Kommissarin Jespers ermittelt in Helle und der Tote im Tivoli - Helle und die kalte Hand - Helle und der falsche Prophet - Judith Arendt - E-Book

Kommissarin Jespers ermittelt in Helle und der Tote im Tivoli - Helle und die kalte Hand - Helle und der falsche Prophet E-Book

Judith Arendt

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Dänemarks sympathischste Ermittlerin beweist: Hygge und Crime schließen sich nicht aus. Freuen Sie sich auf spannende Lesestunden mit dem Krimi-Sammelband der ersten drei Fälle für Helle Jespers.  Band 1: Helle und der Tote im Tivoli Ein Haus in den Dünen von Skagen, ein Ehemann, der sie kulinarisch verwöhnt und eine familiäre Polizeistation - für Helle Jespers könnte das Leben kaum behaglicher sein. Bis ein brutaler Mord ihre kleine Gemeinde erschüttert. Der ehemalige Gymnasialdirektor wird mitten in der Hauptstadt Kopenhagen, im weltberühmten Vergnügungspark Tivoli, ermordet aufgefunden. Helle ist sich sicher, dass die Spur zurück nach Skagen führt, doch sie ahnt nicht, wie nah der Täter ihr ist. Band 2: Helle und die kalte Hand Der Herbst hält Einzug in Skagen und vertreibt die letzten Sommergäste. Helle Jespers, Leiterin der örtlichen Polizeistation, sehnt sich nach mehr Zeit und weniger Trubel. Doch die Ruhe währt nur kurz, denn in der Nähe der beliebten Wanderdüne Rabjerg Mile wird die Leiche einer jungen Frau gefunden. Laut Obduktion stammt sie offenbar aus dem südostasiatischen Raum. Doch niemand scheint sie zu vermissen. Die Vermutung liegt nahe, dass sie sich illegal in Dänemark aufhielt. Helle Jespers ist fest entschlossen, den ersten Mordfall in ihrer Gemeinde aufzuklären, und stößt dabei auf die Schattenseiten der scheinbar so offenen dänischen Gesellschaft. Band 3: Helle und der falsche Prophet Es ist Oktober und Helle Jespers ist im Urlaub. Doch selbst Pastis, Zigaretten und südfranzösische 18 Grad Lufttemperatur können die dänische Polizeikommissarin nicht davon ablenken, dass es zu still in ihrem Leben zugeht. Hätte sie nach Fredrikshavn zur Polizeibehörde gehen sollen? Zur Mordkommission nach Kopenhagen? Stattdessen hat sie es sich in Skagen zwischen den Dünen in ihrer kleinen Polizeistation gemütlich gemacht. Plötzlich klingelt aber mitten im Urlaub Helles Handy. Ihr Kollege Ole hat eine erschütternde Nachricht: Eine enge Freundin ihres Sohnes wurde tot am Strand aufgefunden. Steht die Leiche in Zusammenhang mit einem jungen Paar auf der Flucht, das eine Schneise der Verwüstung bis nach Kopenhagen zieht? Helle ist klar: Diesen Fall übernimmt sie selbst. Sie steigt in den nächsten Flieger zurück nach Dänemark und beginnt mit den Ermittlungen. Was sie nicht ahnt: dieser Mord war erst der Anfang, und er wird das Leben ihrer Familie betreffen…

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 1110

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Judith Arendt

Kommissarin Jespers ermittelt in Helle und der Tote im Tivoli - Helle und die kalte Hand - Helle und der falsche Prophet

Drei Dänemark-Krimis in einem Band

Atlantik

Helle und der Tote im Tivoli

Skagen ist Skagen und doch nicht Skagen.

Ich habe mir erlaubt, das echte Skagen ein wenig

umzugestalten, bis es zu Helle und mir passt.

 

Judith Arendt, Januar 2018

Kopenhagen, Tivoli, 3.00 Uhr

Der Kaffee war noch immer schön heiß. Nicht so heiß, dass er sich die Zunge daran verbrennen, aber doch so, dass er ihn genüsslich schlürfen konnte. Claas griff nach dem Zimtwecken und wollte ihn in den Becher tunken, als er hörte, wie Stig seufzte und ungeduldig mit der Taschenlampe klapperte.

»Es wird Zeit für die Runde. Komm schon, Claas.«

»Hast du Angst, dass du die Geisterbahn verpasst?« Claas stippte den Wecken in seinen Kaffee – jetzt erst recht – und saugte an dem aufgeweichten Gebäck. Ein guter Witz. Er konnte ihn gar nicht oft genug wiederholen. Und er hatte ihn weiß Gott schon oft von sich gegeben. Die jungen Kollegen mit ihrer Ungeduld. Man durfte doch wohl noch in Ruhe seine Kaffeepause machen.

Jetzt stand Stig auf. »Du nervst, Claas. Ich kann auch ohne dich gehen.«

Dieser Stig. Wenn einer hier nervte, dann war er das. Claas war seit fast zwanzig Jahren dabei. Er wusste, wie der Hase lief. Er brauchte sich von den jungen Kollegen nicht hetzen lassen. Das brauchte er wirklich nicht. Andererseits: Wenn dieser Stig jetzt alleine losgehen würde, dann stand das später im Logbuch. Und dann würde es nicht gut aussehen für ihn.

Resigniert schüttete Claas den Kaffee wieder zurück in die Thermoskanne. Dabei stöhnte er, Stig sollte schließlich kapieren, dass er diesen Aktionismus nicht guthieß.

Der junge Kollege aber stand unbeeindruckt an der Tür, die Hand auf die Klinke gelegt. Na, na, dachte Claas, immer langsam mit den jungen Pferden! Erst einmal musste er sich aus dem Stuhl hochwuchten. Zweihundert Pfund Lebendgewicht. Es knackte in den Knien, und Claas sah aus dem Augenwinkel, dass Stig die Augen verdrehte. Nervensäge.

Ärgerlich zerrte Claas an seiner Jacke, die er über die Stuhllehne gehängt hatte. Draußen waren es zehn Grad unter null, wenn nicht noch mehr. Warum bestand dieser Jungspund so unbedingt darauf, dass sie ihre Zeiten einhielten?

Du meine Güte, dachte Claas, während er den Reißverschluss bis unters Kinn hochzog und sich die fellgefütterte Mütze auf die kahle Stirn drückte, was sollte denn hier schon passieren?

 

Seit so vielen Jahren drehte er nachts im Tivoli seine Runden. Die »ungewöhnlichen Vorkommnisse«, wie es bei ihnen hieß, konnte er an zwei Händen abzählen. Jugendliche Säufer oder Kiffer, ein Liebespaar, das es sich ausgerechnet im »Nautilus« bequem gemacht hatte, hier und da ein Fuchs, ein paar gebrauchte Spritzen, die die Bahnhofsjunkies über den Zaun warfen – mehr war nicht los gewesen. Da hatte er in seiner Zeit als Streifenbulle in einer Nacht mehr Scheiße gesehen. Sprengstoffalarm, das war noch das Größte, was er als Security-Mann im Tivoli erlebt hatte. Oktober 2001 natürlich, als alle hysterisch durchdrehten wegen der Terroristen. Da hatten er und sein Kollege – den Namen hatte Claas längst vergessen – den Rucksack gefunden. Mitten in der Fressbudenstraße hatte er gelegen. Sie hatten lange darum gestritten, was sie tun sollten. Der Kollege hatte sich schließlich durchgesetzt und den Alarm ausgelöst. Zum Schluss war es der Rucksack eines asiatischen Touristen gewesen. Mit Kamera und Wasserflasche und ein paar T-Shirts. Keine große Sache also. Claas hatte es gleich gewusst.

 

»Gib Gas, alter Mann«, knurrte Stig, der ein paar Meter vor ihm ging und den Strahl der Taschenlampe immer nervös hin und her zucken ließ.

Gas geben, so ein Schwachsinn. Claas verlangsamte seine Schritte ein kleines bisschen. Niemand wartete auf sie. Sie drehten ihre Runden durch den dunklen Park, weil das ihr Job war. Aber gottlob guckte ihnen niemand dabei auf die Finger. Keiner stand am Ende mit der Stechuhr da, wie bei der Polizei.

In Erinnerung an seine Dienstzeit entfuhr Claas ein Seufzer. Sein Herz hatte das nicht mehr mitgemacht, diesen Stress. Die Schmerzen im Arm, das Stechen im Brustkorb. Gitta hatte ihn irgendwann dazu gedrängt, Schluss zu machen. Die Ärzte hatten ihn tatsächlich arbeitsunfähig geschrieben. Und dem Grinsen seines Vorgesetzten nach zu urteilen, als der ihn aus dem Dienst verabschiedet hatte, war das nicht ganz von ungefähr gewesen. Die waren froh, dass sie ihn los waren. Das behielt er natürlich schön für sich. Kam immer besser, wenn er von seiner großen Zeit bei der Polizei erzählte.

 

»Hörst du was?«

Der Lichtkegel fuhr die Stände ab, die Holzbuden, aus denen heraus in ein paar Stunden Popcorn und Pölser und Zuckerwatte verkauft wurden. Der Schein der starken Lampe flitzte über das Kettenkarussell zur Rechten. Aber nichts rührte sich, die buntbemalten Stahlrohrsitze hingen bewegungslos an langen Ketten, warteten auf Kinder, die sich schon bald kreischend um die besten Plätze balgen würden.

