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In *Kojinra – Das Vermächtnis der verborgenen Welten* dreht sich die Geschichte um die Schicksale von Royce, Kyle, Niro und Aiden, die in eine abenteuerliche Welt voller Geheimnisse und übernatürlicher Kräfte hineingezogen werden. Royce, der rebellische Sohn eines mächtigen Mannes, kämpft mit den düsteren Machenschaften seiner Familie und seiner eigenen moralischen Zerrissenheit. Mit seinem unbezwingbaren Willen durchsteht er die dunkelsten Zeiten, auf der Suche nach Antworten und einer Möglichkeit, die Fehler seiner Familie wiedergutzumachen. Kyle, ein achtjähriger Junge, steht zwischen der kindlichen Unbeschwertheit und dem plötzlichen Erwachsenwerden, als er und seine Zwillingsschwester erfahren, dass ihre Familie Niro adoptiert – einen stillen Jungen, der von einer geheimnisvollen Vergangenheit gezeichnet ist. Während Kyle sich mit dem neuen Familienmitglied schwer tut, trägt Niro die Last eines großen Verlusts. Beide Jungen müssen lernen, in dieser neuen Konstellation ihren Platz zu finden. Als die beiden älter werden, manövriert sich Niro in eine schwere Identitätskrise, während Kyle in eine gefährlichen Lage gerät. Aiden kennt kaum noch etwas, als die Finsternis in seinem Herzen, als eine schicksalhafte Begegnung sein gesamtes Leben verändert. Er lässt alles hinter sich, um einen Neuanfang zu wagen, doch die Vergangenheit holt ihn schneller ein als er erwartet hat. Die Geschichte verbindet dramatische Familiendynamiken, intensives inneres Ringen und actiongeladene Szenen, die in einer luxuriösen, von beeindruckender Architektur geprägten Welt spielen. Die emotionale Reise der vier Protagonisten spiegelt die universellen Themen von Verlust, Verantwortung und der Suche nach der eigenen Identität wider, während sie sich auf den ultimativen Showdown vorbereiten.
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Seitenzahl: 553
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Theresa Oelsner
Kojinra
Für ein intensiveres Leseerlebnis empfehle ich, den Soundtrack parallel zur Geschichte abzuspielen. Die passenden Stellen zum Starten und Pausieren der Musik sind mit Symbolen im Text markiert.
Mit allem, was der Sportwagen hergibt, wird er von seinem Fahrer über den Highway gejagt. Die Finsternis der Nacht nimmt der Fahrzeugoberfläche seinen lila Ton und lässt den Lack vollkommen schwarz erscheinen. An den wenigen Autos, die mit ihm zusammen auf der Straße sind, schießt er vorbei, und lässt sie als kleine Lichter im Rückspiegel verschwinden, bis sie vollends von der Dunkelheit verschluckt werden.
Real Good Feeling - On The Larceny
Konzentriert sitzt Kyle am großen Esstisch, vertieft in seine Hausaufgaben. Er hat sich über den halben Tisch ausgebreitet und beendet zufrieden eine der vielen Rechenaufgaben. Die Sonne scheint durch die breite bodentiefe Fensterfront, die auf der Westseite des Hauses eingelassen ist. Das Licht bricht sich in den teuren Lampen, die von der hohen Decke über den Esstisch hängen und wirft unterschiedlich geformte Lichtbögen auf die bedruckten Übungsblätter und Bücher, die Kyle etwas chaotisch vor sich angeordnet hat. Für einen kurzen Moment sieht er hinaus durch die Fenster in den weitläufigen Garten, in welchem seine Zwillingsschwester Hannah im Pool spielt.
„Sobald du mit deinen Aufgaben fertig bist, darfst du zu Hannah“, meldet sich seine Mutter mit einem warmen Ton in der Stimme zu Wort.
Mit einem einverstandenen Nicken schaut er zu ihr in die Küche.
Mirai steht an der schwarzen Kücheninsel und bereitet das Abendessen vor. Ihre rotbraunen Haare hängen leicht gewellt über ihren Schultern. Die einzelnen Strähnen wackeln schwach bei jeder Bewegung ihrer hochgewachsenen und schlanken Gestallt.
Ihr Sohn wendet sich wieder geduldig seinen Aufgaben zu und schreibt die nächste Lösung nieder.
Das dumpfe Brummen eines großen Motors, das von draußen ins Hausinnere dringt, reißt Kyle erneut aus seiner Konzentration. Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. Voller Vorfreude springt er auf und rennt zum Eingangsbereich.
„Du bist immer noch nicht fertig, Kyle“, ruft ihm seine Mutter lächelnd hinter her.
„Ich mach es gleich fertig“, ruft er, öffnet die große Eingangstür und huscht nach draußen.
Vor der breiten anthrazitfarbenen Garage steht ein fabrikneuer Dodge Challenger SRT Hellcat, aus dem Royce aussteigt und lachend Kyle hochnimmt, der wild auf ihn zugestürmt kam.
„Na Großer, wie geht’s dir?“, fragt Royce.
„Ich freu mich so, dass du hier bist.“
„Du wirst dich gleich noch mehr freuen, wenn du mein neues Auto gesehen hast“, entgegnet Royce und setzt Kyle zurück auf den Boden. Stolz öffnet er seinem kleinen Kumpel die tieflila Wagentür, der überglücklich auf dem Fahrersitz Platz nimmt.
Mit großen Augen nimmt er alle Details des stylischen Innenraumes wahr und genießt den Geruch des Leders, der schwarzen Sitze.
„Willst du ihn starten?“, fragt Royce lächelnd, der sich am Dachholm des Wagens abstützt und zu Kyle ins Innere schaut.
Um das Bremspedal zu erreichen, rutscht er auf die vordere Kante des Sitzes und drückt die Zündung. Unter lautem Getöse erwacht der Wagen zum Leben.
„Hast du jemals etwas Eindrucksvolleres gehört?“, fragt sein großer Freund, der für Kyle den gleichen Stand wie ein großer Bruder hat.
Rein optisch würden sie ohnehin als Brüder durchgehen. Die blaue Farbe ihrer Augen unterscheidet sich gerade einmal in wenigen Nuancen und auch ihre blonden Haare ähneln sich nicht nur in ihren Farbtönen stark, sondern auch in der Art und Weise wie sie diese tragen. Während die Seiten akkurat gekürzt sind, ragen die restlichen Haare nach oben und stehen wild nach vorne hin ab.
„Ich will ihn auch fahren“, schwärmt Kyle.
„Da musst du noch acht Jahre durchhalten.“
Etwas ernüchtert sieht der Kleine ihn an. „Aber so alt bin ich jetzt gerade mal.“
„Ja, du musst nochmal so lange leben wie jetzt, um Autofahren zu dürfen“, erwidert Royce grinsend. „Los, tritt mal auf’s Gas.“
Das lässt sich Kyle nicht zweimal sagen. Ein starkes Glücksgefühl durchströmt ihn, als die Drehzahl des Motors nach oben schnellt. Zu gerne würde er eine Runde mit dem Wagen über die frischgebauten Straßen der Neubausiedlung drehen, in die sie vor wenigen Monaten gezogen sind.
„Gehen wir rein?“, fragt Royce, nachdem Kyle ausreichend mit dem Gas gespielt hat.
Etwas wehmütig bringt er die Maschine zum Schweigen und verlässt das Fahrzeug. Gemeinsam gehen sie zurück ins Haus. Kyle setzt sich wieder an seine Hausaufgaben und bemüht sich, diese nun noch schneller zu beenden.
Währenddessen begrüßt Royce Mirai mit einem Kuss auf ihre Wange, die ihm daraufhin ein herzliches Lächeln schenkt.
„Wo ist Cass?“, erkundigt er sich nach ihrem Ehemann.
„Im Büro. Er wollte noch etwas fertig machen“, erwidert sie.
Genervt über seinen Vater, seufzt Kyle. Ihm kommt es so vor, als wäre ihm die Arbeit wichtiger, als seine Familie.
„Selbst wenn er zu Hause ist, ist er auf Arbeit“, wirft Kyle enttäuscht ein.
Traurig betrachtet Mirai ihren Sohn und scheint nach den richtigen Worten zu suchen, während sich Royce beherzt einen der Stühle nimmt und sich zu ihm setzt.
„Du weißt doch, dass dein Papa viel für das Militär machen muss, sonst weiß keiner von den Soldaten was sie mit ihrer ganzen Lebenszeit anfangen sollen“, erklärt er scherzend.
„Und wie kann es dann sein, dass der Sohn von dem Mann, der immer mit meinem Papa zusammenarbeitet, so viel Zeit hat und ständig bei uns abhängt? Solltest du nicht zu Hause sein und das machen, was dein Papa von dir verlangt, so wie er es mit meinem Papa macht?“
„Für deine acht Jahre bist du ganz schön klug. Und ich bin nun mal ein echt beschissener Sohn, was bei dem Vater aber auch kein Wunder ist.“
Diese Aussage bringt Kyle zum Kichern.
„Royce, bitte“, ermahnt ihn Mirai.
Er wirft ihr einen entschuldigenden Blick zu und erhebt sich von seinem Platz. „Ich schau mal nach deinem Papa. Vielleicht kann ich ihn dazu überreden, dass er mit euch dann noch in den Pool springt.“
„Das wäre so cool“, antwortet Kyle euphorisch.
