Stadtströmungen - Jana Beek - E-Book

Stadtströmungen E-Book

Jana Beek

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Beschreibung

In eine Welt geworfen, in der sie permanent den widrigen Gezeiten trotzen muss, entwickelt Misha eine eigenwillige Fähigkeit, den Kopf über Wasser zu halten und nicht unterzugehen. Als das Schlimmste vorbei ist und sie endlich in der Stadt Mela strandet, versucht Misha sich durch eine neue und ungewohnte Normalität zu navigieren. Aber auch hier kann sie die Angewohnheit nicht ablegen, immer und überall Strömungen zu entdecken, die sie mal tragen und auch mal überwältigen. Als die Stadt einen schweren Schicksalsschlag verkraften muss, drohen die Strömungen außer Kontrolle zu geraten und Misha muss alle Hebel in Bewegung setzen, um den Untergang zu verhindern.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel -1-

Kapitel -2-

Kapitel -3-

Kapitel -4-

Kapitel -5-

Kapitel -6-

Kapitel -7-

Kapitel -8-

Kapitel -9-

Kapitel -10-

Kapitel -11-

Kapitel -12-

Kapitel -13-

Kapitel -14-

Kapitel -15-

Kapitel -16-

Kapitel -17-

Kapitel -18-

Kapitel -19-

Kapitel -20-

Kapitel -21-

Kapitel -22-

Kapitel -23-

Kapitel -24-

Kapitel -25-

Kapitel -26-

Kapitel -27-

-1-

Misha folgte den Melodien und Stimmen, die in dem Stadtpark ertönten und fand das Konzert, welches dort zu Ehren des Gesellschaftswissenschaftlers Juri Myslitel und der Eröffnung des Stadtmuseums veranstaltet wurde. Hunderte von Leuten hatten sich um die Bühne versammelt, es wurde ausgelassen getanzt, gesungen und gefeiert. Misha stellte sich in die letzte Reihe, zog ihren schweren Rucksack ab und ließ ihn auf den Boden fallen. Streckte sich kurz, um die Schultern zu lockern. Dann richtete sie ihren Blick auf die Band, die auf der Bühne stand.

Ihre Musik strömte durch die gesamte Stadt Mela, und war so ganz anders, als alles, was sie bisher in den dreizehn Jahren ihres Lebens gehört hatte. Das erste Mal seit sehr langer Zeit spürte Misha, wie ihre Umgebung elektrisiert, wie sie selbst mitgerissen und fortgetragen wurde, wie die Welt aus einem tiefen Schlaf erwachte.

Die Anspannung der zwei Tage langen Anfahrt mit dem Zug, die sie hinter sich hatte, immer mit der Angst, dass sie entdeckt und zurückgeschickt werden würde, fiel mit einem Mal von ihr ab und löste sich spurlos auf, als würden Sonnenstrahlen durch den Nebel dringen und alle kleinen Regentropfen verdunsten lassen.

Der Sänger, der auch gleichzeitig Gitarre spielte, sang mit einer Leichtigkeit und Fragilität in das Mikro, sodass seine Stimme Misha augenblicklich ins Mark traf und von dort aus ihren Körper vibrieren ließ. Sie hatte in ihrer Heimat schon vorher Musik gehört, aber noch nie war sie auf einem so großen Konzert von einer weltweit bekannten Band gewesen, bei der die halbe Stadt zusammenkam.

Mit Verblüffung stellte sie fest, dass ihr Körper sich begann, zur Melodie zu bewegen und alle Leute um sie herum ebenfalls in Bewegung gerieten und sie alle wie ein gerade erst entstandener neuer Organismus zusammen in der Musik aufgingen.

Rationales Denken, Planen und Reflektieren verschwanden immer mehr im Hintergrund und Misha spürte sich angekommen, aufgehoben und gleichzeitig fortgeschwemmt in einem Strudel aus Farben und Formen. Pulsierendes Violett, leuchtendes Rot, sonniges Gelb, knalliges Orange, sattes Grün und blendendes Blau waberten um sie herum, wickelten sie ein und enthoben sie der Welt und Mishas komplizierten Vergangenheit und unklaren Zukunft. Sie schloss die Augen, ihr Kopf fiel nach hinten und sie ließ sich das erste Mal in ihrem Leben tragen. Endlich. Sie konnte frei atmen. Sie hatte immer schon vermutet, dass so ein Leben irgendwo möglich wäre, aber jetzt hatte sie endlich die Bestätigung. Wenn auch nur für einen Moment.

-2-

Sobald das Konzert zu Ende war, galt es sehr viele schwierige Aufgaben anzugehen. Es war schon längst dunkel geworden und Misha war in einer ihr völlig unbekannten Stadt. Sie lief an den vielen Grüppchen von Jugendlichen und Erwachsenen vorbei, die miteinander lachten, angetrunken umherschwankten oder sich angeregt unterhielten. Sie versuchte nicht aufzufallen. Die Mission ihres Lebens. Nachdem sie den Park, der sich immer mehr leerte, durchquert hatte, lief sie in einen anliegenden Wohnbezirk und versuchte, sich möglichst unauffällig nach einem Unterschlupf für die Nacht umzusehen.