Klar hörte Claas was. Er hörte sogar sehr viel. Außerhalb des Parks verlief die Vesterbrogade, eine große und viel befahrene Straße, die Kopenhagens Herz durchschnitt. Er hörte den Bahnhof, die Güterzüge, die selbst um diese Zeit, mitten in der Nacht, rangiert wurden. Und er bildete sich ein, die Ratten zu hören, die unter den Fahrgeschäften nach Fressbarem suchten – und fündig wurden. Selbst nachdem die großen Reinigungsmaschinen einmal durch den Park gefahren waren, gab es noch genügend Müll in den Ecken, um ganze Rattenkolonien zu ernähren.

Jetzt tauchte vor ihnen in der Dunkelheit die stilisierte Bergkulisse der »Rutschebanen« auf. Stig beschleunigte seine Schritte und hielt auf das große Fahrgeschäft zu.

»Hier ist was an, Claas! Verdammt, bist du taub?«

Claas meinte zu hören, wie Stig noch leise »Alter Sack« hinzufügte, und konterte im Stillen mit »Wichtigtuer«. Aber er schloss zu seinem Kollegen, der um einiges größer und vor allem durchtrainiert war, auf. Denn jetzt hörte er es auch. Stig hatte recht. Ein unheimliches Quietschen und Rattern drang an seine Ohren. Das war nicht normal, das war ganz und gar nicht normal. Es klang eindeutig danach, als sei eines der Fahrgeschäfte in Betrieb.

Stig vor ihm verfiel in leichten Trab, und Claas spürte ein vibrierendes Gefühl von Panik. Dass der Kollege ihm bloß nicht davonlief! Automatisch fasste er an den Gürtel, an dem der Schlagstock aus Hartgummi hing. Plötzlich nahm er eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr, links von ihnen, dort, wo der Eingang zu »Minen« war, der Bergwerksbahn für die Jüngeren. Ein Schatten? Da war eine Bewegung gewesen, ganz bestimmt. Claas’ Herz schaltete von Trab in den Galopp, das war nicht gut, das war gar nicht gut. Er hätte keinen Kaffee trinken sollen, aber wer konnte denn schon ahnen, dass er in so eine Scheiße geriet?! Claas wollte Stig zurufen, dass er anhalten solle, aber er bekam nur ein heiseres Krächzen heraus.

Abrupt drehte Stig sich um und richtete den Strahl seiner Stablampe auf Claas. »Hör mal, alter Mann, sollen wir besser gleich die Bullen rufen? Du bist doch schon länger dabei.«

Zum ersten Mal zollte der Arsch ihm Respekt. Ausgerechnet jetzt. Zur falschen Zeit. Claas räusperte sich und bemühte sich, völlig unbeeindruckt auszusehen. »Nein. Lass mal. Vielleicht nur was Technisches. Lass uns erst feststellen, was wirklich los ist. Oder wollen wir vor den Bullen dastehen wie Memmen?«

Stig nickte. »Hast recht.« Er drehte sich wieder um und wollte weiterhasten, aber Claas hielt ihn auf. »Hey, check mal da hinten, beim Bergwerk. Ich glaube, da war was.«

Stig zog misstrauisch die Brauen zusammen, richtete die Lampe aber gehorsam nach links.

Claas verfluchte insgeheim seine verdammte Schlamperei. Seine Lampe lag noch im Büro. Neben der Thermoskanne. Er hatte sie nicht mitschleppen wollen. Sie brauchten nie eine zweite Lampe. Nie!

Stig änderte die Richtung und lief auf das Bergwerk zu. Das Licht streifte die Zwerge, die mit Hacken und Schubkarren unbeweglich zwischen den Gleisen standen und diabolisch grinsten. Claas schauderte. Er erinnerte sich an die ersten Nächte, die er im Tivoli Dienst getan hatte. Wie unheimlich ihm die große Anlage gewesen war. Die stummen Silhouetten der großen Fahrgeschäfte, die gegen den Kopenhagener Nachthimmel leuchteten. Der Geruch nach Bratfett, Zuckermelasse und Kotze, der in den Budenstraßen hing. Das leise metallische Klimpern der Absperrketten. Kaum wahrnehmbares Quietschen, Raunen und Klappern der Gondeln im Wind. Das Gefühl der Einsamkeit, das ihn angesichts des menschenleeren Vergnügungsparks befallen hatte. Das Leben, das draußen tobte, während sich hier drinnen nur zwei Menschen bewegten, die Security-Männer von Danskeguard.

Aber Herrmann, der alte Kollege, der ihn einarbeitete – damals war Claas der Jungspund gewesen –, hatte nur gelacht und weiter Witze gerissen. Und nach einigen Wochen war das Unwohlsein gewichen. Es war nie mehr aufgetaucht – bis jetzt.

Stig hatte »Minen« jetzt erreicht und leuchtete alle Ecken aus. Er schüttelte den Kopf. »Nee. Da ist nichts. Was hast du gesehen?«

Claas griff sich an die Brust und massierte das Fett an der Stelle, an der er sein tobendes Herz wähnte. »Da hat sich was bewegt. Sah aus, als würde sich jemand verstecken.«

Stig runzelte skeptisch die Stirn und ließ die Taschenlampe einmal um das Bergwerk wandern. Claas betete, dass der Kollege nicht vorschlagen würde, da hineinzugehen. Tagsüber war das eine Bahn für kleine Kinder, aber jetzt, im Dunklen … Er starrte auf den dicken Vorhang aus blindem Gummi, hinter dem sich ein finsterer Schlund auftat.

»Scheiße, Mann, ich hör’s noch immer.« Stig leckte sich nervös über die Lippen.

Sie blieben stumm und hielten die Luft an. Das Rumpeln war lauter geworden, es kam von der anderen Seite der »Rutschebanen«. Entschlossen lief Stig los, in die Richtung, aus der er das Geräusch vermutete, und Claas bemühte sich, dem Jüngeren dicht zu folgen. Er keuchte laut, aber trotzdem hörte er deutlich, dass jemand hinter ihm lief – in die entgegengesetzte Richtung. Claas drehte den Kopf und konnte gerade noch erkennen, dass da einer in Richtung Ausgang rannte. Eine dunkle Silhouette, aber sie war zu weit entfernt, um zu erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Claas zögerte – sollte er rufen? Stig warnen? Umdrehen?

Scheiß drauf, dachte er und versuchte wieder, Anschluss an Stig zu bekommen. Am Ende war die Person bewaffnet. Viel zu gefährlich. So was brachte nur Ärger.

Stig hatte das Ende der »Rutschebanen« schon erreicht und blieb abrupt stehen. Er drehte sich nach Claas um, und aus seinem Blick sprach nackte Panik. Er deutete mit dem Arm, der die Taschenlampe hielt, hinter sich, und Claas wusste schlagartig, von wo der Lärm ausging. Es musste »Galejen« sein, die Wikingerbahn, in direkter Nachbarschaft zu »Rutschebanen«. In dem Fahrgeschäft war nur die Notbeleuchtung angeschaltet, und in dem fahlen orangefarbenen Licht sah er, wie die kleinen hölzernen Wikingerboote in schneller Fahrt rundherumrasten. Jemand hatte die Bahn in Betrieb genommen. Das konnten nur Besoffene gewesen sein, die sich einen Scherz erlaubten.

Es war das erste Mal, dass Stig während seiner Nachtschicht etwas Unvorhergesehenes erlebte, und Claas spürte augenblicklich, wie sich die Furcht dieser Nervensäge auf ihn übertrug. Er hörte sein Herz bis zum Hals klopfen, aber er wollte sich keine Blöße geben. Claas wusste, dass die jungen Kollegen über ihn lachten, weil er alt, dick und faul war, aber er hatte nur noch drei Jahre bis zur Pension, und er war fest entschlossen, dass ihn dieser Mist hier nicht den Job kosten würde.

»Bestimmt ’ne Wette«, sagte er zu Stig und ging ein paar Schritte näher auf »Galejen« zu. »Betrunkene, Jugendliche, die sich beweisen wollen.«

»Galejen« war eine der alten Bahnen. Eine Holzkonstruktion, in der Mitte ein hölzerner Pfahl, dem Mast eines Schiffes nachempfunden. An einer Stahlkonstruktion waren daran kleine bunte Holzboote angebracht, Wikingerschiffe und Piratenboote. Sie rasten in wilder Fahrt um den Pfahl, rundherum, auf und nieder.

Claas steuerte, um ruhig Blut bemüht, direkt auf das Fahrgeschäft zu, er wusste, wo der Notknopf war, der das Treiben beenden konnte. Aber Stig riss ihn am Arm zurück. Sein Gesicht war aschfahl, der Mund weit geöffnet, er brachte jedoch keinen Ton heraus. Stattdessen starrte er mit aufgerissenen Augen auf die Bahn. Claas folgte seinem Blick, und erst dann sah er, was seinem Kollegen solche Panik bereitete. In einem der kleinen Schiffe saß jemand. Ein Mann mit schlohweißem Haar. Er wackelte wie eine Puppe hin und her, der Kopf fiel mal vor, mal zurück. Beim ersten Mal raste er so schnell an den beiden Männern vorbei, dass Claas nicht sofort bemerkte, was an ihm nicht stimmte, außer den seltsam ruckartigen Bewegungen. Als sich das Boot, in dem der Mann saß, wieder dem Blickfeld von Claas näherte, zwang er sich, genauer hinzusehen.

Der Atem stockte ihm, er spürte das Reißen und Stechen in der Herzgegend, hörte, wie Stig sich auf seine Schuhe erbrach, und das Letzte, was sich Claas auf die Netzhaut einbrannte, war der Anblick des alten Mannes, mit den leeren und blutigen Augenhöhlen, in dessen Mund ein rot glasierter Apfel steckte.

