Spätes Opfer - A.B. Exner - E-Book

Spätes Opfer E-Book

A.B. Exner

0,0
2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Hommage an die Liebe und Vertrauen. Reginald und Bert lernen sich mitten im Leben als neue Nachbarn kennen und schätzen. Der eine frisch aus der DDR geflohen, der andere Kriminalist in der Nähe von Bremen. Beide haben ihre Probleme, richten sich aneinander auf, werden Freunde. Der Leser begleitet die Protagonisten, die gegenseitig die Lebensgeschichte des Bert Klose erzählen. Dem wird nach dem Mauerfall sein Lebensfehler bewusst, den er wieder gut machen will. Ein Fehler, der Leben nahm und auch Lebenswege zerstörte. Er braucht Zeit, Helfer und den perfekten Moment. Dazu muss er seinen Freund instrumentalisieren.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 292

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



A.B. Exner

Spätes Opfer

Ein Mord! Mord?

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Reginald Hübler

Bert Klose

Reginald Hübler

Bert Klose

Reginald Hübler

Bert Klose

Reginald Hübler

Bert Klose

Reginald Hübler

Bert Klose

Reginald Hübler

Bert Klose

Reginald Hübler

Bert Klose

Reginald Hübler

Bert Klose

Reginald Hübler

Bert Klose

Reginald Hübler

Bert Klose

Reginald Hübler

Bert Klose

Reginald Hübler

Bert Klose

Reginald Hübler

Bert Klose

Reginald Hübler

Reginald Hübler

Impressum neobooks

Reginald Hübler

„Und wenn man auf der Karriereleiter nicht weiterkommt, dann kann es daran liegen, dass man auf der verkehrten Leiter steht.“ Das sagte ich zu meinem Chef und bat um Versetzung. Es tat weh, sicherlich. Rückblickend war es der richtige Schritt. In sechs Jahren gehe ich in die wohlverdiente Pension. Vor etwa zehn Jahren hörte mein Vorgesetzter bei meiner letzten und zugleich ersten wirklich erfolglosen Mordermittlung den Satz, den Sie gerade lasen. Guten Tag. Mein Name ist Reginald. Reginald Hübler. Seit mehr als 35 Jahren arbeite ich bei der Polizei. Bereits im zarten Ermittleralter von 23 Jahren, das war 1975, sah ich meine erste wirklich dienstliche Leiche. Ein Selbstmord. In den Dienst- und Lebensjahren danach, lief mein Leben holpriger als meine Karriere. Zwei Ehen auf der einen Seite und der gehobene Dienst auf der anderen. Im Jahr 1994 wechselte ich auf eigenen Wunsch aus dem Dezernat Mordermittlungen. Präziser gesagt, wechselte ich aus der Kriminalabteilung, denn in dem von uns betreuten Gebiet gab es nie so viele Morde, dass sich eine eigene, separate Abteilung gelohnt hätte. Wir waren die Kriminalisten, die bei Bedarf auf die Bremer Spezialisten oder die Kollegen vom Landeskriminalamt zurückgriffen. Ich wollte weg von den reinen Ermittlungen. Der einzige Weg, in der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, zu bleiben, war eine interne Versetzung. So beantragte ich die Versetzung in die Fahndung beim Landeskriminalamt Niedersachsen. Was der Grund dafür war? Bert war der Grund dafür. Bert Klose. Kein Mensch hatte es verdient, so zu sterben. Und ich weiß, wovon ich schreibe. Niemand war freundlicher, umsichtiger, beliebter als Bert. Sein Tod, präziser ausgedrückt der Mord an Bert Klose, ist der Grund dafür. Davon handelt dieses Buch.