Immerhin war es Sommer, die Ferien hatten gerade erst begonnen und sie musste sich keine Sorgen darum machen, nachts zu erfrieren. In einem ruhigen Wohnhaus war die Haustür unverschlossen und sie schlich sich herein, lief in den Keller und stellte mit Erleichterung fest, dass dieser verlassen war. Ein altes zerschlissenes Sofa mit ehemals Blümchenmuster war ihr neues Bett und sie ließ sich erschöpft darauf fallen.

Am nächsten Morgen wachte sie gegen fünf Uhr auf und fühlte sich verspannt und doch etwas ausgekühlt so ganz ohne Decke. Sie richtete sich auf und starrte auf das fahle Licht, das vom Kellerfenster hereinschien. Die Euphorie des gestrigen Tages und Abends war etwas verblasst. Ja, sie war nicht mehr zu Hause und nicht mehr in ihrem Heimatland. Jetzt stand sie das erste Mal in ihrem Leben auf ihren eigenen Beinen und sie war sich nicht sicher, ob sie das schaffen würde.

Außer ein paar Kleidungsstücken und weiteren Habseligkeiten hatte sie nichts dabei, war praktisch mittellos und ohne Essen, ohne finanzielle Mittel. Um in Mela bezahlen zu können, bräuchte sie einen Taschencomputer und den bekam sie nur, wenn sie sich registrieren ließ. Und wenn sie das tat, würde man sie entweder in eine Pflegefamilie stecken oder zurückschicken. Beides kam für sie nicht in Frage. Also blieb ihr nur übrig, sich durchzubeißen. Das war der Plan.

Misha wischte sich die Augen trocken, schniefte ein paar Mal, atmete tief ein und aus, stand auf und rollte ihre Schultern nach hinten. Es galt jetzt Lösungen für ihre Probleme zu finden. Dafür leerte sie ihren Rucksack auf dem Sofa aus, zog die Stadtkarte von Mela heraus, die sie zu Hause ausgedruckt hatte und studierte die darauf markierten wichtigsten Gebäude und Einrichtungen. Den fast leeren Rucksack zog sie sich wieder an und startete ihre Erkundungstour.

Als sie auf die Straße trat, schweifte ihr Blick zum grauen Himmel, der unbestimmt über der Stadt hing. Die Luft war klar und frisch. An diesem Samstag war noch alles sehr ruhig und bewegungslos. Misha zog ihre Jacke enger um sich und vergrub ihren Kopf im Kragen. Wenn die Welt so still und farblos wurde, das passte ihr gar nicht. Das roch nach grauer Stagnation, nach blasser Substanzlosigkeit, der Misha mit ganz viel Aktivität entgegenwirken musste.

Sie setzte sich in Bewegung und lief mit der Karte vor sich aus ihrem Stadtteil heraus zurück in den Park, in dem immer noch die Reste des gestrigen Konzertes herumlagen. Die Bühne war verwaist, überall lag Müll herum, ein paar Gestalten schliefen auf Parkbänken oder auf dem Rasen. Heute würden die Feierlichkeiten noch weitergehen, mit vielen Gästen aus anderen Regionen, unter die Misha sich gemischt hatte, als sie hierher gereist war.

Glücklicherweise war an den Grenzkontrollen niemand skeptisch geworden, warum ein Mädchen allein reiste. Auch wenn ihre Familie ihre Abwesenheit sicherlich schon längst bemerkt hatte. Es war ihr egal, dieser Abschnitt ihres Lebens lag endgültig hinter ihr, sie würde nicht mehr in ihr altes Leben zurückkehren, welches daraus bestanden hatte, dass sie von einem Haushalt in einen anderen geschoben wurde und allen Leuten im Weg stand. Das einzige, was sie daraus mitgenommen hatte, war, schon früh auf eigenen Beinen zu stehen und sich selbst zu organisieren. Wegen mangelnder Anerkennung in einem Zuhause war sie immerhin eine der besten in der Schule gewesen und konnte fließend Weltsprache sprechen. Ihre Schulbildung war eine ihrer höchsten Prioritäten, weshalb sie durch den Park eilte und sich gleich auf die Suche nach der großen Bibliothek machte. Das würde ihr eigentliches neues Zuhause werden.

Misha fand gleich das große dreistöckige Gebäude und zog die großen Glastüren auf. Es war sechs Uhr und die Einrichtung hatte gerade aufgemacht. Bis zehn Uhr abends konnte sie dort bleiben, außer sonntags. Misha huschte wie eine Maus durch die Stockwerke, die durchgehend mit einem weinroten Teppichboden ausgelegt waren, die friedlichen Bücher umschlossen sie wie in einer alles vereinnahmenden Umarmung, die von Menschen nur schwer zu bekommen war, so ihre Erfahrung. Ihr Herzschlag verlangsamte sich und Misha konnte ihre Schultern wieder etwas locker machen. Hier war sie in Sicherheit.