Skagen, 4.30 Uhr

Helle wurde von ihrem Handy geweckt. Es vibrierte unter ihrer linken Gesichtshälfte. Gewohnheitsmäßig legte sie es unter ihr Kopfkissen, damit Bengt nicht geweckt wurde, falls sie angerufen wurde. Zusätzlich stellte sie es auf stumm. Maßnahmen für den Ernstfall, zu dem es so gut wie nie kam, denn sie wurde äußerst selten mitten in der Nacht geweckt.

Skagen war nicht gerade die kriminelle Hauptstadt Dänemarks, und eigentlich gab es nichts, was so wichtig war, dass der diensthabende Polizist Hauptkommissarin Helle Jespers aus dem Schlaf holen musste.

Aber heute vibrierte das Ding, und Helle zog es unter ihrem Kopf hervor. Es klebte an ihrer verschwitzten Wange, anscheinend war es unter dem Kopfkissen hervorgerutscht. Kein Wunder, Helle hatte sich bis vor einer Stunde noch hellwach im Bett gewälzt.

Sie konnte die Augen kaum öffnen, erkannte aber, dass es eine ihr unbekannte Nummer war. Seltsam, denn die Nummer des Handys hatte kaum jemand außer ihren Kollegen. Helle nahm den Anruf an.

»Helle Jespers.«

»Sören Gudmund. Mordkommission Kopenhagen. Helle, wir brauchen deine Unterstützung.«

Eine forsche Stimme, die keine Widerrede zuließ. Helle rollte sich stöhnend über ihre linke Seite aus dem Bett und hielt eine Hand vor den Apparat. Sie wollte nicht, dass Bengt jetzt aufwachte, aber offensichtlich hatte ihr Mann nichts von dem Anruf mitbekommen. Er lag auf dem Rücken und schnarchte mit offenem Mund. Der schwere Rioja hatte sein Werk getan.

»Was … Weißt du eigentlich, wie spät es ist?!« Scheiße, das war die falsche Antwort, Helle ahnte es, kaum dass sie es ausgesprochen hatte.

Schweigen am anderen Ende der Leitung. Mehr als das. Deutlich genervtes Schweigen. Sören Gudmund, dachte Helle und versuchte, ihre eingeschlafenen grauen Zellen zu aktivieren, während sie mit dem iPhone am Ohr ins Bad huschte, kenn ich den?

»Im Gegensatz zu dir haben wir hier in Kopenhagen keinen gemütlichen Nine-to-Five-Job.« Sören Gudmunds Stimme war so eisig, dass Helle augenblicklich fröstelte.

»Ich weiß«, konnte sich Helle nicht verkneifen. »Crime never sleeps.«

»Meinst du das ernst?«

»Hast du es ernst gemeint?« Helle klappte die Klobrille runter und versuchte, sich so hinzusetzen, dass Gudmund nicht hören konnte, was sie gerade tat. Er war ja ohnehin nicht sonderlich gut gelaunt. Aber sie war es auch nicht. Nicht mehr, nach seinem Anruf.

»Okay, noch mal von vorn«, hörte sie sich sagen. Mordkommission, das waren schließlich nicht irgendwelche Dorfbullen, es würde ihr nicht gut bekommen, wenn sie weiterhin so pampig blieb.

Gudmund ließ sich nicht lange bitten. »Ein gewisser Gunnar Larsen wurde gegen drei Uhr heute Morgen im Tivoli aufgefunden. Er kam gewaltsam zu Tode, so viel kann ich mit Gewissheit sagen. Ich habe hier die Information, dass er in deiner Gemeinde gemeldet ist, und möchte dich bitten, den Angehörigen die Nachricht zu überbringen.«

Helle war noch immer darauf konzentriert, so geräuschlos wie möglich zu pinkeln, aber jetzt fiel ihr fast das Handy aus der Hand. Gunnar? Ermordet? Im Tivoli?

Wow.

»Ja, das stimmt. Gunnar lebt hier. Er ist Gymnasialdirektor. Also gewesen, jetzt ist er pensioniert. Und offenbar tot. Aber das weißt du wohl alles …«

Gudmund unterbrach sie. »Also, was ist, kann ich auf dich zählen?«

»Hat sich nicht angehört wie eine Bitte.«

»Richtig. Das sollte es auch nicht sein.«

Sie schwiegen. Sören Gudmund war offensichtlich kein Mann der vielen Worte, dachte Helle. So ein Arsch. Hoffentlich läuft der mir nicht über den Weg.

»Ich komme im Lauf des Tages selbst nach Skagen. Aber ich halte es für besser, wenn jemand aus dem Ort mit der Familie spricht.«

Helle fühlte sich schlagartig müde. Sehr müde. Sie spürte, dass sie höchstens ein, zwei Stunden Schlaf gehabt hatte, und sehnte sich danach, sich wieder zu Bengt ins warme Bett zu kuscheln.

»Klar.« Sie riss sich zusammen und bemühte sich, so beflissen wie möglich zu klingen. »Ich fahr gleich nach dem Frühstück rüber.«

»Wenn ich glauben würde, dass die Sache so viel Zeit hätte, würde ich selbst hinfahren.«

Ein Wunder, dass ihre Hand nicht am Handy festfror, bei dem eisigen Hauch, mit dem Gudmunds Stimme durch den Hörer fuhr.

»Also, es ist halb fünf Uhr morgens«, setzte Helle sich zur Wehr. »Ich glaube, es gibt Uhrzeiten, zu denen man solche miesen Nachrichten vielleicht besser verträgt.«

»So etwas verträgt man nie gut«, gab Gudmund zurück, und Helle seufzte. Leider hatte er recht.

Der Leiter der Mordkommission fuhr fort: »Kann ich mich darauf verlassen, dass du dich unverzüglich auf den Weg machst? Das Protokoll der ersten Befragung mailst du mir bitte, dann kann ich es unterwegs checken.«

Helle klappte den Mund auf, aber so schnell fiel ihr keine Entgegnung ein, und noch bevor sie den Mund wieder geschlossen hatte, hatte Sören Gudmund aufgelegt.

 

Helle pfefferte ihr Handy ins Waschbecken, blieb noch kurz auf der Toilette sitzen und schloss die Augen. Es war Sonntag, sie hatten am gestrigen Abend Freunde zum Essen zu Besuch gehabt und entsprechend viel getrunken. Gegen zwei waren sie ins Bett gegangen, Bengt hatte kaum »Gute Nacht« murmeln können, da hatte sie schon sein Schnarchen gehört. Helle selbst hatte wachgelegen. Wie beinahe jede Nacht. Wachgelegen und geschwitzt. Sich von der einen Seite auf die andere gewälzt, ihre Bettdecke wieder und wieder umgedreht, sodass sie die kühle Seite auf ihrer Haut gespürt hatte. Das Karussell in ihrem Kopf hatte sich gedreht, sie hatte an alles und nichts gedacht. Und langsam gespürt, wie die Kopfschmerzen kamen, die seit einiger Zeit ihr ständiger Begleiter waren. Irgendwann zwischen drei und halb vier musste sie weggedämmert sein.

Und jetzt das.

Gunnar Larsen, was für ein verdammter Scheiß.

Sie kannte Gunnar, er war der Rektor des Gymnasiums in Fredrikshavn gewesen, das ihre Kinder besuchten. Besucht hatten, im Fall von Sina. Leif quälte sich immer noch, und es war nicht ausgemacht, dass er es schaffte. Gunnar Larsen war – ja, was eigentlich? Weder beliebt noch gefürchtet. Er hatte das Gymnasium geleitet, ohne dass man hätte sagen können, wie er das getan hatte, was sein Stil und sein Anspruch gewesen war. Auf alle Fälle ohne Charisma. Bestimmt zwanzig Jahre lang war er die graue Eminenz gewesen. Ein unauffälliger Mann mit Brille. Alles an ihm war durchschnittlich. Größe, Gesicht, Augenfarbe, Klamotten. Selbst sie, die erfahrene Polizistin, hätte ihn kaum beschreiben können. Gunnar hatte keinerlei besondere Merkmale. Wie konnte es sein, dass jemand wie er eines so ausgefallenen Todes starb? Wieso sollte man Gunnar ermorden, ausgerechnet in einem Vergnügungspark? Hass war der Motor von Mord, oder Rache. Aber Helle konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass der pensionierte Rektor jemals etwas getan haben sollte, das derartige Gefühle hervorrief.

 

Sie spülte, stand auf und wusch sich die Hände. Den Blick in den Spiegel vermied sie und entschied sich für eine heiße Dusche. Danach wäre sie vielleicht halbwegs am Leben und in der Lage, zu Matilde Larsen, der Witwe, zu fahren und sie mit dieser Hiobsbotschaft aus dem Bett zu werfen.

 

Der heiße Massagestrahl der Dusche auf Schulter und Nacken war wie eine Erinnerung an guten Sex. Helle hätte ewig so stehen bleiben können, eingehüllt in den heißen Dampf, der sich in der Dusche bildete. Aber es half nichts, sie musste gleich da hinaus, ins Leben, in ihr Leben als Hauptkommissarin, und eine Todesbotschaft überbringen.

Tapfer stellte sie die Dusche von Massage auf Regen, von heiß auf kalt. Sie unterdrückte einen Schrei, als die eisigen Tropfen auf sie niederprasselten, schließlich sollte wenigstens Bengt seinen Schlaf bekommen. Dann drehte sie das Wasser ab, schüttelte sich wie ein Hund und rubbelte sich mit dem Frotteehandtuch trocken. Sie wischte einmal über den Spiegel und sah sich selbst entgegen. Nasse halblange Haare, die wirr in alle Richtung abstanden. Müde Augen, die zwischen noch immer geschwollenen Lidern hervorblinzelten. Tiefe Falten um die Mundwinkel und zwischen den Brauen, aber immerhin war die Haut durch die kalte Dusche gut durchblutet und strahlte einen Hauch von Leben aus. Definitiv fünfzig und keine Sekunde jünger.