„Aber erst, wenn die Hausaufgaben fertig sind“, wirft seine Mutter ein.
Mit einem leichten schadenfreudigen Lachen verschwindet Royce aus ihrem Sichtfeld.
Wenig später hat Kyle alles fertig und flitzt in sein Zimmer, um seine Badehose anzuziehen. Kurz darauf ist er bereits am Pool und springt in das erfrischende Wasser, zu Hannah.
Seine Zwillingsschwester quietscht amüsiert, wegen den vielen Wasserspritzern und Wellen, die durch den Sprung entstehen. Ihre rotbraunen Haare erhalten durch die ungewollte Dusche einen noch intensiveren Glanz.
Erfrischt streicht sich Kyle das Wasser aus seinem Gesicht und wendet sich an seine Schwester.
„Royce ist da, aber er ist gerade bei Papa.“
Hannahs grüne Augen leuchten vor Freude.
„Dann essen wir heute alle zusammen“, freut sie sich. Nachdem Kyle etwas mit seiner Schwester gespielt hat, legt er seine Arme am Beckenrand ab und sieht zu Cass’ Büro rauf, welches im ersten Stock des Hauses liegt. Er kann Royce sehen, der nahe an der breiten Fensterfläche steht. Seiner Körpersprache nach zu urteilen, scheint er aufgebracht zu sein. Nachdenklich beobachtet Kyle das Geschehen und fragt sich, was die beiden wohl besprechen.
Hannah schwimmt zu ihm und nimmt eine ähnliche Haltung wie ihr Bruder ein. „Streiten sie sich?“, fragt sie besorgt.
„Nein, ich glaube nicht“, hofft er, obwohl es nach einer hitzigen Diskussion zwischen den beiden aussieht.
Beim Abendessen bemerken die Zwillinge nichts von Royce’ Aufregung. Alles scheint so wie immer zu sein, mit dem Unterschied, dass Cass dieses Mal am Abendessen teilnimmt, was sonst eher an den Wochenenden passiert. Die Stimmung ist ausgelassen, trotzdem kommt Kyle irgendetwas seltsam vor. Nichtsdestotrotz genießt er die Anwesenheit seiner Familie, sowie das Essen und lässt von dem seltsamen Gefühl ab, das ihm sein Bauch signalisiert hat.
Sobald das Abendessen vorüber ist, bittet Cass seine Kinder noch einen Moment sitzenzubleiben, um ihnen etwas mitzuteilen.
Hinter seinen ausdrucksstarken blauen Augen und dem smarten Lächeln, versucht er all die Sorgen vor ihnen zu verstecken, die ihn belasten. „Wir müssen euch etwas sagen“, beginnt er.
Die Empfindung, die Kyle nicht zuordnen konnte, schleicht sich sofort wieder in seine Gefühlswelt ein.
„Wir haben uns dazu entschieden ein Kind zu adoptieren“, fährt Cass fort.
Für einen Moment lässt Kyle die Worte sacken, bis seine Emotionen ins Negative kippen, da er realisiert, was die Worte seines Vaters für ihn und seine Schwester bedeuten. Verärgert zieht er die Augenbrauen zusammen.
„Es geht um einen Jungen, der etwa in eurem Alter ist und wirklich unsere Hilfe benötigt.“
„Wieso? Du hast nicht mal genug Zeit für uns“, schimpft Kyle protestierend.
Sein Vater erwidert seinen Blick getroffen.
„Kyle, das ist nicht fair und das weißt du“, ermahnt ihn seine Mutter.
„Und es ist fair einen Fremden aufzunehmen? Was haben wir damit zu tun? Er kann doch zu einer anderen Familie, oder nicht?“
„Wir sind die einzigen, die ihm helfen können“, bringt sich Royce ein.
Entrüstet aber wütend sieht er zu ihm. Keiner der Erwachsenen scheint auf seiner Seite zu sein. Und auch Hannah hat offenbar kein Problem mit der Tatsache, dass bald ein Fremder die wenige Zeit, die sie mit ihrem Vater haben, in Anspruch nehmen wird. Schweigend steht Kyle auf und geht auf sein Zimmer, ungeachtet davon, dass sein Vater nach ihm ruft. Frustriert lässt er sich in sein Bett fallen und versucht zu verstehen wieso solche Dinge passieren müssen.
Nach ein paar Minuten klopft jemand an seine Tür.
Da er keine Lust auf ein Gespräch hat, schweigt er und hofft, dass er in Ruhe gelassen wird.
„Darf ich reinkommen?“, fragt Cass geduldig.
„Nein.“
Trotzdem öffnet sich die Tür und sein Vater betritt den Raum.
„Ich hab’s nicht ganz verstanden. Was hast du gesagt?“
Ohne ihn zu beachten, bleibt Kyle auf seinem Bett liegen und starrt an die Decke, deren indirektes Licht weich in den Raum fällt und so eine ruhige Atmosphäre erzeugt.
„Lass es mich erklären, Kyle“, bittet Cass und setzt sich zu seinem Sohn auf die Bettkante.
Ohne den Kopf zu bewegen, sieht er zu seinem Vater und hört sich an, was er zu sagen hat.
„Wenn wir uns nicht für den Jungen einsetzen, dann wird er kein zu Hause haben und niemanden der sich um ihn kümmern wird. Und er wird auch keine so tollen Geschwister haben, wie ihr es seid.“
„Es gibt überall Kinder, die keine Familien haben. Wieso jetzt auf einmal er?“
„Damit es ein Kind mehr auf dieser Welt gibt, das eine Familie hat, die es liebt.“
„Wenn ihr noch eins wollt, wieso macht ihr dann nicht einfach noch eins?“, schlägt Kyle vor, um das bevorstehende Übel irgendwie abzuwenden.
„Es geht hier nicht ums Wollen. Ich denke es ist richtig, wenn wir ihn aufnehmen.“
Uneinsichtig schüttelt Kyle den Kopf. „Ich verstehe es nicht. Das kann doch nicht wirklich deine Begründung dafür sein.“
Prüfend schaut Cass ihn an und streicht sich daraufhin erledigt und nachdenklich durch seine nach hinten gelegten Haare. Das sanfte Licht lässt sie im gleichen goldenen Ton glänzen, wie die Haare seines Sohnes. Ein schwaches Lächeln spiegelt sich nach einem tiefen Atemzug auf seinen Lippen wieder.
„Ich wusste nicht, dass ich dir so wichtig bin. Ich dachte du wärst ein richtiges Mamakind“, stichelt er.
„Das stimmt überhaupt nicht“, protestiert Kyle mit Nachdruck. Er schnappt sich sein Kopfkissen und bewirft Cass, um ihn anschließend anzugreifen. Lachend kampeln sich die beiden auf dem Bett. Nach einem Unentschieden bleiben sie keuchend nebeneinander liegen.
„Ich bin für dich da, Kyle. Tu mir nur den Gefallen und sei für ihn da. Ich kann mir vorstellen, dass du ihm mehr Halt geben kannst, als deine Mutter oder ich das je könnten.“
Um einer Diskussion und weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen, bejaht er widerwillig die Bitte seines Vaters.
Liebevoll küsst Cass ihm auf die Stirn und steht auf, nachdem er sich bei ihm bedankt hat.
„Kannst du noch hier bleiben?“, fragt Kyle schnell.
Sein Vater kommt seiner Bitte nach und legt sich wieder zu ihm.
Mit einem wohligen Gefühl von Geborgenheit, kuschelt er sich an den Mann, der trotz der wenigen Zeit, die er mit ihm verbringt, ein großes Vorbild für ihn ist.
„Ich liebe dich, mein Sohn“, hört Kyle ihn nach einer Weile sagen.
„Ich liebe dich auch“, flüstert er. Der Groll, den er wegen den Umständen in sich getragen hat, verschwindet und lässt ihn plötzlich traurig werden. Er lässt etwas Zeit verstreichen, bevor er sich dazu entscheidet, über seine Empfindungen zu sprechen. „Weißt du, du fehlst mir einfach. Ich möchte doch nur, dass es öfter Tage wie diesen gibt, an denen du bei uns bist.“ Geduldig wartet er auf eine Antwort, doch sie bleibt aus. Verdutzt schaut er nach seinem Vater und stellt fest, dass ihm die Augen zugefallen sind. Eine der blonden Haarsträhnen hat sich gelöst und hängt ihm nun in die Stirn. Der besorgte Ausdruck in seinem Gesicht ist verschwunden und der Entspannung gewichen.
Fürsorglich deckt Kyle ihn zu und schmiegt sich unter der Decke wieder an seiner Seite an. Die Tatsache, seinen Vater bei sich zu haben, macht ihn glücklich, auch wenn sie nicht reden. Es dauert nicht lange bis die Müdigkeit auch ihn in das Reich der Träume entführt und er gemeinsam mit Cass in einem tiefen Schlaf versinkt.
Während er auf das Armaturenbrett seines Challengers starrt, hängt er in Gedanken dem Moment nach, in dem Kyle und Hannah mitgeteilt wurde, dass sie bald ein neues Mitglied in die Familie aufnehmen werden. Er kann Kyles Reaktion verstehen, hoffte jedoch trotzdem, dass er sich über die letzten Tage damit abfinden kann. Die Hoffnung verflog, als er am gestrigen Tag mit ihm über das schwierige Thema sprach. Obwohl er nichts mehr dagegen sagte, merkte Royce ihm trotzdem deutlich an, dass er sich nicht dazu überwinden konnte der Situation etwas Positives abzugewinnen. So leid ihm das Ganze für Kyle tut, so leid tut es ihm auch für den anderen Jungen.