Auf der Toilette füllte sie ihre Wasserflasche auf, kämmt sich die Haare und flocht sie in einen neuen Zopf, putzte sich die Zähne, traute sich eine schnelle Katzenwäsche zu und fühlte sich halbwegs gesellschaftsfähig. Das hier war wohl ihr neues Badezimmer.

An den Computern in der Bibliothek checkte sie die neuesten Nachrichten und testete, ob sie dort ihre Schulaufgaben erledigen und ausdrucken konnte. Es schien alles zu klappen. Misha atmete erleichtert auf. Im Anschluss lief sie zum beginnenden Wochenmarkt, an dem die Erzeuger aus dem Umland ihre Waren in der größtenteils vom Weltmarkt unabhängigen Stadt anboten und konnte mehrere Lebensmittel einsammeln, die achtlos weggeworfen worden waren. Ein Teil davon war ihr erstes Frühstück.

Später fuhr sie mit der autonomen Bahn kreuz und quer durch alle Stadtteile und warf einen Blick auf die wichtigsten Verwaltungsgebäude, die Schulen, die Universität, den medizinischen Notdienst und viele andere Einrichtungen, um eine gute Orientierung zu bekommen.

Hier war alles anders als in der Kleinstadt in Jaku, aus der sie kam. Das erste, das Misha auffiel, war, dass die Menschen sehr viel diverser waren. Sie kamen offensichtlich aus allen Ecken der Welt, kleideten sich in allen Farben und Formen, sprachen mit verrückten Akzenten, Frauen hatten nicht den einen Kleidungsstil und Männer nicht nur ihre Schublade, ihre Frisuren und Klamotten verwischten Gendergrenzen, aber nicht auf eine anstrengende Art und Weise, sondern so selbstverständlich und beiläufig, wie Misha es nicht für möglich gehalten hätte. Sie fragte sich dabei, wie sie sich kleiden und sich stylen wollte. Aktuell war ihre äußere Erscheinung auf Praktikabilität ausgerichtet: robuste Hose, T-Shirt und Jacke, feste Schuhe. Und das würde erstmal so bleiben.

Darüber hinaus fand sie, dass Mela nicht so gut in Schuss war wie sie es von ihrer Heimat aus gewohnt war. Überall bröckelten Hauswände, schälte sich der Lack und Putz, immer wieder stolperte Misha über Baustellen, die wohl schon länger vor sich hin vegetierten. Die Sitze in der Bahn waren abgenutzt, die Wände vollgekritzelt. Besonders an den Stadträndern häufte sich der sichtbare Verfall. Nur mit Mühe und Not schien die Stadt sich zusammen zu halten.

Mela hatte nicht die finanziellen Mittel wie andere Kommunen, das wusste Misha, als freie selbstorganisierte Stadt gab es keinen großen Konzern, der hinter ihr stand. Und die Gewinne, die erwirtschaftet wurden, wurden in die Grundversorgung der BewohnerInnen gesteckt. Damit stand Mela etwas außerhalb der weltweiten wirtschaftlichen Logik, war aber auch trotzdem mit den bestehenden Kreisläufen verzahnt. Das hatte Misha sich alles in den letzten drei Jahren, als sie angefangen hatte, ihre eigene Umsiedlung vorzubereiten, angelesen. Sie wollte sicher sein, dass sie die richtige Entscheidung traf. Und wenn sie sich so umschaute, dann war sie zufrieden. Jetzt musste sie es nur schaffen, bis zur Volljährigkeit am Leben zu bleiben, dann konnte das Leben hier für sie wirklich beginnen.

-3-

Die nächsten Wochen verbrachte Misha damit, sich so einzurichten, dass sie einen funktionierenden Alltag auf die Reihe bekam. Sie kundschaftete die besten Quellen für entsorgte Lebensmittel aus und legte sich einen Vorrat an. Besorgte sich Kissen und Decken, wenn der Herbst kam und es kühler wurde. Zum Glück war der Winter in dieser Region relativ mild, die Temperatur fiel tagsüber nur selten unter den Gefrierpunkt. Sie kratzte sich Utensilien für den Schulbesuch zusammen und fand eine Möglichkeit, Kleidung zu waschen. In dem Haus, in dem sie es sich gemütlich gemacht hatte, war es sehr ruhig und sie konnte unbemerkt in dem Keller hausen. Falls sie plötzlich eine neue Bleibe suchen musste, hatte sie sich bereits ein paar andere geeignete Objekte angeschaut.

Die Sommerferien vergingen wie im Flug und dann war er da, der erste Schultag. Misha hatte die Nacht kaum schlafen können und nun stand sie vor dem Sekretariat ihrer neuen Schule.

„Dein Name steht nicht auf der Klassenliste“, informierte die Sekretärin sie mit strengem Blick über ihre Brille hinweg.

