Koks im Kiel - Axel Ulrich - E-Book

Koks im Kiel E-Book

Axel Ulrich

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Beschreibung

Mordsschreck für Franz Walzer. Sein ehemaliger Partner André meldet sich: Sie sind mit einer Rennjacht mitten auf dem Atlantik auf einen treibenden Container geknallt und Päckchen mit weißem Pulver tauchten an der Wasseroberfläche auf – Kokain. Was tun? Polizei – könnte korrupt sein. Sie identifizieren und verfolgen ihren Gegner, einen selbst ernannten Drogenbaron aus Stuttgart. Dann aber taucht abgezweigtes Kokain auf dem Markt zum Sonderpreis auf, eine Geisel sitzt in einem Bunker in den Rheinauen, André schießt sich ins Bein, Walzers Schwiegersohn in spe landet in einem thailändischen Knast und es kreuzen auch noch zwei Killer auf. Franz Walzer weiß gar nicht, wo er anfangen soll.

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Axel Ulrich

hat in den ersten Jahren seiner beruflichen Laufbahn als Wirtschaftsjournalist und Unternehmensberater gearbeitet und sich 1982 in der IT-Branche selbstständig gemacht. Eigentlich wollte er nur einmal ein Buch schreiben, um zu sehen, ob er das kann. Dieser Versuch hat ihn dann gepackt und er konnte nicht mehr aufhören.

Ich habe zu danken …

… dem Rechtsanwalt Helmut Becker, der zum wiederholten Mal das ganze Buch daraufhin gecheckt hat, ob das juristisch so alles hinhaut. 

… meinem Lektor Bernd Weiler, mit dem die Arbeit ein reines Vergnügen ist. Das läuft wie geschmiert. Der sagt mir auch ganz offen, welche Textstellen ich besser weglassen sollte.

… und natürlich meiner Liebsten, Marlies Gerson, die das doch zweifelhafte Vergnügen hat, alle meine bisherigen Bücher im Schnitt fünf Mal gelesen zu haben.

Axel Ulrich

KOKS IM KIEL

Krimi

Oertel+Spörer

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2022Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen

Alle Rechte vorbehalten.Titelbild: © iStock by Getty Images

Gestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, Reutlingen

Lektorat: Bernd Weiler

Korrektorat: Sabine Tochtermann

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-96555-131-2

Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

Nebel

Franz Walzer sitzt auf seinem luxuriösen Eames-Bürostuhl. Dieses Möbel hat er sich irgendwann gekauft, weil er beschlossen hat, dass es wenigstens was Teures sein sollte, wenn er schon so oft darauf sitzen muss. Mittlerweile hat er eingesehen, dass manche andere billiger, besser und bequemer sind. Je älter er wird, desto weniger wichtig werden ihm materielle Dinge. Es ist früher Morgen, er hat jetzt ungefähr eine halbe Stunde völlig ohne Sinn und Verstand im Internet herumgedaddelt, sich die Online-Ausgabe der Bild-Zeitung reingezogen, die Online-Ausgabe des Spiegels mit den gemurmelten Worten kommentiert, dass das früher auch mal besser gewesen sei. Da hört er Schritte auf der Metalltreppe, die außen an dem Gebäude in den ersten Stock auf eine Terrasse führt, hinter der sein großzügiges Werftbüro liegt. Er wohnt mit Lena, seiner langjährigen großen Liebe, noch einen Stock höher. Er schaut raus, sieht nur Nebel. Es ist November, der Monat, über den ihm ein Schwede mal gesagt hat, man könne ihn von ihm aus ruhig aus dem Kalender streichen.

Der Franz Walzer besitzt eine Bootswerft am Bodensee, die so gut wie kein Geld verdient, was sie auch nicht muss. Er ist ein ehemaliger Anwalt, der mit allerlei auch leicht krummen Geschäften zu einigem Wohlstand gekommen ist. Die Werft ist ein alter Traum von ihm, den er sich irgendwann erfüllt hat. Heute ist es noch nebliger als die Tage davor, vom See sieht er gerade noch die ersten paar Meter, danach ist alles nur noch eine grau-weiße Suppe. Selbst am Ende der Terrasse, da, wo die Treppe endet, wabern Nebelschwaden, aus denen sich jetzt eine Figur herausschält, die zielstrebig auf die Bürotür zusteuert. Es ist ein Mann, er drückt die Türklinke runter, aber die Tür geht nicht auf, ist noch verschlossen. Der Franz steht auf, geht zur Tür, schließt sie auf und öffnet sie. Er erkennt in dem Moment seinen ehemaligen Partner.

»André, dich habe ich ja schon ewig nicht mehr gesehen. Mein Gott, das muss fünf Jahre her sein oder länger.«

»Franz, acht Jahre, um genau zu sein. Das letzte Mal haben wir uns in Konstanz auf der Marktstätte getroffen.«

»Erzähl mal, was machst du so?«

»Ach, alles Mögliche. Juristische Beratung für schwere Fälle. Genau genommen geht es nicht nur um schwere Fälle, sondern manchmal auch um schwere Jungs.«

»Setz dich erst mal. Magst du einen Kaffee mit mir trinken?«

André nickt.

»Ich schlag mich halt so einigermaßen durch, um ehrlich zu sein. Als ich aus dem Knast raus war, da habe ich mir noch einiges eingebildet, aber mittlerweile bin ich doch ziemlich desillusioniert. Ein ehemaliger Anwalt, der im Knast war, der hat es bei den seriösen Leuten nicht so einfach.«

»Na gut, ich habe meine Zulassung auch nur deshalb freiwillig abgegeben, weil die sie mir sonst kurz danach unfreiwillig abgenommen hätten.«

»Du hast aber den Vorteil gehabt, dass du nebenher immer die Immobiliengeschäfte gemacht hast, die dir letztlich das Genick gebrochen haben. Und die konntest du völlig ungestört weiter betreiben.«

»Das stimmt schon. Mich haben sie ja auch nur wegen einer Lappalie auf dem Kieker gehabt. André, du hättest mich nicht zum Vorbild nehmen sollen.«

André seufzt tief. »Da hast du vermutlich recht. Also bist eigentlich du schuld.«

Beide lachen herzlich.