Er kann immer noch nicht fassen, dass im Auftrag seines Vaters schon wieder ein Kind seiner Familie genommen wurde. Zu gerne hätte er ihn zur Rede gestellt, doch die passende Gelegenheit blieb jedes Mal aus.
Die Lichter mehrerer herannahender Autos blenden Royce für einen kurzen Moment und reißen ihn so aus seinen Gedanken. Er erkennt Cass’ silbernen Cadillac Lyriq, der von zwei weiteren schwarzen Cadillac Escalade begleitet wird. Das Dröhnen der Motoren hallt von den Wänden der Tiefgarage wider.
Er steigt aus seinem Wagen aus und beobachtet Cass’ Einparkvorgang, während er sich eine Zigarette anzündet.
„Royce, das ist eine Tiefgarage“, begrüßt ihn Cass. Beiläufig streicht er sich dabei durch seine Haare, die am oberen Teil seines Kopfes deutlich länger sind, als an den kurzgeschorenen Seiten. In Verbindung mit dem kurzen gepflegten Bart, wirkt seine Frisur elegant und sportlich zugleich. Ein enges graues Shirt betont seine breite Brust und die definierten Oberarme.
„Was? Hast du Angst zu ersticken? Kümmer’ dich lieber darum, dass deine Frisur sitzt“, erwidert Royce gespielt höhnisch.
Dafür wird ihm die Zigarette aus der Hand geschnipst.
Etwas wehmütig sieht Royce ihr nach. „Du weißt schon, dass sie immer noch brennt und dir den Sauerstoff raubt, oder?“
Sein Gesprächspartner macht sich nicht die Mühe ihn weiter zu beachten und versucht das Lächeln vor ihm zu verbergen, das sich immer wieder auf seinen Lippen ausbreiten will.
Cass’ Sicherheitspersonal bleibt an den Autos zurück, während die beiden Männer zum Fahrstuhl gehen.
Royce gefällt es nicht, ständig verfolgt zu werden, also hat er es sich zur Aufgabe gemacht, sein Sicherheitspersonal, das ihm von seinem Vater gestellt wird, so oft wie möglich abzuhängen - so wie es ihm auch an diesem Tag gelungen ist.
Der Wachdienst hat den beiden bereits den Fahrstuhl gerufen und begrüßt sie höflich, als sie diesen betreten. Cass hält seine ID-Karte an das Lesegerät und gibt danach die Etagennummer auf einem Display ein. Nach wenigen Sekunden erreichen sie ihr Ziel und betreten die oberste Etage eines der eindrucksvollsten Hochhäuser der Stadt: dem Sawyer Tower. In dem direkt an den Fahrstuhl angrenzenden Raum werden sie von einer adrett gekleideten Empfangsdame begrüßt. Zwei Sicherheitsmänner treten vor und scannen sie mit Metalldetektoren ab. Nachdem Cass und Royce den Sicherheitscheck bestanden haben, werden ihnen die Türen zu Jack Sawyers Büro geöffnet.
Jack sitzt an seinem Schreibtisch, den Rücken zu einem atemberaubenden Panoramablick gewandt, der über die gesamte südliche Stadt reicht. Die warmen Lichtstrahlen der Sonne spiegeln sich in den schwarzen Marmorfliesen, die dem Fußboden außergewöhnliche Eleganz verleihen.
Zu Jacks Rechter befindet sich sein persönlicher Bodyguard, Handlanger und Royce’ Bruder Tekija.
Er steht nah an der Fensterfront und wendet sich vom Ausblick ab, um den beiden zuzunicken. Das Licht der Sonne lässt einige Haarsträhnen seiner kräftigen braunen Haare blond erscheinen. Den längeren Teil auf dem oberen Bereich seines Kopfes hat er locker zurückgebunden, während seine Seite so kurz gehalten sind, dass sie heller wirken, als der Rest. Nahtlos gehen sie in seinen kurzen gepflegten Bart über.
Während Cass die Begrüßung erwidert, würdigt Royce ihn keines Blickes.
„Setzt euch“, fordert Jack die beiden auf. „Die Sache ist ganz einfach. Wir sind jetzt mit dem Gröbsten durch, brauchen den Jungen aber später noch für weitere Tests. Wenn du ihn mir immer bringst, kannst du ihn jetzt mitnehmen. So muss sich hier zumindest niemand um ihn kümmern. Überleg dir eine glaubwürdige Geschichte zu seiner Vergangenheit. Ich will nichts davon in den Medien hören.“
„Ich habe mich bereits um alles gekümmert“, entgegnet Cass.
Er legt Jack Adoptionspapiere und Geburtsurkunde auf den Schreibtisch.
Nach einem flüchtigen Blick gibt er ihm die Papiere zurück. „Ich lasse ihn zu deinem Wagen bringen. Ist sonst noch was? Warum bist du hier Royce?“
„Hallo Vater, ja mir geht es auch gut. Ich freu mich, dass du dich immer so sehr um mich sorgst, aber das musst du nicht“, antwortet Royce mit einer sarkastisch angehauchten Tonlage.
Sein Vater wendet den sowieso schon kurz angebunden Blick von ihm ab, ohne auf seine Aussage nur im geringsten einzugehen.
„Cass, ich habe nach wie vor nicht die angeforderten Unterlagen von dir erhalten. Ich hoffe nicht, dass dich diese Sache bei deiner Arbeit behindert“, sagt Jack, während er sich den Dokumenten auf seinem Monitor zuwendet.
„Die schick ich dir, sobald ich zu Hause bin“, antwortet Cass scheinbar unbeeindruckt von dem Seitenhieb.
Royce weiß wie extrem die Arbeitsbelastung für ihn ist, die ihm von seinem Vater Tag für Tag neu auferlegt wird. Er hat schon oft versucht zu verstehen, wieso sich Cass von ihm so herumschubsen lässt. Auf seine Fragen erhält er jedes Mal die Antwort, dass sie sich bereits lange kennen und viel durchgemacht haben. Trotzdem kann er die Loyalität, die er Jack entgegenbringt, nicht nachvollziehen, denn sie scheint sehr einseitig zu sein.
„Können dich andere Leute wirklich ernst nehmen, wenn du nicht einmal in der Lage bist die Versprechen, die du deiner Familie gegeben hast, zu halten?“, fragt Royce distanziert.
„Soll ich jetzt wirklich nachfragen?“, erwidert Jack ohne seine Beschäftigung zu unterbrechen.
„Du hast mal gesagt, dass du nie wieder ein Kind entführen wirst.“
Er spürt Cass’ Hand auf seiner Schulter und seinen Blick auf ihm ruhen, während ihn sein Vater wieder wegtreten lässt.
Mit einer überheblichen Geste, deutet Jack zur Tür, damit die Männer sein Büro verlassen.
Die Art, mit der sie behandelt werden, lässt Royce wütend werden. Die Hand die immer noch auf seiner Schulter liegt, hält ihn zurück und führt ihn mit sanftem Nachdruck aus dem Raum. Zurück im Fahrstuhl zieht er über seinen Vater her. „Und Cass, ich habe nach wie vor nicht die angeforderten Unterlagen von dir erhalten. “, äfft er ihn nach.
„Er war noch nie besonders locker“, sagt Cass mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen.
„Wie kann man nur so anteilnahmelos und kalt sein? Erklär’s mir bitte.“
„Er hat andere Prioritäten. Und mittlerweile echt einen Stock im Arsch.“
Royce muss über die Bemerkung lachen, was Cass wiederum zum Schmunzeln bringt.
In der Tiefgarage wartet einer von Jacks Angestellten, zusammen mit dem Jungen, an ihren Autos.
Verängstigt sieht der Kleine aus seinen warmen braunen Augen zu ihnen. Der Teint seiner Haut ist um ein paar Nuancen dunkler, als der von Royce oder Cass. Seine kurzen schwarzen Haare sind am Oberkopf etwas zerzaust, wodurch er auf Royce noch liebenswerter wirkt, als er es ohnehin bereits tut.
„Hier ist er“, sagt Jacks Mann.
Cass nickt ihm zu und wartet bis er sich von ihnen entfernt hat. Sobald er außer Sichtweite ist, kniet sich Cass auf Augenhöhe zu dem Jungen runter. „Du kommst jetzt mit zu uns nach Hause, okay? Dort wird es dir besser gehen, als hier. Versprochen.“
Widerstrebend schüttelt der Junge den Kopf. „Ich will nach Hause“, erwidert er traurig und mit einem schwachen Akzent, den Royce so noch nie gehört hat.
„Ich weiß. Aber das geht jetzt nicht. Deswegen möchte ich, dass du mit zu uns kommst. Wir passen auf dich auf, okay?“
Bedrückt beobachtet Royce das Gespräch. Er kann sich nur ansatzweise vorstellen, wie sich der Junge fühlen muss. Obwohl Cass bereits viel Zeit mit ihm verbracht hat, während sein Vater ihn festhielt, um seine Tests an ihm durchführen zu können, scheint es nicht so, als hätte der Junge eine feste Bindung zu ihm aufgebaut.