Bert Klose

Hallo. Reginald wäre bestimmt erbost, wenn er wüsste, dass ich mich hier einmische. Nur, es ist eben nicht nur seine Geschichte, sondern im Wesentlichen auch die meine. Immerhin bin ich der Tote, der ihm solch Kopfzerbrechen bereitete. Oh, Moment: Präsens ist hier richtiger. Ich bereite ihm die Kopfschmerzen wohl immer noch. Reginald ist ein wirklicher Freund. Ja, ist – über den Tod hinaus. Und das zynischste, gleichwohl liebevollste Wesen, was mich seit 1983 begleitet hat. Bei unserem ersten Zusammentreffen blickte ich auf einen nicht mehr voll bewachsenen Scheitel herab. Buschige Augenbrauen warfen Schatten auf den Rahmen einer Sonnenbrille, welche, drücken wir es diplomatisch aus, bald wieder modern sein könnte. Also eigentlich ganz normal, wie gesagt beim ersten Eindruck. Doch: Der Mensch Reginald ist besonders. Eine subtile Mischung aus Arschloch und dem besten Freund, den man sich wünschen kann. Ein Mann, den Frauen übersehen. Nicht nur weil er lediglich mit einer Körperhöhe von einem Meter vierundsiebzig gesegnet ist, nein, es ist diese bewusst zur Schau gestellte Unscheinbarkeit. Er will das so. Dadurch beschäftigen sich mit ihm immer nur die Menschen, die wirkliches Interesse an ihm haben. Eine Mischung aus fiesem, beleidigendem Humor und knallharter Verbissenheit, wenn es um die Ermittlungen in seinem Beruf geht. Er ist Kriminalist. Aber das wissen Sie ja schon. Er ist nicht intelligent. Mit Sicherheit ist er jedoch schlau. Bauernschlau, wie man so schön sagt. Ein ruhiger, ehrlicher Zeitgenosse. Es gibt viel über ihn zu schreiben. Für Sie somit zu lesen. Doch erst einmal zu mir. 1959, am 18.März, wurde Hawaii der 50. Bundesstaat der Vereinigten Staaten. Und ich wurde geboren. Meine Mutter freute sich wie doll und verrückt und mein Vater erfuhr es über den Seefunk zwei Tage später. Der war gerade als nautischer Offizier auf einem Handelsschiff von Montevideo in Richtung Heimat unterwegs. Weshalb ich das mit Hawaii erwähne, fragen Sie? Nun, das war die Methode meiner Mutter, mir Geschichte beizubringen. Mit vielen Daten in meinem Leben kann ich historische Ereignisse verbinden. Dafür war und bin ich zum Beispiel in Englisch und allen anderen Fremdsprachen immer noch auf dem Niveau der siebten Klasse. Es hat mich nicht interessiert. Geschichte hat mich interessiert. In Mathe war ich richtig gut, genauso wie in Chemie und Physik. Aber in Biologie zum Beispiel ist es, als wenn ich in jeder Stunde nur Kreide holen war. Bis auf das Wort Symbiose ist nichts hängen geblieben. So, das dazu. Was ich wirklich richtig gut kann, ist tauchen. Beinahe wäre ich Kampfschwimmer geworden. Vermutlich sogar ein richtig guter. Aber dann kam was dazwischen. Und davon handelt dieses Buch auch. Als ich 1965 in Berlin in die Schule kam, war Vera noch in der Parallelklasse. Meine Einschulung war am 1. September. Am Sonntag darauf, dem 5. September, starb ein gewisser Albert Schweitzer. Sagte meine Mutter. Die Schule war ein altes Gemäuer im tiefsten Prenzlauer Berg in Berlin. Der triste, düstere Innenhof wurde in keiner Sekunde des Tages durch direktes Sonnenlicht erhellt. Der untere Teil der U-Form des Gebäudes war so genial nach Süd ausgerichtet, dass wir uns nie Sorgen um Sonnencreme machen mussten, die sowieso aus dem Westteil der Stadt von Verwandten hätte kommen müssen. Am oben offenen Ende des Grundrisses der Schule stand ein Klotz von Turnhalle, eigentlich zwei Turnhallen übereinander. Schon als wir in der vierten Klasse waren, durften wir wegen der Schäden im Dach die obere der beiden Turnhallen nicht mehr betreten. Der Name der Schule wird mir immer in Erinnerung bleiben. Nadeshda Krupskaja. War wohl die Frau von Lenin. Bei dieser Dame war meine Mutter mit dem historischen Basiswissen nicht so hinterher. Jetzt, wo ich so darüber nachdenke, haben die historischen Lernassoziationen meiner Mutter selten tatsächlich kommunistische, historische Hintergründe. Fällt mir jetzt erst auf. So. Vera. Sie wohnte zwei Aufgänge weiter in der Stolpischen Straße. Sie in der Nummer 8 und meine Familie in der Nummer 6. Genau zwischen dem Bäcker Kupsch und dem Farbenladen Kabisch, der aber schon auf der anderen Straßenseite lag. Somit hatten wir beide und mein Kumpel Dirk Färber, der direkt über