»Franz, ich bin schon selbst schuld. Konnte damals nicht genug bekommen. Meine Ex-Frau hat die Kohle mit beiden Händen aus dem Fenster geworfen und ich kam mit dem Nachschub kaum hinterher. Irgendetwas in mir hat gewusst, dass sie hauptsächlich deshalb bei mir geblieben ist und ich war so wahnsinnig verknallt in sie, dass ich ums Verrecken verhindern wollte, dass sie abhaut. Habe damals sogar an Suizid gedacht.«

»André, du kennst doch meinen Wahlspruch. Wegen Frauen oder Kohle erschießt man sich nicht.«

»Ich bin dir dankbar. Du hast ja versucht, mir zu helfen. Aber damals war ich derart durch den Wind, dass ich das alles versaut habe. Wenn dir irgendetwas über den Weg läuft, was für mich geeignet wäre, dann würde mich das freuen. Ich könnte es ganz gut gebrauchen. Zum Glück hast du mir ja damals einen Teil des Geldes, das ich noch hatte, so gewaschen, dass ich noch Reserven habe. Verhungern muss ich also nicht. Und ab und zu läuft mir auch irgendeine Beratungssache zu, aber das sind immer sehr heikle Situationen, in denen irgendeiner ziemlich viel Mist gebaut hat und Ratschläge braucht, die ihm ein aktiver Anwalt gar nicht geben dürfte. Da komme ich dann ins Spiel. So richtig schlecht geht es mir nicht. Die letzten paar Jahre habe ich in Stuttgart gewohnt, aber jetzt bin ich wieder hier in der Gegend. Ich wohne auf der Reichenau. Habe meinen Liegeplatz und das Boot zum Glück noch immer und du weißt ja, wie wichtig mir die Segelei ist. Und da habe ich eben gedacht, ich besuche den Franz mal, wenn ich wieder in der Nähe wohne. Vielleicht fällt von dessen reich gedecktem Tisch auch ab und zu mal etwas für mich ab.«

»Ich habe jetzt Hunger. Lena ist nicht da, und ich habe noch nichts gefrühstückt. Da vorne ist ein Café. Kommst du mit?«

Natürlich kommt André mit. Sie quatschen noch zwei Stunden miteinander, verzehren dabei ein paar Croissants und trinken einige Tässchen Kaffee.

Gernbach ist vor knapp zwanzig Jahren in Walzers damals ein Jahr alte Kanzlei mit eingestiegen. Nach den Staatsexamen und der Referendarzeit hat Franz noch zwei Jahre in einer größeren Anwaltssozietät gearbeitet und irgendwann natürlich mit seinem Chef Krach gekriegt, weil er in mehreren Punkten eine völlig andere Meinung hatte. Dann hat er sich selbstständig gemacht. Franz ist ein mutiger Typ, und er schaut auch immer ziemlich unbekümmert in seine Zukunft. Das ist damals nicht anders gewesen. Nur leider sind die erhofften Mandate doch ziemlich ausgeblieben und ihn drückten die Kosten für die Anwaltsgehilfin und die Räumlichkeiten. Und so ist ihm André Gernbach damals wie gerufen gekommen.

Das war eine Zeit, zu der die Handwerker abends am Stammtisch noch mit ihren Schwarzeinnahmen prahlten. Zwar auch schon nicht mehr so wie noch mal zwanzig Jahre früher, aber man traute sich immerhin noch, das Maul aufzureißen. Walzer hat damals recht großzügig Unternehmen beim Im- und Export größerer Mengen Geldes geholfen. Den Transport hat er schon über den See bewerkstelligt und auf die Art und Weise auch viele schöne Mandate bekommen.

Gernbach schaute zu und wurde neidisch, auch weil seine frischgebackene, sehr attraktive Ehefrau materiellen Freuden aufgeschlossen gegenüberstand. Er hatte dann einen größeren Drogendealer als Mandanten, und da hat er gedacht, was der Walzer könne, das könne er auch. Franz hat ihn viele Male gewarnt, Drogengeld zu waschen sei eben völlig anders als irgendwelchen Unternehmern geerbtes Geld von der Bank in Zürich oder in Kreuzlingen abzuholen, über den See zu schippern und es mit ein paar Immobilien oder anderen Geschäften, wieder weiß zu waschen. Walzer hat trotz seiner riskanten Geschäfte immer noch so etwas wie Vorsicht walten lassen und sich sehr genau angesehen, für wen er tätig war. Er ist nie das Risiko eingegangen, erwischt zu werden. Über André Gernbach hingegen wusste jeder, wen der als Mandanten hat und dass er für den noch andere Dienstleistungen übernommen hat, die nicht so ganz mit den Standesregeln eines Anwalts zu vereinbaren waren. Als der Dealer dann aufflog, petzte er und sie hatten André ziemlich schnell am Schlafittchen. Er fuhr ein. Drei Jahre hat er bekommen, von wegen Ersttäter und so. Soweit Walzer wusste, ist er noch ein paar Jahre in Spanien und in Argentinien gewesen, dann nach Stuttgart gezogen.

André ist ziemlich groß, fast eins neunzig und hat etwas zugelegt. Früher war er schlank, jetzt ist da ein deutlicher Bauchansatz. Er ist blond mit welligen Haaren, hat so ein bisschen ein kindliches Gesicht. Walzer musste früher bei ihm immer an den Tim von Tim und Struppi denken.