„Lass uns gehen, Großer.“
Wieder schüttelt er den Kopf. Nach einem kurzen Blickaustausch mit Royce, wird er von Cass bedacht auf den Arm genommen. Der Kleine lässt es zu und versteckt sein Gesicht in der Schulter seines Adoptivvaters.
Royce steigt währenddessen in seinen Wagen und tritt die Rückfahrt zu den Hansons an. Er hat Mühe sich auf die Straße zu konzentrieren, da seine Gedanken dauerhaft um den Jungen kreisen.
Von Cass erfuhr er bereits vor einiger Zeit, dass auch sein Bruder Tekija unter ähnlichen Umständen in seine Familie kam. Still hofft er, dass sein neuer Schützling genauso wenig von seiner Entführung mitbekommen hat, wie sein Bruder, der damals keinerlei Erinnerungen an das Erlebte hatte.
An der Einfahrt zum Wohngebiet, in welchem Cass mit seiner Familie lebt, zeigt er seine Zufahrtsgenehmigung dem Wachpersonal. Während das schwere Tor langsam aufgeht, erscheinen in seinem Rückspiegel die Scheinwerfer des Konvois von den drei SUVs. Cass’ Security stellt die Fahrzeuge auf den dafür vorgesehenen Parkflächen vor dem Wohngebiet ab und lässt die beiden Männer alleine das Gelände befahren, auf dem das neue Haus der Hansons errichtet wurde.
Damit der Neuankömmling nicht zu sehr überfordert wird, haben sie die Zwillinge für die Nacht bei Mirais Eltern untergebracht. Auch Royce hält sich den Rest des Abends zurück, damit sich die nun dreifachen Eltern in Ruhe mit ihrem neuen Kind bekannt machen können.
Am nächsten Tag schwänzt Royce die Vorlesungen an der Uni, um das neue Familienmitglied der Hansons zu hüten. Kurz nachdem alle aus dem Haus sind, steht der Kleine vor ihm - früher, als Royce erwartet hat. Er hat es sich auf dem Sofa im offenen Wohnzimmer gemütlich gemacht und war gerade dabei auf seiner Gitarre ein paar Akkorde anzuschlagen.
„Hey. Hast du gut geschlafen?“, fragt Royce vorsichtig.
Seine kurzen schwarzen Haare wirken im Sonnenlicht bräunlich, welches den Raum durch die Fensterfront erhellt. In seinen warmen dunkelbraunen Augen kann Royce den Schmerz sehen, den er tief im Herzen trägt.
Er gibt ihm keine Antwort auf seine Frage. „Wo ist Cass?“, fragt er stattdessen.
Mit einem besorgten Ausdruck im Gesicht, legt er die Gitarre bei Seite und lehnt sich zu dem Kleinen nach vorne.
„Er muss arbeiten, so wie Mirai. Heute Nachmittag sind sie wieder da. Hast du Hunger?“
Es verstreicht ein Moment, bis er mit einem Kopfschütteln antwortet.
Bekümmert betrachtet Royce den kleinen Mann und entscheidet sich dafür, ihm wenigstens etwas zu Essen anzubieten. Er holt eine Schüssel Cornflakes aus der Küche, die er ihm in die Hand drückt.
„Probier mal. Kinder stehen auf das Zeug. Und ich übrigens auch“, sagt Royce und zwinkert ihm vertrauensvoll zu.
Nach kurzem Zögern steckt sich der Junge einen Löffel in den Mund. Sein Gesichtsausdruck zeigt jedoch ziemlich deutlich, dass es ihm nicht besonders schmeckt. Er gibt ihm die Schüssel zurück und setzt sich auf das Sofa, auf dem die Gitarre liegt.
Beiläufig stellt Royce die Schüssel auf dem Couchtisch ab. „Willst du mir nicht verraten, wie du heißt?“
Er bekommt erneut keine Antwort.
Der Anblick seines schweigenden Schützlings, der verloren auf den Boden starrt, tut Royce in der Seele weh. „Tut mir leid“, sagt er mitfühlend.
Der Junge führt ihm vor Augen, wie sehr er sich an den Machenschaften seines Vaters stört.
Royce’ Familie entwickelt und stellt seit Generationen Waffen her. Der Einfluss, den sein Vater und sein Großvater auf die Industrie und Politik nahmen, erweiterte sich zusehends, als sie sich in der Medizinbranche ausgebreitet hatten. Jacks Vision, die perfekte Kampfeinheit zu erschaffen, fielen bereits unzählige Menschen zum Opfer. Darunter sind viele aus den geschützten Urvölkern, von denen er hofft, ihre besonderen Fähigkeiten entschlüsseln und für sich nutzen zu können. Und so kam auch der Junge unfreiwillig ins Land.
Er kann sich gut vorstellen, dass neben dem Verlust der Familie, der Kulturschock ebenfalls schwer auf seiner Seele lasten muss.
„Hey, willst du deine neuen Geschwister sehen?“
Für die Frage erntet er einen finsteren Blick.
Überrascht über den Blick des Kleinen, beißt er sich schuldig auf die Unterlippe.
„Ich will keine neuen Geschwister“, antwortet er leise.
Angestrengt überlegt Royce, wie er ihm die Spannung nehmen kann. Daraufhin greift er langsam zu seiner Gitarre und schlägt die ersten Saiten an. „Ich habe ein paar Songs geschrieben, vielleicht kann dir meine Musik beim Entspannen helfen.“ In Begleitung seiner Gitarre, singt er ihm eines seiner selbstgeschriebenen Lieder vor.
Aufmerksam lauscht er den Klängen. Doch auch die Musik kann nicht die Traurigkeit aus seiner Miene löschen.
Da Royce sich nun sicher ist, dass er so nichts erreichen kann, begibt er sich mit seinem Schützling in den Garten. Die Sonne steht mittlerweile hoch am Himmel und wärmt sofort alle unbekleideten Stellen auf Royce’ Haut. Sein helles Shirt und die dunkle Jeans nehmen ebenfalls schnell die Energie des Lichtes auf.
Der gepflegte Rasen wird an den Seiten von hohen Gräsern und kleineren Bäumen umgrenzt. Gemeinsam mit einem Teil des Hauses öffnet sich die große Fläche zum Grundstücksende in luftiger Höhe zu einem Steilhang, an dessen Fuße ein frischangelegter See liegt. Ein dezent gehaltenes Glasgeländer trennt unauffällig die Höhenunterschiede voneinander. Der große Pool orientiert sich in seinem Verlauf am Haus und erstreckt sich in seiner gesamten Länge ebenfalls bis zum Ende der Gartenfläche. Eine massive Glaswand trennt Wasser und Luft an der Stelle, in der er den Hang durchbricht.
Von ihrem erhöhten Standpunkt aus, können sie auf die Großstadt sehen, die hinter dem See in einiger Entfernung mit ihren unzähligen Wolkenkratzern aus dem Boden ragt.
Verunsichert betrachtet der Junge seine Umgebung.
„Was ist das? Wieso sieht hier alles so komisch aus?“, fragt er verwirrt.
„Das ist ein Garten. Hier kann man sich erholen.“
„Wenn ihr nicht alle Pflanzen weggemacht hättet, bräuchtet ihr sowas nicht.“
Royce weiß nicht, was er darauf antworten soll und beschließt sich mit dem Land und dem Volk des Jungen mehr auseinanderzusetzen, damit er seine vergangenen Lebensumstände besser einschätzen kann.
Sobald Mirai am Nachmittag von Arbeit kommt, verabschiedet sich Royce und begibt sich auf den Weg nach Hause. Nachdenklich fährt er seinen Sportwagen vom gepflegten Grundstück der Hansons. Er nimmt sich vor zum Abendessen mit seinem Vater über das Thema zu sprechen, welches ihn beschäftigt.
Wieder erinnert er sich an das Versprechen, das ihm sein Vater gab, als Royce damals herausfand, wie sein Bruder zu ihnen kam. Nie wieder wollte er um des Forschungswillen ein Kind seiner Familie entreißen.
Niedergeschlagen lässt er sein Coupé durch die leeren Straßen der neu entstehenden Luxussiedlung rollen, während ihm der traurige kleine Junge nicht mehr aus dem Kopf geht. Schnell überwindet er die Distanz zwischen sich und seinem Heim. Kurz vor seinem Ziel lässt er ungeduldig das Seitenfenster seines Wagens herunter und zündet sich eine Zigarette an, während er das große schmiedeeiserne Tor anstarrt, das sich langsam öffnet, um ihm die Zufahrt auf das Grundstück seines Vaters zu gewähren. Die beiden Sicherheitsmänner nicken ihm zu, als er durch das Tor fährt. Erst jetzt bemerkt er, dass der schwarze SUV seiner eigenen Leibwächter hinter ihm steht, so als wäre er nie weg gewesen. Er war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, sodass ihm seine Verfolger nicht auffielen. Schneller als er sollte, lenkt er den Wagen die weiß gepflasterte Einfahrt entlang, die am Rand von unzähligen Bäumen verziert wird. Ohne Notiz davon zu nehmen in welcher Geschwindigkeit die Bäume an ihm vorbeifliegen, steuert er direkt auf sein zu Hause zu, bremst scharf vor der Tiefgarage ab und stellt den Challenger bei den anderen Autos unter dem Anwesen ab. Als er den silbergrauen Aston Martin DBS von Tekija wahrnimmt, vergeht ihm augenblicklich der Appetit auf das Abendessen. Es kommt nicht besonders oft vor, dass sein Bruder am Abendessen teilnimmt. Royce hat diesen Umstand begrüßt, da er wenig Interesse daran hat, sich mit ihm zusammen an einen Tisch zu setzen.