Wenn sie jetzt noch einen Espresso bekäme, würde sie sich vielleicht unter Menschen wagen können.

Sie schlich sich leise zurück ins Schlafzimmer, aber das Ehebett war leer. Stattdessen stieg ihr ein warmwürziger Duft aus der Küche in die Nase. Bengt, dachte sie gerührt, mein Guter.

Am liebsten hätte sie sich gemütliche Schlupfhosen und ein kuschliges Sweatshirt übergeworfen, aber die Mission, die ihr bevorstand, verlangte eine andere Kleiderordnung. Das hellblaue Hemd, schwarze Hose, dazu ein dicker blauer Polizeipullover. Helle betrachtete sich im Spiegel. Furchtbar. Die Hose spannte an Bauch und Oberschenkeln, der grobgestrickte Pullover mit dem engen Halsausschnitt ließ ihre Brüste geradezu monströs wirken. Nein, die Dienstuniform war alles andere als kleidsam. Aber es ging auch nicht darum, einen Schönheitswettbewerb zu gewinnen.

Sie strich sich die halbnassen Haare hinters Ohr, legte ein bisschen Rouge, Wimperntusche und Lipgloss auf und überlegte sich im Stillen, was sie Matilde sagen sollte. In so einem Fall war jedes Wort grundfalsch. Ihr Job brachte es mit sich, dass sie Hinterbliebene vom Tod eines Angehörigen unterrichten musste. Aber zum Glück war das in den dreißig zurückliegenden Dienstjahren nicht allzu häufig vorgekommen. In ihrem Distrikt gab es nicht oft Tote. Verkehrsunfälle, Herzinfarkte, Badeunfälle. Vielleicht ein Einbruch. Vor ein paar Jahren hatte es nach dem Frühlingsfest eine Messerstecherei gegeben, einer der jungen Burschen hatte es nicht überlebt.

Die schrecklichste Todesnachricht, die sie jemals hatte überbringen müssen, war die des ermordeten Mädchens gewesen. Wenn die Bilder der Kleinen und ihrer Eltern vor ihrem geistigen Auge erschienen, trieb es Helle unweigerlich Tränen in die Augen. Noch so viele Jahre später.

Gottlob war sie damals nicht allein gewesen. Der Fall hatte sich in ihren Anfangsjahren zugetragen, als sie noch in Fredrikshavn gewesen war. Ingvar, der Chef der Polizei, war mit ihr zu den Eltern gefahren. Der gute alte Ingvar. Er hatte die Mutter wortlos in den Arm genommen. Dieser Zwei-Zentner-Bär.

Nun, das fiel hier aus. Sie kannten sich nicht besonders gut, Helle und die Frau des pensionierten Rektors. Vom Sehen hier und da. Ihr Umgang war steif und förmlich, eine Umarmung wäre einfach unangemessen.

 

In der Küche schob Bengt ihr ein großes Glas warmen Chai-Tee hin, bevor er sich wieder an den Herd stellte. In der gusseisernen Pfanne brutzelte ein dottergelber Pfannkuchen, den Bengt sogleich routiniert wendete, kurz stocken und dann auf den Teller gleiten ließ. Er gab etwas von der Beurre au caramel salé darauf, die er selbst gemacht hatte, rollte den Pfannkuchen zusammen und stellte ihn vor Helle auf den hölzernen Tresen. Dann setzte er sich ihr gegenüber.

Helle streckte eine Hand aus und fuhr ihrem Mann zärtlich über den dichten Wikingerbart. »Geh wieder ins Bett.«

Er nickte, nahm ihre Hand und küsste sie. »Einer muss es ja warmhalten.«

Helle biss voller Verlangen in den köstlichen Pfannkuchen und murmelte mit vollem Mund: »Ich weiß nicht, ob ich so schnell zurückkomme.«

Ihr Mann zog nur die Augenbrauen hoch und kratzte sich am Kopf. In den vielen Jahren ihrer Ehe hatte er gelernt, dass es nicht gut war, sie zu fragen, was passiert sei. Vieles durfte Helle nicht erzählen, und er vermied es, sie in einen Gewissenskonflikt zu bringen. Entweder erzählte sie aus freien Stücken, oder er begnügte sich mit ihrem Schweigen. Ohnehin war Bengt Jespers nicht der neugierige Typ. Klatsch und Tratsch interessierten ihn nicht, und oft wunderte sich Helle, wie es jemand schaffte, einen Job als Sozialpädagoge so gut zu machen wie Bengt, obwohl er an seiner Umwelt nicht das geringste Interesse zu haben schien.

Die warme Karamellbutter tropfte aus dem Pfannkuchen, und Helle wischte sie mit dem Finger vom Teller. Sie war verrückt danach, und gerade, wenn sie verkatert war oder übermüdet oder beides, gierte sie wie ein Junkie nach dem Zuckerzeug. Sie nahm einen Schluck von dem Chai, dessen Wärme sich in ihrem ganzen Körper ausbreitete, und sah über den Rand des Glases, dass Bengt die Augen geschlossen hatte und im Sitzen wieder in Schlaf gefallen war. Sie lächelte. »Bengt.«

Er öffnete ein Auge und nickte. Dann stand er auf, ging um den Tresen herum und legte seine kräftigen Arme um sie. Helle küsste ihren Mann aufs Ohr und gab ihm einen Klaps auf die Boxershorts. Gehorsam trottete der todmüde Grizzly zurück ins Schlafzimmer.

Helle gönnte sich noch eine zweiminütige Verschnaufpause. Sie umklammerte das Teeglas mit beiden Händen und blickte durch die Panoramascheiben auf die Silhouette der Dünen. Das Meer konnte sie nicht sehen, dafür war es noch zu dunkel, aber die hellen Sandhügel direkt am Haus mit den Schneeresten darauf schimmerten blass.

Mit diesem Haus am Strand hatten sie sich einen Traum erfüllt. Ursprünglich hatte hier der Fischerschuppen ihres Großvaters gestanden, und es hatte einige Jahre, viele Schreiben an die Behörde und noch mehr Nerven gekostet, um eine Baugenehmigung an der Stelle zu bekommen. Aber sie hatten es geschafft – ganz ohne Bestechung –, die alte Hütte abgerissen und das Holzhaus gebaut. Bengt hatte fast alles selbst gemacht, zusammen mit Nikolas, der das Haus entworfen hatte. Es war Helles Seelenort, und je länger sie hier wohnte, desto weniger wollte sie das Haus verlassen. Jeden Morgen zögerte sie ihren Aufbruch zur Arbeit ein paar Minuten hinaus, um noch ein bisschen Behaglichkeit und Ruhe zu tanken. Wenn sie abends nach Hause kam, fielen alle Sorgen von ihr ab, kaum trat sie über die Schwelle des Hauses.

Der Blick über die Dünen zum Meer und dem weiten Himmel darüber, der Schwedenofen in der Ecke, in dem außer in den Sommermonaten immer ein Feuer prasselte, der dicke weiße Wollteppich, in dem man seine Zehen vergraben konnte, und die gemütlichen Sofas mit Kissen und Wolldecken waren Helles Paradies auf Erden.

 

Aber leider warteten dort draußen alles andere als paradiesische Zustände. Jemand hatte Gunnar Larsen getötet. Gewaltsam zu Tode gebracht, wie Gudmund sich ausgedrückt hatte. Weitere Details hatte er für sich behalten. Es wäre hilfreich für Helle gewesen, mehr zu wissen, aber offensichtlich wollte der Leiter der Kopenhagener Mordkommission sie nicht an seinem Herrschaftswissen beteiligen. Trotz dieser spärlichen Informationen musste Helle das Gespräch mit der Witwe führen.

Sie gab sich einen Ruck, stellte den Becher mit dem Chai ab und verließ das Haus.

 

Gunnar Larsen und seine Frau wohnten am anderen Ende des Ortes in einer kleinen Seitenstraße. Helle Holzhäuser mit rotem Dach, die eines wie das andere aussahen. Typische dänische Sommerhäuschen, wie sie die vielen Touristen, die im Sommer nach Skagen strömten, liebten.

Aber jetzt war es Winter, stockfinster und acht Grad unter null. Die Straße lag wie ausgestorben da, in keinem der Häuser brannte Licht. Helle stieg aus dem warmen Polizeiauto und suchte die Hausnummer der Larsens. Es war das letzte Haus in der Sackgasse, im Vorgarten stand ein Überbleibsel von Weihnachten, ein kleiner Baum mit Lichterkette. Ansonsten war das Häuschen schmucklos, nirgends ein Hinweis auf seine Bewohner. Kein Kranz hing an der Tür, kein selbstgetöpfertes Namensschild, keine Fußmatte mit einem humorvollen Spruch. Das Haus war wie Gunnar Larsen selbst: durch und durch nüchtern.

Helle holte tief Luft und drückte auf den Klingelknopf. Im Inneren des Hauses breitete sich ein schriller Ton aus, und kurz darauf ging das Licht an. Durch das kleine Fenster neben der Eingangstür sah Helle, dass jemand die Treppe herunterkam, aber dieser Jemand zögerte, bevor er – oder besser sie – die Tür öffnete. Kein Wunder, es war kurz nach fünf am Morgen.

»Wer ist da?« Eine Frauenstimme klang gedämpft durch die Tür.

»Polizei Skagen, Helle Jespers.«

Das blasse Gesicht Matilde Larsens erschien in der nun halb geöffneten Tür. Der Blick, mit dem sie Helle bedachte, sagte deutlich aus, dass Matilde wusste, dass etwas geschehen war. Kein Erschrecken, keine Verwunderung lag darin, eher Vorahnung.