„Ich bin gerade erst angekommen“, räusperte Misha sich, „die Registrierung ist wahrscheinlich noch nicht abgeschlossen.“

Die Sekretärin blätterte in Unterlagen und klickte auf dem Computer herum. Misha hielt die Luft an.

„Ich werde dich in die 7b einteilen, Raum 156, erster Stock. Aber die Registrierung muss nachgeholt werden“, verkündete sie schließlich mit strenger Stimme.

„In Ordnung“, Misha atmete erleichtert aus. Es würde schon irgendwie gehen. Hauptsache ein Anfang war gemacht.

Vor dem Klassenraum war die Aufregung groß. Ungefähr zwanzig Kinder hatten sich davor versammelt und diskutierten lautstark ihre Ferienaktivitäten.

„Wir haben meine Verwandten besucht…“

„…waren jeden Tag am See…“

„…Ferienprogramm auf dem Bauernhof war cool…“

„Der neue Freund meines Vaters ist zu uns gezogen“, verkündete ein Mädchen mit grünen Strähnen und viele drehten sich zu ihr um. „Marc wohnt jetzt bei uns, habt ihr ihn auf dem Konzert gesehen?“, ihre Augen strahlten und eine alles einnehmende Energie ging von ihr aus, die ähnlich ihrer Haarfarbe hellgrün war.

„Dann ist Marc dein neuer Vater“, warf ein Junge abschätzig ein.

„Nein“, echauffierte das Mädchen sich und schaute ihn eindringlich an. „Er ist aber ein ziemlich cooler Typ, hilft mir jeden Tag bei den Hausaufgaben.“

„Lea, der ist bloß neidisch“, steuerte ein anderer bei.

„Hauptsache Juri steht nicht mehr auf der Abschussliste“, ein Mädchen legte mitfühlend den Arm um Lea.

„Habt ihr den Auftragskiller gesehen?“, schaltete sich jemand in das Gespräch ein.

„So, genug davon“, die Lehrerin stand hinter ihnen und bahnte sich einen Weg zur Tür, um aufzuschließen. Das Gespräch verstummte und alle folgten ihr in den Klassenraum.

Misha setzte sich sofort auf einen Platz ganz hinten und war froh, dass niemand Notiz von ihr nahm. Die Lehrerin, Frau Schulte, nahm kurz Augenkontakt mit ihr auf und nickte ihr zu. Nachdem alle sich sortiert hatten, startete der Unterricht mit Mathematik. Misha hatte keine Mühe, dem Stoff zu folgen, beteiligte sich aber auch nicht mit Redebeiträgen, um erstmal in Ruhe beobachten zu können. Das war genug Anstrengung für einen Tag.

Zwischen den Stunden und in den Pausen sprach niemand sie an und Misha war froh, mit der Wand hinter ihr verschmelzen zu können. Ab und zu fing sie ein paar neugierige Blicke ein, aber das war es schon. Nach Unterrichtschluss eilte sie in die Bibliothek und setzte sich an einen der öffentlichen Computer, um die Aufgaben erledigen zu können. Dabei gab sie sich bis ins letzte Detail so viel Mühe, dass es keinen Grund für Kritik geben konnte. Sobald sie fertig war, befasste sie sich schon mal mit dem Stoff, der kommen würde, nur um bloß die Zeit bis zum Abend rumzubekommen. Gegen neun Uhr fuhr sie zu ihrem Kellerloch und legte sich dort schlafen.

Nach zwei Wochen war sie in eine neue Routine verfallen und war froh, dass ihr der Übergang in das neue Schulsystem gelungen war. Das gab ihr ein konkretes Ziel im Leben, dem sie folgen konnte.

Ab und zu hatten ihre MitschülerInnen sie angesprochen, doch sie hatte nur einsilbig geantwortet und sich schnellstmöglich aus dem Gespräch herausgezogen. Niemand von ihnen konnte verstehen, was in ihrem Leben vor sich ging und Misha konnte sich nicht vorstellen, mit irgendjemanden von ihnen mehr als Small Talk zu betreiben. Sie alle wirkten noch so gut aufgehoben in ihrer sicheren Welt, so fröhlich, so ausgelassen, so geschützt, geradezu kindlich. Es war auch gut so. Nur gab es so keine Gemeinsamkeiten zwischen ihr und den anderen.

An einem Tag hatten zwei Jungs aus ihrer Klasse sie nachmittags in der Bibliothek gesehen und waren sichtlich verwundert darüber, dass sie dort ihre Hausaufgaben machte, doch niemand von ihnen sagte ein Wort, es lief alles über Blicke. Leute konnten sich angesichts ihrer nicht immer einwandfreien Kleidung und ihrer Erscheinung zusammenreimen, was sie wollten, solange niemand etwas sagte.

