Kollateraldesaster - A.B. Exner - E-Book

Kollateraldesaster E-Book

A.B. Exner

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Beschreibung

Mit einem Auftragsmord beginnend, werden verschiedene Fäden gesponnen, die sich immer wieder finden. Den Leser nicht zu verwirren, sondern rätseln zu lassen, in der Spannung zu halten, war mein Ziel. Durch wirre Umstände provoziert, müssen sich Ermittler verschiedener deutscher Behörden und Dienste zusammen raufen. Zu Beginn fällt dies nicht leicht. Die gefährliche Ermittlung aber verlangt nach einem absoluten Vertrauensverhältnis untereinander, dem nicht alle standhalten. In Rostock wird ein ehemaliger NVA-Offizier erschossen. In Saarbrücken ein Lehrer. Beide hatten nie miteinander zu tun. Oder doch? Zur Wendezeit sind in Rostock Maschinengewehre und Munition dafür verschwunden. In Gardelegen wird ein perfider, extrem blutiger Anschlag auf eine Veranstaltung gegen die braune Gesinnung verübt. Ein französischer Adliger ist plötzlich bettelarm, ein schwedischer Großindustrieller tot. Zwei NPD-Mitglieder werden erpresst und bloß gestellt. Zwei westdeutsche Geheimdienstmänner erkennen, dass sie sich vor langer Zeit die verkehrten Partner erwählt hatten. Bemerkungen von bisherigen Lesern: "Das schnellste Buch das ich je las." "…bewundernswert feinfühlige Zeichnung des Charakters von Marc." "…ein irrwitziger Bericht frei-unfrei miteinander verkoppelter Wesen." "Um zu verstehen, muss man Passagen auch erst einmal überlesen können." "Er dröselt wirklich jeden Faden auf." "Der Wechsel von Orten und Handlungssträngen verwirrt den Leser nur dann nicht, wenn er weiter liest." "Das Ende war nie offensichtlich."

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A.B. Exner

Kollateraldesaster

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

ERSTER TEIL

ZWEITER TEIL

DRITTER TEIL

VIERTER TEIL

FÜNFTER TEIL

Impressum

Kapitel 1

KollateraldesasterA.B. Exner Sie führten ihre offensichtlichen Gegner wie Marionetten. Einen wirklichen Feind hatten sie dabei vergessen. Es wurde ein Desaster.

Sie hatten einen kollateralen Schaden kalkuliert und provoziert. Es endete in einem Kollateraldesaster.

ERSTER TEIL

Mahlwinkel, 30km nördlich von Magdeburg, mitten im Wald

„Ob Sie uns das nun glauben oder nicht, wir haben hier gezeltet und Doppelkopf gespielt. Morgen sind unsere Tickets zum Fahren alter Armeetechnik gültig und wir durften hier übernachten. Das ist mit der Firma ‚Panzer Power’ so abgesprochen.“

Der Sprecher, ein Herr Lachmann aus Rostock, schien noch der Nüchternste, zumindest der Ansprechbarste, der fünf Gestalten zu sein. Zwei Zelte, ein Hauszelt für 2 Personen und ein Steilwandzelt, in dessen Vorzelt nicht nur zwei Kisten Bier Platz fanden, sondern auch leere Whiskyflaschen, Taschen und mehrere Schlafsäcke. Trotz des Nieselwetters hatten die Männer unter einer zwischen den Bäumen gespannten Plane einen Tisch aufgebaut. Doppelkopfkarten, Bierflaschen, Sherry der günstigeren Sorte, ein Anschreibeblock, der auswies, dass „Schmiddi“ das letzte Spiel als stille Hochzeit verloren hatte.

„Kommen Sie, lassen Sie uns ein Stück gehen.“ Kommissar Schuh, der durch den Polizeiposten Weigelt, einen ewigen Dorfbullen, kurz vorinformiert worden war, wandte sich an Frieder Lachmann. Der reagierte sofort. Nahm sich eine Schachtel filterloser Zigaretten, ein Feuerzeug und folgte dem Kommissar.

„Sie machen hier einen Alarm, dass es weh tut. Können Sie jetzt ohne das Durcheinander und das Dazwischengelalle Ihrer Kumpanen noch mal in aller Deutlichkeit erklären, was hier los sein soll?“

„Wenn Sie das mit den Kumpanen zurücknehmen? Waren Sie noch nie in so ausgelassener Stimmung, dass Sie schneller getrunken haben, als die Leber nachkommt?“ Eine wirkliche Entrüstung sprach nicht aus der Antwort des fast eins neunzig großen, unrasierten Mannes. Wahrscheinlich hatte ihn der Alkohol auch mutiger gemacht, als er war. Immerhin lenkte Schuh mit der Bemerkung ein, dass es so nicht gemeint war. Wenn der Kerl aus Rostock wüsste, wie sauer er war. Von der Silberhochzeit seiner Eltern geholt zu werden ist schon scheiße, aber er war einer Lappalie wegen, gerade erst eine Stunde vorher eingetroffen. Das war auch einer der Gründe, weshalb seine emotional sehr weiche Frau es nicht mehr ausgehalten hatte und vor nunmehr genau 1000 Tagen die Scheidung eingereicht hatte. „Also, was war los? Auch gern die lange Version.“

„Ich mach es lieber kurz. Gegen Mitternacht hörten wir ein Fahrzeug. Eindeutig ein Dieselmotor. Keine dreißig Minuten später folgten die ersten Schüsse. Ich war zehn Jahre lang bei eben dieser NVA, sogar hier auf diesem riesigen Übungsplatz. Diese Schüsse waren kein Echo, also kein Einzelfeuer. Das war Dauerfeuer. Entschuldigung, wenn ich mich etwas blöd ausdrücke, aber ich bin eben nicht mehr nüchtern. Ganz klar aber bin ich in dem, was daraus folgt. Das können keine Jäger gewesen sein. Die feuern doch immer nur einen Schuss ab. Und wenn zwanzig Jäger hintereinander schießen, bekommen die niemals so eine Schussfolge hin. Abgesehen davon, wurden auf dem Acker da draußen wenigstens fünfhundert Schuss abgegeben.“ Er nahm sich eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an. In Kriminalkommissar Peter Schuh brodelte es. Der Mann schien nicht unglaubwürdig, aber seine Geschichte.

„Sie wollen mir also erzählen, dass ein paar böse Buben hier mit MGs rumgeballert haben? Die Russen sind seit einer Ewigkeit zu Hause. Das waren dumme Jungs mit Silvesterknallern...“ Er wollte sich weiter aufregen. Lachmann hob die Hand. Er blickte Peter Schuh, seiner Empfindung nach, einmal direkt durch den Kopf. „Herr Kommissar, oder was für einen Dienstgrad Sie auch immer haben, wenn ich Ihnen sage, dass da draußen an die fünfhundert Schuss mit einem PKT abgefeuert wurden, dann können Sie das gern glauben. Ich weiß wovon ich rede.“

Die Anspielung mit dem Dienstgrad nahm er nicht übel, aber sauer war Kriminalkommissar Schuh schon. Er hatte sich nicht mehr so in der Gewalt, wie es hätte sein sollen. „Und wovon reden Sie verdammt? Was ist PKT? Fünfhundert Schuss? Können Sie so was mitzählen? Ich stehe hier mitten in der Nacht in diesem bekloppten Wald mit ein paar betrunkenen Hilfsrangern, die morgen ein bisschen Panzer fahren wollen.“

Sein Gegenüber hob wieder die Hand. Wieder dieser konzentrierte Blick. Erschütternd. „Das will ich gern alles beantworten. Ich rede davon, dass hier eine oder mehrere Personen mit einem PKT,

einem russischen Maschinengewehr, Kaliber 7,62, etwa fünfhundert Schuss in den bedeckten Himmel der Börde gejagt haben. Da ein Gurtkasten dieses MGs genau Zweihundertfünfzig Schuss fasst und genau nach der Hälfte der Schussgeräusche eine kurze Pause eintrat, gehe ich davon aus, dass ein zweiter Gurt mit wieder Zweihundertfünfzig Schuss eingelegt wurde. Geschossen wurde in nördlicher Richtung von hier aus. Wir stehen hier keine tausend Meter von dem Platz entfernt, von dem aus geschossen wurde. Feuern Sie mit jeder Waffe welche die NVA damals hatte und ich sage Ihnen die dazu gehörenden Parameter. Ich war zehn Jahre lang in der NVA und versichere Ihnen, dass hier mit einem MG eben dieses Typs geschossen wurde. Ende meiner Ausführungen.“ Lachmann setzte sich und zog das erste Mal an der Zigarette.

...eben dieses Typs, Ende meiner Ausführungen... Redet der nur so gestelzt oder wird der langsam wieder nüchtern. Schuh raffte sich auf. „Okay, hören Sie zu. Ich werde das überprüfen. Wenn Sie uns angerufen haben, um sich hier einen Spaß zu erlauben, um sich wichtig zu machen, nüchtern Sie bei uns aus. Alle. Was war mit dem Fahrzeug?“ „Der Wagen fuhr denselben Weg zurück. Müsste also die Haupttrasse gefahren sein.“ „Woher wissen Sie, dass dort eine Hauptstraße ist, hier gibt‘s doch nur Wald und Wiese?“ Der Kommissar fing sich einen wehleidigen Blick ein, dennoch antwortete der Rostocker ruhig: „Eventuell hat meine alkoholisierte Aussprache eben einen Buchstaben eingebaut, der nicht sein sollte. Ich sprach von einer Trasse, nicht einer Straße. Die Haupttrasse, welche den gesamten Übungsplatz durchschneidet, befindet sich dort hinter der Waldkante.“ Schuh anerkannte die diplomatische Art, wie ihm beigebracht wurde, dass er selbst, aus welchem Grund auch immer, nicht richtig hingehört hatte.