»Und was hast du jetzt vor?«

»Bin immer noch auf der Suche nach der genialen Idee. Ich bin da ja so ein bisschen ähnlich wie du, am liebsten würde ich irgendwas mit Booten machen. Du weißt, dass ich schon damals über eine Segelschule nachgedacht habe, aber wenn ich mir dann angeschaut habe, was die so den ganzen Tag machen, dann habe ich die Finger davon gelassen. Es müsste schon irgendwas Spannenderes sein.«

Als Walzer später wieder die Treppe zu seinem Büro hochsteigt und hinein geht, denkt er noch eine Weile über den André nach. Er hat ganz vergessen, ihn zu fragen, ob er alleine lebt oder wieder eine Frau oder eine Freundin hat. Er hat seine Telefonnummer und weiß, wo er wohnt, er wird ihn in der nächsten Zeit mal besuchen. Ist schon ein netter Kerl, hat bloß als Berufsanfänger mal etwas mehr Risiko auf sich genommen, als ihm gutgetan hat. Wenn Walzer sich fragt, ob ein ganzes Leben nur als Anwalt in der Provinz so aufregend ist, dann ist er sich auch nicht mehr so ganz sicher. Er muss nur an die zahllosen Autounfälle, die Scheidungen, die Mahnverfahren und das ganze sonstige Brot- und Buttergeschäft eines Anwalts denken, dann weiß er, dass das auch nicht das berühmte Gelbe vom Ei ist. Das Leben von André ist so zumindest aufregend gewesen. Er muss das beim nächsten Treffen dem André mal klarmachen. Und so ganz ärmlich kommt er ja auch nicht daher, wenn er sich seine neue Adresse anschaut.

Liebeskummer

Der Franz freut sich. Lenas Tochter Lisa ist jetzt vierundzwanzig, und hat, entgegen dem Ratschlag so ziemlich ihrer gesamten Umgebung in Kiel Schiffbau studiert, und den Masterabschluss gemacht. Sie war drei Jahre lang mit einem Mitstudenten liiert, aber diese Beziehung ist vor einem Vierteljahr von ihm ziemlich abrupt beendet worden, da er sich in eine andere verguckt hat. Sie wollte eigentlich in Kiel bleiben, war aber danach so kreuzunglücklich, dass sie beschlossen hat, sobald wie möglich von dort zu verschwinden. Lena hätte nie gedacht, dass sie wieder zurückkommt. Als sie am Telefon vor zwei Monaten heulend gesagt hat, sie wolle wieder nach Hause, war Lena total überrascht.

Heute Nachmittag würde sie ankommen und Lena ist gerade zu einem Großeinkauf unterwegs, kommt wohl demnächst mit einem Container voller Lebensmittel nach Hause, um die Rückkehr des Kükens mit einer Küchenorgie zu feiern.

Lisa ist schon als Kind immer mit Walzer und Lena mitgesegelt. Das hat ihr gut gefallen und sie haben ihr dann irgendwann einen Optimisten gekauft. Das ist so ein kleines Segelboot für Kinder, und sie ist in der Optimistengruppe ihres Segelvereins gewesen. Etwas später fing sie dann an, Regatten zu segeln. Walzer musste feststellen, dass sie ein natürliches Gefühl für Wind und Wasser hatte und nach anfänglichen Schwierigkeiten meistens wusste, auf welcher Seite man am besten startet und auf welcher Seite man bleibt – sie hatte einfach Talent. Später ist sie dann in größere Boote umgestiegen und hat es natürlich auch in ihrer Zeit in Kiel weiter betrieben. Lisa ist total angefressen, wie man so sagt. Walzer erfüllt das mit einem gleichsam väterlichen Stolz. Sie haben ihr allerdings zunächst von dem Studium abgeraten, aber da sie stur ist wie ihre Mutter, hat sie sich nicht davon irritieren lassen.

Zunächst mal würde sie bei ihnen wohnen, genug Platz hatten sie ja. Aber sie hat schon gesagt, dass sie sich alsbald eine Bleibe in der Nähe suchen werde. Fürs Hotel Mama sei sie einfach zu alt und zu sehr an ihre Eigenständigkeit gewöhnt.

Ein paar Stunden später ist sie dann da, geht mit Walzer in die große Werfthalle. Lisa war zum letzten Mal vor knapp einem halben Jahr da.

Lisa will zusätzlich zu ihrem Studium noch eine stark verkürzte Bootsbauer-Ausbildung in einer Werft in der Nähe machen.

»Franz, vielleicht steige ich später mal hier ein.«

»Wirklich? Habe immer gedacht, dich zieht’s in so ein Designbüro, wo sie Racer konstruieren oder so was. Aber dass du hier einsteigen möchtest, darauf wäre ich nie gekommen. Deswegen habe ich auch nicht gefragt. Natürlich würde mir das gefallen, wenn du den Laden irgendwann übernehmen würdest. Wüsste nicht, wer das sonst machen sollte. Ich bin jetzt Mitte fünfzig, und dein Mütterchen ist ja ein paar Jahre jünger. Spätestens in zehn oder fünfzehn Jahren hätte ich mir die Frage stellen müssen, was ich damit machen soll. Das Problem ist, dass das Grundstück hier derart wertvoll ist, dass es vermutlich keine andere Werft oder keinen Bootsbauer gibt, der sich das leisten kann und daher würde eher eine Immobilienfirma zum Zuge kommen, die hier Wohnungen draus macht. Ich kann es ja auch schlecht verschenken. Also ich kann schon, aber wenn, dann nur an jemanden der mir wirklich nahe steht.«

»Ja Franz, wir stehen uns schon ziemlich nahe, gell?«

Sie grinst ihn an.

»War auch nicht immer so, so als ich vierzehn war, ab da wurde es ein wenig schwierig, oder?«

»Nein Lisa, wirklich schwierig war das nie, da gibt es ganz andere.«

Er legt den Arm um sie und führt sie aus der Halle raus, sagt ihr auf der Treppe noch, dass er sie sehr lieb habe, und sie versichert ihm, das beruhe ganz auf Gegenseitigkeit.

Lena ist am Kochen wie eine Wilde und sie haben einen sehr schönen Abend. Lisa schimpft ein bisschen auf den Drecksack, der sie wegen einer anderen verlassen habe und Walzer bestätigt ihr, dass er das schon mal aus rein optischen Gründen überhaupt nicht verstehen könne, dass so jemand wie sie verlassen würde.

Lisa ist eins fünfundsiebzig, schlank aber keine Bohnenstange, brünett, halblange Haare, etwas dunkelhäutig wie ihre Mutter. Ähnelt ihr auch sonst. Walzer findet sie sehr attraktiv.

»Wie lange ist es jetzt her, dass er Schluss gemacht hat?«, fragt er.

»Ziemlich genau zwei Monate.«

»Ihr wart mehr als drei Jahre zusammen. Tut es noch sehr weh?«, will Lena wissen.