dem Bäcker Kupsch wohnte, einen gemeinsamen Schulweg. Meistens vertrugen wir uns. Dirk wollte immer ein Küsschen haben, weder Vera noch ich wollten ihm eines geben. Von mir wollte er wohl auch keines. Wenn meine Mutter mich im Winter bei Minustemperaturen zur Schule schickte, dann hatte ich immer drei frisch hartgekochte Eier in der Manteltasche. Vera und Dirk bekamen immer eines ab. Das wärmte die Hände. Vera konnte sogar beide Hände gleichzeitig in ihrem Muff wärmen, den ihre Oma ihr geschenkt hatte. Noch in der ersten Klasse durfte ich Veras Vater kennen lernen. Welch zweifelhaftes Vergnügen. An einem Sonnabend gegen elf Uhr dreißig. Damals gab es an Sonnabenden immer noch den Vormittagsunterricht. Ich hatte am Freitag zuvor meinen Füller vergessen. Also lieh ich mir von Dirk den Reservefüller. Dieser allerdings war trocken. Keine Tinte. Vera konnte helfen und gab mir eine Tintenpatrone. Als ich ihr dann am nächsten Tag, einfach um sie zu veräppeln, zwei, allerdings leere, Patronen zurückgab, eskalierte die Situation irgendwie. Vor der Schule warteten die Eltern, die zum Wochenende in den Garten wollten, zu irgendwelchen Familienfeiern eingeladen waren oder einfach nur, weil es eben Sonnabend war, ihre Kinder abholen wollten. Vera meckerte mich an. Meine Mutter war ebenso schnell bei uns, wie der Vater von Vera. Es geschah etwas, dass ich erst Jahre später wirklich begriff. Nach einer sehr kurzen Erklärung von Vera zog deren Vater mich an meinem linken Ohr. Meine Mutter hing an seinem Arm und schaffte es, uns zu trennen. Dann unterhielten sich die beiden in einigem Abstand von uns. Mein Ohr brannte vor Schmerz. Weshalb die beiden Erziehungsberechtigten sich so aufregten, war weder mir, noch Vera klar. Wir beide hatten uns schon wieder versöhnt. Die meisten anderen Eltern waren schon verschwunden. Nach einigen Minuten hatte ich Stubenarrest und Vera durfte nicht, wie geplant, in den Tierpark fahren. Auf dem gesamten Heimweg wurde jeder meiner Erklärungsversuche von Mutter abgewürgt. Ich sollte mir schon mal überlegen, wie ich das meinem Vater erkläre. Nachdem ich die gesamte Geschichte zu Haus noch mal meinem Vater erzählt hatte, sah alles plötzlich ganz anders aus. Vater war der erste, der verstand, dass es sich bei den Patronen nicht um echte Munition handelte, sondern um Tintenpatronen. Mutter sank mit weichen Knien auf die Couch und weinte ein bisschen. Dann winkte sie mich zu sich und versuchte mir zu erklären, dass es eine Generation Krieg gäbe. Beide, Veras Vater und sie selbst, hatten nur „Patronen“ gehört und waren davon ausgegangen, dass wir in den abgesperrten Ruinen in der Behmstraße, direkt an der Grenzmauer, alte Munition gefunden hätten. Noch während sie mir das erklärte, klingelte es und Veras Vater stand mit Blumen in der Tür. Seine Tochter war wohl auch endlich zu Wort gekommen. Beide, meine Mutter und Veras Vater, waren Mitte Vierzig und assoziierten mit Patronen eben zu allererst Munition. Ich verstand das in diesem Moment nicht. Mein Vater holte eine Flasche Doppelkorn und Mutter setzte Kaffee auf. Vera und ich verkrümelten uns zu Dirk. Ab diesem Moment aber, verbrachten die beiden Familien einiges an Zeit miteinander. In unserem Garten, auf der anderen Seite von Westberlin, in Falkensee, oder in deren Wohnwagen auf einem Zeltplatz in der Nähe von Müncheberg. Sogar in Güstrow, damals eine Weltreise innerhalb der DDR. Bei einemUrlaub im Bootshaus des Großvaters von Vera lernten wir schwimmen, segeln und angeln. Dirk, Vera und ich. Vera war Kumpel, nicht Freundin. Dirk Färber, mein bester Freund, war immer dabei und immer verliebt. Bis zum 4. Juni 1972. An diesem Tag entschied sich, dass Vera auf die EOS, die „Erweiterte Oberschule“, gehen würde. Sie war die Klassenbeste, in Sport sogar besser als Dirk, was ihn wahnsinnig nervte. Weder Dirk, noch ich konnten ihr in Sachen Auffassungsgabe das Wasser reichen. Wir blieben also in unserem alten, immer noch nicht renovierten, Schulgemäuer. Vera ging ab September im Stadtbezirk Mitte in die EOS. Sie belegte etliche Nachmittagskurse, wechselte den Sportverein, ging zu Sprachförderstunden, kam oft erst spät nach Haus. Aus den Augen, aus dem Sinn? Ja, so nach und nach geschah es. Aus den Augen, aus dem Sinn! Bis 1975.