„Sie bleiben hier. Sobald es hell ist, gehen wir auf die Suche. Geben Sie mir bitte die Telefonnummer von dieser Firma, wo man hier Panzer fahren kann.“

Immerhin hatte er bitte gesagt.

„Weigelt, haben Sie die Personalien von der Doppelkopfrunde?“ Der Uniformierte bestätigte mit einem Kopfnicken. „Dann lassen Sie sich hier in fünf Stunden wieder sehen und suchen nach den Vorgaben von Herrn Lachmann nach Spuren der Ruhestörer.“ Und an den Rostocker gewandt: „Gute Nacht, Herr Lachmann. Sie hören von mir.“

Der stand auf, ging zu seinen Freunden und machte sich ein Bier auf.

Der nächste Morgen, 08:00 Uhr

„Hier Weigelt.“, das Telefon ans Ohr geklemmt schritt Weigelt durch den Bördesand. „Herr Kommissar, wir haben drei Patronenhülsen gefunden.

Die wurden bestimmt heute Nacht abgefeuert. Sie riechen noch. Es sind jede Menge Fußspuren zu sehen und die Spuren eines, mit Geländereifen bestückten, Fahrzeugs. Und Herr Lachmann lässt fragen, ob denn das Panzerfahren nun ausfällt?“

„Der Lachmann soll mal schön die Füße stillhalten. Weshalb haben Sie denn nur drei Hülsen gefunden? Ich denke da fand ein regelrechtes Nachtgefecht statt?“ Er legte die Füße auf den Tisch, langte nach seiner Kaffeetasse und wartete auf die Antwort. „Wir gehen davon aus, dass die Hülsen absichtlich eingesammelt wurden. Vermutlich wurde ein Hülsensack verwendet. Der wird an die Waffe gespannt um die leeren Hülsen einzusammeln. Außerdem wurde in den Himmel geschossen, um keine Spuren des Mündungsfeuers im Sand und an den Pflanzen zu hinterlassen. Das sagte mir zumindest eben der Herr Lachmann.“

Schuh prustete seinen Kaffee auf sein Hemd. „Was macht der Mann bei Ihnen?!“

„Er hat uns sehr geholfen. Wusste genau, wo wir lang laufen sollen. Hat die Patronenhülsen unter Blättern gefunden...“

„Sind Sie irre?! Wer ist denn hier eigentlich der Wachtmeister? Weigelt, machen Sie Fotos, sperren Sie fünfzig Meter um die Fundstelle ab und kommen Sie mit Lachmann hier her! Aber pronto!“ Er knallte den Hörer auf das Telefon. „Da nimmt der den Lachmann mit. Den einzigen verbliebenen Waffenexperten des Warschauer Vertrages. Ich werde irre.“

„Weshalb wirst du irre?“ Herbert Rother, Kriminalkommissar Schuhs Vorgesetzter, stand in der Tür.

„Herbert, ich hab eine Nacht hinter mir, das glaubst du nicht. Komm rein, ich erzähl es dir.“

Zwei weitere Stunden später im Kriminalkommissariat Magdeburg

„Guten Tag Herr Lachmann, mein Name ist Rother. Können Sie mir das alles Mal erklären.“

Lachmann suchte noch nach einer bequemen Sitzposition in dem Besuchersessel. „Also, eh, darf ich rauchen?“

„Mir wäre lieber, wenn nicht. Woher wissen Sie so viel über Waffen? Das kann doch nicht alles nur aus Ihrer NVA Dienstzeit stammen?“ Die Brille mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf die Nasenwurzel hochschiebend, suchte der Rostocker einen Fixpunkt im Gesicht des Gesprächspartners. Er entschied sich, wie gestern Nacht, für das linke Auge des Gegenübers. Die Hand sank bis zum unrasierten Kinn und streichelte dieses mit der Innenfläche von Zeigefinger und Mittelfinger, während er zu sprechen begann.

„Ach wissen Sie, das ist ganz einfach. Nach der Wende fand ich ein paar Jobs, die mich nicht so recht befriedigten. Dann suchte eine Firma, die Computerspiele herstellt, einen kompetenten ehemaligen Soldaten für einen Ego-Shooter. Also, so ein Ballerspiel, was halbrealistisch, aber dennoch für den Spieler zu lösen sei. Ich bestand in meiner Arbeit darauf, dass die Geräusche explizit den Waffen zu entsprechen haben, welche im Spiel zum Einsatz kommen. Sicher war das etwas penibel von mir. Doch wir merkten bei unseren Recherchen nach diesen Geräuschen, also Durchladen, Schussknall und so weiter, dass es schwer war, dort das Richtige zu finden. Also gründeten wir eine Geräuschdatenbank, die auch Panzergeräusche und vieles mehr beinhaltet. Das ist ein Riesending geworden. Jetzt halten wir Europas größte Geräuschdatenbank mit militärischen Tönen. Übrigens nutzen viele Ihrer Kollegen auch diese Datenbank für ihre Lehrvideos, weil Platzpatronen nun mal nicht echt klingen. Und an dieser Datenbank bin ich beteiligt. Meine Idee, mein Geld.“ Ein kurzfristiges, bestätigendes Leuchten der Zufriedenheit in seinen Augen. Er fuhr fort. „Wir sind überall auf Europas Panzerfahrstrecken und Schießplätzen unterwegs. Immer mit Mikrofon und Videokamera. Dafür, dass wir dem Team hier in Mahlwinkel etwas Geld gegeben haben, damit wir deren Geräusche aufzeichnen dürfen, erhielten wir nicht nur die Freifahrttickets, sondern auch die Genehmigung, in der Nähe der Fahrstrecke zu übernachten. Es war absoluter Zufall, dass wir heute Nacht dort waren.“ Er nahm einen Schluck Wasser. Der Kopf wollte immer noch nicht so wie er. Einfach zu viel gesoffen und jetzt hatte er einen Doppelkopf. Doppelkopf? Der Joke gefiel ihm. Zum Grinsen keine Zeit.

Rother stand auf, holte die Flasche und schenkte nach. „Und Sie erkennen also die Geräusche jeder Waffe? Und das auf die Entfernung?“

„Nein, nein so toll bin ich nun auch wieder nicht.“ Lachmann hob abwehrend die Hände und grinste. „Die Standardwaffen der NATO und der Polizei Westeuropas kenne ich schon. Die Schützenwaffen des Ostblocks, also der Russen, Chinesen, Tschechen und Jugoslawen sind mein Metier. Da kenn ich mich aus. Und zwar richtig gut. Mit Entfernung hat das gar nichts zu tun. Wenn es so ruhig ist, wie heute Nacht im Wald.“

Es klopfte. Schuh ging zur Tür und nahm von einem Uniformierten einen Zettel in Empfang.

„Unsere Kollegen aus Magdeburg bestätigen, dass es sich um eine Gewehrpatrone 7,62mm russischer Bauart aus DDR Produktion handelt. Hergestellt in Suhl 1978. Fax ist eben reingekommen.“

Kommissar Schuh setzte sich wieder. „Na Sie sind mir ja ein Experte.“

„Ich bevorzuge Fachmann.“ Diesen Nasenstüber musste er Schuh jetzt versetzen.

Rother verkniff sich ein Grinsen. „Also gut, Herr Lachmann, wenn wir noch was wissen wollen, melden wir uns.“

„Okay, gern. Auf Wiedersehen. Können wir denn nun heute mit den Panzern fahren?“

„Laut Wachtmeister Weigelt ist der Platz wieder freigegeben. Viel Spaß!“, antwortete Schuh.

Lachmann verabschiedete sich und schloss die Tür. Die Seitentür zu einem Nebenraum wurde, fast zeitgleich, geöffnet. Zwei Männer in Schlips und Kragen traten ein. Schuh war sichtlich überrascht. Rother winkte ab. „Die beiden Herren gehören zum Staatsschutz. Konnten Sie alles mithören?“ Bevor einer der beiden antworten konnte, klopfte es kurz und Lachmann stand wieder in der Tür. Irritiert, dass plötzlich vier Herren im Raum waren, räusperte er sich. „Eh, mir fiel gerade noch ein, dass, wenn also, eh, wenn Sie aus einem PKT Gewehrlauf in so kurzer Abfolge fünfhundert Schuss raus jagen, also dann ist der Lauf Schrott. Es gab, zumindest bei den in Panzern eingebauten MGs, immer einen Ersatzlauf. Aber ich frage mich, weshalb jemand so viel Munition verbraucht, um dann die Hülsen einzusammeln und wieder zu verschwinden? Davon hat er nichts. Den Lauf kann er nicht mehr benutzen. Der müsste dann neu gezogen werden, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Der eine Schlipsträger lächelte, nickte. „Ich verstehe was Sie meinen. Da waren keine dummen Jungs am Werk, die ein MG und fünfhundert Schuss gefunden haben. Da wollte jemand was ausprobieren. Sehe ich das richtig?“

Lachmann überlegte kurz. „Ja, so sehe ich das auch. Das war alles. Also, wenn was ist, Sie haben ja alle meine Erreichbarkeitsmöglichkeiten, hehe schönes Wort – muss ich mir merken. Ja also auf Wiedersehen.“

Jetzt würde er nur noch Panzer fahren wollen. Seine alten Armeekumpel warteten schon.