»Es wird langsam besser. Vor ein paar Tagen hat mich ein ehemaliger Student von der Fachhochschule im Supermarkt in Kiel angesprochen und ich habe tatsächlich zehn Minuten mit ihm geredet. Ist ein netter Kerl aus der Gegend hier. Er will mich in nächster Zeit mal treffen. Denkt euch, ich freue mich sogar drauf. Ich glaube, ich bin schon ziemlich darüber weg.«

Regatta

André Gernbach wohnt jetzt auf der Insel Reichenau. Er hat sich die Dachwohnung in einem Dreifamilienhaus gemietet. Ist nicht ganz billig, aber das gönnt er sich – fast hundert Quadratmeter mit einem sehr großen Wohnzimmer und zwei kleineren Zimmern. Er hat sogar Seeblick.

Da sitzt er am PC und grübelt. Grübelt über einen Mandanten, der sich ziemlich schlimm in die Nesseln gesetzt hat – ein Bauunternehmer, der einfach nicht von seiner jahrzehntelang geübten Praxis lassen konnte, immer einen Teil schwarz einzunehmen und den dann in der gleichen Farbe an die Handwerker weiterzureichen. Einer von denen hat es so ungeschickt angestellt, dass er bei einer Steuerprüfung auffiel und danach hat er ihn verpetzt. Sie haben seine gesamte Buchhaltung auseinandergenommen und behaupten, er habe eine Menge Geld an der Steuer vorbei geschleust. Zwei Käufer von Wohnungen haben zugegeben, dass er einen Teil schwarz angenommen hat, und jetzt hat er André angeheuert, um herauszufinden, ob es irgendeine Strategie gibt, die ihm den Hals retten könnte. Der Anwalt seines Kunden hat dem geraten, alles zuzugeben aber es ist so viel, dass er dabei Gefahr läuft, im Knast zu landen, und André soll einen Weg finden, um zumindest das zu vermeiden. Andrés Büro ist voll mit Ordnern seines Kunden. Aber ihm fällt bisher nichts ein – noch nicht.

Er ist frustriert, lenkt sich ab, indem er anfängt, im Internet zu verschiedenen seglerischen Themen zu recherchieren. Dabei stößt er auf die Seite einer Holländerin, die Leuten anbietet, an weltbekannten großen Segelregatten in England, in Spanien und in Italien gegen Bezahlung teilzunehmen. Das interessiert ihn natürlich. Er hat schon mal gehört, dass es so etwas gebe. Schaut sich noch eine Stunde weiter nach dem Thema um, dann ruft er die Holländerin einfach an. Er fragt sie unverblümt, ob sich das denn lohnen würde, und sie erzählt ihm, dass sie es seit zwei Jahren betreibe und mittlerweile sogar einigermaßen davon leben könne. Er sagt ihr geradeheraus, dass er überlegt, auch in dieses Geschäft einzusteigen und sie erzählt ihm, dass ihr das gar nicht recht wäre, zwei Drittel ihrer Kunden seien nämlich aus Deutschland. In dem Moment, in dem sie kapiert, dass er zu ihr in Konkurrenz treten könnte, verändert sich ihr Ton leicht, aber sie sagt ihm ganz offen, dass er wahrscheinlich auch Schwierigkeiten haben werde, ihre jetzigen Kunden von ihr abzuwerben. Sie würde das nun mal ziemlich gut machen. Sie diskutieren, ob es nicht einen anderen Weg zum beiderseitigen Nutzen gäbe.

Nach einer Stunde fällt ihm auf, dass er ihr seine halbe Lebensgeschichte erzählt und auch ihre angehört hat. André Gernbach, der Schlingel, hat sich natürlich in der Zwischenzeit weiter auf ihrer Webseite umgesehen und ein Foto von ihr gefunden, auf dem ihm nicht nur das Segelboot im Hintergrund gut gefällt, sondern auch sie. Sie erzählt ihm, dass ihre Webseite ziemlich hohe Zugriffszahlen aus Deutschland und ganz Europa habe und dass dies ein Ergebnis von zweijähriger intensiver Arbeit an der Qualität der Suchergebnisse ihrer Webseite unter anderem bei Google sei. Sie würde mittlerweile sehr gut gefunden und er müsste sich schon darauf einstellen, dass das für ihn mühsam würde, wenn er gegen sie anträte.

André versteht einiges von IT und Internet und bestätigt ihr, dass er weiß, was das bedeutet. Irgendwann fragt sie ihn, was er denn am liebsten machen würde, wenn er es sich völlig frei aussuchen könne. Er antwortet, er sei jetzt Mitte vierzig, habe schon alles Mögliche gemacht, und wenn er könnte, wie er wollte, dann würde er am liebsten möglichst viel segeln gehen, und zwar am liebsten Regatten. Sie macht eine Pause und fragt ihn dann, ob er ein bisschen Geld übrig habe. Das bestätigt er mit dem Hinweis darauf, dass der Begriff ein bisschen ziemlich vage sei und fragt, warum sie das wissen wolle. Da sagt sie, sie hätte da einen etwas betagten Volvo Ocean Racer an der Hand, den könnte er kaufen oder chartern.

Das Volvo Ocean Race ist eine Segelregatta, die in Etappen einmal um die Welt führt. Heißt heute anders, The Ocean Race. Dann könne er doch seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen und sie ihm die Kunden vermitteln. Sie sei nämlich aktuell in der Situation, dass sie mehr Anfragen als Angebote habe, da im letzten Jahr zwei der Anbieter ausgestiegen seien. Das wiederum bringt ihn zu der Frage, ob man so etwas denn einigermaßen erfolgreich betreiben könne. Sie schildert ihm darauf die Kalkulation eines Polen, der mit diesen Regattateilnahmen im Sommerhalbjahr etwa zweihunderttausend Euro Einnahmen generieren würde, denen knapp hunderttausend an Kosten gegenüber stünden. Manche nähmen dann noch die Wintersaison in der Karibik mit, damit sei das Ganze noch zu steigern.

»Und was kostet der Dampfer?«, fragt er.