Reginald Hübler

Da stand er nun vor mir. Das Schild an seinem Briefkasten hatte ich schon vor Wochen zum ersten Mal gesehen. B. Klose stand drauf. Jetzt wusste ich, dass „B“ Bert bedeutete. Bert Klose also. Mein neuer Nachbar. Er hatte eine Flasche Asbach Uralt in der linken Hand und in der rechten einen Tempranillo. Ich winkte ihn rein und nahm ihm die Flasche Rotwein aus der Hand. Ein attraktiver Kerl, soviel stand fest. Bestimmt fast einen Meter neunzig groß, leichte Grautöne an den Schläfen im sonst borstigen Haar, wache Augen hinter der schnörkellosen Brille. Hundertprozentig hatte Bert Idealgewicht. Durchtrainiert? Nein, sicher nicht. Aber fit war er wohl. Glattrasiertes Gesicht, ein neckisches Grübchen in der Kinnmitte. Ehrlicher Blick mit nicht nur altersbedingten Lachfältchen. Der Typ konnte urkomisch sein. Das sah ich sofort. Er hatte seine Jeanslatzhose an. Präzis ausgedrückt sah ich ihn bei Arbeit oder Erholung im Garten immer nur in dieser Hose. Wir verstanden uns von der ersten Sekunde an. Jeder hatte seinen Spleen. Jeder akzeptierte die Macken des anderen. Jeder von uns neckte gern, besser gesagt, verarschte herzhaft. Jeder aber konnte bei Bedarf, ebenso tiefgründig wie oberflächlich sein. An diesem ersten Abend lernte ich die erste Marotte von Bert kennen. Die Datumsmanie. Er erklärte mir doch tatsächlich, dass er genau seit dem 1. September 1983, seit dem Tag, als die Sowjets einen südkoreanischen Jumbojet abgeschossen hatten, in der Bundesrepublik lebte. Das war so ziemlich genau ein Jahr her. Er hatte sich in diesem Jahr mit dem neuen Leben arrangiert und sich einen Job gesucht. Es ging ihm gut. Das Geld aus einem Fond für Flüchtlinge und einem Kredit reichte aus, um das Bauernhaus gegenüber zu finanzieren. Weshalb er aus dem Osten, sprich aus der DDR, geflohen war, habe ich damals nicht erfahren. Trotz dreier Flaschen Rotwein an diesem Abend. Präziser ausgedrückt, ich hab es niemals erfahren. Trotz der Mengen an Alkohol, die wir gemeinsam vernichteten. Über sein Geburtsland, er sagte nie Mutter- oder Vaterland, sprach er oft. Der Grund seiner Flucht blieb im Verborgenen. Ich habe diesen Grund auch nie in Erfahrung bringen können. Na, vielleicht schaff ich es ja doch noch. Fragen muss ich jetzt aber andere, ihn kann ich nicht mehr fragen. Einige Abende später hörte ich, wie Bert in seinem völlig bewucherten Garten mit der Säge zugange war. Ich schnappte mir zwei Bier und überstieg die nicht erkennbaren Grundstücksgrenzen. Mein Garten sah ähnlich verwildert aus. Dort, wo wir wohnten, konnten wir uns solche Nachlässigkeiten leisten. Immerhin jedoch hatten wir beide im Sommer Schmetterlinge im Garten und keine Sorgen, wie wir unseren Wimbledonrasen vor irgendwelchem streunenden Getier schützen sollten. Das nächste Grundstück war hinter dem Acker, der in diesem Sommer mit Mais bepflanzt war. Dahinter kam dann schon das Zwischenahner Meer. Das liegt in der Nähe von Oldenburg bei Bremen. Ich half ihm schnell beim Beseitigen eines toten Birnbaums. Danach setzten wir uns in zwei an einer Eiche angebrachte Hängematten und genossen den leise ausklingenden Tag. Neben den Eichen befand sich ein trockener Brunnen. Der Vorbesitzer des Hauses hatte den holprig gemauerten Brunnen wie in der griechischen Heimat mit einer langen Wippe ausgestattet. Der Sockel der Wippe war noch intakt. Am oberen Ende der Wippe war eine Kette angebracht, dann folgte ein langes Seil, das bis zum Grund des Brunnens reichte. Die Wippe seines Brunnens stand senkrecht. Eigentlich war es eine Peitsche aus jungem Birkenholz, ein bestimmt fünf Meter langes Stück Holz, Das Gegengewicht bestand aus einem alten Rad eines Pferdefuhrwerkes. Der Brunnen war nie zu Ende gegraben worden. Somit lediglich Schmuck seines Gartens. Ich erfuhr, dass er nach der Schulzeit, in dem Monat, in dem die Helsinkier KSZE Schlussakte unterzeichnet worden war (da war seine Datumsmacke wieder), also im August 1975, eine Lehre begonnen hatte. BMSR sagte er. Ich erinnere mich genau. Betriebs-Mess-Steuerungs- und Regeltechnik. Danach knallten wir uns erst einmal deutsch-deutsche Abkürzungen an den Kopf. Wäre es ein Wettkampf gewesen, verdammt, ich bin sicher, er hätte gewonnen. Während der Lehre überredete ihn sein Kumpel, Dirk Färber, doch