Rostock, Stadtteil Gehlsdorf

Das Schiff lag jetzt seit mehr als zwei Stunden wieder im Hafen, auf der anderen Seite der Warnow, dem Fluss, der die alte Hansestadt Rostock teilt, um sich dann in Warnemünde in die Ostsee zu ergießen. Auf dem Segelschiff gegenüber regte sich nichts. Da müsste doch langsam jemand auf die Idee kommen, in das Rigg zu klettern. Der Zeitpunkt wäre jetzt günstig. Es ist bedeckt. Unter der geschlossenen Wolkendecke flogen Fetzen von Grau. Der Tag tat sich schwer mit dem Erwachen. Sanfte Nebelzuckerwatte über dem Fluss zeigte, dass es praktisch keinen Wind gab. Ein Treiben, eher ein waberndes Gleiten. Kein Gegenlicht. Grau. Nach seinen Erkundigungen war dieser Detlev Gelbert der Einzige, der ganz oben im Mast eine solche Reparatur ausführen konnte. Eigentlich ein schönes Schiff.

Ein Dreimaster mit Rahen. Eine Schonertakelung, hatte er erfahren. Blauer Rumpf mit weißen Aufbauten. Der nächtliche Ausflug, den Mast hinauf, hatte ihm nichts ausgemacht, aber als er oben war, wurde ihm schon mulmig. Den Umlaufblock des Fliegersegels zu manipulieren, fiel leicht. Hoffentlich kletterte kein anderer hoch. Nur Gelbert dürfte das reparieren. Sonst verlor er ihn und die Chance war hin. Für wenigstens einundzwanzig Tage. Der Befehl lautete jedoch auf sofortige Erledigung. Nach dem kleinen Probetörn von gestern würde das Schiff heute gleich wieder auslaufen. Für drei Wochen. Die Zielhäfen waren nicht bekannt. Es sollte ein Crewtörn quer über die Ostsee werden. Gelbert müsste heute sterben, hat sein Auftraggeber gesagt. Letzte Chance also. Er lag mehr als sechshundert Meter entfernt am anderen Ufer des Flusses im Schilf versteckt, leicht oberhalb eines Wanderweges, den, so hatte er herausgefunden, kaum ein Mensch benutzte. Eine Plane unter sich. Das Fernglas an den Augen und die Ohren offen. Sein Reservefluchtweg ging durch das Schilf und endete dann an einer Straßenbahnhaltestelle. Ein Holzpflock, direkt vor ihm in die Erde gegraben, diente als Auflage für die Waffe. Das Gewehr hatte er mit einer sich selbst verdrillenden Strickkonstruktion an dem Pfahl befestigt, so wie sein Ausbilder es ihm damals im Kosovo beigebracht hatte. Er legte das Fernglas beiseite und kontrollierte zum wohl zehnten Mal den Anschlag. Die Visierung zeigte genau auf die Saling des Vormastes. Diese Saling, also dass Gestell, wo man aus den normalen Wanten, auf Höhe der unteren Rahe, zum Mastende hochkletterte, war der ideale Punkt. Da musste Gelbert hin. Dort sollte Gelbert sterben. Mit einem gekonnten, blickfreien Handgriff nahm er das Magazin aus der Waffe und kontrollierte wohl auch zum zehnten Mal die Munition. Das Magazin war voll, 10 Schuss, die richtige Munition. Es müsste bald losgehen. Er fügte das Magazin mit einer geradezu liebevollen, wohl dosierten Handbewegung wieder in die Waffe. Das Geräusch des Durchladens nervte ihn jedes Mal. Er liebte diese Waffe. Aber dieser Lärm entsprach nicht seinem Verständnis von Ästhetik. Dafür verfluchte er die Russen.

Das Dragunow, das wusste er, war damals in Afghanistan der große Renner der Russen. Die Amis hatten einen Heidenschiss vor dieser Waffe. Kein Scharfschützengewehr für den normalen Truppendienst konnte auf über 1200m weit tragen und war so präzis zu schießen, wie dieses Gewehr. Etwas unhandlich wegen der Länge, aber in dem Sack mit seinen Angelruten würde es niemandem auffallen. Das hatte bis jetzt auch immer funktioniert. So wie damals im Kosovo. Er war der einzige Angler im Ort, der nie einen Fisch fing. Er hatte andere Ziele als Fische. Lustig, schönes Wortspiel. Er träumte schon wieder. Das musste er sich abgewöhnen. Konzentration war nie seine Sache. Er legte das Gewehr ab, griff zum Fernglas.

Auf dem Schiff rührte sich etwas. Das Vordeck, also der Teil des Schiffes unter dem vorderen, mit vier Rahen bestückten Mast, war plötzlich von zehn, fünfzehn Personen bevölkert. Ein kleiner Mann hielt eine Rede, zeigte ins Rigg und wies dann auf einzelne Leute. Wo war Gelbert? Da, hinter dem unglaublich großen Mädchen mit den langen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen, Haaren. Detlev Gelbert nickte dem kleinen Mann zu und ging weiter vor den Vormast. Dort war das Kabelgatt, ein Raum zu dem man einen Niedergang hinuntersteigen musste. Das hatte er schon herausgefunden, als er gestern auf dem Schiff war. Dort befanden sich auch die Arbeitsgurte. Einen solchen Sicherungsgurt müsste Gelbert sich holen, um ins Rigg zu klettern. Der kleine geschwätzige Sachse, mit dem er vor ein paar Tagen gesprochen hatte, hatte vor allem immer wieder den Stand der Sicherheit an Bord hervorgehoben. Nicht jeder durfte alles. Nein, da gab es ganz besondere Hierarchien. Ins Rigg durften nur vier oder fünf Mitglieder der Crew zum Arbeiten. Segelpacken und so, das durften auch andere. Aber Ausbesserungen vornehmen, das durfte nur eine, durch den Skipper handverlesene Truppe. Genau, das musste der kleine Mann mit der bunten Strickmütze sein, der die Anweisungen gab. Skipper, das war das Wort. Schön, dass man in einem solchen Beruf auch noch etwas dazu lernte. „Skipper“, ein schönes Wort. Gelbert tauchte wieder auf. Er hatte kein Sitzgestell um, sondern so einen Gurt, wie ihn Feuerwehrleute trugen. Er hängte sich eine Tasche um und stieg auf das Schanzkleid des Schiffes. In der Tasche musste sich das Werkzeug befinden. Amüsiert dachte er daran, dass er Gelbert ruhig erst einmal seine Arbeit machen lassen wollte. Dann musste keiner von den Anderen hoch. Ja, das war eine gute Idee. Wie hilfsbereit er doch sein konnte, wenn er sich Zeit nahm. So würde er das machen. „Also, lass ich den Gelbert mal seine Arbeit machen und dann erledige ich meine Arbeit.“ Gelbert erstieg die Wanten, war schon auf halber Höhe, da löste sich der Gurt seiner offenbar schweren Tasche. Die Tasche sauste in die Tiefe. Schlug direkt neben dem kleinen Mann, dem Skipper auf. Der reckte die Faust gegen Gelbert und zeterte. War stinkend sauer. Scheiße verdammt, Gelbert stieg wieder ab. Sollte er jetzt schießen. Nein, auf die Entfernung ein sich bewegendes Ziel. Da bräuchte er wahrscheinlich einen zweiten Schuss. Das ist Mist. Dann könnte man ihn lokalisieren. Nein, er musste warten. Gelbert war wieder an Deck. Mann, hat der die Hosen voll. Der war ja plötzlich kleiner als der Skipper. Entschuldigte sich, zog die Schultern ein, wie ein kleiner Junge. Andere hatten ihm schon eine neue Tasche gereicht. Der Skipper verschwand, mit den kurzen Armen wedelnd. Gelbert war schon wieder auf das Schanzkleid gestiegen. An Steuerbord. „Na warte, mein Freund, dass du dem Skipper einen solchen Schrecken eingejagt hast, ist dein letzter Fehler. Dafür sorge ich.“ Gelbert kletterte umständlich auf die Saling. Jetzt wechselte der Scharfschütze vom Fernglas zur Zieloptik der Waffe. Der Schütze im Gras auf der Plane, in korrekter Anschlagshaltung liegend, hörte ein Surren. Blickte noch mal kurz aus seinem Versteck. Niemand zu sehen. Den Platz hatte er perfekt ausgesucht. Er brauchte nur etwas den Kopf zu heben und konnte über das Schilf sehen. Er konnte den Weg zwar nicht einsehen, aber jeder Mensch würde über das Schilf hinweg sichtbar sein. Das Surren war noch da, aber er sah nichts. Vielleicht eine Geräuschreflektion eines der zahlreichen mit Elektromotoren betriebenen Anglerboote, die er vorhin weiter links, viel weiter links, gesehen hatte. Ja das musste es sein, so ein blöder Elektromotor. Konzentration auf die Aufgabe, also wieder der Blick zum Schiff. Gelbert stieg weiter hoch. Aber der manipulierte Block war doch auf Höhe der Saling?

Wieso kletterte der weiter? Nicht, dass diese Segelleine weiter oben noch einen Block hatte? Daran hatte er nicht gedacht. Gelbert hatte nur noch drei Meter und dann wäre Schluss mit Klettern. Jetzt stand er oben auf der letzten Rah. Und kletterte weiter. Das gab es doch nicht. Die Waffe war nicht mehr in der Visierung, nicht in diesem Winkel. „Scheiße.“ Der Mann in der Takelage des Segelschiffes rüttelte an einem Seil, kletterte wieder etwas tiefer.

