverteilungsanlagen gewartet. Dafür war sowohl feinmotorisches Knowhow notwendig, als auch körperliche Kraft und Durchhaltevermögen. Er vermisste diese Tätigkeit etwas, denn er war verdammt gut darin gewesen und konnte beinahe jedes auftretende Problem lösen. Nur mit seiner Umgebung war er irgendwann nicht mehr zurecht gekommen. Oder seine Umgebung mit ihm. Auf jeden Fall musste er gehen, es gab keine andere Wahl. Und seitdem irrte er orientierungslos durch die Welt.

Es war schon lange dunkel geworden, als die Maschinen nach und nach endlich verstummten und er und seine Kollegen sich auf den Heimweg machten. De konnte Mira nirgendswo ausmachen, vielleicht war sie auch schon früher gegangen. Die Leute liefen vereinzelt und sehr stumm auf dem altbekannten Weg zu den Wohnunterkünften. Die Luft war heute besonders kalt und ein schneidender Wind zerrte an seinem Gesicht. Nur mit Mühe konnte er den Weg erkennen und schleifte seine müden Glieder über die Straßenoberfläche.

Zusammenkünfte gab es heute keine, das war nicht die richtige Zeit dafür. Alle verkrochen sich in ihren Zimmern und versuchten so viel Schlaf wie möglich abzubekommen. De bereute es noch einen Abstecher zu Asger zu machen, aber andererseits wollte er, dass seine Hand so schnell wie möglich heilte. Als er an seiner Tür angekommen war, klopfte er so leise wie möglich und war kurz davor wieder umzudrehen. Er wollte Asger nicht stören, der sicherlich schon in seinem wohlverdienten Schlaf versunken war. Schliefen Androiden überhaupt? Er wusste so wenig über diese Lebensform.

Tatsächlich gähnte Asger zwar nicht, aber sein Gesicht sah sehr müde aus und er rieb sich die Augen, als er De die Tür öffnete und ihn wortlos hereinließ. Die Appartements waren alle gleich aufgebaut, so auch seins. Ein Fenster, davor ein winziger Tisch mit einem Stuhl, rechts davon ein Bett und am Fußende eine Kommode für Kleidung und Habseligkeiten, ein separates Bad mit Toilette und Dusche.

„Soll ich nicht lieber morgen früh wieder kommen?“, fragte De mit ton- und kraftloser Stimme.

Asger schüttelte den Kopf. „Morgen wäre theoretisch Ruhetag, aber dieser fällt aus wie du bestimmt gehört hast, da müssen wir alle wieder ran. Die Maschine im zweiten Sektor ist auch noch defekt seit heute, so langsam wird der Verzug kaum zu stemmen sein, morgen müssen wir alles geben.“

Er deutete De an, sich auf den einzigen Stuhl zu setzen und holte aus der Kommode eine beige Stofftasche, deren Reißverschluss er aufzog und den Inhalt auf dem Tisch ausbreitete. Tuben, Verbandsmaterial, Tropfen, Pflaster, Blisterstreifen, Döschen und Papierverpackungen kamen zum Vorschein. Asger wühlte darin herum, auf der Suche nach etwas.

„Woher hast du das alles? Ich meine, du brauchst es ja selbst nicht, oder?“, fragte De und überlegte gleichzeitig fieberhaft, ob das wieder unangemessen war.

„Nach meiner Fertigstellung wurde ich auf dem medizinischen Sektor angelernt, dort habe ich viele Jahre gearbeitet“, erklärte Asger und ging vor De mit einem Bein in die Hocke, es gab keine weitere Sitzmöglichkeit.

Dieser Moment war es, den er so gefürchtet hatte, die räumliche Nähe. De warf einen Blick zur Tür, er konnte noch fliehen. Weglaufen. Er kannte diesen Asger doch gar nicht, er kannte noch nicht einmal seine Spezies. In seiner Heimat hatte es keine Androiden gegeben. Er wusste von ihrer Existenz, aber mehr nicht. Sein Spezialgebiet war Wind- und Wasserkraft gewesen. Und auch wenn Asger ihm sicher nur helfen wollte, ihn in seiner Nähe zu haben fühlte sich an als wäre er nackt, schutz- und wehrlos, klein und minderwertig. Also so, wie er sich immer fühlte, aber noch zehnmal verstärkt.