»Der Verkäufer verlangt zweihunderttausend Dollar. Da es aber nicht allzu viele potenzielle Käufer für solche Kähne gibt, denke ich, dass du ihn ziemlich weit runterhandeln kannst. Solche Dinger werden für etwa zehntausend für ein bis zwei Wochen verchartert. Aber ich kann mir vorstellen, dass du ihn für eine ganze Saison für viel weniger bekommst. Momentan liegt er in Antigua rum, und kostet natürlich laufend irgendwelches Geld, und der Eigner wäre ihn lieber heute als morgen los«, sagt sie mit ihrem niedlichen holländischen Akzent.

»Du, das kommt jetzt alles ziemlich plötzlich, aber es würde mich im Prinzip reizen. Ich muss mal darüber nachdenken. Lass uns doch in den nächsten Tagen noch mal telefonieren. Es hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen und ich melde mich bei dir.«

André ist völlig aufgekratzt, als er das Telefon zur Seite legt. Aber trotz allem kommt jetzt erst mal die Pflicht. Er macht sich sofort wieder an sein Problem mit dem Bauunternehmer. Dieses Gespräch hat auf ihn eine aufputschende Wirkung, die man sonst nur gewissen Drogen nachsagt und derart aufgeputscht, stürzt er sich noch einmal in den Bericht, überprüft haarklein jedes Detail, jede Behauptung. Er findet – nichts, macht aber weiter, vergisst alles um sich herum und merkt nach etwa vier Stunden, dass er einen höllischen Durst hat und dringend auf die Toilette müsste. Nachdem er das erledigt hat, wühlt er weiter. Er hat jetzt die ganzen vierzig Seiten des Berichts Wort für Wort durchgelesen und nicht den kleinsten Fehler gefunden. Er ist für solche Sachen eigentlich schon fast überqualifiziert, hat in seiner aktiven Zeit schwerpunktmäßig an diesen Themen gearbeitet und dabei intensiv mit Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern kooperiert. Sehr selten hat er in seiner Laufbahn so etwas ohne gröbere Fehler gesehen. Nach zwei weiteren Stunden prüft er routinemäßig den zeitlichen Ablauf der seinem Bauunternehmer vorgeworfenen Steuerhinterziehungen. Und noch eine halbe Stunde später schiebt er sich in seinem Bürostuhl nach hinten, lässt sich mit dem Rücken gegen die Lehne fallen, haut sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und sagt laut.

»Hab’ euch.«

Er hat dann doch noch in den tiefsten Tiefen der Buchhaltung wesentliche Differenzen zu den Behauptungen des Finanzamts gefunden, wie ursprünglich erwartet. Die Aussagen des Handwerkers und der zwei Käufer sind nicht zu erschüttern.

Aber – André hat ganz zu Anfang gemäß den Aussagen des Unternehmers die Sache überschlagen und kam auf einen wesentlich niedrigeren Wert. Also musste er nur die gesamte Berechnung nachvollziehen und siehe da, er hat es gefunden. Bei einer Berechnung hat das Finanzamt einen Quartals- und einen Monatswert vertauscht. Damit geht es nur noch um ein Viertel dessen, was das Finanzamt unterstellt hat. Er ist sich ziemlich sicher, dass er seinen Klienten vor dem Bau wird retten können.

Dann schaut er auf die Uhr, es ist drei Uhr morgens. Er geht kurz auf seinen großen Balkon, schnauft tief durch, holt sich ein Glas Rotwein, trinkt es und geht zu Bett. Er fürchtet, dass er sowieso nicht viel länger schlafen können wird als bis acht, und daher wird er dann zu dem Bauunternehmer hinfahren und ihm die Ergebnisse seiner Suche zeigen. Außerdem wird er ihm einen anderen Anwalt ans Herz legen, denn wie sein jetziger kann man mit seinen Mandanten nicht umgehen. Im Erfolgsfall, von dem er mittlerweile ausgeht, winkt ihm eine satte Zahlung.

Wenn er den Mann mit dem Boot in Antigua auf deutlich weniger als zweihunderttausend runterhandeln könnte, dann könnte er mit dem Fall hier schon gut ein Viertel des Schiffes bezahlen.

Hilfsarbeiter

»Du machst mich arbeitslos.« Das sagt Walzer zu Lisa, die erst in einer Woche ihren neuen Job antritt und daher bei Walzers Werft mithilft.

»Früher konnte ich hier wenigstens noch den Hilfsarbeiter spielen und Holzstreifen auf den Rumpf drauf tackern. Seit du da bist, drehe ich nur noch Däumchen.«

Lisa grinst ihn an.

»Ja musst halt besser aufpassen, wen du hier reinlässt.« Ungerührt macht sie weiter.

»Aber sag mal, das ist doch keine Arbeit für eine Schiffbauingenieurin. Du bist doch vollkommen überqualifiziert. Für einen Juristen wie mich, da war das genau richtig, aber für eine Fachfrau?« Er grinst über beide Backen.

»Franz, im Moment ist mir völlig wurscht, was ich mache, Hauptsache ich habe was zu tun, was meine verletzte Seele vom Nachdenken abhält.«

Sie zieht ihn am Ärmel aus der Halle raus und geht mit ihm die Treppe hoch ins Büro. Sie setzen sich.

»Franz, ich hätte eine Idee. Jetzt bin ich aber nicht so eingebildet, dass ich denke, die hättest du nicht auch schon gehabt. Wenn ich mir den Laden hier so anschaue, dann könnte man da schon noch einen Zahn zulegen. Nur sollte man von vornherein so etwas wie eine Strategie haben. Im Moment ist es ja so, dass ihr zu siebzig Prozent Reparaturen und allgemeine Dienstleistungen macht und höchstens zu dreißig Prozent wirklich Schiffe baut. In das Geschäft mit Carbon und so braucht ihr mit eurer derzeitigen Ausstattung nicht einsteigen. Den Handel mit Booten halte ich auch nicht für sonderlich attraktiv, und die Winterlagerkapazitäten sind beschränkt, der kleine Hafen, der reicht gerade mal für den Eigenbedarf. Aber was ihr gut machen könntet, sind Restaurierungen von Holzklassikern.«

»Ja, das ist mir alles bewusst.«

»Aber du wartest, bis einer kommt und einen Auftrag liegen lässt.«

Walzer nickt.