Jetzt ginge es gerade so. Er hängte die Tasche ab und befestigte sie an der Wantenleiter. Dann holte er etwas aus der Tasche. Eine Eisensäge. Kein Wunder, dass der Skipper so fuchtig geworden war. Wenn er die auf den Kopf bekommen hätte. Ohne Skipper wäre der Segeltörn wohl ausgefallen. Aber das Segeln würde wohl sowieso ausfallen. Das Summen war wieder da. Ein schneller Blick. Niemand zu sehen. Es wurde lauter. Jetzt nur noch auf sein Ziel, auf Gelbert konzentrieren. Der war jetzt wichtig. Der sägte. Hatte sich mit dem Haken, der Sicherung vom Gurt, am Mastkopf festgemacht. Detlev Gelbert, dein Ende naht. Einatmen. Entsichern. Das Summen. Egal. Scheiß Angler. Ausatmen. Einatmen. Genau auf den Kopf zielen. Luft anhalten und langsam durchziehen. Der Schuss bricht. Was für ein Lärm. Warum bauen die Russen nicht mal leise Waffen? Neu anvisieren. Gelbert hängt mit dem Kopf nach unten am Mast. Dann war es ein Treffer. Hättest du Idiot nicht so einen blöden Gurt genommen, sondern eine richtige Sitzsicherung, würdest du jetzt nicht so bescheuert über Kopf hängen. Detlev, das sieht doch Scheiße aus.

An Deck des Schiffes hatte noch niemand etwas bemerkt. Die Säge, durch einen Strick am Handgelenk des Toten gesichert, pendelte unter ihm. Ein Glück, dachte der Schütze. Hätte ja was passieren können, wenn er die nicht gesichert hätte. Das Summen hörte auf. Wo war dieses verdammte Summen.

„Was machen Sie da?“ Er sah einen Mann im Rollstuhl. Wo kam der her. Er hatte doch immer wieder kontrolliert. Jetzt war alles egal. Schnell die Waffe schnappen und weg. Das Fernglas hing um den Hals. Die Plane, die alle Spuren aufnehmen sollte, hatte er schon in der Hand und die Hülse der abgeschossenen Patrone längst verstaut. Das Gewehr ging nicht ab. Der Drill des Befestigungsknotens, der den Lauf hielt, war zu steif, hatte sich überdreht. Er müsste schneiden. Wo war das Messer.

„Was machen Sie hier?“

Der Mann im Rollstuhl war kräftig. Breit gebaut. War er allein?

„Horst, Felix, kommt schnell!“ Er fuhr den Rollstuhl näher heran.

Gleich zwei Begleiter. Na fantastisch. Zum Glück hatte er seine Maske auf und das Schilf war so hoch, dass er durch den Mann im Rollstuhl nicht hatte erkannt werden können. Geduckt lief er den Fluchtweg entlang. Das Gewehr musste er zurücklassen, mit der Angelrutentasche. Sonst hatte er alles dabei. Die Handschuhe sorgten dafür, dass er keine Spuren hinterlassen hatte. Nicht einmal irgendwo hingespuckt hatte er, gelernt ist gelernt. Bis auf die Waffe, ließ er nichts zurück. Verdammt, er hatte versagt. Aber der Zeitdruck. Er rannte gebückt den Weg entlang. „Felix, Horst, hier bin ich!“

Er rannte schneller. Wäre der Zeitdruck nicht gewesen, dann hätte er herausfinden, wo das Schiff hinfährt, und alles in Ruhe erledigen können. Aber der Boss hatte heute früh angerufen und nur gesagt: „Sie können Detlev jetzt auszahlen, die Lieferung ist in Ordnung. Wenn Sie mir heute noch Bescheid geben könnten. Nehmen Sie diese Nummer und dann können Sie das Handy irgendwo entsorgen.“

Es war alles erledigt. Vom Verlust seines Werkzeuges sagte er jetzt besser nichts. Nur die vereinbarte SMS. Während er rannte, überlegte er. Nur erst einmal zu dieser verdammten Straßenbahn. Ein parkendes Auto wäre zu sehr aufgefallen. Hier gab es keine wirklichen Parkplätze. Die Haltestelle kam in Sicht. Endlich. Hinter ihm immer wieder diese Rufe nach Horst und Felix.

Die Maske hatte er schon abgenommen, die Plane zusammengefaltet, beides schon in seiner Weste verstaut. Das Handy, wo ist das Handy? Ruhig bleiben. Während des Laufens, jetzt mit aufrechten Schritten, wie ein zu schneller Wanderer, suchte er das Handy. Endlich kam die Haltestelle in Sicht. Das Handy fand sich in der linken, äußeren Brusttasche der Weste. Einschalten, PIN, SMS aus dem Speicher und absenden. SMS löschen, noch mal kontrollieren ob alles gelöscht ist. Handy ausschalten. Chip rausnehmen. Akku abnehmen. Handy in hohem Bogen in das vorher erkundete Sumpfloch werfen. Akku in der anderen Richtung entsorgen. Chip über den in die Weste eingenähten Magneten ziehen, zerbrechen und in die Erde treten. Handschuhe links herum ausziehen, wegen der Schmauchspuren, und verstauen. Weiterlaufen. Den Fahrschein aus der Hosentasche holen und schneller. Da kam eine Bahn. Schneller. Geschafft. Er spürt den leichten Luftzug auf seiner Stirn. Das hieß, er schwitzte. Keine anderen Fahrgäste, die hier einsteigen wollen. Schwein gehabt. Die Bahn kam. Er traute seinen Augen nicht. „Betriebsfahrt“ stand in der Anzeige über dem Fahrer.

„Horst, Felix, kommt ihr her!“, hatte der Mann im Rollstuhl gerufen. So rief man doch keine Freunde. Da kam die nächste Bahn, zwar in die andere Richtung, aber jetzt ist alles egal. Er wechselte die Straßenseite. Die Straßenbahn fuhr ein. Er drückte auf den Knopf. Die Tür öffnete sich. Er entwertete den Fahrschein, setzte sich und stand verwundert gleich wieder auf. Der Typ im Rollstuhl.

Er hatte seine Angeltasche auf seinem Schoß. Das Gewehr war da drin. Das erkannte er sofort. Und dann kamen Horst und Felix in sein Sichtfeld. Die beiden altersschwachen Hunde schleppten sich den Weg entlang und konnten dem elektrisch betriebenen Rollstuhl gerade eben mal so folgen.

Er setzte sich, nein, er brach vor verwunderter Erschütterung zusammen und fuhr Straßenbahn. Horst und Felix. Hunde. Er, der Kleine, hatte seine Waffe zurückgelassen wegen ein paar Hunden und einem Krüppel im Rollstuhl.

10 Minuten später,

Felix und Horst ließen sich den Kopf kraulen. Da waren Sirenen zu hören. Das machte nichts. Er hatte alles was er wollte. Durch Zufall, okay. Na und. Sein Leben hatte wieder einen Sinn. Hier kannte ihn kein Mensch wirklich. Wo war seine Videokamera? Die Polizeiwagen bogen ab, nahmen ihn nicht wahr. Das Gesträuch neben dem Fahrradweg versteckte ihn. Wo war die Kamera, verdammt? So ein Mist. Als er sich aus dem Rollstuhl warf, um an das Gewehr zu kommen, musste ihm die Kamera aus der Halterung gefallen sein. Dahin kann er jetzt nicht zurück. Wenn seine Schwester nur nicht so ein verdammter Kelly Fan wäre. Er wollte sie überraschen. Dieses Segelschiff auf der anderen Seite der Warnow, gehörte Joey Kelly. Dieser hatte das Schiff im Jahr 2000 an die Stadt Rostock in einer Art von Pacht übergeben, um sozial gefährdete Jugendliche auf diesem Schiff an ein Leben zu gewöhnen, welches eben nicht nur die seichten Seiten zeigt. Ein gern gesehenes, förderungswürdiges Projekt. Viele Begeisterte, wenig Geld - wie immer. Aber Joey Kelly hatte das Schiff, immerhin in einem Wert von fast 500.000 Euro, einfach gespendet. Keiner in Rostock konnte das begreifen. Und alle waren überfordert.

Nach acht Jahren sah das Schiff jetzt famos aus.

Ein richtiger Rahsegelschoner, sogar mit einer Breitfock. Das gab es nicht so oft in der Ostsee. Er kannte sich aus. Genau genommen gab es das nur einmal. Als seine Schwester erfuhr, dass Joeys Schiff in Rostock gelandet ist, fing sie richtig an zu nerven. Er schaffte es, sich vor zwei Jahren für einen Törn nach Kopenhagen anzumelden. Kosten - keine dreihundert Euro. Für einen Segeltörn über die Ostsee, für immerhin eine Woche. Verpflegung inklusive. Fand er toll. Er konnte viele Impressionen für seine Schwester mitbringen. Dann dieser blöde Unfall. Einverstanden, der Arzt sagte voraus, dass er in etwa sechs Monaten wieder laufen kann. Aber richtig rennen und klettern würde wohl noch mal sechs Monate dauern. Und alles nur wegen Heino. Dieses Arschloch musste ja unbedingt Rambo am Lenkrad spielen, nur weil ihm ein Anderer die Vorfahrt nahm. Blöderweise war Heino, der nicht sonderlich helle Freund seiner nicht sonderlich attraktiven, immerhin fast dreißigjährigen Schwester. Und dieser Gummihund nimmt sich den Wagen seiner Schwester, um ihn nach Haus zu fahren und legt den ollen Opel aufs Dach. Dass er jetzt einen fulminanten Hüftschaden mit Omas Hunden gemeinsam auskurieren durfte, war also so nicht geplant.

Aber wo zum Teufel war die Kamera? Eines dieser „Sammeln Sie doch bitte Punkte und wir werfen Ihnen High Tech hinterher – Tankstellen Produkte“. Angeblich hatte seine Freundin nicht einmal fünfzig Euro dazu bezahlt. Trotzdem war dieses Mistding jetzt verschwunden. Er war nur diesen Weg runtergefahren und hatte immer auf dieses Schiff gehalten. Dazu etwas moderiert. Er näherte sich dem Fluss, der Warnow, und filmte weiter. Immer die „Santa Barbara Anna“, so hieß das Schiff, nach der Mutter der Kelly Familie, im Visier.