De rutschte auf seinem Stuhl hin und her, versuchte nach hinten auszuweichen, auch wenn da nur noch die Wand war. Seine Atmung geriet durcheinander, das war schlecht. Asger schaute ihn an, als würde er ein fremdes Wesen studieren. De wollte ihm gerne erklären, was los war, aber er verstand es ja selbst nicht. Panikattacke.

Der Anblick von Asgers ordentlicher Frisur und dem gepflegten Anzug machten es noch schlimmer, waren wie ein Affront. De senkte den Kopf und ließ seine Haare vor sein Gesicht fallen, um kurz abzutauchen. Er dachte an seine Fäden und versuchte ein paar davon mit der gesunden Hand zu fassen zu bekommen. Irgendwas, was ihn in dieser Welt hielt. Eine dünne spinnwebenartige Faser streifte seine Finger und er hielt sie fest. Dachte an das letzte Mal, dass ihn jemand berührt hatte, ohne dass es unangenehm gewesen wäre. Das war, als er Naj geholfen hatte. Das war gar nicht mal so schwierig gewesen.

Er holte seine rechte Hand vorsichtig aus der Hosentasche. Mittlerweile spürte er einen pochenden dumpfen Schmerz, der irgendwie weit weg von ihm stattfand, wie in einem anderen Körper. Vorsichtig, als würde sie gar nicht zu ihm gehören, legte er seine Hand vor sich auf den Knien ab. Ein- und Ausatmen.

Asger begann das Handtuch, welches größtenteils rot und braun war, abzuwickeln. De schämte sich für diese Sauerei und für den Diebstahl, sagte aber nichts. Asgers Finger fühlten sich kühl an und De hatte Mühe diese Information zu verarbeiten, denn sein Gehirn verlangte, dass dieser Androiden-Körper genauso warm zu sein hatte wie der Biomenschen-Körper. Dass er das nicht war, war ein sensorisches Paradox. Andererseits waren Asgers Hände sehr weich, besonders an den Fingerspitzen, und verströmten so ein angenehmes Gefühl von Geborgenheit, das De nur zu gern aufnahm.

Asger gab sich viel Mühe, De nicht mehr als nötig zu berühren. Dabei beugte er seinen Kopf nach vorne über die Wunde und De lehnte sich zurück, schaute an die Decke, um von den Details verschont zu werden.

„Wo hast du als Arzt gearbeitet?“, fragte De, um an das Gespräch anzuknüpfen.

„Ich…“, Asger stotterte und hielt kurz inne. Seine Stimme hatte plötzlich ein paar Aussetzer, so als wäre die Übertragung schlecht. De hatte so etwas noch nie vorher gehört. „Ich… habe die Erinnerung an diese Zeit verloren, leider“, er schüttelte den Kopf und seine mit einer Kordel zusammengebundenen Haare fielen vom Rücken nach vorne.

„Das tut mir leid“, De wusste nicht, ob das eine angemessene Reaktion war oder nicht, er hoffte es.

„Es müssten zehn Jahre vor meinem Einsatz hier gewesen sein, die ich als Arzt gearbeitet habe. Aber mehr weiß ich nicht“, murmelte Asger. „Ich müsste diesen Schnitt eigentlich nähen. Aber ohne Betäubung wird es schwierig. Du hättest die Verletzung lieber gleich verarzten lassen sollen. Im Büro gibt es einen Notfallkoffer.“

De lachte kurz auf. Nein, das wäre nicht in Frage gekommen.

„Ich werde die Wunde kurz spülen, es könnte brennen, dann eine entzündungshemmenden Wirkstoff drauf machen und einen neuen Verband, okay?“, fuhr Asger fort.

De sah aus den Augenwinkeln, wie Asger mit routinierten Handgriffen zunächst eine durchsichtige Flüssigkeit über den dunkelroten Schnitt goss. Dabei ging er so sachte und konzentriert vor, dass De wie hypnotisiert auf jede Bewegung starrte. War es, weil er ein Android war und sehr viel genauer als ein Biomensch arbeiten konnte? Innerlich hasste er sich dafür, dass ständig diese Unterscheidung in seinem Kopf auftauchte, es fiel ihm noch schwer, Asger einfach nur als koexistierenden Menschen zu betrachten.

„Jetzt still halten“, forderte Asger und tröpfelte mit einer Pipette eine hellblaue Flüssigkeit auf den Schnitt, der sofort brannte. De kniff die Augen zusammen und zuckte. Er fragte sich ob Androiden auch Schmerz empfanden. Und wenn nicht, was für einen Sinn ihr Leben dann machte. Denn ohne Schmerz keine Freude.