Wie üblich vermeidet er den Fahrstuhl und nimmt die Treppe nach oben. Dann durchquert er die Empfangshalle, die von einem weißen Marmorboden geschmückt wird, von der aus zwei Treppen mit goldenen Geländern in die obere Etage führen und betritt den Speiseraum, der mit seiner gewaltigen Deckenhöhe und den großen Sprossenfenstern auf jeden Gast gezielt Eindruck macht.
Sein Vater, die aktuelle Frau seines Vaters und Tekija sitzen bereits am Tisch.
Als Royce bemerkt, dass das Essen von den Köchen serviert wurde, wird ihm klar, dass er zu spät ist. Genervt atmet er aus und setzt sich an den langen Massivholztisch, an dem die wenigen anwesenden Personen recht verloren aussehen.
„Schön, dass wir dich auch zum Essen begrüßen dürfen, Royce“, begrüßt ihn Jack und sieht ihn dabei kühl aus seinen dunkelblauen Augen an.
Tekija beobachtet ihn von gegenüber aus, doch Royce ignoriert seine Blicke und schenkt die Aufmerksamkeit seinem Vater, der zu seiner Rechten an der Stirnseite des Tisches sitzt.
„Entschuldigt die Verspätung.“
„Du warst gestern Abend nicht zu Hause. Und heute früh auch nicht. Wo warst du?“, hakt sein Vater nach, während er beginnt die Vorspeise zu essen.
„Ich war wegen dem Jungen, den du uns gestern übergeben hast, bei Cass. Wieso hast du schon wieder ein Kind entführt? Hast du nicht genug andere Sachen zu tun? Ist dir dein Forscherdrang immer noch wichtiger, als der Rest?“
„Ich glaube nicht, dass wir beide darüber diskutieren müssen, wie ich meine Entscheidungen zu treffen habe. Und du solltest dein Studium ernst nehmen und deine Zeit nicht bei Cass verschwenden“, erwidert er reserviert.
Seine schwarzen zurückgelegten Haare wirken im Zusammenspiel mit dem königsblauen Pullover, den er über einem weißen Hemd trägt, und seinem gesamten Auftreten nun noch schmieriger und arroganter auf Royce, als es ohnehin bereits der Fall war.
„Nur komisch, dass es sich bei Cass familiärer anfühlt, als hier“, erwidert er verstimmt.
„Du bist wirklich ausgesprochen undankbar, Royce. Weißt du überhaupt zu schätzen, was dein Vater für dich tut?“, bringt sich seine Stiefmutter Geena ein.
Mehr als ein zynisches Lächeln hat er nicht für sie übrig.
Sie erwidert seinen Blick verärgert aus ihren braunen stark geschminkten Augen. Ihre blondierten Haare wurden aufwendig hochgesteckt und unterstreichen dadurch ihren zarten Körperbau.
Bevor er weitermachen kann, bekommt er von Tekija einen leichten Tritt vor sein Schienbein.
Die Tat lenkt Royce’ Aufmerksamkeit sofort um, wodurch sich die Blicke der beiden Männer treffen.
„Was ist?“, fragt Royce verärgert, während er das tiefe Blau und kalte Grau seiner Augen betrachtet.
Der Ausdruck seines Bruders wirkt traurig, was ihm vollkommen egal ist. Anstatt ihm eine Antwort zu geben, schüttelt Tekija nur warnend den Kopf.
Schweigend sieht Royce auf die Suppe vor sich, die perfekt angerichtet wurde; so wie jeder einzelne Gang, der Abend für Abend serviert wird. Ohne sein Schweigen zu brechen, steht er auf und verlässt den Raum.
„Wo gehst du hin?“, ruft ihm Jack hinter her.
„Ich bestell’ mir ’ne Pizza“, antwortet Royce genervt.
„Wie kann er nur?“, hört er Geena empört sagen, als er bereits aus ihrem Blickfeld verschwunden ist.
Frustriert über seine Familie, begibt er sich in den Teil des Anwesens, in welchem er seine eigene Wohnung hat. Im Wohnzimmer angekommen, setzt er sich auf sein Sofa und bestellt Pizza über seinen Laptop zu sich nach Hause. Während er auf sein Abendessen wartet, informiert er sich bei Cass über seinen Adoptivsohn. Die erste anschließende Recherche im Internet, über das Volk des Jungen, bringt ihn jedoch nicht weiter, da ihm bei der Suche nach dem Begriff Nadeiitsoh keine hilfreichen Ergebnisse angezeigt werden. Er beschließt in der Bibliothek seines Vaters nach einer Antwort zu suchen. Er ignoriert dabei das Verbot diese zu betreten, welches ausgesprochen wurde, nachdem er nach einem Streit mit Jack versucht hatte für ihn wichtige Literatur zu entwenden und verschwinden zu lassen. Es war Tekija, der ihn damals aufhielt. Der Ärger, den er sich dadurch mit seinem Vater einhandelte, entfernte ihn noch weiter von seiner Familie, als er sich ohnehin bereits entfernt hatte.
Um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, wartet er bis alle im Haus schlafen und nutzt die Zeit, um sich seinen vernachlässigten Modulen zu widmen, die er für sein Studium bearbeiten muss. Zusammen mit dem Laptop verbringt er die Zeit auf dem Sofa, isst nebenbei die mittlerweile gelieferte Pizza und vergisst, dass er eigentlich nur warten wollte, bis niemand mehr wach ist. Als er fertig ist, ist die Nacht bereits weit fortgeschritten. Sobald ihm bewusst wird, was er sich vorgenommen hat, begibt er sich schnell über die endlos langen Gänge zu seinem Ziel.
Selbst die Bibliothek seiner Universität kann mit dieser Ansammlung von Wissen nicht mithalten. Der Raum nimmt die Höhe des Hauses über zwei gesamte Ebenen ein. Die dunklen Holzregale, die sich bis zur Decke erstrecken, sind bis auf den letzten Einlegeboden mit Büchern bestückt.
Er schaltet weder die Lichter an den Wänden, noch die an der Decke ein und nutzt stattdessen das Licht seines Smartphones, um keine weitere Aufmerksamkeit zu erregen und durchstöbert konzentriert die vielen Kategorien und unzähligen Bücher. Bevor er etwas über das Gesuchte findet, fällt ihm ein anderer Buchtitel auf: Das Volk der Kojinra. Neugierig blättert er in dem alten Buch und findet Skizzen einer großen Stadt. Ein eindrucksvoller Tempel thront auf dem Gipfel eines Hügels, der am Fuße der Stadt liegt. Still liest er die ersten Sätze auf der nächsten Seite:
„Die einzigartigen Fähigkeiten der Kojinra sind beeindruckend und faszinierend zugleich. Wenn auch nicht jeder einzelne des Volkes die übernatürlichen Kräfte besitzt, so hat doch wenigstens einer in jeder Familie diese Fähigkeiten. Es ist, als würden sie die Physik außer Kraft setzen, egal ob man ihre Kraft oder Geschwindigkeit betrachtet, alles an ihnen ist überwältigend.“
Unweigerlich muss er bei dieser Beschreibung an Tekija denken. Royce betrachtet die weiteren Buchtitel genauer. Keiner sonst handelt von dem Volk der Koijnra. Grübelnd sieht er auf das Buch, welches er in seinen Händen hält.
Er erinnert sich an vergangene Zeiten, als er und sein Bruder noch Kinder waren. Nie wollte eines der anderen Kinder mit ihnen spielen, weil Tekija jedem in jeglicher Hinsicht überlegen war. Und das mehr, als es ein normales Kind sein sollte. Von seinem Vater erfuhr er, er hätte durch seine grandiose Forschung Tekija diese Fähigkeiten übertragen. Doch Cass klärte ihn viele Jahre später über seine wahre Geschichte auf: Dadurch, dass ihm diese Kräfte vererbt wurden und er zu einer der mächtigsten Familien in seinem Land gehört, wurde er, im Befehl von Royce’ Großvater Raymond Sawyer, entführt. Er kam schließlich ohne Erinnerungen in ein fremdes Land, wo man alles daran setzte zu erforschen, wie Tekijas übermenschliche Fähigkeiten auf andere übertragen werden können. Nur sein Name war das einzige, das sie ihm nicht nehmen konnten, denn er hatte ihn trotz ihrer Bemühungen nicht vergessen.
Während er das Buch weiter betrachtet, fragt er sich, ob Tekija den Inhalt kennt. Nach ein paar Sekunden kommt er zur Besinnung und sucht weiter, bis er die gewünschte Literatur über die Nadeiitsoh in der Hand hält. Er denkt kurz darüber nach, das Buch der Kojinra mitzunehmen, entscheidet sich jedoch dagegen und stellt es zurück an seinen Platz. Auf leisen Sohlen verschwindet er aus der Bibliothek und schließt die Tür, so vorsichtig er kann.