»Man könnte auch mal gezielt eine total verrottete klassische Schönheit kaufen, restaurieren und dann anbieten. Ist halt ein bisschen mehr Risiko.«

»Bin deiner Meinung, da würde ich auch mitspielen. Hast du irgendein Objekt in Aussicht?«

»Franz, sitzt du gut?«

Der Franz nickt.

»Hast du hier irgendwo eine Schnapsflasche?«

Der Franz nickt wieder und zeigt auf einen Büroschrank.

»Da oben links.«

»Franz, du musst jetzt ganz stark sein.«

»Was kommt jetzt, was ganz Fürchterliches? Willst du ein U-Boot zum Schmuggel von Geld und Drogen bauen?«

»Nein Franz, ein stinknormales Motorboot.«

Schnell schiebt sie noch eine Definition hinterher.

»So etwas wie Boesch, Pedrazzini oder ein altes Riva, das meine ich.«

Sie mustert ihn intensiv.

»Du bekommst ja gar keine Schweißausbrüche, Herzflattern oder sonstige Symptome, wenn man mit einem angefressenen Segler über Motorboote spricht.«

»Da habe ich auch schon mal darüber nachgedacht«, sinniert Franz. Lisa ergänzt:

»Wir leben nun mal in einer Zeit, in der sich Scheiß-Motorboote einfach besser verkaufen, als Segelboote. Da beißt die Maus keinen Faden ab.«

»Kein Problem, das können wir gerne angehen. Klingt, als ob du Teil dieses Projektes sein möchtest. Wenn du genug Zeit hast, ist das kein Problem. Aber wir müssen das vorher genau kalkulieren, dass wir nicht drauflegen.«

»Franz, für wie blöd hältst du mich?«

»Für gar nicht blöd.«

Spuk

Sie geht ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf. Er ist ihr früher ab und an in der Fachhochschule in Kiel begegnet, sie hat ihm äußerlich gut gefallen, aber sie haben nie miteinander gesprochen. Seit einem Jahr ist er mit seinem Studium fertig, hat aber irgendwie immer noch keine Lust auf einen dauerhaften Job und sucht sich daher mal hier, mal dort Arbeit, bevorzugt im Umfeld des Segelsports. Im letzten halben Jahr war er mit der Vorbereitung eines Open 60-Regattabootes auf eine große Hochseeregatta beschäftigt, genau genommen für die wichtigste Einhand-Hochseeregatta, die es überhaupt gibt. Tonio Passert ist siebenundzwanzig Jahre alt, hat eine Bootsbauerlehre absolviert und danach in Kiel Schiffbau studiert. Er hat dunkle kurze Haare, ist meist braun gebrannt, aber eh ein dunkler Typ.

Letzte Woche war er für einen zweiwöchigen Job in Kiel, konnte in der Bude eines Freundes übernachten, der zurzeit in Australien arbeitet, und ist zum Einkaufen in den Supermarkt marschiert, den er früher auch benutzt hat. Und da trifft er diese Lisa. Sie hat ihm erzählt, dass ihre Mutter mit ihrem Freund zusammen eine kleine Werft am Schweizer Bodenseeufer hat. Dass sie und ihr langjähriger Freund auseinander sind, hat er schon gehört. Ihr Ex hat eine Neue, die er auch kennt. So rein äußerlich kann Tonio den Mann nicht verstehen. Aber die Geschmäcker sind ja verschieden. Sie hat ihm erzählt, dass sie an den Bodensee zurückgeht, um dort noch eine Bootsbauerlehre anzuhängen. Er kommt aus Lindau, kennt den Laden, wo sie hingeht. Er kennt alle Werften rund um den See, das ist ein überschaubares kleines Biotop.

Nach dem Supermarktbesuch hat es angefangen, seitdem spukt sie in seinem Kopf herum. Bei Tonio ist es so, dass er sich eine Weile nach einem Treffen kaum noch an das Aussehen von Frauen erinnern kann. Das geschieht aber nur, wenn er Interesse an ihnen hat. Er wollte sich mal mit einem Kumpel darüber austauschen, ob das bei dem genauso ist. Das hat er aber immer wieder vergessen.

Sie ist wirklich ein hübsches Mädchen oder vielmehr eine junge Frau. Aber das kann nicht die Ursache für das Herumgeschwirre in seinem Kopf sein. Es muss das Gespräch mit ihr gewesen sein. Sie hat so eine einfache, lustige und unkomplizierte Art. Er hat das natürlich vorher nicht gewusst. Die Art und Weise, wie sie ganz offen mit ihm kommuniziert hat und ihr Lachen haben es ihm angetan. Tonio überlegt, wann ihm das schon mal in der Heftigkeit passiert ist und er kommt zu dem Schluss, dass ihm das noch nie so passiert ist.

Praktischerweise wird er in knapp einer Woche nach Lindau fahren, um seine Eltern und seine Geschwister zu sehen. Anschließend hat er in Kressbronn für zweieinhalb Wochen einen Job als Urlaubsvertretung auf einer Werft. Tonio grinst. Er wird sich garantiert mal am Untersee blicken lassen. Die Woche muss er noch durchhalten, aber dann wird er dort aufkreuzen und schauen, was passiert.

Bis jetzt hat er sich hauptsächlich darauf gefreut, seine Familie wiederzusehen, aber irgendwie hat er jetzt das Gefühl, dass es etwas gibt, auf das er sich noch mehr freut. Er schüttelt den Kopf. Wie kann eine Begegnung, die keine zehn Minuten gedauert hat, so nachhaltig wirken. Gleichzeitig sagt er sich, er solle nicht zu viel erwarten. Sie ist frisch getrennt und Menschen brauchen nach einer Trennung in der Regel eine Weile, um für etwas Neues offen zu sein. Seine letzte Beziehung ist drei Jahre her. Danach gab es nur noch kurze Versuche, die alle schnell beendet waren.

Tonio ist ziemlich aus der Art geschlagen. Sein Vater ist Steuerberater, sein Bruder studiert Jura, seine Schwester ist Betriebswirtin und wird vermutlich mal in Papas Laden einsteigen. Seine Eltern haben ihn schon als Kind an das Segeln herangeführt und das hat dann auch sein ganzes Handeln und Tun dominiert. Gott sei Dank hat sein Vater nicht versucht, ihn in irgendeiner Weise zu beeinflussen.