einfach mal zum Tauchen mitzukommen. Bert war nach dem ersten Training begeistert. Das wollte er. Das war sein Ding. Innerhalb eines halben Jahres hatte er alle Berechtigungsscheine in der Tasche. Bert Klose wurde der stellvertretende Übungsleiter im Tauchclub „Nautilus“. Sein Ehrgeiz ging dem alten Schulfreund, Dirk Färber, derartig auf die Nerven, dass dieser den Sport aufgab. Von da an ging Dirk angeln. Die Lehre von Bert Klose aber, litt keineswegs unter Berts Engagement beim Tauchen. Im Gegenteil. Bert baute sich in der Lehrwerkstatt gemeinsam mit seinem Lehrausbilder einen eigenen Lungenautomaten, bei dem die ausgeblasene Atemluft nicht mehr vorn vor der Tauchmaske aufstieg, sondern links und rechts an der Maske vorbei geleitet wurde. Bessere Sicht war das Ergebnis. Er war ein Tüftler, ein Weitermacher, ein Stillstandshasser, ein Zu-Ende-Denker. Mit dieser Ausbildung in Sachen BMSR hätte er im Osten was werden können. Abschluss der Ausbildung mit einer blank polierten Eins. Er bewarb sich bei einer Schiffswerft irgendwo im Norden. Allerdings kam vorher der Dienst in der Ostarmee. Irgend so ein Parteibonze aus dem Betrieb gab Bert und dem Wehrkreiskommando einen Tipp. Einen dezenten Hinweis wegen des Tauchens. Daraufhin wurde Bert an die Ostseeküste nach Stralsund versetzt. Er wurde Bergetaucher. Dachten alle.

Bert Klose

Als wir die Schule 1975 verließen, gab es eine große Abschlussparty. Es war der 19. Mai. Genau an diesem Tag hatte die Japanerin Yunko Tabei mit lediglich einem Sherpa als erste Frau den Mount Everest bestiegen. Der Saal vom Kulturzentrum am Arnimplatz war brechend voll. Vier zehnte Klassen wurden an diesem Abend verabschiedet. Mehr als einhundertzwanzig Schüler nebst familiärem Anhang. Ich saß mit meinen Eltern am selben Tisch wie Dirk und dessen Familie. Dirk Färber war sichtlich erwachsen geworden. Mit seinen hellblonden Haaren und den schwarzen Augenbrauen war er für die meisten Mädels ein erstrebenswerter Fang. Für viele Sehnsüchtige blieb er nur ein Blickfang. Er war mehr als einen Meter achtzig groß, schlank und konnte mit seinem verschmitzten Blick reihenweise Mädchen zum Schmelzen bringen. Kein Mensch wusste, dass Vera kommen würde. Sie betrat den Raum in einem Kleid, welches an die Zeit von Audrey Hepburn erinnerte. Mode der späten fünfziger Jahre. Nur bei Dirk und mir setzte die Atmung aus. Keiner der anderen Mitschüler erkannte Vera. Wie sie später erklärte, durfte sie sich das Kleid aus dem Fundus des Berliner Ensembles ausleihen. Ihre Mutter war in dieser berühmten Ostberliner Bühne die Personalchefin. Seit Vera ihr Interesse für Mode entdeckt hatte, kleidete sie sich immer wieder dort ein. Durch die Reihen schreitend, nicht gehend, sandte sie grüßende Blicke an ihre ehemaligen Klassenkameraden. Dann ging sie brav Guten Abend sagen am Tisch der Klassenlehrerin. Schon während des kurzen Wortwechsels an diesem Tisch suchte ihr Blick aber uns. Sie sah einfach nur hinreißend aus. Das Kleid untermalte ihre sportliche Zierlichkeit. Der Braunton zauberte ein anmutiges Farbkontrastspiel mit ihren hochgesteckten, kastanienbraunen Haaren. Dann stand sie endlich bei uns. Grüßte uns mit dem frechsten Grinsen, zu dem sie fähig war und setzte sich genau zwischen Dirk Färber und mich. Ich saß perfekt, um sie anzuschauen. Der untere Rand des Schattens ihrer schmalen Nase hatte eine Verabredung mit dem süßen Leberfleck rechts unter ihren mit Grübchen geschmückten Mundwinkeln. Sie war nicht dezent, sie war nur untermalend geschminkt. Die Grundausstrahlung ihrer Schönheit war pure Natur. In diesem Moment begriff ich, was Dirk Färber in der ersten Klasse schon gesehen hatte. Ich würde sie ihm nie streitig machen. Sie war nicht mehr unser beider Vera. Sicher. Dirk kochte. Sein Gesicht hatte die Endstufe der Farbe Rot schon erreicht. Ich blickte unter den Tisch. Vera hatte die Schuhe ausgezogen und spielte mit ihrer linken großen Zehe mit der Socke des Freundes. Sie versuchte, die Socke nach unten zu ziehen. Dirks Hände ruhten verkrampft in seinem Schoß. Sie wollte mehr von ihm, als er jetzt in der Lage war zu geben. Sie würde seine Freundin werden, meine nicht. Sicher. Ich war bis in die letzten Nervenrezeptoren unter meiner Haut in Vera verliebt. Das war ganz sicher.