Als er die Augen wieder aufmachte, war Asger schon dabei einen neuen Verband anzulegen. De schaute auf seine schmutzige und abgewetzte Hand und auf Asgers beinahe makellosen und schlanken Finger, die feinen Augenbrauen und die hellen Wimpern, den schmalen Mund. Für einen kurzen Moment geriet er ins Tagträumen.

„Alles okay?“, Asger blickte auf und De registrierte zum ersten Mal seine ungewöhnliche Augenfarbe, die irgendwo zwischen einem blassen blau und grau angesiedelt war.

„Ich… ich muss etwas abgedriftet worden sein“, De lächelte und zog seine Hand wieder zu sich. Sie fühlte sich gut an, viel besser als vorher. „Danke für deine Hilfe.“

„Kein Problem. Das nächste Mal kommst du gleich zu mir“, Asger erhob sich und räumte die Utensilien wieder zusammen.

Als De wieder in die kühle Luft trat, fühlte er sich leichter und entlasteter, gleichzeitig aber auch müder und erschöpfter als je zuvor. In seinem Bett wälzte er sich noch länger als sonst umher, immer darauf bedacht den Schlauch für seine Nahrungszufuhr nicht versehentlich herauszureißen und fiel in einen merkwürdigen oberflächlichen Schlaf, in dem er glaubte durch ein überschwemmtes Gebiet zu waten. Die Fluten wurden immer tiefer, das Wasser immer brauner und der Schlamm unter seinen Füßen immer zäher. Nirgendswo war ein Horizont zu sehen, ein Punkt, an dem die Katastrophe ein Ende haben könnte. Das Wasser stand ihm schon bis zum Hals als er wieder aufsprang und verwirrt um sich blickte. Nein, von Wasser keine Spur. Allerdings war er nassgeschwitzt und musste alle Kleidung wechseln.

Im Bad machte er das Licht an und fühlte sich so verstrahlt wie schon lange nicht mehr. Er hatte seine käseweißen Beine, seinen eingefallenen Brustkorb mit dem deutlich wachsenden Geschwür auf der einen Seite und dem Katheter auf der anderen Seite, den unförmigen Bauch, die schiefen Füße schon lange nicht mehr erblickt und fürchtete sich beinahe vor diesem Fleisch, das sein Dasein durch die Welt transportierte. Zum Glück gab es hier keine Spiegel, den Anblick hätte er unmöglich ertragen können. Absolut neben sich stehend zog er sich einen neuen Overall über, putzte die Zähne und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Ein weiterer Tag lag vor ihm.

×××

Seine rechte Hand war zwar noch nicht voll einsatzfähig, aber es klappte schon viel besser als am Tag vorher, an dem er sich noch wie ein halber Mensch gefühlt hatte. Überhaupt war dieser Arbeitstag nicht ganz so fürchterlich wie die anderen. Schon nach einer Stunde versank er in einer angenehmen Routine. Vielleicht war es der wenige Schlaf, der merkwürdige Traum oder gar eine Nebenwirkung des Medikaments, welches Asger in die Wunde getropft hatte, auf jeden Fall hörte De das Surren und Hämmern der Maschinen in der Halle verschmelzen zu einem Rauschen, das ihn nach kürzester Zeit einlullte und wegtrug.

Die Arbeit ging ihm in dieser Zeit mühelos von der Hand und schien wie ein Strom zu sein, in den er mit Leichtigkeit eintauchte. In seinem Kopf summte und rauschte es, er wurde fortgetragen zu dem Meer, an dem er seine Kindheit verbracht hatte. Die Wellen umspielten ihn, er hatte ein Tau in der Hand, welches von den Naturgewalten gezeichnet war. Mehrere Fäden hatten sich abgelöst und hingen herab, dennoch war es ein straff gedrehtes Seil mit einer markanten Struktur, das so perfekt in seinen Handflächen lag. Er zog ein Boot an den Strand und seine Füße betraten den weichen und warmen Sand, Wasser tropfte um ihn herum von seiner Kleidung. Im nächsten Moment zerlegte er Teile eines Bootes auf seinem Fließband, der Übergang zwischen beiden Szenen war allerdings mühelos. Und das war so eine Wohltat, dass irgendetwas auch mal mühelos ablief. Ohne dass er stolperte, sich verhakte, nichts verstand oder verloren war.