„Misha, deine Eltern waren nicht beim Elternabend“, sagte Frau Schulte einmal nach Schulschluss. „Sag ihnen bitte, dass wir für nächste Woche einen Gesprächstermin vereinbaren müssen.“

„Es tut mir leid, sie haben keine Zeit“, stotterte Misha und schaute schuldbewusst auf den Boden. Es war noch nicht einmal eine Lüge. Auch in ihrem Heimatland hatten ihre Eltern keine Zeit für solche Dinge gehabt. „Ich weiß, dass sie nicht kommen würden.“

Frau Schulte hob eine Augenbraue, als würde sie überlegen, was jetzt zu tun sei.

„Ich gebe dir einen Elternbrief mit, da stehen meine Kontaktdaten. Keine Angst, mit deinen Leistungen ist alles in Ordnung. Es geht um die Aktivitäten dieses Jahr und das allgemeine Kennenlernen.“

Misha nickte und steckte den Zettel ein. Mit solchen Lehrergesprächen hatte sie schon viel Erfahrung. Es waren immer dieselben Fragen. Warum sind deine Eltern nicht zum Termin erschienen? Warum gibt es keine Rückmeldung? Wann haben sie Zeit? Wieso ist bei euch niemand zu erreichen? Die ehrliche Antwort wäre gewesen, dass ihre Eltern viel arbeiteten, beide als Zulieferer für den Konzern Maana und sich nicht geneigt sahen, in Schulangelegenheiten zu intervenieren, solange das Ergebnis, die Noten stimmten. In besonders heißen Phasen, wenn sie Tag und Nacht mit der Ernte beschäftigt waren, hatte Misha bei ihren Tanten oder Großeltern gelebt. Es war insgesamt kein schreckliches Leben gewesen. Nur, dass sie mit der Zeit immer unsichtbarer geworden war, nur noch von A nach B geschoben wurde wie ein lästiges Möbelstück. Also hatte sie sich selbst entsorgt.

-4-

„In den nächsten vier Wochen werdet ihr in Gruppen von drei bis vier Leuten ein Referat zu einem vorgegebenen Thema vorbereiten“, verkündete eines Tages der Lehrer in Politik und Wirtschaft und Misha unterdrückte ein Fluchen. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.

Nach der Stunde, als alle den Klassenraum verlassen hatten, ging sie zu ihm.

„Herr Marov, ich möchte die Gruppenarbeit gerne allein durchführen“, sprach sie ihn an und setzte dafür ihr überzeugendstes Gesicht auf. „Ich kann dafür auch die Arbeit von drei Leuten übernehmen, kein Problem.“

„Misha, es ist eine Gruppenarbeit“, er beachtete sie fast nicht und packte seine Tasche.

Sie lief um den Lehrertisch herum und stellte sich direkt vor ihn. „Wie Sie bestimmt bemerkt haben, habe ich keinerlei Kontakt zu den anderen“, sie beugte sich zu ihm vor und senkte die Stimme. „Schauen Sie mich an, mit mir will niemand etwas zu tun haben. Lassen Sie mich das Projekt allein durchziehen und alle sind glücklich.“

Er fixierte sie endlich mit seinen grauen Augen und sie bildete sich ein, dass er leicht die Nase rümpfte. „Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen. Für deine Note wäre es allerdings besser, wenn du die Vorgaben erfüllst.“

„Okay“, sagte Misha bloß und nickte. Als die den Raum verließ verdrehte sie die Augen. Hoffentlich wurde das nicht zu einem Problem.

„Misha!“, Lea lief hinter ihr her. Sie hatte wohl vor dem Klassenraum auf sie gewartet. „Ich wollte dich wegen der Gruppenarbeit ansprechen. Willst du bei uns mitmachen? Ich habe schon ein paar Themen im Auge. Wie wäre es mit der Unabhängigkeitserklärung von Mela oder etwas über Jaku, ich dachte an die Entwicklung der Religiosität oder so“, plapperte Lea sehr fröhlich vor sich hin.

„Danke für das Angebot, aber aus logistischen Gründen muss ich das Projekt allein durchziehen“, erwiderte Misha und zog ihre Jacke zu. Der Herbst klopfte bereits an, es wurde kühler.

„Oh, das wird Herr Marov nicht durchgehen lassen“, lachte Lea überzeugt.

„Es wird schon gehen“, murmelte Misha und sie gingen zusammen durch die großen Glastüren nach draußen. Es war Schulschluss und das Gebäude war so gut wie leer.

„Hmm, du weißt, dass wir ein Plakat machen müssen, je bunter, desto besser. Herr Marov liiiebt bunte Plakate“, lachte Lea. „Und das wird schwierig in der Bibliothek“, sie warf Misha einen bedeutungsvollen Blick zu.

Mishas Ehrgeiz war geweckt. „Woher weißt du überhaupt…“

„Lenn und Steev haben dich gesehen. Es ist okay“, winkte Lea mit großer Geste ab. Alles an ihr war sehr ausdrucksstark.