Reginald Hübler

Ich hatte bei Bert schlafen müssen. Selbst die hundert Meter, die mein Bett von seinem Sofa trennten, hätte ich in keinem Fall mehr bewältigen können. Es war eine Mischung aus verminderter Nahrungsaufnahme und dem Verkosten des von Bert selbst angesetzten Schnapses. Er nannte ihn liebevoll Garlix. Nach dem englischen Begriff Garlic für: Sie erraten es, oder wissen Sie es (?) - Knoblauch. Knoblauchschnaps. Nach einem ewig langen Ermittlungstag, der am Vortag des Garlixabends sehr früh begonnen hatte, suchte ich einfach ein Gespräch mit einem normalen Menschen. Weshalb ich bei dieser Suche bei Bert landete? Nun, die nächste Chance wäre ohne Umweg eine Strecke von einem Kilometer durch ein morastiges, ehemaliges Maisfeld gewesen. Außen rum um dieses Feld hätte ich zu Fuß mehr als eine Stunde gebraucht. Es ging nur zu Fuß, denn ich wollte mich betrinken. Da ich den ganzen Tag noch nichts wirklich Essbares zu mir genommen hatte, wollte ich mich bei Bert einladen. Es endete in einem Gulasch mit Sahne und einem formidablen Birnensorbet. Hinweise auf dessen Ingredienzien fanden sich beim Erwachen in der halb mit Wasser gefüllten Schüssel auf dem Fußboden am Kopfende von Berts Sofa. Ich erinnerte mich deutlich, an diesem Tag frei zu haben. Aus der Scheune hörte ich Geräusche. Da nur Bert hier wohnte, setzte ich voraus, Bert dort zu finden. Nicht schlecht für einen Kriminalisten mit sicherlich mehr als zwei Promille im Blut. Über den mit Schneegriesel bedeckten Hof zu schreiten, erfrischte mich. Kein Wunder, ich trug eine mir nicht bekannte lange Baumwollhose, mein Oberhemd und ein paar Latschen an den Füßen, die ich mich nicht erinnern konnte, angezogen zu haben. Es war saukalt. Durch das geöffnete Tor der Scheune konnte ich Bert sowohl stilistisch, als auch wärmedämmend wesentlich besser gekleidet als ich selbst mit einer Axt in der einen Hand und einem Stück Kien in der anderen erkennen. Es war der 25. Januar 1985. Behauptete zumindest der Abrisskalender, den ich anstarrte. Mittwoch. Bert fragte mich, ob ich wüsste, dass heute vor neunundfünfzig Jahren die ersten olympischen Winterspiele in Chamonix begonnen hatten? Da ich nicht wusste, was ich antworten sollte, stellte er mir gleich die nächste Frage. Ob denn noch der Zettel in meiner Hemdtasche wäre? Wieder benötigte mein geschundener Geist Sekunden, um die Frage an die entsprechenden Stellen in meinem Hirn weiterzuleiten. Bert kam auf mich zu, griff in meine Hemdtasche und reichte mir erst die dort aufbewahrte Brille, dann einen kleinen Zettel. Bert spaltete wieder kleine Kienspäne von dem verharzten Holzstück und ich las: „Wenn die Schwester des Opfers nicht privat krankenversichert ist, dann verhafte sie und den Gynäkologen. Sie ist vermutlich die Täterin und er gibt ihr ein Alibi, eventuell sind die beiden ein Paar.“ Eine Stunde später saßen mir Hilke Fredersen und Finja Mahrt gegenüber. Die beiden hatten Wochendienst. Ich befahl, den optischen Eindruck zu ignorieren, was den beiden augenscheinlich nicht gelang, präziser ausgedrückt, sie amüsierten sich auf meine Kosten. Ich hatte frei, die Mädels waren im Dienst. Dennoch war ich natürlich in der Opferrolle. Die Hose würde fantastisch die Resultate meiner Diät untermalen. Der Euphemismus des Tages. Nun ja. Die Information, die die beiden mitbrachten, war, dass die nun verdächtige Frau in der gesetzlichen Krankenkasse versichert war. Und die Alleinerbin. Nun, das war neu. Hilke war die Fallanalytikerin und Finja die IT-Ermittlerin in unserem Kriminalteam. Die Strukturen der Zusammensetzung waren uns irgendwann einmal selbst überlassen worden. Und so hatten wir uns entschlossen, es so zu gestalten, dass es funktionierte und nicht, wie die Chefetage es dann in späteren Dienstanweisungen vorschrieb. Unser Kriminalpsychologe hieß Melih Mesghara. Sein Vorname bedeutete: der die Schönheit besitzt. Nun, das konnte heißen was es wollte. Melih war ein richtig Guter, aber er hatte eine Hakennase, dürftige Augenbrauen, lange Wangen die in einem sehr schmalen Kinn endeten und blasse Augen. Kurz: ein Gesicht, das nur eine wahre Mutter lieben kann. Seine Mutter lebte nicht mehr. Wir hatten noch einen Waffenexperten in unserer Truppe, das war Marcus Podasch. Dann unser reiner Datenermittler - Vuk Krst. Der hieß wirklich so. Der verdiente sein Geld durch Befragungen von Zeugen, Recherchen, Erstverhöre und wir nannten es Zu-Fuß-Ermittlungen. Geboren in Serbien konnten seine armen Eltern ihm nicht einmal einen Vokal im Familiennamen vererben. Ausgesprochen wurde der Name wie Christ, was immer wieder zu Verwechslungen: „Ich bin kein Christ – ich bin Atheist“, und zu mutwilligen Scherzen führte. Die Namen unserer Gerichtsmediziner brauchten wir uns gar nicht zu merken. Spätestens nach einem halben Jahr ließen sich die Damen und Herren aus der Provinz wegloben. Einer war vor zwei Jahren mal einfach so spurlos verschwunden. Weg. Einfach so. Den haben die nie wieder gefunden. Aber ich schweife ab. Ich erklärte Finja und Hilke also Folgendes. Die Frau hatte ihren Urlaub auf Mallorca abgebrochen. Angeblich wegen einer Erkrankung ihrer Schwester. Am Tag ihrer Ankunft rief sie, noch vom Flughafen, bei ihrem Frauenarzt an und bat um einen schnellen Termin. In der Zeit dieser gynäkologischen Untersuchung wurde die Schwester am nächsten Tag ermordet. Keine Einbruchsspuren! Nur die Schwester hatte einen Wohnungsschlüssel. Bert Klose, seit heute, mein absoluter Lieblingsnachbar, hatte mir fünfzig Minuten zuvor die entscheidende Frage gestellt. Ob ich mir etwa vorstellen könne, dass eine Frau, die in der gesetzlichen Krankenkasse versichert sei, einen Frauenarzttermin für den kommenden Tag bekommen könne, wenn sie nicht mit dem Arzt verwandt, verschwägert oder liiert sei? Da ich davon keine Ahnung hatte, rief ich meine Ex-Ex an – Präziser ausgedrückt, meine erste Frau. Inken wollte sich gar nicht mehr beruhigen, so belustigend fand sie meine Frage. Natürlich müsste es mit dem Teufel zugehen, wenn dieses Gynäkologenwunder geschehen sollte. Ich informierte Hilke und Finja von dem Gedanken. Letztere fragte mich nur, ob ich da selbst drauf gekommen sei. Erstere bemerkte danach, dass es sie wurme, dass sie nicht allein auf das Offensichtliche gekommen war. Als Frau. Hilke rief schon die Uniformierten an, um den Frauenarzt und die Schwester ins Revier zum Verhör holen zu lassen. Als der Dienstwagen der Kolleginnen vom Hof fuhr, interviewte ich Bert. Ich hatte wohl solch einen Frust auf meinen Job, dass ich am Abend zuvor redseliger gewesen war, als ich hätte sein dürfen. Dienstlich gesehen. Bert schwor mir, dass es ihm einen riesen Spaß bereitet hatte, mein Gastgeber, Zuhörer und Ermittlungskollege zu sein, und er würde niemals etwas verraten. Er wollte nur seine Baumwolljogginghose wieder haben. Seit diesem Abend soffen wir etwas weniger und immer, wenn ich in einem Fall nicht weiter kam, erzählte ich Bert darüber. Es half nicht immer. In manchen Fällen aber stehen Kriminalisten einfach nur auf dem Schlauch, das kann ich Ihnen sagen. Ich schwöre, dass ich nie wieder Garlix angerührt habe. Woher wusste Bert so etwas? Nie habe ich ihn mit einer Frau gesehen. Nie erzählte er etwas über Frauen in seinem Leben. Im Übrigen hat die Dame nach den ersten Verhören gestanden. Die Schwester hatte gewusst, dass sie im Sterben lag und wollte alles, was sie besaß, an ein Kinderheim vererben. Das fand die Mörderin nicht lustig und half nach. Der Gynäkologe war der Komplize.