Und dann folgte dieser Schuss. Er hatte keine Angst. Er hatte keine Illusionen. Er wusste genau was er tat. Er sah, dass der Mann, trotz seiner Maske, irritiert war. Das war eine neue, unbekannte Situation für ihn. Er überbewertete den anscheinenden Krüppel. Er war in Panik. Obwohl er wirklich gut vorbereitet war. Er hatte eine Plane, eine Maske, eine Halterung für das Gewehr, so eines hatte er noch nie gesehen, und er hatte einen Schuss abgefeuert. Er selbst hatte keine Erfahrung mit Waffen. Aber jetzt hatte er eine Waffe. Das war das Entscheidende. Und er wusste, dass er lernen würde, damit umzugehen. Und er wusste, dass er ein Leben beenden würde. Er, Marc Hüter, würde vielleicht im Knast landen. Aber der Andere wäre endlich tot.

Saarbrücken, sechs Tage später

Internet ist doch was Fantastisches. „www.waffenhq.de“ - und du findest alles, was du über ein Gewehr wissen musst. Und bei „YouTube“ stellen diese waffenverrückten Amis sogar Videos rein, in denen das Gewehr genau beschrieben wird. Sogar, wie man damit schießt und es auseinander zu nehmen hat. Am wahnsinnigsten war der Gedanke, dass er seit Rostock, im Zug, auf dem Bahnsteig, im Bus und wo er sich überall rumgetrieben hatte, die Waffe nicht einmal gesichert hatte. Er transportierte das schwere Teil einfach so, wie er es eine Woche vorher gefunden hatte. Wie leicht hätte sich ein Schuss lösen können. Aber gut, er hatte eben keine Erfahrung mit Waffen. Doch im Internet fand man alles, was man brauchte. Auch die entsprechenden Angaben zum Visier, zur Munition, zur Reinigung. Er hatte sich etwas Waffenöl gekauft. Nicht das er sich wirklich zugetraut hätte, die Waffe auseinander zu nehmen. Aber den Gehäusedeckel hatte er abgemacht und mit einem Zerstäuber etwas Öl hinein gesprüht. Der Zerstäuber war von seiner Mutter. Eigentlich sollte in diesen, wie nannte seine Mutter das Ding, Öldosierer, genau, das war das Wort, Öldosierer, also da sollte so ein Öl rein, was sie sich immer auf ihren Mozzarella machte. Er mochte den doofen Käse nicht und seine Mutter besuchte ihn schon seit Jahren nicht mehr. Er war jetzt 33, an den Rollstuhl gefesselt und hatte endlich seinen alten Peiniger wieder gefunden. Nichts war ihm so verhasst, wie das Internat, in das seine Eltern ihn gesteckt hatten. In der Eifel, Junge, da ist es schön. Wunderbare Lehrer. Ein ganz neues Gebäude. Da kannst du sogar reiten. Und lernst neue Leute kennen. Da bist du so ein bisschen auch dein eigener Herr. Seinen Vater interessierte nur, wie er das Geld für das Internat auftreiben sollte. Grundsätzlich war er schon für eine höhere Schulform. Aber weshalb in die Eifel? Der Vater wünschte es eigentlich anders. Frankreich war gleich um die Ecke von Baden-Baden. In Strasbourg würde der Junge nicht nur zweisprachig aufwachsen, sondern auch noch an einem sportorientierten, internationalen Gymnasium lernen können. Freitagabends in den Bus - und keine fünfzig Minuten später zu Haus in Baden-Baden. Das wäre nicht nur näher dran, sondern auch billiger. Letztlich setzte sich Mutter durch. Also Privatschule in der Eifel. Drei Jahre später starb sein Vater von einem Tag auf den anderen. Gehirnschlag. Einfach so. Und Mutter hatte kein Geld mehr für das Internat. Sie ging ja nie arbeiten. Das Geld hatte Vater ran geschafft. Und nicht wenig. Als die Lehrer mitbekamen, dass er am Ende des Schuljahres gehen würde, beantragten sie sogar eine Art Stipendium für ihn. Es sollte nichts helfen. Antrag abgelehnt. Keinem war die Situation angenehm. Nur einer war sehr traurig, als Marc die Schule verließ. Holger Baum. Der mieseste, unberechenbarste Mensch, der Marc in seinem jungen Leben begegnet ist. Intrigant und Wohltäter. Schaf und Wolf. Holger Baum, dieses miese Schwein, wollte immer Lehrer werden und hatte ganz konkrete Vorstellungen von großdeutscher Erziehung im Stile der Schulen der 30-er Jahre des vorigen Jahrhunderts. So würde er lehren wollen. Aber vorher musste er noch seine Experimente beenden. Experimente an Mitschülern. Marc Hüter war eines seiner Lieblingsopfer. Bittere vier Jahre lang glaubte ihm kein Mensch, ob Eltern oder Lehrer, dass Holger ein sadistisches Schwein war, welches die ausgeklügeltesten Methoden entwickelte, um Andere zu quälen ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Es fing damit an, dass eines Morgens Marcs Bett nass war. Nicht nur Wasser. Nein, alle mussten denken er sei ein Bettnässer. Unmissverständlich sagte Holger ihm, nachdem praktisch jeder in der Schule von der Bettnässerei wusste, dass er selbst es gewesen war und dass er noch ganz andere Sachen anstellen würde, wenn Holger nicht an Marcs Taschengeld beteiligt würde. So ging es immer weiter. Prügel, Verbrennungen, eiskalte Duschen, Drogen in seinem Bettzeug, Kot in seinen Schuhen. Einmal war Marcs ganzer Schrank leer. Holger half scheinheilig beim Suchen. Später kassierte er nicht mehr, er wollte „Erfahrungen mit Jungs sammeln“. Genau so drückte er sich aus. Marc, drei Jahre jünger, damals gerade elf Jahre alt, wurde gezwungen, sich einen Pornofilm anzuschauen. Dabei sollte er sich selbst befriedigen. Holger war stärker, größer, gemeiner, fieser und heimtückischer. Er hatte die Macht. Und, er hatte ein Video davon, wie Marc sich im Bibliotheksraum der Schule einen runterholte. Damit war Marc völlig in Holgers Händen. Er wollte nur noch raus. Seine Leistungen gingen den Bach runter. Er schlief oft nicht in seinem Bett, sondern im Gewächshaus. Verdrückte sich, wo er konnte. Ein gebrochener junger Mensch von zwölf Jahren. Alle Gespräche mit Eltern und Lehrern gingen ins Leere. Er durfte doch nichts sagen. Holger würde das Video irgendeinem Lehrer vor das Büro legen. Holger war auf dem Video nicht zu sehen. Nur Marc und ein Porno und seine Selbstbefriedigung.

Niemand könnte Holger damit belasten, niemand könnte helfen. Marc wurde dreizehn und sein Vater starb. So traurig er war, so dankbar war er. Jetzt endlich konnte er dieser Schule den Rücken kehren.

Bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr hatte er in Baden-Baden Ruhe. Dann kam der Tag als plötzlich die Hölle auf Erden an seiner Tür klingelte. Er stand vor ihm, nicht nüchtern, und sagte nur: „Ich brauche Geld!“

Marc brach sofort zusammen. Er hatte gehofft, gefleht, ja sogar gebetet, dass dieses Monster längst tot sei oder wenigstens ausgewandert. Er war sofort jeglicher Ansätze seines gerade erst gewachsenen Selbstbewusstseins beraubt. Holger Baum sehen und augenblicklich zusammenknicken, war die einzige Reaktion. War er wirklich dazu verurteilt diesem Vieh ausgeliefert zu sein?

„Gib mir Geld!“ Schon hatte er Marc am Kragen und drang in die Wohnung ein. Seine Schwester müsste gleich kommen er müsste nur durchhalten. „Ich bin von der Schule gegangen, weil wir kein Geld hatten. Ich hab jetzt auch kein Geld.“ Marcs Antwort kam zögerlicher, als er selbst erwartet hatte. Würde er ihm glauben oder ihn schlagen? Nichts tat Holger. Er schritt durch die Wohnung und sah sich um. Er schmiedete Pläne, dass kannte Marc. Er konnte es spüren. Gleich würde wieder etwas aus seinem kranken Hirn erwachsen. Da lag die Vase schon kaputt auf dem Boden. „Oh, das tut mir leid. Ich bin sicher, deine Supermutter wird das verstehen. Aber dieser Fernseher, ob sie das auch verstehen wird?“ Marc war wieder allein, er hatte wieder keine Zeugen. Er war ihm, wie immer, ausgeliefert. Er war in allem stärker, auch, und vor allem, mental. „Nicht den Fernseher. Ich hole Geld.“ Er ging in sein Zimmer und holte alles Geld was er hatte. Etwa 120 Mark. Wortlos drückte er Holger das Geld in die Hand. „Geh jetzt bitte.“ „Ich komme wieder. Das bisschen reicht nicht. Ich brauche mehr. Viel mehr. Wir sehen uns.“ Im Hinausgehen warf er noch das Telefon von der Kommode. Die Tür fiel ins Schloss. Marc ging kontrollieren ob er wirklich weg war. Der Flur war leer. Er ging in die Knie und fing an zu weinen. Räumte das Telefon wieder auf die Kommode und holte seinen Basketball aus dem Zimmer. Damit würde er sich entschuldigen. „Mama, mir ist der Ball runtergefallen und dann hat er die Vase…“ Ja, er hatte gelernt sich zu entschuldigen, sich zu verstecken und einzuigeln. Blöderweise musste Holger Baum, dieser elende Tyrann, zum Bund und das genau in der Nähe von Baden-Baden. Immer wieder fuhr er zu Marc. Am liebsten, wenn er nicht mehr ganz nüchtern war. Dann machte es dem Sadisten am meisten Freude, Marc bis aufs Blut zu demütigen. Später konnte Mutter die große Wohnung in dem wohl situierten Viertel nicht mehr halten. Sie zogen zu seiner Tante nach Homburg. Dort begann er seine Lehre als Vermesser. Die Ausbildung machte Spaß und er war weit weg von Holger, wo immer der auch war. Er wurde volljährig und beendete die Lehre als Bester seines Jahrgangs. Der Stolz mischte sich mit der Ernüchterung. Der Ministerpräsident des Saarlandes überreichte die Gesellenbriefe in diesem Jahr persönlich. Und das stand dummerweise in der Zeitung. Keine Woche später, klopfte der Student auf Lehramt, Holger Baum, seinem Opfer auf die Schulter und gratulierte. Das sollte gefeiert werden. Wer bezahlen musste war klar. Selbst in Homburg also trieb er ihn auf. Das Geld, das beide an dem Abend versoffen, war eigentlich sein Mietanteil an der kleinen Wohnung, in der auch noch seine Schwester mit wohnte.