Er ist froh, dass er bei ihrem Gespräch im Supermarkt noch geistesgegenwärtig genug war, um ihr zu sagen, dass er auch demnächst wieder am See sein werde und man sich ja vielleicht mal treffen könnte. Ob sie ihm ihre Handynummer geben würde. Und das hat sie dann auch getan.

So, jetzt muss er zur Arbeit, noch vier Tage und dann ist es so weit. Ihm fällt dieses Lied ein, das so geht: Viermal werden wir noch wach, heysa, dann ist Weihnachtstag. Er schüttelt den Kopf. Benimmt sich wie ein verliebter Primaner. Wie benehmen die sich eigentlich?

Love is in the air

Das war ein Volltreffer. Sieg auf der ganzen Linie. Andrés Kunde ist total glücklich, dass er nicht in den Knast muss. André versteht nicht, dass diese Behörden-Heinis derart schlampig arbeiten können. Sein Kunde hat sich einen jungen Anwalt aus Konstanz genommen und der hat ihnen vor Gericht ihre Argumentation förmlich um die Ohren gehauen. Jetzt kriegt er eine Strafe im fünfstelligen Bereich, und so etwas zahlt der aus der Portokasse. Allerdings musste er André hoch und heilig schwören, das nicht noch mal zu machen. Dann hat er ihm im Glücksrausch eine derart fette Erfolgsprämie bezahlt, dass André jetzt die ganze Zeit nur noch an sportliche Segelschiffe denkt.

Zwei Tage später ist er zu Annike gedüst, der Holländerin mit dem Regattageschäft. Auf der Fahrt hat er die ganze Zeit love is in the air gesungen, dieser Glücksrausch hat ihm schon wieder zwei Punkte in Flensburg eingebracht und er muss ein paar Hundert Euro Strafe zahlen. Dann hat er sie in Bergen op Zoom schick zum Essen eingeladen, ein paar Bier und noch ein paar Genever gekippt und danach sind sie spontan im Bett gelandet. André war sofort verliebt, aber das ist bei ihm nichts Neues. Er weiß bloß nie, wie lange das Gefühl anhält. Bisher ist es nur bei seiner Ex-Frau wirklich von Dauer gewesen. Seither waren seine Beziehungen eher kurzlebig.

Nach dem Bierchen und dem Genever gab es noch etwas Rosé, und André hat zugesagt, den Kahn zu kaufen. Am nächsten Morgen hat er dann seine Zusage dahin gehend relativiert, dass er ihn vorher wenigstens gerne anschauen würde, und hat ihr erklärt, dass man ihn ab einem gewissen Pegel nicht immer so ganz ernst nehmen sollte. Sie hat ihm vorgeschlagen, den Kahn doch erst mal zu chartern, aber das fand er verglichen mit dem Kaufpreis dann doch zu teuer. Sie haben sich zusammen die Angebote vergleichbarer Schiffe im Internet angesehen und sind zu dem Schluss gekommen, dass er ihm hundertfünzigtausend bieten sollte, wenn an dem Boot alles stimmt.

»Mir hat er gesagt, zweihunderttausend sei seine absolute Schmerzgrenze. Aber das ist schon eine Weile her«, sagte sie grinsend.

»Ich werde es probieren.«

»Schau mal, das hier sind meine Buchungen und das hier sind die Anfragen.«

»Imposant, aber so viele Plätze kannst du doch gar nicht anbieten.«

»Die kommen auch nicht alle, manche Leute kriegen Schiss, manchen kommt etwas dazwischen.«

»Dann passt das ja. Ich werde jetzt wieder nach Hause fahren, und schauen, dass ich einen Bootsbauer finde, mit dem ich mir den Kahn zusammen anschauen kann. Wenn das überzeugend ist, dann werden wir das machen.«

»Du bist aber ganz schön spontan?«

»Na und, wenn mir so etwas vor die Füße fällt, warum soll ich dann lange warten?«

Speedlimit

Ein bisschen friert er schon. Tonio hat nach seiner Rückkehr an den See zuerst seine Familie besucht. Dann ist er zwei Tage vor dem vereinbarten Antrittstermin zu der Werft in Kressbronn gegangen und hat gefragt, ob er sich ein RIB ausleihen könnte. Das ist ein Schlauchboot mit festem Kiel. In diesem Fall ist es gut fünf Meter lang. Die haben es ihm sofort gestattet. Einen Tag danach hat er sich das Boot geschnappt und ist von Kressbronn nach Konstanz gefahren, dann ganz langsam den Seerhein runter und danach hat er wieder aufgedreht. Die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von vierzig Stundenkilometern hat er sicher meistens überschritten. Zum Glück ist es für Anfang Dezember ungewöhnlich warm. Bei Minusgraden hätte er sich das nicht angetan. Aber bei vierzehn Grad über null geht es gut. Manchmal ist es sogar im Sommer kälter als jetzt.

Er fährt in den kleinen Hafen von Walzers Werft hinein, steuert das RIB an den Kopf des Steges, stellt den Motor ab und macht es dort fest. Lisa kommt ihm schon entgegen.

»Lisa, schön dich zu sehen.«

Tonio überlegt fieberhaft, was er sagen soll. Mehr als diese dämliche Floskel fällt ihm nicht ein.

»Ich freu mich auch, dich zu sehen.«

Gut, sie hat auch keine bessere Idee.

Sie kommt auf ihn zu und breitet die Arme aus. Das freut ihn. Er nimmt sie in den Arm und drückt sie fest, etwas fester, als man es mit einer flüchtigen Bekannten tut. Und sie drückt zurück, deutet dann auf das RIB.

»Wo hast du denn das Gerät her?«

»Na, von der Werft. Ich fange erst morgen an, aber sie haben es mir schon mal geliehen.«

»Wie lange hast du damit gebraucht?«

»Na, bis Konstanz waren es gut zwanzig Minuten, dann habe ich eine halbe Stunde durch den Seerhein gebraucht und dann noch mal zehn Minuten von Ermatingen bis hierher.«

Er schaut auf seine Uhr.