„Wir treffen uns morgen Nachmittag für die erste Besprechung bei mir. Ich schicke dir die Adresse“, Lea holte ihren Taschencomputer heraus. „Wie sind deine Kontaktdaten?“

„Mein Computer ist in der Reparatur“, sie hustete in ihre Faust. Das machte das Lügen einfacher.

„Okay. Ich wohne in Klartal. Komm doch nach der Schule direkt mit. Dann essen wir erst zu Mittag und machen uns dann mit den anderen an die Arbeit.“

„Ich…“, Misha überlegte fieberhaft, wie sie die Einladung höflich ablehnen könnte.

„Also, abgemacht!“, rief Lea und rannte davon, zu ihrer Haltestelle.

Die ganze Nacht wälzte Misha sich auf dem unbequemen Sofa hin und her und überlegte, wie sie aus der Sache wieder herauskommen könnte. Sie wollte keine Almosen, wollte keine Hilfen, wollte sich nicht erklären müssen, wollte generell nichts mit Leuten zu tun haben, die ihr zu nah kommen könnten und sie dadurch eventuell ‚verpfeifen‘ könnten. Lea wirkte nett, aber niemand wusste, welche Motive sie antrieben und aus Hilfsangeboten konnten schnell Übergriffigkeiten werden. Und Misha brauchte niemanden, der sich in ihre Angelegenheiten einmischte.

Sie war sehr müde, als sie sich am nächsten Morgen zur Schule schleppte. Es half nicht, dass ihre Essensvorräte sehr stark zur Neige gegangen waren und das Frühstück dadurch quasi ausgefallen war. Die letzten sauberen Kleidungsstücke hatte sie vor einer Woche angezogen und müffelte etwas. Das alles zog ihre Stimmung gehörig runter und sie überlegte, die Schule einfach ausfallen zu lassen. Und stattdessen? Es gab nicht wirklich eine überzeugende Alternative für sie, also hieß es ab zum Unterricht.

„Marc wird uns heute Mittag bekochen“, nach Schulschluss heftete Lea sich an Mishas Fersen und zog sie mit sich, egal ob Misha wollte oder nicht. Dabei redete sie ununterbrochen. Das Mädchen hatte wirklich eine ungeheure Ausdauer. „Mein Vater Juri ist an der Uni, das Semester ist in vollem Gange und er kommt meistens spät nach Hause. Aber Marc nimmt sich ab und zu in der Mittagspause Zeit für uns. Also für mich und meinen Bruder Petr, aber der ist vor kurzem ausgezogen, also sind wir nur noch zu dritt.“

„Ihr habt dieses Jahr ganz schön was durchgemacht“, murmelte Misha und schaute nach unten.

„Das kannst du wohl sagen. Am schlimmsten war es, als Juri im Untergrund verschwunden ist und wir nicht wussten, ob er überhaupt noch lebte“, seufzte Lea und für einen kurzen Moment verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht. „Es war wohl eine Schockreaktion, als er für einen Maana-kritischen Kommentar auf der Abschussliste des Konzerns stand. Den Druck hat er nicht anders aushalten können. Es spielten auch noch ein paar unverarbeitete Geschichten aus seinem Heimatland eine Rolle…“

„Wurdest du und dein Bruder dort geboren oder hier in Mela?“, fragte Misha als sie gerade zur Bahn liefen.

„Wir beide kamen dort auf die Welt, ich war aber erst ein paar Jahre alt, als wir hierher kamen. Dann ist mein anderer Vater hier gestorben, ich kann mich an ihn leider nicht mehr erinnern“, sie zuckte mit den Schultern.

„Hmm“, murmelte Misha. Sie war Leuten aus ihrem Heimatland grundsätzlich skeptisch. Es hatte keinen bestimmten Grund, bloß so ein Gefühl. Vielleicht weil sie ihre Eltern anrufen könnten und ihnen verraten würden, wo Misha sich aufhielt? Bei Lea und Juri hörte es sich zwar nicht so an, als würden sie das machen, aber man wusste nie.

Lea schaute sie an, als würde sie sie fragen wollen, ob Misha auch aus Jaku kam, aber Misha setzte ihr abweisendes Gesicht auf, um die Frage gleich mental abzuwehren und Lea sagte nichts mehr.

Kurze Zeit später standen sie vor einer Reihenhaussiedlung, in dieser Ecke der Stadt war Misha vorher noch nie gewesen. Lea gab den Code ein und öffnete die Tür. Misha lief hinterher.

„Wir sind da“, flötete Lea in die Küche, aus der brutzelnde Geräusche kamen und ließ ihre Schultasche fallen. Misha tat es ihr nach.

„Hallo ihr zwei“, erwiderte jemand.

„Hier lang“, Lea lief in das Wohnzimmer und sie setzten sich an den Esstisch. Sie fing an, etwas zu erzählen, aber Misha dachte nur daran, wann sie das letzte Mal an einem richtigen Tisch bei einem richtigen Mittagessen gesessen hatte.