Marc erzählte alles seiner Mutter, seine Schwester saß daneben und flennte. Sie glaubte ihm. Die Mutter nicht. Marc besorgte sich einen Job in Heidelberg und pflegte nur noch den Kontakt zu seiner Schwester, die ihm versprechen musste, der Mutter nicht zu verraten, wo er hinging. Zwei Jahre später sah er Holger Baum in einem Zeitungsartikel. Ein gern gesehener Lehrer. Sport und Geschichte. Viele freiwillige Aktivitäten an der Schule. Verheiratet, 2 Kinder. Vorbild für die Kollegen. Ihm platzte der Kragen. Durch wirkliche Freunde und seine Schwester immer wieder mit seiner Jugend konfrontiert, fand Marc zu einem Selbstbewusstsein. Er war jemand. Er hatte viel erreicht. Kein Holger Baum würde ihm jemals wieder etwas antun können. Und das wollte er sich selbst beweisen.

Er fuhr also nach Saarbrücken, zu dieser Schule. Stellte sich davor und wartete. Er würde so lange stehen bleiben, bis der Scheißkerl die Schule verließ. Er würde sich vor ihm aufbauen und ihm ins Gesicht spucken. Vor seinen Schülern, vor all den Eltern und dann würde er einfach gehen. Dieses Kapitel wäre dann für ihn abgeschlossen. Er würde sich befreien. Und genau so kam es. Holger trat aus dem Schulportal. Marc ging auf ihn zu, nahm keinen Meter vor dem Peiniger sein Basecap ab. Der erkannte ihn sofort und realisierte schnell, dass er Marc, seinen Prügelknaben und Spielball, jetzt nicht ansprechen sollte. Die Luft zwischen den beiden brannte. Marc Hüter fixierte die Augen seines persönlichen Teufels. Diese grünen, schwachen Augen. Er atmete tief durch. Dann rotzte er sich all seinen Frust aus Hals und Nase und spuckte dem Vernichter seiner Jugend ins Gesicht. Holger Baum, schockiert, stierte die umstehenden Eltern und deren Kinder an. Er griff zu einem Taschentuch, das eine Kollegin ihm reichte. Wischte sich das Gesicht ab.

„Das so ein Verbrecher, so ein Sadist, so eine Sau wie du Lehrer werden konnte…?“ Marc drehte sich einfach um und ging.

Hinter sich hörte er keinen Holger kommen oder fluchen, nein, nur die Stimmen der Anderen.

Er ging weiter. Er hatte es getan. Er war frei. Er hatte sich befreit von seinem Trauma. Der Tag öffnete sein Herz und schenkte Marc einen Sonnenstrahl. Die Wärme umfing Marc wie ein Mantel aus Belobigung. Einer Belobigung einer imaginären Macht. Glück macht keine Vertreterbesuche. Glück, solches Glück findet man nur auf dem Weg, den man zu beschreiten bereit ist.

Die Rache ließ keine Woche auf sich warten. Seine Mutter hätte Besuch gehabt von so einem netten jungen Mann, der fragte, ob denn der Marc in einer sicheren Stellung sei. Er habe von Marcs Ausbilder in Homburg erfahren, dass Marc jetzt nicht mehr in Homburg wohnte und würde dem Jungen so gern eine Stellung anbieten. Die Mutter, naiv wie sie ihr Leben lang gewesen war, verwies ihn an ihre Tochter. Nur die wusste, wo Marc war.

Marcs Schwester hatte die Tür noch nicht einmal richtig geöffnet, als sie die erste Ohrfeige bekam, danach einen gezielten Schlag in den Magen, und sie ging in die Knie. Er schlug genauso, wie ihr Bruder, Marc, es beschrieben hatte. Keine Spuren hinterlassend. Dann wurde ihr schwarz vor Augen. Als sie wieder zu sich kam und Holgers Grinsen wahrnahm, war ihr Wille gebrochen.

Sie verriet ihm alles. Die Anschrift, die Telefonnummer, die Arbeitsstelle, die Farbe seines kleinen Renaults... Alles. Alles was dafür sorgen würde, dass dieses brutale Arschloch ihren Bruder finden konnte.

Holger Baum ging einfach. Er stand auf und ging einfach. Sie rief sofort Marc an, der mit ihrem Freund Heino beim Einkaufen war. Und Heino drehte durch. Baute diesen bekloppten Unfall. Na klar wollte er schnell zu seiner Freundin, aber deshalb völlig auszuticken, nur weil ein anderer ihm die Vorfahrt nahm? Und das keine hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt? Seine Schwester brauchte sie beide und beide lagen dann im Krankenhaus. Sie wollte Anzeige erstatten. Die Polizisten fragten freundlich nach Spuren der Schläge. Was sollten sie machen? Sie nahmen die Anzeige auf und gingen unverrichteter Dinge.

Heino konnte schon wieder an Krücken laufen. Marc Hüter aber wartete auf den Beginn seiner Reha. Es war noch nicht vorbei.

Marc bekam einen Anruf von seinem Kollegen. Ob er wisse, dass ein Film von ihm im Internet aufgetaucht sei. Auf mehreren Websites könne man zusehen, wie er sich einen runterholte. Danach rief eine Kollegin von seiner ehemaligen Lehrfirma an. Sie hätten einen Brief erhalten, in dem explizit auf diese Internetseiten hingewiesen wurde. Weshalb er denn so etwas gemacht hätte? Kollegen, ehemalige Klassenkameraden, Freunde, Nachbarn, Kumpels aus dem Bowlingclub, und natürlich seine Mutter, alle wurden anonym informiert. Nur seine Schwester nicht. Sie war die Einzige, die ihm jetzt, nach dem Überfall durch Holger Baum, vorbehaltlos Glauben schenkte.

Wie Holger die ganzen Anschriften herausbekommen hatte, blieb ihm ein Rätsel. Er hatte an alle gedacht. Auch an die ehemaligen Lehrer. Jedoch niemand von denen, die ihm Auskunft geben wollten und ihm glaubten, konnte nachweisen, woher die Briefe kamen. Alles perfekt anonym.

Hatte Holger Marc wieder das Rückgrat seines gerade erwachten Selbstbewusstseins gebrochen? Ihm wieder die Seele und die Selbstachtung genommen?

Marc zog sich in die Reha zurück und trainierte. Er kämpfte wie ein Wahnsinniger um sich selbst. Übte auch in der Freizeit, wo immer es ging. Im Rollstuhl sitzend, spannte er die Muskulatur an beiden Beinen immer abwechselnd an, solange er es eben aushielt. Sein Oberkörper nahm in den drei Monaten beachtliche Ausmaße an. Er floh in den Trainingsraum und kam erst wieder heraus, wenn er rausgeworfen wurde. Und dann empfahl man ihm Frau Dr. Barz. Eine absolute Expertin für den unteren Bewegungsapparat und die Motorikschulungen von Rekonvaleszenten. Allerdings war Dr. Barz solch eine Koryphäe, dass jeder, der etwas von ihr wollte, auch zu ihr kommen musste. An die Ostsee. Nach Heiligendamm. Die Kuranträge für Marc wurden bestätigt und er nahm sich vor, seine Oma im Osten zu besuchen. Und bei eben diesem Besuch, nach Beendigung der Behandlung durch die attraktive Frau Doktor, bei seinem letzten Ausflug, machte Marc die Erfahrung, dass Schicksal auch bedeuten kann, dass er einmal Oberwasser bekommt. Er hatte eine Waffe. Jetzt war es soweit. Kein Mensch wusste von ihm. Er hatte auch keine Anzeige wegen des Videos erstattet. Keiner würde auf Holger kommen, denn der hatte beim Einstellen des Videos ins Internet definitiv keine Spuren hinterlassen.