Und mit einem Mal standen die Maschinen still und De wunderte sich. Der Tag war zu Ende, sie mussten alle nach Hause gehen. Er zuckte mit den Schultern, zog die Arbeitshandschuhe ab. Asgers Verband war nicht mehr weiß, sondern grau, aber saß immer noch bombenfest. De war einer der letzten und an der Tür nickte Jorge ihm aus der Ferne zu. Was wohl so viel wie, gut gemacht, heißen sollte.

„Morgen ist Ruhetag“, sagte Mira, die plötzlich neben ihm lief.

„Habe ich gar nicht mitbekommen“, erwiderte De und schaute zu ihr rüber. Im Licht der Laterne sah er, dass sich in ihrem sonst so hellen Gesicht dunkle Augenringe gebildet hatten, die Lippen waren ganz blass. Die dunklen Locken hatten ihren Schwung verloren. Es würde ihn nicht wundern, wenn auch die Menschen hier mit der Zeit grau werden würden.

„Das Gröbste ist geschafft für heute, wir haben uns eine Pause verdient“, seufzte sie.

„Was ist mit der defekten Maschine?“, fragte er während sie von einer stummen Gestalt überholt wurden.

„Was für ein Glück, sie ist wieder im Einsatz“, atmete Mira geräuschvoll aus und der Anflug von einem Lächeln war zu erkennen. „Sonst hätten wir noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag durcharbeiten müssen.“

„Ja, es war ein wahnsinniges Pensum.“

„Was machst du morgen an deinem freien Tag?“, fragte sie, als die Umrisse der Baracken schon in Sicht kamen.

De zuckte mit den Schultern. Er hatte von diesem Umstand ja gerade erst erfahren, er hatte keine Pläne. „Mich ausruhen, schätze ich mal.“

„Was dagegen, wenn ich dich mittags abhole?“, fragte sie.

„Warum nicht“, erwiderte er.

×××

Freier Tag. De war etwas überfordert. Er lag in seinem Bett und starrte an die Decke. Er könnte sich die Gegend anschauen, er hatte seit seiner Ankunft noch gar nichts gesehen. Er könnte Asger aufsuchen und ihm nochmals für die Versorgung seiner Wunde danken. Die kaputte Stelle zwickte zwar noch gewaltig, schien aber ansonsten ganz gut abzuheilen. Stattdessen rührte er sich nicht und dachte, dass das genau der Grund gewesen war, wieso er umherzog und auf der Suche war. Dass er innerlich zerbrochen war und es auch nichts mehr zu reparieren gab. Sein Lebenswille war ihm abhanden gekommen. So sehr, dass er sein Leben noch nicht einmal beenden konnte. Stattdessen dazu verurteilt war, vor sich hin zu vegetieren und seine Umgebung mit seiner Existenz zu belasten.

Er wurde von einem Klopfen aus seinen Gedanken gerissen. Langsam wie ein Untoter aus seinem Sarg richtete er sich auf, brachte sich auf die Füße und öffnete die Tür.

„Es geht los“, sagte Mira und ihr Gesicht hatte im Vergleich zu gestern gleich mehr Farbe, vielleicht sah es auch nur wegen des Tageslichts so aus.

De hob die Augenbrauen, weil es so klang, als würde gleich ein Hochzeitspaar vor den Altar geführt.

„Du musst dir was anderes anziehen, Arbeitskleidung ist nicht“, Mira zeigte auf seinen Einteiler und erst jetzt fiel De auf, dass sie eine rostfarbene Hose und einen grünen Pullover trug.

„Einen Moment“, De lehnte die Tür an und schaute sich hilflos im Raum um. Kommode. Er zog die Schubladen auf und beförderte eine schwarze Hose und ein graues Hemd hervor. Zog sich schnell um. Zum Glück wusste Mira nicht, dass das die Arbeitskleidung seines vorherigen Jobs war.

„Wohin gehen wir?“, erkundigte er sich, als sie die Treppen nach unten nahmen. Seine rechte Hand versteckte er in der Hosentasche, damit niemand Fragen stellte.

„Es ist so Tradition an den Ruhetagen etwas zu unternehmen, was nichts mit Arbeit zu tun hat“, erklärte Mira und sie traten nach draußen.

„Es ist Winter, was soll man denn hier draußen machen?“, De schlang die Arme um sich, als die Kälte unter sein Hemd kroch.

„Siehst du das Feuer da unten?“, sie zeigte auf einen Hügel, hinter dem Rauch aufstieg.