Es war am Tag vor ihrer Abreise. Letzter Schultag vor den Ferien. Sie war in dem Haus ihrer Eltern, auch wenn diese nicht anwesend waren. Ihr großer Bruder hatte Pellkartoffeln auf den Tisch gestellt. Es hatte irgendwie immer Kartoffeln gegeben, aber es war okay, Misha aß sie gerne in allen Variationen. Von ihnen ging diese positive Energie aus, etwas Warmes und Erdiges.

Ihr Bruder hatte Misha angeschrien, wieso sie die Wäsche noch nicht aufgehängt hatte. Misha hatte besseres zu tun vor ihrer Abreise, aber das hatte sie ihm nicht gesagt, sondern ihren eisigen Blick aufgesetzt.

Vielleicht stand die nasse Wäsche immer noch da. Durch den Streit hatten ihre beiden sehr viel jüngeren Geschwister angefangen zu weinen. Misha versuchte sie zu trösten und abzulenken, aber es war aussichtslos. Es war dieses Weinen von Kleinkindern, das alles durchschnitt und unbarmherzig war. Misha fühlte sich wie so oft emotional erschöpft und konnte den Frust der Kleinen nicht auffangen. Sie schaute in ihre roten und feuchten Augen, in denen sich die Enttäuschung über das Leben zu sammeln begann. Irgendwann würden sie abstumpfen, wie sie. Und das wollte sie nicht miterleben, dann lieber die Koffer packen.

Das war das einzige, das noch Schmerz beim Gedanken an ihre Heimat verursachte, das Zurücklassen ihrer Geschwister, die nun ohne ihren Schutz weiter aufwuchsen. Aber hatte Misha nicht auch das Recht, sich den letzten Rest ihrer Lebensfreude zu schnappen und hierher zu bringen in der Hoffnung, er würde wieder wachsen und gedeihen und blühen und nicht jämmerlich sterben. Irgendwann, vor vielen Jahren, hatte sie mal so viel Phantasie und Frohsinn und Farben und Unbeschwertheit und Verbundenheit gehabt, das alles wollte sie wieder an die Oberfläche holen, auch wenn es jetzt dafür noch zu früh war.

Sie zuckte zusammen, als jemand sie am Ärmel berührte.

„Alles okay?“, Lea beugte sich zu ihr vor.

„Sorry, ich war in Gedanken“, Misha schüttelte ihren Kopf.

„Und hier kommt das Essen“, eine dampfende Pfanne wurde auf den Tisch gestellt. „Ich bin übrigens Marc.“

„Hi“, erwiderte Misha und schaute zu ihm hoch. Es war der Sänger der Band, die sie bei ihrer Ankunft hier gesehen hatte. Sie konnte kaum glauben, dass er für sie gekocht hatte. Dass er mit Lea zusammenwohnte. Misha hatte sofort das Gefühl, völlig fehl am Platz zu sein. Nervös rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her.

„Es gibt gebratene Nudeln mit Hühnchen, ist das okay für dich?“, Marc hob eine Augenbraue.

„Natürlich“, Misha versuchte, sich wieder zu sammeln. „Ich habe dich auf dem Konzert gesehen.“

„Ach so“, Marc lachte erleichtert und begann zu essen. „Hat es dir gefallen?“

„Absolut“, nickte Misha und nahm einen Bissen. Sie musste sich zusammenreißen, nicht zu gierig zu essen. Es schmeckte fantastisch.

„Mehr Sojasauce“, murmelte Lea mit vollem Mund.

„Wir haben nicht so viel“, schüttelte Marc entschieden den Kopf und Lea maulte. Misha schämte sich für das Anspruchsdenken ihrer Klassenkameradin.

„Misha, dann bist du schon länger in Mela?“, fragte Marc höflich.

„Ich… seit dem Sommer“, stotterte Misha und starrte auf ihren Teller.

„Marc wurde hier geboren, ein echter Einheimischer“, erzählte Lea und Misha war froh, dass sie nicht mehr im Fokus stand.

„Das muss schön sein“, murmelte Misha zwischen zwei Bissen.

Sie plauderten noch vor sich hin und dann war das Essen beendet, Marc verabschiedete sich.

„Er arbeitet bei der Stadtverwaltung und muss wieder ins Büro“, erklärte Lea.

Misha seufzte. Marc würde wissen, dass sie nicht registriert war und bald würde die ganze Sache auffliegen. Würde man sie der Stadt verweisen? Eine sowieso schon allgegenwärtige Existenzangst erdrückte Misha aufs Neue. Sie ging ins Bad und schaute neidisch auf die Dusche. Warmes Wasser und Haare waschen wäre jetzt perfekt. Aber dazu kam es nicht. Sie betrachtete ihr blasses und schmales Gesicht im Spiegel. Nase zu groß, Augenbrauen dünn, Lippen schmal, Wangenknochen hoch, Augen fahl, Stirn bereits in jungen Jahren zerknittert vor lauter Sorgen.