Saarbrücken, Mecklenburger Ring 72, 10. Etage, ein Etagenhaushaltsraum

Glücklicherweise hatte er seinen alten Kassenrollstuhl wieder. Dieses elektrische Mistding aus der Rehaklinik hätte nicht durch die Tür gepasst. Er hatte das Fenster geöffnet. Das vierte Schulklingeln heute schon. Noch zweimal. Dann würde er ans Fenster rollen und die Waffe aufnehmen, anlegen und schießen. Er hatte gelernt, die Waffe zu laden, zu sichern, zu entsichern und sie ordentlich in die Schulter einzuziehen. Der Rückschlag sollte enorm sein. Egal, er war jetzt, nach der Reha, sehr gut trainiert. Doch mit der Visiereinrichtung des Gewehrs hatte er so seine Probleme. Die Entfernungsbestimmung war im Internet umständlich erklärt; war ja auch nicht das Originalvisier. Na und? Wozu war er Vermesser? Er hatte einen Laserdisto in seiner Wohnung. Vorgestern, als er den Raum schon ausgekundschaftet hatte, hielt er den Distomaten aus dem Fenster, zielte auf das Fahrzeug vor dem Eingang der Rostocker Straße 87 und löste den Laser aus. Eine Sekunde später wusste er es genau. 142 Meter Luftlinie würde Holger Baum von ihm entfernt sein. Rostocker Straße, das fiel ihm jetzt erst auf. Das musste Schicksal sein. Rostock brachte ihm wohl doch noch Glück, oder was? Die Schwalben hatten sich fein gemacht. In größerer Höhe sammelten sich Tauben. Hunderte Tauben. Der Himmel war durchbrochen von feinen, leuchtenden Streifen. Die Vögel reagierten auf etwas für Marc nicht Erkennbares. Langsam entschwanden die Tiere in Richtung des Parks aus seinem Sichtfeld. Eine Wolke verdunkelte kurz, durch einen langen Schatten, die Bäume am Rande des Parks. Ein Pärchen sah einem tobenden Hundepaar zu. Marc nahm den Geruch erst wahr, als er auch die dezenten Rauchschwaden sah. Der Hackbraten, in einer Küche unter ihm, war mit Sicherheit angebrannt. In der Ferne schrillten die Sirenen eines Krankenwagens. Und da war noch ein anderes Geräusch.

Ja, es klingelte schon wieder. Die Schulklingel. War er wirklich so lange seinen Tagträumen erlegen? Langsam rollte er ans Fenster. Die Sonne blendete etwas. Jetzt erst sah Marc die ganze Schule und den Parkeingang dahinter. Einige Boule-Spieler waren zu erkennen. Die Kinder würden genau wie gestern auch aus der Schule rennen. Auf dem Parkplatz vor der Schule, der gleichzeitig das Ende der Sackgasse Rostocker Straße war, würden wieder die Autos der Eltern warten und wenig später würde der Verbrecher die Schule verlassen, zu seinem Citroën treten und sterben. Die Kinder waren dann schon lange weg. Dann würde Marc die Handschuhe ausziehen, die Plastikhaube vom Schirm seines Basecaps abnehmen und in den alten Pullover einrollen. Genauso wie die Plane, die er auf dem Schoß hatte. Den Rest übernahm Heino. So dürften eigentlich keine Schmauchspuren an ihm zu finden sein. Hoffentlich trifft er auch gleich. Er hatte noch nie geschossen. Auf dem Rummel mit seinem Vater hatte ihn vielmehr der Autoskooter interessiert. Am liebsten war ihm, wenn er allen anderen geschickt ausweichen konnte, ohne eine Berührung. Nicht dass er Angst gehabt hätte, nein, aber draufhalten, das konnten alle. Seinem Vater imponierte das sehr. Wie er seinen Vater vermisste. Würde der jetzt auch schießen? Er wusste es nicht und würde es auch nie erfahren. Er aber würde es tun. Marc sah auf die Uhr. In vier Minuten würde es zum letzten Mal an diesem Tag in der Schule und vor allem zum letzten Mal für Holger Baum klingeln. Er fuhr zum Fenster, nahm das Gewehr, ein russisches SVD Dragunow, wie er im Internet erfahren hatte, und steckte das Magazin in die Öffnung. Er hatte sogar die Munition einmal rausgenommen und sich angesehen. Er hatte Respekt vor den Projektilen. Acht der Patronen hatte er wieder in das Magazin getan. Eine Patrone mit einem grünen Punkt auf der Spitze hatte er zu Hause versteckt. Die würden ihn sowieso nicht finden. Eine Patrone als Trophäe. Nach dieser Aktion würde er ein Mörder sein, ein anderer Mensch. Aber einer, der ruhiger leben können würde als vorher. Er entsicherte mit dem Hebel auf der rechten Seite. Langsam zog er den Spannhebel nach hinten und ließ los. Jetzt, so wusste er inzwischen, war eine Patrone im Lauf. Er legte den Gurt um den Unterarm, so wie auf der Zeichnung im Internet. Ob Heino schon wartete? Bestimmt. Der Lauf des Gewehres lag auf dem Fensterbrett auf. Es klingelte. Er nahm die Schutzhülle von der Optik. Sein Kopf näherte sich der Gummikappe des Visiers. Die Kappe hatte er umgestülpt, damit er mit seiner Plastikfensterkonstruktion vor den Augen überhaupt nah genug an das Okular kam.

Jetzt sah er einwandfrei. Die Sonne störte nicht. Der Wind, so stand im Internet, sei bei Entfernungen unter 250 m zu vernachlässigen. Durch die Rasanz des Geschosses würde der Wind keine Probleme machen. Und dann stand da noch was von der Entfernung des direkten Schusses. Das hatte er so verstanden, dass er bei seinem Schuss nichts zu beachten hätte, als genau auf die Zielmitte zu halten. Und dann stand da noch, er solle nicht durchreißen. Oder durchziehen? Er wusste es nicht mehr so genau. Egal, er war so nah dran, dass er die Beschriftungen der T-Shirts der Kinder lesen konnte. Die ersten Autos fuhren kindergefüllt los. Andere Kinder gingen nach Hause, durch den Park, an den Boule-Spielern vorbei. Einige liefen auch in seine Richtung, aber sie konnten ihn nicht sehen. Weitere Autos fuhren vor. Kinder sprangen hinein und schon waren die Autos wieder weg. Der Citroën Picasso stand immer noch. Er nahm die Fahrertür ins Visier. Seine Gedanken sprachen mit ihm. Wie so oft. „Komm Holger, du hast nur Mittagspause. Danach geht dein Sporttraining los, ohne Trainer.“ Eine brünette, angenehme Erscheinung verließ das Schulgebäude und ging zum Citroën, zu Holgers Picasso. Wollte sie jetzt damit fahren? Sie ging auf die Beifahrerseite. Also, doch nicht. Dann würde sie erleben, wie Holger starb. Pech gehabt. Ihr Trauma nach diesem Erlebnis würde auch nicht schlimmer sein können, als Marcs Trauma, seit ihm dieser Typ im Alter von neun Jahren zum ersten Mal begegnet war.

Holger kam. Er winkte der Wartenden zu. Suchte seinen Autoschlüssel, fand diesen, drückte auf den Knopf der Fernbedienung. Die Blinker zeigten an, dass die Türen offen waren. Die Frau stieg ein. Holger Baum näherte sich. Fasste die Tür an. Der Kopf war genau im Visier. Marc spannte alle Muskeln an und zog den Abzug durch. Scheiße, war das laut. Die Sperre des Rollstuhls hätte er wohl mal besser auch fest gemacht. Er konnte nicht mehr aus dem Fenster sehen. Musste sich erst wieder dorthin schieben. Er nahm die Waffe neu auf und schaute durch die Optik. Holger kniete neben seinem Auto. Er hielt sich die rechte Schulter. Die war rot. Die Schulter, aha das meinten die im Internet also mit Abkommen. Abkommen vom eigentlich angestrebten Ziel, weil man zu sehr verkrampft. Also, noch mal. Wie war das jetzt gleich: Einatmen, Luft anhalten, von unten in das Ziel visieren und langsam durchziehen. Holger Baum, verletzt, mit leerem Gesicht und ohne jedes Verständnis für das Geschehene, drehte sich um. Der Schuss brach. Die enormen Kräfte, die Marc sich antrainiert hatte, ließen die Waffe nicht erneut zittern. Jetzt wusste er um den Rückstoß und den Knall. Holger Baum schaute zu dem Haus, in dem der Schütze saß. Marc schaute in das Visier. Es war so eine Patrone mit einem kleinen grünen Punkt auf der Spitze. Jetzt. Das Projektil schlug genau in Holgers Nase ein.

Marc musste weg hier. Er hatte Angst. Er war seit einigen Sekunden ein Mörder. Hoffentlich war Heino schon da. Er ließ die Waffe fallen. Riss sich den Plastikschutz vom Basecap, zog den alten Pullover aus und rollte seinen mobilen Stuhl aus dem Raum. Heino stand bereit. Sie fuhren mit dem Aufzug gemeinsam nach unten. Heino nahm auch die Handschuhe an sich und die große Folie, die Marc auf dem Schoss hatte. Heino stieg als erster im Erdgeschoss aus.

„Und jetzt schubs mich und lauf, lauf.“ Heino griff den Rollstuhl und schob diesen mit Gewalt gegen die Wand neben den Briefkästen. Marc stürzte aus dem Rollstuhl robbte sich noch ein bisschen die Treppen hinunter und blieb liegen. Na klar hatte er den Täter gesehen. Von hinten. Der hatte ihn ja hier die Treppe runter gestoßen. Das würde seine Aussage sein. Von hinten, nur von hinten. Heino entsorgte Handschuhe, Folie und Plastikvisier im Container. Sollten die Ermittler doch ruhig Spuren finden. Ein vom Tatort weg Rennender, der Utensilien mit Schmauchspuren hinterlässt, ist das beste Alibi für Marc.

Er wusste, dass jetzt ein neuer Tag angebrochen war. Sein Tag.

Hauptkommissariat der Hansestadt Rostock,

Büro Kriminalhauptkommissar Magnus Sturm.