„Was ist da?“

„Du wirst schon sehen.“

Sie liefen querfeldein durch eine gefrorene Ebene. Die ganze Gegend war ziemlich flach, höchstens mit leichten Erhebungen. Es gab keine Naturlandschaft im üblichen Sinne, keine Wälder, Wiesen, Berge oder Felsen, keine Flüsse und Seen. Soweit er blicken konnte bestand die Umgebung aus undefinierbaren Flächen, auf denen im Sommer den Überresten nach zu urteilen wohl höchstens Unkraut wuchs. Dazwischen Strommaste, Lagerhallen, Bahnschienen, Landeplätze für Drohnen und Hubschrauber, Ladekräne, rauchende Schornsteine, offen verlegte Kabel und Rohre. Das ganze hatte eine industrielle Poesie an sich, es war ein Gedicht des Anthropozäns, eine kalte und metallische und betonierte Lyrik, die sich über die Welt legte und sie nicht mehr losließ. De sog die eisige Luft in seine Nase und die Lungen, versuchte sich seine Umgebung anzueignen, in sie einzutauchen, mit ihr zu verschmelzen. Es fühlte sich vielleicht nicht unbedingt gut an, hier zu sein, aber es war auch stimmig mit seinem Innenleben, es resonierte mit ihm.

Hinter dem Hügel kam eine Stelle zum Vorschein, an der sich dutzende Arbeiter um ein Lagerfeuer herum versammelt hatten. Als sie näher kamen konnte De erkennen, dass in der Mitte alte und unbrauchbare Holzteile aus der Fabrik angezündet worden waren. Sie waren wohl aussortiert worden und konnten nicht mehr wieder verwertet werden. Es war geradezu kurios, dass die Menschen sich in dieser naturlosen Umgebung wie Urmenschen aufführten und um das Feuer standen, als wäre es das letzte, was ihnen noch geblieben war. Wenn die Arbeiter nicht mehr in ihrer natürlichen Umgebung der Maschinen sein können, dann wurden sie in die künstliche Umgebung der Natur, oder was sie sich darunter vorstellten, gedrängt.

Die Leute trugen durchgehend Freizeitkleidung, was es für ihn schwierig machte, sie den Namen zuzuordnen, sie waren jetzt so verändert. Die meisten fröstelten und hielten ihre Hände nah an das Feuer, welches in einer kubistischen Konstruktion vor sich hin zischte und knackte.

Mira und er stellten sich dazu und De konnte den Blick von den Flammen nicht abwenden. Sie hatten so etwas Lebendiges und Mystisches an sich. Es war auch komisch die Leute nicht in einem geschlossenen Raum zu sehen. Die meisten unterhielten sich, rauchten, tranken. Manchmal lachte jemand oder erhob die Stimme.

Aus einer anderen Richtung kam jemand auf die Gruppe zugelaufen, den er als Ante identifizieren konnte. Er hatte ein breites Grinsen auf dem Gesicht und wurde lautstark von ein paar Leuten begrüßt.

„Er scheint ganz schön beliebt zu sein“, sagte De zu Mira.

„Du hast recht, das ist mir auch schon aufgefallen. Gefällt er dir denn auch?“, sie zwinkerte ihm zu.

„Nein, gar nicht mein Typ“, De schüttelte den Kopf. „Aber er ist nicht unsympathisch.“

„Stimmt… Hier, du solltest etwas essen“, sie hielt ihm etwas undefinierbares braun-bröckeliges hin.

„Ich…“ er winkte ab, „mein Körper verweigert die Nahrungsaufnahme… ich kann fast nichts essen.“

„Und wovon lebst du dann?“

„Es ist kompliziert…“, stammelte er.

Zum Glück kam eine Frau zu ihnen und riss das Gespräch an sich.

„Endlich seid ihr da“, rief sie aus und biss herzhaft in das Essen. „Ich bin Runa“, sie streckte ihm die andere Hand entgegen, an der noch ein paar Krümel hingen.

„Ich bin Frederick, nenn mich De“, sagte er und versuchte zu lächeln. Sie stand zu nah an ihm und schon wieder dieses Händeschütteln, das war anstrengend.

Runa hatte ein breites Gesicht und große, beinahe hervortretende Augen, kurze Haare wie die meisten Frauen hier.

„Was die uns heute geschickt haben schmeckt aber ganz gut oder?“, fragte sie voller Wonne und De schaffte es, ein paar Schritte zurückzutreten, um Abstand zu gewinnen. Besser.

„Ist das vergorenes Brot? Das hatten wir schon einmal. Für Resteverwertung sind wir ja immer zu haben“, entgegnete Mira und kaute nur halb überzeugt.