»Entschuldige, wenn ich so früh störe. Darf ich reinkommen?«

Matilde nickte schwach und raffte instinktiv den Ausschnitt ihres Flanellnachthemds mit einer Hand zusammen. Wortlos ließ sie die Eingangstür los, drehte sich um und ging vor Helle ins Wohnzimmer. Dort machte sie Licht und ließ sich schwer in einen Ohrensessel fallen.

Helle nahm auf dem Sofa gegenüber Platz.

»Gunnar?«, fragte die Frau und wich dann rasch Helles Blick aus. Ihre Augen wanderten zum Fenster, und es schien, als wartete sie gar nicht auf eine Antwort.

Helle nickte. Sie versuchte abzuschätzen, wie die Frau, die ihr gegenübersaß, die Nachricht vom Tod ihres Mannes aufnehmen würde. Matilde schien nicht im Mindesten überrascht, dass mitten in der Nacht die Polizei an ihrer Tür klingelte.

»Ich habe einen Anruf aus Kopenhagen bekommen. Es tut mir leid, Matilde. Aber Gunnar ist ums Leben gekommen.«

Die Frau schwieg. Sie nickte unmerklich und starrte weiter in die Dunkelheit hinter dem Fenster.

Helle wartete ab. Sie beobachtete Matilde genau, nahm jede Regung in dem blassen Gesicht wahr. Aber sie wurde nicht schlau daraus. Die Witwe von Gunnar Larsen musste um die sechzig sein, aber sie hatte ein altersloses Jungmädchengesicht. Zarte Haut mit feinen Fältchen um Mund und Augen, blasse Sommersprossen, dünnes lockiges Blondhaar, in das sich silberne Strähnen mischten. Ihre Augen waren wasserblau, aber mit den Jahren ausgeblichen und verschwommen. Matilde hatte nichts Verhärmtes an sich, keinen frustrierten Zug um den Mund, aber sie wirkte auch nicht, als sei sie ein glücklicher Mensch.

Jetzt wandte sie ihr Gesicht wieder zu Helle, in ihren Augen standen Tränen. Sie öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, aber sie brachte keinen Ton heraus.

»Gunnar wurde heute Nacht im Tivoli gefunden«, sagte Helle so behutsam wie möglich. »Leider weiß ich nichts über die genauen Umstände seines Todes, aber …«

Matilde Larsens Augen wurden plötzlich ganz groß, sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Erst langsam und ungläubig, dann immer heftiger. »Im Tivoli? Das kann nicht sein! Das kann nicht Gunnar … was sollte er da tun?«

Helle stand auf und kniete sich neben den Stuhl der anderen Frau, nahm behutsam deren Hand.

»Ich weiß, das ist jetzt sehr schwer für dich. Aber im Laufe des Tages kann ich dir sicher mehr sagen.«

Matilde entzog ihr die Hand. Sie atmete schwer. So ungewöhnlich gelassen und fast schon desinteressiert sie gewesen war, als Helle bei ihr auftauchte, so heftig reagierte sie nun. Rasch erhob sie sich aus dem Stuhl und lief im Wohnzimmer hin und her. Sie schüttelte immer noch den Kopf und schien darüber nachzudenken, was sie soeben erfahren hatte.

Helle wunderte sich, dass Matilde keine Fragen stellte. Da sie selbst keinerlei Details kannte, wollte sie auch nicht näher darauf eingehen, also fragte sie Matilde, ob sie ihr einen Tee machen könne. Und ob sie jemanden benachrichtigen solle, der sich kümmern könnte. Da die Frau nicht darauf reagierte, blieb Helle einfach sitzen. Die Witwe stand unter Schock, und sie wollte sie nicht alleinlassen. Also reden.

»Matilde, kannst du mir sagen, wann du Gunnar das letzte Mal gesehen hast?« Helle zog ihren Notizblock und einen Stift hervor.

Matilde Larsen blieb abrupt stehen und dachte nach. Helle war erleichtert, dass sie noch zu ihr durchdringen konnte.

»Ich weiß nicht, Freitagmittag?« Matilde wirkte verwirrt. Hilfesuchend sah sie zu Helle. »Ich habe ihn zum Bahnhof gefahren.«

»Okay. Warum zum Bahnhof?«

»Einmal im Jahr …« Matilde stockte, verbarg ihr Gesicht in den Händen.

Helle wartete ab und legte eine Hand behutsam auf das Knie der Älteren. Schließlich hob Matilde Larsen wieder den Kopf und fuhr fort.

»Einmal im Jahr trifft er sich mit ehemaligen Kollegen aus ganz Dänemark. In Kopenhagen.«

Helle nickte und machte sich Notizen. »Um wie viel Uhr ging sein Zug, kannst du dich erinnern?«

Matilde blickte verloren zu Boden. Sie ließ die Hand, mit der sie den Ausschnitt des Nachthemds festgehalten hatte, sinken. »Mir wird schlecht«, flüsterte sie.

Helle war mit einem Satz bei ihr und fasste die Frau um die Schultern. Sie führte sie hinaus in den Flur, und Matilde steuerte mit ihrer Hilfe die Gästetoilette an. Dort sank sie auf die Knie, umklammerte die Kloschüssel und begann zu würgen. Helle kniete sich hinter sie und streichelte ihr den Rücken. Sie würde Matilde Larsen nicht alleinelassen können, die jetzt laut in die Kloschüssel schluchzte und am ganzen mageren Körper zitterte.

Helle zog ihr Handy aus der Hosentasche und überlegte, welche Kollegin sie hierherbestellen sollte. Amira, die junge Polizeianwärterin aus Afghanistan oder doch lieber Marianne, die Mütterliche. Sie entschied sich für Letztere. Ihre Sekretärin Marianne war knapp über sechzig und litt laut eigenem Bekunden an seniler Bettflucht. Es wäre also weniger schlimm, bei ihr um diese Zeit anzuklingeln als bei einer jungen Frau.

Die Schluchzer wurden jetzt weniger, auch das Zittern, und Matilde Larsen ließ den Kopf gänzlich in die Schüssel sinken. Sie murmelte jetzt leise vor sich hin, aber Helle konnte nicht verstehen, was sie sagte. Sie hatte sich gerade entschlossen, Matilde wieder aufzuhelfen und sie im Wohnzimmer auf das Sofa zu betten, als die verzweifelte Frau den Kopf hob und laut und vernehmlich sagte: »Ich war es. Ich bin schuld. Es ist alles nur wegen mir.«

 

Eine gute Stunde später ließ Helle sich erschöpft auf den Stuhl in ihrem Büro sinken. Trotz des dicken Pullovers und der maximal aufgedrehten Heizung fror sie erbärmlich. Übermüdung. Ihre Lider waren schwer, der Kopf fühlte sich an, als würde er gleich platzen – was durch die stickige Heizungsluft in ihrem kleinen Kabuff nicht gerade besser wurde –, und sie hätte am liebsten die Stirn auf die Schreibtischplatte sinken lassen und wäre eingeschlafen.

Stattdessen nippte sie an dem Kaffee, den ihr Kollege Jan-Cristofer ihr gerade in die Hand gedrückt hatte, und schaltete den Computer an.

Sie musste ein Protokoll des Gesprächs mit Matilde Larsen für Gudmund schreiben. Helle versuchte, darüber nachzudenken, ob und wenn ja wie sie das Quasi-Geständnis der Witwe im Protokoll erwähnen sollte. Wenn sie es unter den Tisch fallen ließ, wäre das höchst riskant. Am Ende erwähnte Matilde einem anderen Polizisten gegenüber, vielleicht sogar Sören Gudmund selbst, dass sie doch schon ein Geständnis abgelegt hatte.

Auf der anderen Seite war Helle sich völlig im Klaren darüber, dass das, was Matilde unter Schock von sich gegeben hatte, nicht als »echtes« Geständnis zu werten war. Denn als Helle es im Zuhause der Larsens endlich geschafft hatte, die weinende Witwe aufs Sofa zu betten, ihr einen Tee zu kochen und Marianne aus dem Bett zu klingeln, hatte sie noch einmal nachgefragt, was mit der Selbstbezichtigung gemeint gewesen war. Die in Tränen aufgelöste Matilde hatte eingestanden, dass sie und Gunnar schon lange getrennter Wege gingen, und sie hatte angenommen, dass Gunnar sich deshalb vielleicht etwas angetan hatte. Pflichtschuldig hatte Helle sich das Eingeständnis angehört, sich Notizen gemacht, aber die langjährige Erfahrung als Polizistin sagte ihr, dass Menschen unter Schock erstens ziemlich viele merkwürdige Dinge äußern und es zweitens ihres Wissens nach eher selten vorkam, dass sich jemand das Leben nahm, weil er seit vielen Jahren eine unerfüllte Ehe führte. Sie würde Matilde Larsen noch einmal vernehmen, wenn diese in besserer Verfassung war.

 

Jetzt saß Helle in ihrem Büro und musste diplomatisch begründen, warum sie Matilde Larsen nicht gleich mit auf die Polizeiwache zur Vernehmung genommen hatte. Sie nippte am Kaffee, und während der PC langsam hochfuhr, entschied sich Helle für die Formulierung, dass die Witwe des Ermordeten nicht in geistig klarer Verfassung war und unter Schock stehend sich selbst bezichtigte, am Tod ihres Mannes schuld zu sein – dabei war sie jedoch von Selbstmord ausgegangen.

 

Doch Helle kam gar nicht dazu, ihr Protokoll zu Papier zu bringen. Sören Gudmund war ihr zuvorgekommen und hatte ihr seinerseits bereits Unterlagen geschickt, nämlich nähere Details über den Fundort des Toten, die mutmaßliche Todeszeit und vor allem: die Todesursache.