„Sie wollen mir also erklären, dass wir einen Toten haben, der effektheischend in den Rahen eines Segelschiffes hängt, um Touristen anzulocken, dass wir weiterhin einen Fleck auf der anderen Seite der Warnow gefunden haben, von wo aus geschossen wurde, wo wir aber nur eine Billigkamera fanden und Sie wollen mir erklären, dass wir nicht den leisesten Ansatz haben, was da im Schilf vor sich ging? Das Projektil ist durch den Kopf durch und nicht auffindbar? Der Platz des Schützen ist vermutlich, das Wort machte er sehr lang, eine Stelle, wo alles Schilf runter getreten ist und ein armdicker Pflock in die Erde getrieben wurde. Die Kamera weist die Spur eines Fahrradreifens auf. Was auf dem Speicherchip der Kamera ist, wissen wir noch nicht. Die Fingerprints“, dieses Wort liebte er, „auf der Kamera sind nicht in unserer Datei. Keine verwertbaren Spuren an dem Ort, den wir als Standpunkt des Schützen vermuten. Der Mann auf dem Segler ist fast siebenhundert Meter entfernt. Alle hören nur einen Schuss. Der war ein Fachmann. Ein Experte. Ein Sniper.“ Auch diese neumodischen Worte mochte er. Sein Sohn spielte auch manchmal solche Ballerspiele. Magnus probierte auch schon aus. Das machte kurzfristig Spaß, befriedigte aber nicht. Der Kaugummi störte. Kurzerhand schluckte er diesen. Eigentlich sollte er an der Adria in einem Boot dümpeln und sich die Sonne auf den Bauch scheinen lassen. In seinem Fünf-Tage-Urlaub, im italienischen Triest, erschienen plötzlich zwei Carabinieri in der Hotelbar und überreichten ihm ein Fax. Telefonisch sei er wohl nicht erreichbar gewesen. Er sollte sofort wegen eines dringenden Falles in Rostock erscheinen. Das mit seinem Urlaub würde schon geregelt werden. Er solle sich diesbezüglich keine Gedanken machen. Da Magnus prinzipiell ohne sein Mobiltelefon in den Urlaub fuhr, die Rostocker Kollegen keine Anschrift des Hotels hatten, sondern nur sein Chef den Ort seiner Reisen kannte, war dies die einzige Möglichkeit gewesen, ihn zu erreichen. Italienisch-Deutsche polizeiliche Zusammenarbeit. Zwanzig Stunden später war er wieder im heimatlichen Rostock. Wenn sein Staatsanwalt rief, dann kam er auch.

Sein Staatsanwalt. Alois Perlhuber, ein waschechter Wessi aus Bamberg im Frankenland. Passionierter Biertrinker der sich seine Stammmarke, das Rauchbier „Schlenkerla“ schicken ließ. „Rostocker können saufen, aber brauen können’s net.“ Das hat er zu Magnus gesagt, nachdem ihre erste erfolgreiche gemeinsame Ermittlung in einem Saufgelage endete. Magnus hatte seinen Alois nach Hause getragen. Am nächsten Morgen bot Alois seinem „Sprottenboxer Magnus“, wie er ihn gern, in Anlehnung an das Schimpfwort Fischkopp, nannte, eine Flasche Schlenkerla an. Magnus kostete und probierte, nahm sich ein Bierglas, füllte es und sagte: „Ich weiß, weshalb die dich an die Küste geschickt haben. Dein Bier riecht nach Fisch.“ Der Franke nahm gelassen einen weiteren, langen Schluck. Grinste. „Du Dussel, das ist Rauchbier. Das riecht wie euer Aal. Vermutlich räuchern die Bayern schon länger Bier als ihr Fische.“ Damit war das Thema erledigt. Magnus trank sein Rostocker Export und Alois sein Schlenkerla. Gesoffen wurde eigentlich nur das eine Mal. Der eine konnte den anderen mitten in der Nacht nerven, und der war nicht sauer. Man versprach sich etwas in die Hand und hielt es ein, wie einen Vertrag zwischen Hamburger Kaufleuten. Das Zusammenarbeiten klappte. Mehr war dazu nicht zu sagen.

„Leute, was wisst ihr über Detlev Gelbert? Ein Killer liegt mitten in der Stadt auf der Lauer und wartet, bis sein Opfer eine attraktive, touristenfreundliche Zielscheibe abgibt. Am Opfer ist mit Sicherheit mehr dran, als ihr denkt. „Rolf“, der Kollege neben ihm sah auf, „in zwei Arbeitstagen weiß ich alles über Detlev Gelbert. Du hast seine Wohnung umgekrempelt, seinen Keller umgegraben, seine komplette Familie verhört und kennst seine Geliebte, von der nicht einmal seine Frau etwas ahnte. Dazu hast du die gesamte Ermittlungsgruppe drei. Bete, dass der Kerl nicht noch einen Garten hat, denn dann buddelst du den auch noch um.“

Er setzte sich auf die Fensterbank. „Erika, du und unsere Indianer in meinem Büro. In zwanzig Minuten.“ Der Indianer Sven, der Spurensicherer, schlug sich an die Stirn. „Äh, Chef, wir haben doch noch was, ich hab gerade erst wieder den Bericht gefunden. Unmittelbar an der Stelle, wo wir den Schützen vermuten, also da, wo er gewesen sein sollte, na Sie wissen ja, was ich meine… Also dort fanden wir Fahrradspuren. Identisch mit dem Abdruck auf der Kamera.“

„Ja, sehr schön. Und was will der Dichter uns damit sagen?“, platzte Erwin Bloch dazwischen. Bloch war das Ekel der Abteilung. Durch einen Bandscheibenschaden zum Innendienst bis zur Rente verurteilt. Ein perfekter, erfahrener Rechercheur. Aber eben auch ein Ekel.

„Der Dichter, mein lieber Erwin, hat zwei Fahrradspuren hinbekommen, die genau parallel zueinander verlaufen. Es waren also zwei Räder, wie wir bisher annahmen. Jedoch waren es keine zwei Fahrräder.“

Sturm übernahm den Faden des Gespräches. „Hat jemand eine Idee?“ Sein Handy klingelte. Er blickte auf das Display. Er sah eine Flasche Rostocker Bier und eine Flasche Schlenkerla Bier. „Ich muss zum Oberschamanen. Ich erhalte heute noch eine Idee wegen der Reifen. Ich will, dass Schilfproben auf Schmauchspuren überprüft werden. Zwanzig Meter links und rechts von der Schneise, die der Schütze eventuell in das Schilf getreten hat, will ich das volle Spurensicherungsprogramm. Der Parkplatz am Stadthafen wird mit Metalldetektoren nach dem Projektil aus der Waffe untersucht. Die Crew von diesem Segler verhört Team 2 unter Leitung von Christiane.“ Den Blicken der Angesprochenen trotzend: „Ja noch einmal. Auch die Crewmitglieder, die nicht mit zu dem Törn sollten. Alle. Erika und Sven, ich rufe euch, sobald der Bamberger mich wieder freigelassen hat.“

Hauptkommissariat der Stadt Saarbrücken.

Büro von Kriminalhauptkommissarin Karin Siebert.

In dem Raum hatte die Luft seit mehreren Tagen keinen Austausch mit frischem Sauerstoff haben können. Deshalb waren die Fenster jetzt sperrangelweit auf. Die Klimaanlage hatte versagt. Die Frau Polizeipräsidentin raste. Die Reporter vor dem Gebäude waren geduldig. Wie lange noch? Karin Siebert erschien mit der verantwortlichen Staatsanwältin Frau Dr. Annemarie Heilberg-Tövenhooft. Aus dem Dr. und den Anfangsbuchstaben ihres Namens hatte schon bei der Eheschließung ihr Trauzeuge das Wort „Draht“ als ihren neuen Spitznamen kreiert. Den Kalauer, zu ihrem Mann zu sagen: „Du warst wohl gestern Abend wieder mächtig auf Draht“, hatten sich alle schon wieder abgewöhnt. Der Spitzname war geblieben.

Draht sah nicht gut aus. Frau Siebert nicht besser. „Bitte fangen Sie an.“ Maik Grewe, einer der älteren Kollegen, erhob sich. Zog den Vorhang beiseite, hinter dem die Pinnwände mit den Fotos und den Stadtplanauszügen an bunten Nadeln hingen. Er wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab, verpackte dieses umständlich und begann mit der Stimme einer elfjährigen Klosterschülerin zu sprechen. Alle waren es gewohnt, keiner amüsierte sich mehr. „Nach allem, was wir mit immerhin vierzehn Ermittlern am Wochenende rausfinden konnten, ist der Stand der Dinge folgender: Der Täter drang in den Abstellraum in der zehnten Etage ein. Dort werden auf einem Handwagen die Reinigungsmittel des Putzdienstes aufbewahrt. Dieser Handwagen stand, laut der Schichtleiterin der Putzkolonne, nicht mehr an seinem Stammplatz. Das Schloss der Tür ist so alt wie das Gebäude selbst. Mit einem normalen Bartschlüssel-Dietrich kann es geöffnet werden. Der Schütze musste sich den Ort genau ausgesucht haben. Wir fanden in diesem Raum keine Spuren. Ich betone. Keine Spuren. Der Täter, oder auch die Täterin, hatte die perfekte Schussbahn direkt zum Auto des Opfers. Leichter Fluchtweg mit perfekten Möglichkeiten um zu entkommen. Parkmöglichkeiten en gros. Die Buslinie vor der Tür. Hinten raus der Stadtpark, vorne raus das Waldgebiet. Das der erste Schuss danebenging, also das Opfer nicht tötete, irritierte den Schützen überhaupt nicht. Der zweite Schuss drang direkt unterhalb der Nasenwurzel in den Schädel ein und da das Opfer in dem Moment nach oben sah, durch das Kleinhirn. Das Projektil hinterließ eine unangenehm anzuschauende Austrittswunde. Also eigentlich war da kein Hinterkopf mehr. Das Geschoss fanden wir im linken Vorderreifen des Wagens vom Opfer.

Der Getötete heißt Baum, Holger.“

Die Staatsanwältin erhob sich, winkte Frau Siebert. Beide verließen den Raum. „Wenn der Grewe mit dem Elan weitermacht, dann kann ich den Enkeln der Reporter vor der Tür nicht erklären, was da passiert ist. Wovon gehen Sie aus, Frau Siebert?“