Bert Klose

Vor zehn Jahren, am 15. Dezember 1965 hatten die Amerikaner einen riesigen Erfolg im Weltraum. Zwei ihrer Raumkapseln hatten sich auf wenige Meter angenähert. Wenn die Dinger sich zusammengekoppelt hätten, dann hätte ich das verstanden, aber so? Egal. Dirk hatte morgen Geburtstag. Sein Geschenk lag in meinem Regal. Ein Reparaturhandbuch für seinen Sperber. Das war in dem Falle kein Vogel, sondern der Name eines berühmten DDR-Mopeds. Da Ersatzteile für das Ding nicht aufzutreiben waren, besorgte ich das Buch. Ich freute mich auf die Party. Wie jedes Jahr wollten drei Familien, also Dirks Eltern und seine ältere Schwester, die Familie von Vera und meine Mutter auf den Berliner Weihnachtsmarkt gehen. Mein Vater schipperte, inzwischen Kapitän eines Handelsschiffes, irgendwo in Asien herum. Das waren noch Weihnachtsmärkte. Schausteller und Attraktionen. Buden mit Überraschungen. Die Fahrgeschäfte strahlten vor Nostalgie. Ein Wort, das ich damals noch nicht kannte. Die Jugend marschierte los und die Erwachsenen hielten an den Handwerksständen Ausschau nach letzten Kleinigkeiten für die entfernteren Verwandten. Dirks Schwester verkrümelte sich sofort. Wir wussten alle, dass sie nicht wusste, dass selbst ihre Mutter wusste, dass ihr Freund sie am Bahnhof Alexanderplatz abholen wollte. Vera reichte mir die linke Hand und Dirk die rechte. Der drückte seine Zigarette aus und fasste zu. Das mit dem Rauchen hatte er sich in der Lehre angewöhnt. Vera fand es doof und ich verstand es nicht. Probiert hatte ich auch einmal, aber das Tauchen als Hobby existierte nicht mehr. Jetzt war es Tauchen als Leistungssport. Wie alles in der DDR musste immer gleich ein Wettkampf daraus werden. Nun ja, ich hatte Spaß, wollte tauchen und gut darin sein. Rauchen hätte dem entgegen gestanden, also war die logische Konsequenz, nicht zu rauchen. Zuerst wollten wir uns einen Überblick über die Möglichkeiten des Marktes verschaffen. Das Riesenrad war der geeignete Ort hierfür. Da es noch vor sieben Uhr am Abend war, war die Schlange vor der Kasse nicht so lang. Der Ausblick war fantastisch und ernüchternd zugleich. Ernüchternd, weil es diesig war, kein Schnee lag und der Lichtschmuck des Marktes und der Buden einfach nur albern wirkte. Fantastisch war der Blick, weil der gesamte Rummel zu unseren Füßen lag. Da andere Leute auch noch einsteigen wollten, fuhren wir in kleinen Schritten, Gondel für Gondel, nach oben und warteten dann dort. Als wir ganz oben waren, standen wir eine gewisse Zeit. Und länger. Nach ein paar Minuten machte sich Unruhe breit. In der Gondel unter uns hatten die Gäste aufgehört zu singen und zu schaukeln. Noch eine Gondel tiefer verkündete eine kreischende Kinderstimme, dass es kalt sei. Nun, das merkten wir dann auch so langsam. Es gab einen Defekt in der Elektrik. Sogar die Beleuchtung des Riesenrades war erloschen. Nach etwas mehr als fünfzig Minuten, Dirk hatte immer wieder auf die Uhr geschaut, wussten wir genauer als geplant, wo sich die Stände auf dem Markt befanden, die wir besuchen wollten. Es war arschkalt. Und windig. Dirk hatte in der Zeit sieben Zigaretten geschafft. Das Riesenrad bewegte sich. Nach weiteren zehn Minuten waren wir unten angekommen. Was kaputt war, interessierte niemanden. Es gab das Geld zurück und gut war es. Dirk hatte keine Zigaretten mehr. Vera hatte Durst und ich musste pinkeln. Wir verabredeten uns am Stand vor der Glasbläserei. Dort wurde die Kunst des Glasziehens vorgeführt. Somit brannte dort der Brenner des Handwerkers, ergo, es musste warm sein. Dirk musste in den Bahnhof zum Zeitungskiosk, dort wollte er seine Kippen holen. Vera und ich hatten den gleichen Weg. Ich ging pinkeln, Vera wartete vor dem Wagen. Dann besorgten wir uns einen frisch aufgebrühten Holundertee und verkrümelten uns in die windstillste Ecke des Zeltes. Es roch wunderbar nach Zimt, Glühwein und Anis. Sie erzählte mir, dass sie das mit dem Rauchen nicht verstünde. Ich antwortete ihr, dass ich in sie verliebt sei. Die folgenden Sekunden kann ich nicht vergessen. Sie starrte mich an. Lange. Der Becher mit ihrem Tee dampfte und verschleierte wie streichelnder Nebel ihr wundervolles Antlitz. Am anderen Ende des Zeltes erblickte ich Dirks Mutter. Was mich an die Verabredung mit ihm erinnerte. Ich unterbrach die Stille mit dem Hinweis darauf, dass Dirk uns bei den Glasbläsern erwarten würde. Wir standen auf. Sie reichte mir nicht die Hand. Sah mir nur tief in die Augen. Dann erklärte sie mir, dass sie mit Dirk zusammen sei. Sprach´s und stiefelte in Richtung des vereinbarten Treffpunktes. Ich dackelte mit eingezogenen Schultern hinterdrein. Was war, wenn sie es Dirk erzählte? Sie hatte an diesem Abend keine Chance, es ihm zu erzählen. Dirk kam nach über einer Stunde angetorkelt. Er hatte einen Lehrling aus seinem Betrieb getroffen, der ein Lehrjahr weiter war. Beide hatten Bier und Berliner Luft getrunken. Ein Likör, der nach Pfefferminze schmecken sollte. Dirk war ganz begeistert. Seine Mutter