Der kandierte Apfel, der tief in Mund und Rachen des Opfers steckte, war nicht ursächlich schuld am Tod von Larsen gewesen. Er war an einem Herzstillstand gestorben, der aller Wahrscheinlichkeit nach deshalb eingetreten war, weil der Täter Gunnar bei lebendigem Leib und vollem Bewusstsein die Augäpfel aus den Höhlen geschält hatte.

Helle spuckte augenblicklich den bitteren Kaffee in den Papierkorb.

Kopenhagen, 12.00 Uhr

Gut gemacht, gut gemacht, das hat es gut gemacht.

Es kann stolz auf sich sein, aber wirklich!

Ob es eine Belohnung bekommt?

Eine kleine Süßigkeit, weil es so brav gewesen ist. Weil es seine Arbeit getan hat.

Vielleicht Popcorn? Oder kandierte Früchte?

Aber es muss vorsichtig sein, wenn es sich aus der Deckung wagt. Es darf kein Risiko eingehen.

Überall Bullen.

Es kann heute nicht im Schuppen schlafen, es muss sich ein neues Plätzchen suchen. Ein oder zwei Nächte.

Besser, es geht ein paar Tage nach Christiania. Da kann es immer untertauchen.

Aber dann muss es weitermachen, muss seine Arbeit machen. Darf nicht ruhen. Darf die anderen nicht vergessen!

Hat sich so einen schönen Plan gemacht.

Gutes Kind!

Braves Kind!

Das brave Kind bekommt eine Belohnung. Nur das brave.

Brav, brav, brav.

Aber es belohnt sich selbst, es macht jetzt den Plan selbst, es weiß, was es tut.

Es ist nicht umsonst hierhergekommen, das brave Kind.

Die weite Reise!

Alles hat das Kind gut gemacht. Hat alles geschafft, das brave Kind.

Hat den bösen Onkel bestraft.

Den ersten.

Das gute Kind wird belohnt.

Popcorn?

Oder ein kandierter Apfel?

Skagen, 12.30 Uhr

Die Polizeistation von Skagen lag an der Ausfallstraße nach Fredrikshavn. Ein flacher Bungalow aus den Sechzigern, der Linoleumboden grün wie Galle. Kleine Räume links und rechts des geraden Gangs, der vom Eingang zur Arrestzelle führte. Vor zehn Jahren hatte Helle eine zusätzliche Wand einziehen lassen, damit nicht jeder, der zu Besuch kam, gleich in den Gang stürmte, sondern von Marianne, die über den so geschaffenen Empfangstresen herrschte, aufgehalten wurde.

Eine Maßnahme, die nicht unbedingt notwendig gewesen war, aber allen ein Gefühl der Struktur und Wertigkeit gab.

Marianne war der Filter, an dem die Bagatelldelikte – Beschwerden über Lärmbelästigung, das Laub des Nachbarn oder falsch parkende Touristenautos – aufbrandeten und nur das wirklich Wichtige weitergeleitet wurde. Einfache Diebstähle, betrunkene Jugendliche oder verbale Beleidigungen durften sich die ersten beiden Zimmer links und rechts des Gangs teilen. In dem einen saßen Ole, Helles politisches Sorgenkind, und Amira, erstes Ausbildungsjahr. Jan-Cristofer, der bereits mehrere Jahre auf dem Buckel hatte und mit Helle seit ihren gemeinsamen Anfangsjahren Dienst schob, saß in dem Kabuff gegenüber. Zwei Schritte weiter auf dem gallegrünen Flur waren die Toiletten und erst danach das Chefzimmer von Helle links, die Arrestzelle rechts.

Keine Kaffeeküche. Kein Archiv. Kein separater Raum für Verhöre.

Alte Akten stapelten sich überall, wo auch nur ein Zentimeter Platz war. Oder wo Marianne Platz schuf. Tag für Tag räumte sie beständig Papierstapel von hier nach dort. Von ihrem Tisch in das Billy-Regal neben der Wartebank am Eingang. Vom Regal in das Zimmer von Ole und Amira. Hier nahm sie ein paar Ordner, »K-P 1986« oder »Anträge 1974«, um sie bei Jan-Cristofer oder Helle zu verstauen. Was dort keinen Platz mehr fand, wurde geschreddert oder nach Fredrikshavn gebracht.

Verhöre – oder Befragungen, wie Helle es lieber nannte – wurden in den Dienstzimmern geführt. Oder bei einer Zigarette im Garten. Was so Garten genannt wurde. Ein Grünstreifen rund um den Bungalow, drei weiße Plastikstühle und ein Aschenbecher aus Beton.

Kaffeeküche wozu?

Marianne brachte ihre Thermoskanne mit. Damit versorgte sie Ole und Jan-Cristofer, Amira trank Tee, den sie sich mit ihrem Wasserkocher zubereitete. Helle hatte einen Porzellanfilter und goss per Hand auf. Wer Kaffee trinken wollte, musste sich eine abgespülte Tasse aus der Toilette holen, dort stapelte Marianne sie nach dem Abspülen auf dem karierten Geschirrhandtuch auf der Ablage unter dem Spiegel.

 

Helle goss zum dritten Mal heißes Wasser in den Filter mit dem Kaffeepulver. Sie mochte diese Art der Zubereitung, die Zeit, Sorgfalt und Aufmerksamkeit erforderte, viel lieber als die komplizierte Bedienung des »Biests«, wie sie die monströse italienische Gaggia-Kaffeemaschine zu Hause nannten.

Der Duft des frisch gebrühten Kaffees erfüllte den kleinen Raum und verdrängte den Geruch von altem Papier, das sich an den Wänden stapelte, dem Fisherman’s-Friend-Bonbon, das Jan-Cristofer lutschte, damit niemand roch, dass er noch immer eine Fahne hatte, und dem blumigen Parfum Mariannes.

Helle beobachtete, wie das Wasser am Rand des Filterpapiers schäumte und dann langsam durch das Kaffeepulver sickerte, bis nur noch eine dunkle lehmige Masse zurückblieb, die sie irgendwann am Abend, nach Feierabend, auf dem Grünstreifen verteilen würde.

Als der letzte Tropfen versickert und in der Kanne gelandet war, setzte Helle den Filter behutsam ab, nahm die Kaffeekanne und drehte sich um. Vier Gesichter blickten ihr erwartungsvoll entgegen.

Mord. Kaum einer ihrer Leute hatte das hier bisher erlebt. Hier in Skagen. Einzig für Helle und Jan-Cristofer war es in ihrer langen Berufslaufbahn nicht das erste Mal, dass sie mit gewaltsam zu Tode gebrachten Menschen konfrontiert wurden. Helle hatte Selbstmörder gesehen, Drogenopfer, aber auch – angefangen mit dem kleinen Mädchen – Tote, die durch Gewalt anderer gestorben waren. Wie auch der Junge auf dem Frühlingsfest. Aber nichts war auch nur annähernd so makaber gewesen wie die Art des Todes von Gunnar Larsen. Das war weit entfernt von Routine, und Helle ahnte, dass es in den kommenden Tagen und Wochen aufregend werden würde – für sie alle.

»Mord. In Skagen!« Ole hibbelte auf seinem Stuhl herum. Der junge Beamte hatte ein unbestimmtes Glitzern in den Augen, guckte aufgeregt von Helle zu seinen Kollegen und konnte nicht still sitzen.

»Genau genommen nicht in Skagen, Ole.« Helle goss ihm Kaffee in den Becher und verkniff sich zu erwähnen, dass es sich um einen ganz besonders guten Kaffee handelte, Sina hatte ihn ihr geschickt, von »Riccos« in Vesterbro.

»Holy shit, ausgerechnet Gunnar!« Ole schien gar nicht gehört zu haben, was sie gesagt hatte, und Helle nahm sich vor, den Jungen im Auge zu behalten. Vermutlich sah er sich schon in Kopenhagen bei der Mordkommission, und so fleißig Ole auch war, Aktionismus würde ihnen in diesem Fall nicht gut bekommen.

Amira legte eine Hand über ihre Tasse und schüttelte lächelnd den Kopf, als Helle ihr Kaffee anbot.

»Gunnar wurde im Tivoli ermordet. Und der befindet sich noch immer in Kopenhagen, Ole. Du darfst mich gerne eines Besseren belehren.«

Jan-Cristofer hielt ihr seinen Becher hin, die Hand zitterte leicht.

»Dementsprechend ist es der Fall von Sören und seinen Leuten«, fuhr Helle unbeirrt fort. »Wir sind lediglich um Amtshilfe gebeten worden.« Nicht einmal das, fügte sie insgeheim hinzu. Dieser Gudmund hatte sie losgeschickt wie eine Streifenpolizistin.

»Was ist denn nun wirklich passiert?« Marianne saß aufgerichtet, das Kreuz durchgedrückt, der ausladende Busen wies nach vorne oben, und sie führte ihre Kaffeetasse grazil zum gespitzten Mund, der kleine Finger weit abgespreizt.

Helle nickte dankend. Eigentlich wusste Marianne als Einzige außer ihr, was mit Gunnar Larsen geschehen war, weil sie den Bericht von Sören ausgedruckt und selbstverständlich sofort gelesen hatte. Aber sie tat alles, um ihrer Chefin zur Seite zu springen. Helle schätzte ihre Treue und Umsichtigkeit sehr.

»Zwei Wachmänner haben heute Nacht gegen drei Uhr das Geräusch eines Fahrgeschäftes gehört. Es hat sich herausgestellt, dass eines der Karusselle in Betrieb war …«

»Welches?« Ole wieder. Atemlos.