Als er sich umdreht, steht plötzlich Tekija vor ihm. Er zuckt zusammen und atmet daraufhin erschrocken aus. „Lass diese Arschlochaktionen“, fordert er verärgert.
„Du hast die Bibliothek nicht zu betreten. Gib mir das Buch!“
„Wenn du es unbedingt haben willst, musst du es dir holen!“ Mit diese Worten tritt er den Rückweg zu seiner Wohnung an und lässt seinen Gesprächspartner einfach zurück.
Tekija macht keine Anstalten ihm zu folgen. Da Royce weiß, dass er wiederkommen wird, beginnt er im Buch zu lesen, ohne dabei stehen zu bleiben.
„Die Nadeiitsoh sind nachweislich eines der letzten existierenden Naturvölker und stehen deshalb unter höchstem Schutz. Sie pflegen eine tiefe Verbindung zu allem Leben und sind deswegen ausgesprochen friedlich. Zu ihrem eigenen Schutz, nutzen sie eine besondere Art des Wolfes, dessen Größe, sowie Intelligenz außergewöhnlich stark ausgeprägt ist. Die Verbindung, die die Nadeiitsoh zu den Tieren aufbauen, ist unerforscht, doch es heißt, sie können mit ihnen kommunizieren.“
Je mehr Royce liest, umso klarer wird ihm, was sein Vater mit dem Jungen vor hat. Er scheint sich für die Verbindung zwischen dem Volk und ihren Wölfen zu interessieren.
Gezwungen schluckt er die in ihm aufsteigende Wut über Jack runter, als er an seiner Wohnungstür erneut auf Tekija trifft.
„Sag mal, stimmt es, dass die Nadeiitsoh mit ihren Wölfen kommunizieren können?“, fragt Royce, ohne dabei das Lesen zu unterbrechen. „Ich habe gelesen, dass sie die Gedanken ihrer Wölfe hören können. Mich würde wirklich interessieren, wie sich ihre Stimmen anhören.“
„Hast du dir ein Märchenbuch zum Einschlafen geholt?“, antwortet Tekija spöttisch.
„Da steht noch ein anderes Märchenbuch, das dich interessieren könnte. Da geht’s um dein Volk und deine Heimat.“
„Verschwende nicht meine Zeit!“ Fordernd streckt Tekija seine Hand aus.
Da Royce schmerzlich bewusst ist, dass er nichts gegen seinen Bruder ausrichten kann, gibt er ihm das Buch kapitulierend zurück. „Du stehst mir im Weg“, sagt er bedient.
„Lass den Groll gegen Jack los. Das tut dir nicht gut“, sagt Tekija leise, während er bei Seite tritt.
Seine Worte lösen sofort einen Widerstand in ihm aus, den er daraufhin beiseite schiebt. Ohne darauf zu reagieren oder ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, verschwindet Royce in seiner Wohnung und lässt die Tür hinter sich mit Nachdruck ins Schloss fallen.
Auch unabhängig von den aktuellen Geschehnissen, ist Kyle ungern bei seinen Großeltern. Der Gedanke, dass er mit seiner Schwester nicht zu Hause sein darf, damit der fremde Junge sich bei ihnen einleben kann, macht die Situation für ihn nur noch schwerer. Er kann es kaum erwarten, bis ihre Eltern sie endlich abholen kommen, auch wenn er dann unweigerlich auf seinen neuen Bruder trifft. Doch immerhin ist er dann wieder bei Mirai und Cass.
Genervt hört er Hannah zu, die mit ihren Großeltern am Tisch im Esszimmer sitzt und von der Schule erzählt, während er im angrenzenden Wohnzimmer die graue deutsche Dogge streichelt, mit der er an diesem Ort die meiste Zeit verbringt. Das stolze Tier liegt mit geschlossenen Augen vor ihm und genießt die Zuneigung in vollen Zügen.
„Kyle, möchtest du dich nicht zu uns setzen?“, fragt seine Oma Vivienne. Sie wirkt nach außen hin eitel und streng, was von ihren braunen und straff nach hinten gebundenen Haaren deutlich unterstützt wird. Auch die Wahl ihrer Kleidung verstärkt diesen Eindruck zusätzlich. Sie trägt fast ausschließlich Jacken mit verschiedenen Mustern und den dazu passenden Rock, in Verbindung mit einem farblich abgestimmten Oberteil. Auch ihr Make Up greift ihren Stil wieder auf.
Ohne sich Mühe zu geben seinen aktuellen Gefühlstand zu verstecken, schüttelt Kyle den Kopf.
Vivienne tauscht einen kurzen Blick mit ihrem Mann aus. Im Gegensatz zu seiner Oma, die ein sehr warmes Herz besitzt, ist sein Opa Laurenz so eisern, wie er nach außen hin auftritt.
Kyle hatte noch nie das Gefühl gehabt, dass er ihn sonderlich ausstehen kann, weswegen er ihm so gut er kann aus dem Weg geht. Es ist ihm egal wieso er sich ihm gegenüber so verhält, solange er ihn in Ruhe lässt. Seine Schwester hingegen findet bei ihm mehr Anklang. Sie wird von ihm regelrecht vergöttert.
„Die aktuelle Situation belastet dich sehr, nicht wahr mein Schatz?“, fragt Vivienne, während sie zu ihm geht und sich neben ihn auf den Boden setzt.
„Ich versteh es einfach nicht. Papa hat so schon keine Zeit für uns. Wieso muss er dem Jungen unbedingt helfen?“
„Wenn sich dein Vater erstmal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann kann nichts und niemand ihn davon abbringen“, antwortet ihm Laurenz abwertend aus dem anderen Raum, wofür er einen bösen Blick von seiner Frau erntet.
Kyle versteht die Anspielung nicht, wohl aber die Tonlage und sieht mit zusammengezogenen Augenbrauen an seiner Oma vorbei ins Esszimmer. „Was soll das heißen?“, fragt er verstimmt.
„Dass dein Vater ein zielstrebiger Mann ist, der schon viel erreicht hat, weswegen es dir und deiner Schwester so gut geht“, springt Vivienne ein. Sie streichelt ihm durch die weichen Haare und schenkt ihm ein liebevolles Lächeln. „Du siehst ihm sehr ähnlich.“
„Das macht auch nicht, dass er mehr Zeit mit uns verbringt.“
„Wenn du möchtest, dann sag ich ihm wie traurig du deswegen bist.“
Einverstanden nickt er, glaubt aber nicht daran, dass sich dadurch etwas ändern wird.
Ihre Mutter holt sie am Nachmittag aus dem prächtigen viktorianischen Haus ab. Nach einem kurzen herzlichen Gespräch mit ihren Eltern, setzt Mirai ihre beiden Kinder in den weiße BMW X5 M, der vor dem Haus auf dem Wendeplatz steht.
„Wie ist unser neuer Bruder so?“, fragt Hannah neugierig.
„Er ist sehr traurig, weil er seine Familie verloren hat. Wir müssen ihn langsam an sein neues Leben gewöhnen, dann wird es ihm hoffentlich besser gehen“, erklärt Mirai und lenkt den Wagen vom Anwesen ihrer Eltern.
Bedient sieht Kyle aus dem Fenster, ohne wirklich etwas von dem wahrzunehmen, was an ihm vorbeizieht.
„Wie heißt er?“, fragt Hannah weiter.
„Er möchte uns seinen Namen nicht verraten. Vielleicht klappt’s, wenn ihr mit dabei seid.“
„Wenn nicht, bekommt er einen von uns.“
Über den Rückspiegel lächelt Mirai ihre Tochter an. „So machen wir das.“
Kyle kann nicht behaupten, dass ihn das Gespräch sonderlich entspannt. Es fällt ihm schwer sich zurückzuhalten und nichts dazu zu sagen, doch er schafft es, bis sie zu Hause angekommen sind.
Vor der dunklen Doppelgarage steht ein Sportwagen, dessen silbergrauer Lack matt im Licht der untergehenden Sonne schimmert.
Das unbekannte Fahrzeug lässt Kyle ungeduldig werden, da er es zu gerne ansehen möchte. Sobald seine Mutter ihren Wagen zum Stehen gebracht hat, steigt er aus und betrachtet staunend das eindrucksvolle Auto. Die schwarzen Details des Wagens auf Dach, Felgen und Auspuffrohren, verleihen ihm eine sportliche Eleganz, die seinen Betrachter vollständig vereinnahmen. Als er den Innenraum wahrnimmt, in dem das kräftige Schwarz mit einem warmen Weißton kombiniert wurde, ist es vollkommen um ihn geschehen.
„Lass uns reingehen Kyle“, hört er seine Mutter sagen, die bereits mit Hannah an der geöffneten Eingangstür steht.
Es kostet ihn etwas Überwindung den Blick von dem Auto zu lösen und Mirai nach Drinnen zu folgen.
„Wem gehört das Auto?“, fragt Hannah, die den Wagen im Vorbeigehen ebenfalls begutachtet hat.