war entgeistert. Vera enttäuscht. Ich verstand es nicht. Überhaupt war ich nicht in der Lage, mir eine Emotion parat zu legen, wenn so etwas geschah. Ich verstand es eben einfach nicht. Der Geburtstag verlief anders als sonst. Ruhiger. Mit einer Mutter in permanenter Überwachungshaltung. Als Dirk auf dem Balkon seine fünfte Zigarette geraucht hatte, stand Vera auf und wollte gehen. Dirk nahm sie in den Arm und hielt sie kurz auf. Den Kuss, den er wollte, bekam er nicht. Sie werde ihn nicht küssen, wenn er gerade geraucht habe. Das sei einfach nicht auszuhalten. Eine Stunde später, es war nach zehn, wandte ich mich ebenfalls zum Gehen. Zwei Leute aus der Parallelklasse waren noch da. Sie wollten mit Dirk nur eben noch eine rauchen und dann ebenfalls verschwinden. Also ging ich los. Der nächste Morgen drohte. Am 17.Dezember musste ich bei der Inventur in meinem Lehrbetrieb helfen. Mein Ausbilder hatte extra darum gebeten, dass ich schon um halb sieben bei ihm sei. Am dritten 17. Dezember dieses Jahrhunderts war irgendetwas in Kitty Hawk los gewesen. Während ich nach Haus ging, fiel es mir ein. Der erste Motorflug der Geschichte. Die Brüder Wright. Ich öffnete die Haustür. Der eine Bruder hieß Wilbur. Wie hieß der andere? Erste Etage. Hier wohnten die Wilkes und die Oma Schubotz. Irgendwas mit einem Selbstlaut am Anfang. Zweite Etage. Erster Selbstlaut – A. Nein, das passte nicht. E? Auch nicht. Die Namensschilder zeigten, dass die Familien Lange und Raszczinkiy hier wohnten. Dritte Etage und ich war vor meiner Wohnungstür. Irgendwas mit dem Buchstaben I? Nein. Dann jetzt… Sie begrüßte mich mit dem Vorwurf, weshalb ich so lange auf mich warten ließe. Vera hatte ein Taschentuch in der Hand und fragte, ob sie noch mit reinkommen könne. Meine Mutter schaute zwar etwas verständnislos, machte uns dann aber doch einen Tee und schimpfte, weil mein Pullover so nach Rauch stank. Mutter hatte sich das Rauchen erst vor ein paar Jahren abgewöhnt und reagierte seither so. Vera saß in meinem Sessel und schaute aus dem Fenster. Ich sagte kein Wort. Nicht nur Tee, auch ein paar selbstgebackene Kekse brachte Mutter und fragte was los sei. Vera berichtete von Zigaretten und Alkohol. Von Dirks Kollegen, die einfach immer nur irgendwelche Feiern im Kopf hätten und über ihre Arbeit nur schlecht sprachen. Von ihrer großen Enttäuschung, wenn Dirk wieder nicht zu einer Verabredung gekommen war. Oder er kam, nur verspätet oder nicht mehr nüchtern. Sie war so traurig. Meine Mutter war so verständnisvoll. Ich wusste nichts. Weder was ich sagen sollte, noch wie reagieren oder gar helfen. Ich war jung und naiv. Das Leben um mich herum war bunt. Ich hatte Ziele und Ideen. Das Interesse, Dinge, die nicht richtig sein konnten, zu hinterfragen? Nein. Gefühle zu deuten? Nein. Zu verstehen, weshalb andere traurig oder entrüstet waren? Nein. Immer wieder berührten meine Mutter und Vera die Themen, die nach meinem Verständnis schon längst erledigt waren. Waren Frauen so kompliziert? Sie redeten viel. Ich hörte den beiden Frauen zu. Und verstand nichts. Wenn man sich aus dem Balkon meines Zimmers lehnte, dann konnte man erkennen, ob in Veras Wohnung Licht brannte. Ich sah in immer kürzeren Abständen nach. Denn dann könnte sie endlich nach Hause gehen. Weshalb war sie noch hier? Sie wollte nicht allein zu Haus sein. Meine Mutter hätte sie sogar bei uns schlafen lassen. Kurz vor Mitternacht stupste meine Mutter mich an. Ich war wohl weggeknickt. Ich sollte Vera nach Haus bringen. Vor dem Haus hakte sie sich bei mir unter. Es waren nur ein paar Meter. Im Schatten des Eingangstores zu ihrem Haus zog sie sich an mir hoch und küsste mich auf die Wange. Verwirrt küsste ich sie auf den Hals und wandte mich zum Gehen. Vera sah zu mir hoch. Sie nahm meine Wangen in ihre Hände, erklärte mir, dass ich eine Überraschung sei und verschwand im Treppenhaus. Flugs ging ich mit rein. Ich wollte eine Erklärung. Überraschung? Sie antwortete mit gesenktem Blick, dass ich immer akzeptiert hatte, dass Dirk und sie ein Paar waren. Dass ich bis gestern keine Gefühlsregung in ihre Richtung zugelassen hatte. Und jetzt, wo sie bereit wäre, mir alles zu geben - das hätte ich doch spüren müssen - wolle ich einfach verschwinden. Als ich zwei Stunden später in meine Wohnung schlich, war meine Mutter schon im Bett. Wir hatten uns zwei Stunden lang nur festgehalten und geküsst. Im Treppenhaus vor ihrer Wohnung. Ich musste ins Bett. An Schlafen war nicht zu denken. Also zurück zur letzten ungelösten Aufgabe des Tages. Wie war das? Dann kam der Geistesblitz. Orville, Orville Wright. Das war der Name des Bruders. 1903, Orville und Wilbur Wright. Wobei, da gab es immer noch die Geschichte mit dem ausgewanderten Deutschen. Ein Franke soll es gewesen sein. Angeblich sollte der schon zwei Jahre vorher in der Luft gewesen sein. Wie war denn nun wieder dessen Name? Irgendwas mit Adler, glaubte ich mich zu erinnern. Da hatte ich dann wieder eine Grübelaufgabe.

Reginald Hübler