„Aber lass uns auf keinen Fall von der Arbeit reden“, lachte Runa laut auf und ein paar Krümel fielen runter. „Hast du schon gehört, die Neuigkeiten von den mysteriösen Todesfällen?“

„Ich weiß!“, rief Mira überschwänglich aus und riss ihre Augen auf wie ein Gecko. „Es ist der pure Wahnsinn, oder? Die Realitätsebene – ich meine, ich kapier das einfach nicht, das geht nicht in meinen Kopf. Wie kann so etwas überhaupt passieren? Ich habe so viele Fragen.“

De setzte auch einen fragenden Gesichtsausdruck auf, der Mira nicht entging.

„Die Ursache für die Todesfälle“, erzählte sie atemlos, „liegt nicht in einem Krankheitserreger oder sowas begründet, sondern in der Art und Weise, wie die Realität an diesen Orten, an denen die Leute sterben, konstruiert ist. Ist sie schwach und porös, so sterben sie. Man weiß nur noch nicht, warum die Realität an diesen Stellen so brüchig wird.“

„Von den Forschern wurden neue Geräte entwickelt, um das zu messen und jetzt liegen die Ergebnisse vor“, ergänzte Runa. „Aber hast du das von den Spinnenmenschen gehört?“

„Sie haben im Laufe der letzten Wochen ihre Arbeit komplett eingestellt. Ich meine, sie verrichten keine essentiell wichtige Tätigkeit für den Planeten, nicht?“, lamentierte Mira. „Niemand wusste bisher so genau, was sie da machen. Klar, sie archivieren größtenteils, sammeln die losen Blätter ein, die von der Bücherstadt auf der ganzen Welt verteilt werden. Aber ist es nicht total unheimlich, dass sie es auf einmal nicht mehr machen?“

„Oh Mann, das ist echt gruselig. Was hat das alles mit den Realitätsschichten zu tun“, fragte Runa, „ich meine, das ergibt doch keinen Sinn.“

„Ich habe die Spinnenmenschen getroffen“, schaltete De sich ein, „auf dem Stromversorgungskontinent. In einem ihrer Archive. Sie sind wundersam komplexe Wesen, allein dass sie fast vier Meter hoch sind und aus Wolken zu bestehen scheinen, absolut beeindruckend. Und die Kommunikation mit ihnen ist so verrückt. Man kann es kaum als Sprache bezeichnen, sie benutzen Sprechblasen, in die sie ihre Worte hauchen. Meine Bekannte, Naj, sie konnte mit ihnen kommunizieren.“

„Wahnsinn“, Mira blieb der Mund offen stehen. „Kannst du das auch?“

De schüttelte den Kopf. „Ich habe keine besonderen Fähigkeiten.“

„Dann bist du hier genau richtig“, lachte Mira, „wir nämlich auch nicht. Keiner von uns.“

Er lächelte und senkte seinen Blick.

„Ich hoffe nur“, ein älterer Mann kam jetzt zu ihnen, „dass es nicht schon wieder zu Turbulenzen kommt. Das Ganze riecht nach Ärger. Immer wenn sich auf dem Planeten etwas ändert, kommt alles Mögliche in Bewegung und die funktionierenden Strukturen brechen zusammen. Wisst ihr noch, was passiert ist, als sie den Vogelwald abgeholzt haben?“

„Das war erst letztes Jahr, Bo!“, rief Runa.

„Ihr jungen Leute habt eine Aufmerksamkeitsspanne eines Kolibris“, Bo zog seine Mütze noch mehr über die Ohren und De wunderte sich über die sichtlich gealterten Hände des Mannes. Mit seinem Bart hatte er etwas von einem Seemann.

„Die Stromversorgung kam ins Stocken und die digitale Verbindung zum Schreiberkontinent brach ab, also keine Texte mehr für die Welt und größtenteils keine Bestellungen“, ratterte Mira runter. „Und dann kam der Engel Karl-Gustav und rettete uns alle mit seinem neuen Gründertext und dazu diese wahnsinnigen Textfragmente, die über die ganze Welt flatterten, das war schön.“

„Ich hab das Gefühl, das ist noch nicht ausgestanden, das ist noch nicht fertig, da kommt noch was“, unkte Bo und nahm einen Bissen von dem Brotgemisch.

„Na klar, es kommt immer etwas Neues“, verdrehte Runa die Augen. „Während der letzten Krise konnten wir fast nichts produzieren, mussten aber irrsinnig viel recyceln, das war anstrengend. Vielleicht ist es ja das nächste Mal umgekehrt.“