„Einem Freund. Sein Name ist Tekija.“
Neugierig auf den Besuch zieht sich Kyle schnell die Schuhe im hellen Eingangsbereich des Hauses aus und geht auf die Suche nach ihrem Gast. Sie ist kurz darauf beendet. Tekija war offenbar bereits auf dem Weg nach draußen, denn Kyle läuft ihm regelrecht in die Arme, als er die Küche ansteuert. Er hat sich fest vorgenommen ihn zu seinem Auto auszufragen, doch der Eindruck den er auf ihn hinterlässt, lässt ihn augenblicklich vergessen, was er sagen wollte. Was genau er empfindet, als er den Mann mit dem kontrollierten Gesichtsausdruck sieht, kann er nicht wirklich einordnen. Er weiß nur, dass er alles über ihn wissen will.
„Hallo Tekija“, begrüßt ihn Mirai, die sich unbemerkt neben Kyle gestellt hat.
„Entschuldigt die Störung. Ich wollte weg sein, bevor du mit den Kindern kommst.“
„Du weißt doch, dass du bei uns immer willkommen bist. Ist alles in Ordnung?“
Er beantwortet ihre Frage mit einem Nicken. „Einen schönen Abend“, wünscht er und geht anschließend an ihnen vorbei, um das Haus zu verlassen.
Als Kyle ihm dabei hinterher sieht, fällt ihm auf, dass auch Hannah in seinen Bann gezogen wurde. Die beiden Geschwister sehen sich verblüfft an.
Durch die Begegnung ist Kyle regelrecht entfallen, dass er nun seinen neuen Bruder kennenlernen soll. Umso befremdlicher wird für ihn die gesamte Situation, als es ihm wieder in den Sinn kommt.
Royce und sein Vater warten mit dem Jungen im Garten. Lässig sitzt Royce auf der Schaukel der Zwillinge und zieht an seiner Zigarette, während er die Szenerie aus dem Hintergrund heraus beobachtet. Cass hat es sich mit seinem Schützling auf der Loungegarnitur vor dem Haus bequem gemacht und lächelt seiner Familie zu, die von Mirai angeführt auf ihn zukommt.
Hannah beginnt zu rennen, als sie ihren Vater sieht und fällt ihm in die Arme.
„Hey Prinzessin, alles klar?“, fragt Cass mit einem warmen Lächeln auf den Lippen.
„Ja“, erwidert sie selbstbewusst und schaut zu dem Jungen. „Hallo. Ich bin Hannah.“
Der Junge betrachtet sie distanziert und schweigt.
Auch Kyle schweigt, als er sie erreicht hat. Cass zusammen mit dem Fremden zu sehen verhärtet den Widerstand in ihm noch weiter. Im Augenwinkel nimmt er wahr, wie sich seine Mutter hinter ihm auf die gegenüberliegende Seite der Loungegarnitur setzt.
Bedacht greift sie nach seiner Hand, um ihn zu sich zu führen.
Er lässt es geschehen, ohne den Jungen aus den Augen zu lassen und bleibt vor seiner Mutter stehen, die ihren Arm um seine Seite legt.
„Es ist alles okay mein Schatz“, flüstert sie ihm zu.
Cass setzt seine Tochter auf seinen Schoß und lehnt sich entspannt zurück, beobachtet seine Kinder dabei aber ganz genau, während Hannah seine neue Postion dazu nutzt sich an ihn anzuschmiegen und ihren neuen Bruder gespannt zu mustern.
„Und das ist Kyle. Er und Hannah werden dir dabei helfen dich so schnell wie möglich einzuleben“, erklärt Cass.
„Er will mich doch genau so wenig hier haben, wie ich hier sein will. Wie soll er mir dabei helfen?“, fragt der Junge verschlossen.
„Er benötigt noch etwas Zeit sich daran zu gewöhnen, genau wie du. Ich bin mir sicher, dass ihr euch gut verstehen werdet.“
Der bittende Blick, den Kyle von Cass zugeworfen bekommt, drängt ihn in eine Zwickmühle. Er möchte nichts mit seinem neuen Bruder zu tun haben, aber dafür umso mehr seinem Vater gefallen. Schweren Herzens nickt er, in der Hoffnung so die Bindung zu ihm weiter stärken zu können. Das darauffolgende dankbare Lächeln von Cass sorgt dafür, dass er sich gleich wieder etwas besser fühlt.
„Wir sind stolz auf dich“, flüstert ihm Mirai ins Ohr.
Trotz Kyles Einlenken, findet sich sein Bruder auch in den darauffolgenden Tagen nicht in seinem neuen Umfeld ein. Er versteckt sich meistens in seinem Zimmer, während die Zwillinge ihrem Alltag nachgehen. Nach der Schule verbringt Kyle den Nachmittag beim Football- und Kampfsporttraining, während Hannah sich im Wissenschaftsclub ausprobiert.
Da ihr Vater nach wie vor selten da ist, kommen die beiden von nun an noch mehr in den Genuss von Royce’ Anwesenheit. Zusammen mit Mirai versuchen sie weiterhin das Vertrauen des Familienneuzugangs zu gewinnen, der den Namen Niro erhalten hat. Es ist ein mühseliges Unterfangen, denn es zeigt sich mit der Zeit immer deutlicher, wie dickköpfig der junge Mann ist. Er schweigt nahezu ausschließlich, ist alleine wenn er alleine sein kann und geht auf keinerlei Interaktionen mit seinen Geschwistern ein. Dazu kommt, dass er nachts unzählige Fluchtversuche unternimmt, die jedes Mal von Royce und Mirai vereitelt werden müssen.
Kyle wacht in einer der Nächte durch Royce’ Stimme auf, in denen sein Bruder erneut versucht hat das Haus unerlaubt zu verlassen. Er versteht nicht direkt was gesagt wird, doch er weiß auch so, dass sich die geduldige Tonlage an Niro richtet und kann sich ungefähr vorstellen, was zu ihm gesagt wird. Sobald seine Stimme nicht mehr zu hören ist und Kyle sich sicher ist, dass sich Royce nicht mehr in seiner Nähe befindet, fasst er sich ein Herz und wechselt das Zimmer. Er findet Niro in der breiten Fenstersitzbank wieder, der mit angezogenen Knien raus auf den dunklen See schaut. Er umarmt dabei seine Beine und hat den Kopf auf seinen Knien abgelegt.
Leise schließt Kyle die Tür, läuft durch den schwach beleuchteten Raum und setzt sich zu ihm in die andere Seite des Fensters.
„Wie ist es dort, wo du herkommst?“, fragt Kyle ehrlich interessiert.
So wie immer, wenn er versucht auf Niro einzugehen, erhält er keine Antwort.
„Stört es dich, dass du einen neuen Namen von meinen Eltern bekommen hast und nicht Niyol genannt wirst? Das ist doch dein richtiger Name, oder?“
Auch diese Frage kann kein Gespräch zwischen ihnen anstoßen. Enttäuscht seufzt Kyle leise und betrachtet nachdenklich den schweigsamen Jungen. Ihm fällt auf, dass seine Augen langsam zu glitzern beginnen, bis große Tränen über seine Wangen nach unten kullern. Da er dabei seine Position nicht verändert, rutscht Kyle zu ihm, schmiegt sich an seine Seite und legt seinen Arm um ihn.
Kurz darauf versteckt Niro sein Gesicht in seinen Knien und fängt an zu schluchzen.
Mitfühlend streichelt ihm sein neuer Bruder dabei über den Rücken und ist einfach nur für ihn da.
„Ich will doch nur nach Hause“, bringt Niro leise hervor.
„Das bist du doch schon“, entgegnet Kyle tröstend.
Immer wieder nickt Royce auf dem Sofa ein, während im Fernsehen eine Dokumentation über Tierwelten läuft, die sich Niro fasziniert ansieht. Er hat es sich gegenüber von Royce auf dem zweiten Sofa bequem gemacht und starrt gebannt auf den Bildschirm.
Durch Niros immer noch andauernde Fluchtversuche, schläft Royce mittlerweile tagsüber mehr als nachts.
Ohne die Augen zu öffnen tastet er erfolglos neben sich nach seinem Smartphone. Widerwillig überfliegt er daraufhin seine Umgebung mit zusammengekniffenen Augen. Da er es immer noch nicht finden kann, richtet er sich gähnend auf und überlegt wo er es zuletzt gebraucht hat. Er entscheidet sich dafür in der Küche nachzusehen. Seine Müdigkeit verschwindet wie von selbst, als er auf dem Weg dahin nach draußen sieht und erschrocken feststellt, dass der Tag bereits weit fortgeschritten ist. Er schnappt sich sein Smartphone von der Arbeitsplatte und sieht bedrückt auf das Display, das mehrere verpasste Anrufe von seinem Vater und Cass anzeigt. Sofort versucht er seinen Vater zurückzurufen und sieht dabei besorgt zu Niro.
„Kleiner, wir müssen los. Ich muss dich nochmal zu den Ärzten bringen.“
Auch wenn er seinen Schützling ungerne zu seinem Vater bringt, damit er weiter an ihm Tests durchführen kann, wollte er den Termin, den er heute gehabt hätte, auf keinen Fall verpassen. Jeder Verstoß, gegen die Abmachung mit Jack, könnte dafür sorgen, dass Niro der Familie wieder weggenommen wird.
Frustriert über den unbeantworteten Anruf legt er wieder auf.
Erst jetzt nimmt er den ängstlichen Blick wahr, den Niro ihm zuwirft. Er geht schnell zurück und setzt sich zu ihm. „Ich weiß, du willst da nicht hin. Das kann ich absolut verstehen. Aber wenn wir das nicht machen, dann kann es passieren, dass du nicht mehr hier bleiben darfst.“
„Bitte nicht heute“, fleht Niro ihn an.