»Galejen.«

Jan-Cristofer sog scharf die Luft ein. »Ausgerechnet! Damit sind wir mit Markus immer gefahren.« Kurz huschte ein dunkler Schatten über sein Gesicht, die Hand mit dem Kaffeebecher zitterte noch stärker.

»Es stellte sich heraus, dass in einem der Wagen ein Mann saß«, fuhr Helle fort, ohne auf den Kommentar einzugehen. »Gunnar. Er war tot. In seinem Mund steckte ein kandierter Apfel. Aber daran ist er nicht gestorben. Er hat einen Herzstillstand erlitten. Der Gerichtsmediziner mutmaßt – aber das ist noch nicht belegt –, dass sein Herz stehen geblieben ist, weil ihm jemand bei lebendigem Leib die Augäpfel aus den Höhlen geschält hat.«

Marianne ließ die Kaffeetasse langsam sinken und beobachtete gespannt die Reaktion ihrer Kollegen.

Amira zog lediglich die Brauen zusammen und Jan-Cristofers Gesicht nahm die Farbe des Linoleumbodens an.

Ole war nun nicht mehr zu halten. Er sprang von seinem Stuhl auf, die schwarze Flüssigkeit schwappte aus seinem Becher auf den Boden, aber das bemerkte er gar nicht. »Fuck! Wow!« In seinem Gesicht wechselte sich Abscheu mit Faszination ab, Ekel mit Neugier.

»Ole, bitte. Das ist nicht angemessen.«

»Ja, klar. Sorry. Aber … ich meine, so was!« Der große Junge sah seine Kollegen an. »Dass so was echt passiert! Geil.«

Sie schwiegen. Und sahen betreten zu Boden. Ole trat verlegen von einem Bein aufs andere, dann setzte er sich wieder auf seinen Stuhl.

Helle starrte die Kaffeelache zu seinen Füßen an. Sie spürte, wie ihr plötzlich der Schweiß ausbrach, der dicke Strickpullover mit dem engen Ausschnitt bereitete ihr Pein, sie zog am Bündchen, aber es half nicht. Sie hatte das Gefühl, gleich umzukippen, und riss sich den Pulli über den Kopf. Jetzt schauten die Kollegen ihr ins Gesicht, die jüngeren überrascht, Jan-Cristofer mitleidig, Marianne lächelte wissend. Helles Haare standen elektrisch aufgeladen zu Berge, unter ihren Achseln färbte der Schweiß das hellblaue Hemd dunkel.

»Ach verdammt!« Sie riss gereizt das Fenster auf. Zwei tiefe Atemzüge von der eiskalten Winterluft, dann musste es wieder gehen. Resolut drehte sie sich um. »Die Mordkommission unter der Leitung von Sören Gudmund wird sich um den Fall kümmern. Ich glaube nicht, dass sie die Absicht haben, uns mit einzubeziehen …«

»Ich würde das nicht vorschnell ausschließen.«

Er stand ganz plötzlich in der Tür. Helle hatte nicht gehört, dass er die Polizeistation betreten hatte. Kein Rufen, kein Klopfen, keine Schritte auf dem Gang.

Vorstellen musste er sich nicht. Sie wusste auf den ersten Blick, dass der Leiter der Mordkommission Kopenhagen vor ihr stand. So groß wie sie, oder vielmehr genau so klein. Drahtig. Eine Figur wie ein Rennradfahrer. Durchtrainiert, das sah sie durch den eleganten leichten Mantel. Grauer Bürstenhaarschnitt. Eisblaue Augen mit stecknadelkopfkleinen Pupillen. Das Kinn schob er vor und blickte ihr direkt in die Augen.

Automatisch wanderte Helles Hand zu ihren Haaren, obwohl sie wusste, dass sie nichts mehr ausrichten konnte. Vorne klebten sie an der feuchten Stirn, der Rest lag von ihrer Wollmütze plattgedrückt am Kopf, nur oben, da standen sie noch immer elektrisch in die Höhe. Ihre Hand zuckte zurück, auch weil sie die Arme doch lieber an den Körper presste, um der Schweißflecken willen.

Sören verzog den Mund. Verdammt, sollte das ein Lächeln sein?

Hinter ihm erschien ein weiterer Mann. Groß, ebenfalls durchtrainiert, mit schwarzer Lederjacke und Schlägervisage.

»Das ist mein Kollege, Hauptkommissar Ricky Olsen.« Gudmund wandte den Blick nicht von ihr ab, und Helle spürte, wie ihr erneut der Schweiß ausbrach. An der Innenseite der Oberschenkel klebte die Stoffhose an der Haut, es juckte. Seit einiger Zeit probierte Helle es dort mit Rasieren, in der Hoffnung, dass sie dann weniger schwitzen würde, aber das machte alles nur noch schlimmer, es hatten sich Pusteln in der Leiste gebildet. Manchmal erwischte sich Helle dabei, wie sie dort kratzte, unanständig, wie ein Mann, der sich nicht beherrschen konnte.

»Und das hier«, Sörens Kinn zuckte kurz zu Helle, »ist die Polizistin vor Ort. Helle Jespers.«

»Hauptkommissarin Jespers.« Helle stemmte sich vom Schreibtisch ab und streckte den Arm in Richtung ihrer Kollegen aus der Hauptstadt. Aber keiner der beiden machte Anstalten, ihre Hand zu ergreifen. Der Riese hinter dem Kleinen tippte sich nur grüßend an die Stirn.

Helle versuchte, die Unhöflichkeit zu ignorieren. »Und das hier sind meine Mitarbeiter …«

»Ich warte noch immer auf deinen Bericht«, fiel Sören ihr ins Wort. »Meinen hast du vor drei Stunden bekommen, also …?«

»Ich bin noch nicht dazu gekommen.«

Warum rechtfertigte sie sich? Helle war wütend, aber statt ihre Wut an dem auszulassen, der sie hervorgerufen hatte, machte sie sich klein. Typisches Verhaltensmuster, so war es mit ihrem Vater schon gewesen. Das hatte sie jahrelang mit ihrer Therapeutin besprochen. Hatte versucht, das Muster zu durchbrechen, aber dann rutschte sie doch wieder hinein. Gerade jetzt. Zeig’s ihm, Helle, lass dich nicht ins Bockshorn jagen. »Du hast ihn in einer halben Stunde. Wir machen erst einmal eine Lagebesprechung.«

Die rechte Augenbraue des Leiters der Mordkommission wanderte steil nach oben. »Also gut. Halbe Stunde.« Er sah auf seine Uhr. Apple Watch. »In der Zwischenzeit bin ich bei der Witwe. Meine Leute sind schon dort und sehen sich um. Ich nehme an, du hast dort jemanden abgestellt?«

Helle guckte fragend zu Marianne. Die biss sich auf die Lippe, bevor sie zögernd antwortete. »Ich habe Matilde eine halbe Valium gegeben, damit sie schlafen kann. Und die Nachbarin gebeten, bei ihr zu bleiben.«

Der lange Typ formulierte stumm das Wort »Provinz«.

»Matilde Larsen ist ja wohl nicht dringend tatverdächtig, es besteht auch keine Fluchtgefahr, also habe ich keinerlei Veranlassung gehabt, sie unter Bewachung zu stellen.« Helle ergriff die Flucht nach vorn, obwohl sie wusste, dass da eine Wand war. Eine massive Wand aus Beton, mit eisblauem Blick und grauem Haar.

»Wir unterhalten uns später über deine Do’s and Don’ts.«

Sören Gudmund drehte ab und verließ hinter seinem Bodyguard das Zimmer. Erst, als das Klackern seiner Lederschuhe verklungen war – warum hatten sie das Geräusch beim Hereinkommen eigentlich nicht gehört, fragte Helle sich –, wagten sie es, Luft zu holen.

»Haben die keinen Winter im verdammten Kopenhagen?«, brach Jan-Cristofer das angespannte Schweigen.

Amira kicherte. »Habt ihr das gesehen? Diese Lederschühchen.«

»Keine Mütze, kein Anorak, keine Handschuhe.« Jan-Cristofer kam richtig in Fahrt. »Die sitzen wohl nur in ihrem Büro, da unten bei der Mordkommission.«

»Das war die Mordkommission?« Ole schien sich nicht lustig machen zu wollen. »Cool.«

»Am Arsch.« Jan-Cristofer schenkte sich mit zitternden Händen Kaffee nach. Helle nahm sich vor, heute Abend mit Bengt über ihn zu reden. Er war ein Freund der Familie, sie sollten etwas tun. Laut sagte sie: »Wir machen weiter, wo wir stehen geblieben sind. Marianne erzählt uns, was wir im Archiv über Gunnar haben.«

»Nicht, bevor ich die Zimtschnecken geholt habe.« Marianne erhob sich mit leichtem Ächzen. »Sonst ist mir von diesem Auftritt den ganzen Tag lang schlecht.«

 

Helle brauchte zehn Minuten für den Bericht. Aus Verärgerung unterschlug sie, dass Matilde sich selbst bezichtigt hatte. Helle formulierte es vorsichtiger: »… gab sich die Ehefrau des Verstorbenen die Schuld an seinem Tod, weil sie sich emotional bereits aus der Ehe verabschiedet hatte. Die Befragte ging dabei von einem möglichen Suizid ihres Mannes aus.« Nicht gelogen, aber eben nur die halbe Wahrheit.

Rasch überflog Helle die Dreiviertelseite, bevor sie auf Senden klickte. Mehr war über ihren Besuch bei Matilde nicht zu sagen. Mehr hatte Sören Gudmund auch nicht von ihr verlangt, also bitte.