Misha schüttelte den Kopf. Als sie wieder herauskam waren Lenn und Steev bereits da. Zusammen gingen sie in Leas Zimmer, welches bunt eingerichtet war, und machten es sich dort auf dem Teppichboden gemütlich. Misha versuchte möglichst Abstand zu halten, um niemanden olfaktorisch zu belästigen.

„Wie ihr wisst, habe ich schon ein Thema für uns herausgesucht“, Leas Gesicht strahlte und sie tippte mit dem Stift auf die Unterlagen vor sich. „Ich muss Herrn Marov noch überreden, dass das durchgeht, aber ich glaube das passt schon“, sie winkte ab. „Es geht um Religiosität in Jaku. Und da es ja etwas mit Politik und Wirtschaft zu tun haben sollte, machen wir das in Verbindung zu den religiösen Praktiken der Gegenwart. Hier sind ein paar Ideen dazu“, sie teilte an alle Blätter mit Stichpunkten aus. „Also, was denkt ihr? Wir sollten die Themenbereiche etwas aufteilen, dann kann jeder etwas recherchieren und wir bringen das Ganze zusammen.“

„Ich mache irgendwas zur Geschichte der Christianisierung oder so“, verkündete Lenn.

„Ich zur Verbindung von Religion und Politik in der Gegenwart, also kannst du dich voll und ganz dem Einfluss von Maana auf Religion und Familienverhältnisse widmen, weil es dich ja so glücklich macht“, erklärte Steev.

„Super. Seit der Geschichte mit meinem Vater lässt mich das nicht los“, Lea seufzte. „Und du, Misha?“

„Mythologien“, sagte Misha bloß.

„Hm?“, hakte Lea nach.

Misha holte tief Luft. „Ich bereite einen Vortrag zu den Mythen und Sagen aus Jaku vor, zu dem magischen Denken, dem Aberglauben, dem übrig gebliebenen magischen Glauben, der vor der Christianisierung herrschte.“

„Und was hat das mit Politik und Wirtschaft zu tun?“, frage Steev skeptisch.

„Das werden wir mal sehen“, zuckte Misha möglichst beiläufig mit den Schultern.

„Wer weiß, vielleicht wird das Herrn Marov gefallen, er kommt doch auch aus deinem Land, dann könnt ihr euch austauschen über eure verrückten religiösen Praktiken“, steuerte Lenn bei.

„Ist es bei euch so, dass ihr in diesen komischen Klamotten herumlauft und euch nicht wascht?“, fragte Steev und setzte einen entsprechenden Gesichtsausdruck auf.

„Steev!“, schimpfte Lea und sprang auf. „Sowas kannst du nicht sagen!“

„Es war eine ehrliche Frage, warum sonst ist sie so?“, verteidigte er sich.

Misha lief rot an und spürte, wie alles in ihr sich zusammenzog. Das Essen vom Mittag hing wie ein schwerer Brocken in ihrem Körperinnerem. Sie stand auf und verließ das Zimmer. Suchte ihren Rucksack, ihre Jacke und ihre Schuhe zusammen.

„Es tut mir leid“, Lea kam hinter ihr her.

„Du musst dich nicht entschuldigen, es stimmt ja, was er sagt. Du weißt es auch“, Misha zog sich an.

Lea gestikulierte hilflos mit den Armen.

„Ich hab dir gesagt, es würde nicht funktionieren“, Misha lief durch die Haustür und ließ sie hinter sich zufallen.

Sie rannte zur Haltestelle, kämpfte gegen die Tränen, aber es war aussichtslos, sie überrollten sie. Noch nie hatte sie sich so sehr geschämt. In ihrem Keller angekommen, rollte sie sich auf dem Sofa zusammen.

Der Schmerz drohte sie in tausend Teile zu zerschneiden. Ihr ganzes verrücktes Projekt, auf eigene Faust nach Mela auszuwandern, fiel vor ihren Augen zusammen. Das alles würde niemals klappen. Wenn sie schon bei den kleinsten Kommentaren so reagierte, dann würde sie nie die innere Stärke aufbringen, um das alles fünf Jahre, bis zu ihrer Volljährigkeit, auszuhalten. Das war so unfair.

Misha krümmte sich mehr und mehr und hatte Mühe, ihre Gedanken nicht in eine Richtung treiben zu lassen, die sich darum drehten, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Nein, das war keine Option. Auch wenn es sich manchmal so anfühlte. Sie musste einfach diesen Tag und diese Nacht und diese Woche und diese Jahre durchhalten, so wie sie es zuletzt auch getan hatte.

Im Dunkeln stocherte sie nach irgendwas. Wenn sie in ihrem Heimatland hoffnungslos gewesen war und ihre Umgebung sich nicht ändern ließ, dann träumte sie sich manchmal weg. Dann lief sie barfuß durch die Felder, tauchte in kühle Seen oder löste sich einfach in tausend Wassertropfen in eine Wolke auf. Je absurder, desto besser. Das verschaffte ihr wenigstens für ein paar Momente eine Verschnaufpause.