„Wir sind schon viel zu spät dran, weißt du? Ich bleibe bei dir, in Ordnung? Dann sind wir schnell wieder hier und können die Doku weiter gucken.“
Angespannt steht Niro auf und schüttelt den Kopf.
Die Mischung aus Angst und Wut in seinem Blick, trifft Royce stärker, als ihm lieb ist.
Der melodische Ton der Klingel kündigt unerwarteten Besuch an und lässt Royce’ das Schlimmste befürchten. „Warte hier, ich geh gucken wer das ist“, sagt er angespannt. Mit jedem Schritt, den er auf die Eingangstür zu geht, hofft er inständig, dass draußen keiner von Jacks Leuten steht, um Niro abzuholen.
Der in der Wand eingelassene Monitor an der Eingangstür zeigt Tekija, der gemeinsam mit zwei weiteren Männern vor dem Tor des Hauses steht.
Obwohl er geglaubt hat, dass er sich auf alles eingestellt hat, bringt es ihn zusätzlich aus der Fassung, Tekija unter diesen Umständen zu sehen. Das letzte Mal, als er an diesem Ort war, hat er versucht, Royce davon zu überzeugen sich wieder mit seinem Vater zu vertragen, was er dankend abgelehnt hat.
Nachdem er sich dazu überwunden hat das Tor zu öffnen, dreht er sich zu Niro um, der ihn vom anderen Ende des Raumes ängstlich beobachtet. „Wie’s aussieht wirst du jetzt abgeholt“, erklärt Royce schuldig.
„Lass nicht zu, dass die mich mitnehmen! Ich will hier bei dir bleiben Royce! Bitte!“
„Ich will das für dich auch nicht. Es tut mir leid“, entgegnet Royce entrüstet. Die gesamte Situation widert ihn an. Er kann sich nur zu gut vorstellen, was Niro von ihm halten muss und macht sich deswegen weitere Vorwürfe.
Das eindringliche Klopfen an der Tür unterbricht den Blickkontakt der beiden.
Die Angst vor dem was passieren wird, wenn er seinen Bruder ignoriert, lässt Royce die Eingangstür öffnen.
„Warum hast du ihn nicht gebracht?“, fragt Tekija geduldig, der alleine vor dem Haus steht.
„Ich bin eingeschlafen“, erklärt Royce peinlich berührt.
„Was ist los mit dir? Du machst dir absichtlich deine Familie zum Feind und wirst jetzt auch noch nachlässig?“
„Tu doch nicht so, als würdest du mich wirklich kennen.“
„Wenn du mich nur lassen würdest“, entgegnet Tekija ohne dabei Gefühle einfließen zu lassen. „Darf ich reinkommen?“
Royce muss sich zwingen zur Seite zu gehen. Er sieht über seine Schulter nach dem Jungen, der mit Tränen in den Augen aus dem Wohnbereich zu ihm sieht.
Achtsam schließt Tekija die Tür hinter sich und betritt anschließend den Wohnbereich.
„Ich kann’s nicht fassen, dass du dich da einmischst“, wirft ihm Royce vor.
Er verfolgt seinen Bruder, der bereits bei Niro angekommen ist, welcher sich nicht vom Fleck bewegt hat. Er hat Tekija erstarrt fixiert, wie ein Reh, das auf der Straße von einem Autoscheinwerfer erfasst wird und sich nicht mehr rühren kann.
„Ich will nicht mit ihm mitgehen“, hört er den Kleinen verzweifelt sagen.
„Ich lasse dir die Wahl. Entweder du kommst so mit, oder ich trage dich raus. Entscheide du“, legt Tekija fest.
Niros Ausdruck verhärtet sich. Ohne die Männer noch einmal anzusehen, nickt er kaum wahrnehmbar.
Zufrieden verlässt Tekija mit ihm das Haus, nachdem er Royce einen bedeutungsschweren Blick zugeworfen hat.
Sanft fällt die Tür ins Schloss und schneidet Royce von der Außenwelt ab. Die Stille, die sich daraufhin im Raum ausbreitet, erdrückt ihn zusammen mit den unzähligen Gedanken, die ihm durch den Kopf schießen. Unter schweren Schuldgefühlen ruft er Cass an. Ihm ist klar, dass er die gesamte Situation unwiderruflich verschlechtert hat. Er erklärt ihm kurz was passiert ist, worauf er von Cass das Versprechen erhält, dass er Niro nach der Arbeit abholt. Auch wenn er am Telefon nichts wegen der Sache zu ihm sagt, geschweige denn sich etwas anmerken lässt, weiß Royce, dass er deswegen noch zusätzlichen Ärger bekommen wird.
Kurz nach dem Gespräch kommt Mirai mit den Zwillingen nach Hause. Um die beiden nicht auch noch zu belasten, gibt er sich die größte Mühe die vergangenen Ereignisse auszublenden. Er hilft Mirai die Kinder nach dem Abendbrot ins Bett zu bringen und findet sich anschließend mit ihr auf dem Sofa wieder. Da sie bereits von Cass informiert wurde, erklärt er seine Sicht auf die Dinge und bittet niedergeschlagen um Entschuldigung.
Zu seiner Überraschung wird er liebevoll umarmt.
„Du lastest dir zu viel auf. Manchmal passieren solche Dinge einfach. Jetzt liegt es an uns Niro zu helfen, als zu bereuen was passiert ist.“
Nachdenklich über ihre Worte nickt er und entspannt sich etwas, obwohl ihn das Vergangene weiterhin bewegt. Um seine Gedanken besser ordnen zu können, geht er nach draußen, um zu rauchen.
Die sanfte Beleuchtung der Außenanlage, die das kräftige Grün der Pflanzen und das kühle Türkis des Pools betont, helfen ihm zusätzlich zurück in den Moment zu finden. Der laue Wind wirkt beruhigend auf Royce, sodass er sich bereits gefangen hat, bevor seine Zigarette aufgebraucht ist. Er geht ein paar Schritte und setzt sich danach auf die Schaukel, von der aus er das Haus mit seiner glatten grauen Fassade betrachtet.
Cass erscheint kurz darauf, mit dem Jungen auf dem Arm, in den großen Fenstern. Der Kleine scheint zu schlafen.
Durch diesen Anblick findet die Nervosität zurück in Royce’ Sinne und lässt ihn eine zweite Zigarette anzünden. Dank der breiten Glasfront kann er beobachten, wie Cass den Kleinen in sein Zimmer bringt und nach einem kurzen Gespräch mit seiner Frau, zu ihm nach draußen geht.
Er setzt sich auf die zweite Schaukel neben ihm und richtet seinen Blick ebenfalls auf das indirekt beleuchtete Gebäude.
„Cass, es tut mir leid“, beginnt Royce, wird jedoch durch ein Kopfschütteln von seinem Gesprächspartner unterbrochen.
„Es wäre unfair, wütend auf dich zu sein oder dir die Schuld für irgendwas davon zu geben. Es war meine Entscheidung Niro bei uns aufzunehmen. Du bist nicht sein Vater, übernimmst diese Rolle aber bereits teilweise und das nicht nur für ihn. Dafür bin ich dir wirklich dankbar. Ich weiß, dass ich viel mehr Zeit zu Hause verbringen müsste, aber das kann ich im Moment nicht.“
„Also gibst du dir die Schuld?“
„Ich muss mit den Konsequenzen meiner Entscheidungen leben. Die Frage nach der Schuld stellt sich für mich dabei nicht.“
Erstaunt über diese Worte, richtet Royce seinen Blick auf Cass. Ihm wird immer bewusster, dass er ohne Ärger aus der Sache mit Niro herauskommt. Dadurch kann er sich vollständig seinem Freund widmen. „Wenn du das so sagst, dann klingt das sehr bedeutungsschwer. Ist alles in Ordnung?“
„Bevor ich dir diese Frage beantworte, möchte ich dich bitten, dass du dich mit deinem Vater aussprichst. Ihr müsst das was da zwischen euch ist bereinigen. Das tut euch beiden nicht gut“, erklärt Cass und sieht ihm anschließend in die Augen.
Eine direkte Aufforderung sich mit seinem Vater zu versöhnen, war das Letzte, das er nun erwartet hat.
„Ich weiß nicht, ob ich das kann.“
„Versuch’s bitte. Ich mache mir Sorgen, denn ich weiß nicht wie lange er sich das noch gefallen lässt.“
Wieso Cass gerade in diesem Moment mit dem Thema anfängt ist ihm schleierhaft, weswegen er genau überlegt was passiert sein könnte, bevor er antwortet. Er geht stark davon aus, dass es für Cass kein leichtes Unterfangen war Niro zurück nach Hause zu bringen. Doch das alleine kann nicht zu solchen Spannungen zwischen Jack und ihm führen, sodass Royce’ Beziehung zu seinem Vater ebenfalls eine Rolle spielen würde. „Tekija hat deswegen auch schon mit mir gesprochen. Wieso wird das ausgerechnet jetzt so ein wichtiges Thema?“
„Das Umfeld deines Vaters verändert sich zur Zeit stark. Es würde ihm gut tun, wenn er dich an seiner Seite wüsste.“
„Wieso willst du ihn stabilisieren? Du stehst doch selber nicht hinter ihm.“