»Ja ich bin eine gute Stunde unterwegs gewesen. Mit dem Auto würde das etwas länger dauern.«

»Du warst aber schneller als erlaubt?«

»Ja schon«, nickt er treuherzig. »Irgendwas hat mich hierher getrieben oder irgendjemand.«

Sie wirft ihm einen Blick zu.

»Aha.«

Dann führt sie ihn auf dem Gelände herum, sie gehen in die große Halle, sie zeigt ihm, an was sie gerade arbeiten und stellt ihm die Bootsbauer vor.

»Ich habe den Franz davon überzeugen können, dass wir in Zukunft mehr Restaurationen machen. Leider kommt nicht jeden Tag einer um die Ecke, der so einen Auftrag liegen lässt und deswegen werden wir jetzt mal einen verrotteten alten Kasten kaufen und auf eigene Rechnung aufmöbeln, um ihn dann zu verkaufen. Ich gebe es ja ungern zu, aber vermutlich werden wir mit einem hölzernen Motorboot anfangen, so in der Art wie Boesch, Pedrazzini oder gar Riva.«

»Klar, das wirst du auf jeden Fall schneller los als ein klassisches Segelboot.«

Dann geht sie mit ihm ins Büro hoch. Walzer und Lena sind beide nicht da. Sie zeigt ihm auch noch die Wohnung. Tonio steht am großen Fenster, schaut über den See, der heute völlig nebelfrei ist und von der Sonne beschienen wird.

»Ist schon verdammt schön hier am Untersee. Die Lage des Anwesens ist ziemlich einmalig.«

»Ich werde jetzt noch die verkürzte Bootsbauerlehre machen, damit ich auch im ganz praktischen Bereich mitreden kann und danach weiß ich noch nicht genau, was ich anstellen werde, aber es kann gut sein, dass ich hier später mal einsteige. Der Franz und meine Mutter sind auch nicht mehr so ganz jung, und er hat schon signalisiert, dass ihm das gefallen würde.«

»Hat er denn keine Kinder«, fragt Tonio.

»Nein, hat er nicht.«

»Ach so, dann bietet sich das ja an. Sag mal Lisa, bist du gerade zu haben? Also mit meiner beruflichen Orientierung suche ich eine Frau mit einer Bootswerft. Das wäre ja für einen wie mich ein Sechser im Lotto.«

»Haha, du denkst nur ans Geld.«

»Nein, das tue ich nicht.«

Sie laufen dann zu einem nahe gelegenen Restaurant, wo er sie zum Essen einlädt. Am Nachmittag schlendern sie durch das romantische alte Dörfchen. Tonio schaut auf die Uhr.

»Hast du noch Zeit?«

»Ja, klar.«

»Komm.«

Sie gehen zu dem Schlauchboot und rauschen wieder etwas zu zügig zum Jachthafen auf der Insel Reichenau, machen das Boot fest und gehen die Straße zum Münster hoch. Gegenüber ist ein schönes kleines Café, in das sie sich verziehen. Am späteren Nachmittag bringt er sie zurück. Tonio schaut auf die Uhr.

»Bin doch gerade erst gekommen.«

»Du, es wird schon langsam dämmerig.«

»Mein Gott, ich dachte, wir reden erst eine Stunde miteinander oder höchstens zwei. Das darf doch nicht wahr sein. Bin um elf gekommen und jetzt ist es vier. Ja, ich glaube, ich sollte mal los, später wird es auch ziemlich kalt. Da könnte ich mir noch den Knackarsch abfrieren.«

Lisa schaut von der Seite an ihm runter.

»Aha.«

Walzer und Lena kommen gerade zurück, stellen das Auto auf dem Hof ab. Sie bekommen gerade noch ein ziemlich langes Abschiedsküsschen mit.

Tonio rauscht wieder zurück über den See, legt dabei sämtliche Speedlimits großzügig aus. Im Obersee lässt er es richtig krachen und findet heraus, dass das RIB mit seinen zweihundert PS in der Spitze deutlich mehr als siebzig Sachen läuft. Er fühlt sich irgendwie, als ob er schwebe und das liegt nicht an der Gleitfahrt des Bootes.

Elefant

Der Franz konnte sich am Tag darauf wieder mal nicht so richtig beherrschen und hat zur Abschiedszeremonie zwischen Lisa und Tonio noch ein paar launige Bemerkungen losgelassen. Lisa hat es mit den Worten kommentiert, sie sei ja selbst schuld, wenn sie sich solche Sprüche einfange. Was lasse sie sich auch mit älteren Elefanten im Porzellanladen ein. Augen auf bei der Wahl des Stiefvaters. Das hat sie gesagt.

Er und Lena wollten natürlich genau wissen, wer der junge Mann denn sei, und sie hat sie brav aufgeklärt. Dann hat sie noch zart darauf hingewiesen, dass sie Mitte zwanzig sei und schon ein paar Jahre alleine und ohne Aufsicht gelebt habe. Die beiden Alten sollten bloß nicht auf die dämliche Idee kommen, ihr Herrenbesuch nach acht Uhr abends zu verbieten.

Mit Lena hat sie das Thema noch etwas länger durchgekaut und zugegeben, dass sie von dem jungen Mann gerade ziemlich fasziniert sei. Der sei so frisch, frech und geradeheraus.

Am nächsten Tag kreuzt André Gernbach wieder bei Walzer in der Werft auf. Er hat sich vorher telefonisch angemeldet.

»Franz, ich habe eine geniale Idee.«

»Mein lieber André, das kommt bei dir häufiger vor, schon zu unserer gemeinsamen Zeit. Du wolltest damals unsere Kanzlei in ungeahnte Höhen katapultieren, in den Bereich von internationalen Großkanzleien. Also bitte sei so nett und lerne ein wenig aus der Vergangenheit. So und jetzt erzähl mal!«

»Franz, ich habe die Schnauze voll vom Schreibtischjob. Gott sei Dank habe ich gerade noch ein schönes Projekt mitgenommen und ich habe noch eins in der Mache, aber ich werde mich vom Schreibtisch verabschieden. Ich habe eine Holländerin kennengelernt, die macht in Regattacharter.«

»Was ist das denn?«