Der Ton der abgesandten Mail war kaum verklungen, da spürte Helle, wie sich bleierne Müdigkeit ihrer bemächtigte. Es war kurz vor eins, Mittagszeit. Seit wie vielen Stunden war sie wach? Achteinhalb? Eine Zimtschnecke im Magen, den Pfannkuchen von heute Morgen und sehr, sehr viel Kaffee. Sich jetzt hinlegen können. In der bequemen Kuschelhose, mit dicken Socken, eines der Sofakissen auf dem Bauch und drei unter dem Kopf. Helle schloss die Augen und träumte sich nach Hause, in ihr Wohnzimmer. Sie sah das Flackern des Kaminfeuers und roch das Rehgulasch, das Bengt für sie aufwärmen würde. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, sie spürte, wie sie sich augenblicklich entspannte – da vibrierte ihr Handy und zeigte den Eingang einer Nachricht an. »Bericht ok. Komme um 14 Uhr. SG«

Eine Stunde, und wenn sie dann nichts Brauchbares vorzeigen konnte, würde sie nicht den Hauch einer Chance haben, an den Ermittlungen mitzuarbeiten, das wusste Helle. Im Grunde hatte sie sich vorhin schon ins Aus geschossen.

Die Faktenlage war dünn. Über das Opfer, Gunnar Larsen, gab es nichts. Weniger als nichts. Er wurde 1951 in Alborg geboren, als mittleres von drei Kindern. Der Vater Tierarzt, die Mutter Hausfrau. Grundschule, Gymnasium, Lehramtsstudium. Eine bruchlose Laufbahn, kein Auslandsaufenthalt, keine Einträge im Polizeiregister, nicht einmal falsch geparkt hatte Gunnar in seinem ganzen Leben. Matilde hatte er 1978 geheiratet, sie war Kindergärtnerin gewesen. Helle notierte sich ein Fragezeichen, wohl wissend, dass es sie kein bisschen weiterbringen würde.

Die Ehe war kinderlos geblieben. Warum? Wieder ein Fragezeichen. Das könnte schon eher von Bedeutung sein. Hatte Gunnar eventuell Befriedigung außerhalb der Ehe gesucht? Oder Matilde? Laut ihrer Aussage gingen sie bereits länger getrennte Wege. Aber die Tatsache, dass sie noch zusammen in einem Haus wohnten, ließ nicht gerade auf eine total zerrüttete Beziehung schließen. Oder doch? War alles nur Fassade?

Helle schloss die Augen und rief sich ihren ersten Eindruck von der Witwe in Erinnerung, als sie ihr gesagt hatte, dass ihr Mann tot war.

Verwirrt.

Aufgelöst.

Schuldbewusst.

Hysterisch.

Keine tiefe emotionale Erschütterung, keine Wärme oder Liebe. Sie würde noch einmal mit Matilde sprechen müssen, dieser Frau, die auf den ersten Blick ebenso blass erschien wie ihr Mann farblos. Trotzdem hatte Helle geglaubt, eine Kraft und Zähigkeit in dieser Person zu spüren, der sie auf den Grund gehen wollte.

Sie las noch einmal lustlos Gunnars Lebenslauf, so wie Marianne ihn in der Kürze der Zeit rekonstruiert hatte, aber da war nichts, was ihre Aufmerksamkeit erregte.

Nichts, was die Folter, die Gunnar über sich hatte ergehen lassen müssen, erklärte.

Im vorläufigen Bericht über den Zustand des Toten, den Sören ihr geschickt hatte, stand, dass Gunnar tadellos gekleidet war, lediglich auf seinem Wintermantel waren Blutspuren. Sein eigenes Blut, wenig verwunderlich, wenn man daran dachte, was ihm angetan worden war. Seine Hände waren mit Gaffa-Tape hinter dem Rücken gefesselt worden.

Der Aussage eines der Wachmänner entnahm Helle, dass er Schritte gehört hatte, kurz bevor sie den Toten im Karussell aufgefunden hatten. Der oder die Mörder? Ein Zeuge?

Helle grübelte, wie es möglich war, einen erwachsenen Mann von Gunnars Statur, der zwar sehr schlank gewesen war, aber immerhin mittelgroß, quer durch den Vergnügungspark zu transportieren und in eines der kleinen Wikingerschiffe zu setzen. Ein toter Körper war schwer. Um Gunnar zu tragen, musste man entweder kräftig sein – eine Frau war damit ausgeschlossen – oder nicht allein. Oder man hatte ein Hilfsmittel, wie eine Schubkarre. Die aber hätte das Wachpersonal oder spätestens die Polizei gefunden. Der Wachmann, der die Schritte gehört hatte, war außerdem felsenfest davon überzeugt, lediglich die Schritte einer Person gehört zu haben.

Wenn Gunnar getötet worden war, bevor er in das Karussell gesetzt wurde – wo hatte man ihn dann gefoltert? Er musste mächtig geschrien haben, sollte es im Tivoli geschehen sein, musste es irgendjemand gehört haben. Der Vergnügungspark lag mitten in der Stadt, in der Nähe des Hauptbahnhofs. Die Vesterbrogade lief direkt daran entlang, sie war Tag und Nacht belebt. Fußgänger, Radfahrer, Autos. Irgendjemand musste etwas gehört oder gesehen haben.

Helles müdes Gehirn wachte wieder auf, während sie über dem Fall grübelte. Wie gern wäre sie sofort losgestapft und hätte sich an die Arbeit vor Ort gemacht. Spuren suchen, Leute befragen. Aber diese Art der Kriminalarbeit war vollkommen überholt, von vorgestern. Seit sie Polizistin war, wurde nicht mehr so gearbeitet. Es war keine One-Man-Show und schon gar keine One-Woman-Show, wenn es das überhaupt gegeben hatte. Columbo war der Letzte gewesen, der so gearbeitet hat.

Heute wurden Teams von Tür zu Tür geschickt, um Befragungen durchzuführen. Und die Spurensicherung machte sich an die Arbeit, ausgebildete Kriminaltechniker.

Was also würde für sie zu tun bleiben?

 

»Nichts.« Sören verzog den Mund zu dem, was er für ein Lächeln hielt, aber es blieb eine Fratze. »Wir haben uns an die Arbeit gemacht, mein Team und ich. Mein Kollege Olsen bleibt heute noch vor Ort. Er wird die Befragungen im Umfeld des Toten weiterführen. Du kannst ungestört deiner Arbeit nachgehen. Falschparker aufschreiben und Ladendiebe überführen.«

Er erhob sich und zog den schmalen Mantel mit einem Ruck vor der Brust zusammen. Helle blieb sitzen und sah zu ihm auf.

»Natürlich, wenn ich deine Hilfe benötige, melde ich mich.«

Ohne ihr die Hand zu geben, machte Sören Gudmund auf dem Absatz kehrt.

»Wie kann ich auf dem Stand der Ermittlungen bleiben?«, wagte Helle einen vorsichtigen Vorstoß.

Gudmund stoppte und tat, als würde er überlegen. »Ich denke, das ist vorerst nicht nötig. Du bekommst einen Abschlussbericht. Das ist doch selbstverständlich. Unter Kollegen.« Er grinste. Dieses Mal sah es echt aus. Echt süffisant. »Bis dahin möchte ich dich bitten, die Füße stillzuhalten. Es sei denn, du erfährst etwas Relevantes. Dann darfst du mich gerne jederzeit kontaktieren.«

Helle wartete wieder, bis das Klappern seiner Absätze verstummt war. Dann erhob sie sich, todmüde, und ging nach vorne zu Mariannes Empfangstresen. Sie schnappte sich vom Teller eine weitere Zimtschnecke, lehnte sich zu Marianne über den Tresen und fragte mit vollem Mund: »Die Sekretärin aus Gunnars Gymnasium – ist die nicht eine Freundin von dir?«

Marianne antwortete mit einem vielsagenden Augenaufschlag, dann legte sie Mittel- und Zeigefinger übereinander und hob sie demonstrativ vor Helles Gesicht. »So!«

Helle nickte und schluckte den Rest des Zimtweckens hinunter. »Ruf sie an und sag ihr, dass ich vorbeikomme. Sie kann schon mal Kaffee aufsetzen.«

Helle hatte ihr Zimmer noch nicht wieder erreicht, da hörte sie, wie Mariannes Fingernägel auf der Telefontastatur klackerten. Helle grinste.

Kopenhagen, 14.00 Uhr

Die halbgerauchte Zigarette drückte er mit der Schuhspitze aus und kickte sie in den Schneehaufen neben dem Weg. Da hinten kam die Schulklasse. Lustlos und verfroren, Kinder wie Lehrer. Die Klassenleiterin lief vorneweg, die Mädchen in ihren Parkas mit Pelzkragen oder diesen lustig bunten Daunenjacken hinterher, in kleinen Grüppchen, mit ihren Smartphones beschäftigt. Es folgte der Lehrer, der seine Sporttasche grimmig umklammerte, hinter ihm schlurften die Jungs. Adidas-Sporthosen, Kapuzenpullis, der Blick nach unten gerichtet, Kopfhörer im Ohr.

Sport in der siebten und achten Stunde. Schwimmunterricht im Winter. Bei Temperaturen unter null. Begeisterung sah anders aus.

Er kannte das. Er hatte lange genug Schwimmtraining gegeben. Aber er hatte sie immer begeistern können. Ein paar coole Sprüche, Aufwärmübungen, ein kumpelhafter Knuff hier, ein bisschen Kitzeln, zum Anfang eine Runde Wasserball und dann hatten die Kids ihre schlechte Laune vergessen. Oder nicht?

Er sah zu, dass er vor der Schulklasse ins Bad kam, um nicht aufzufallen. Außerdem konnte er sich dann einen taktisch günstigen Platz in der Umkleide aussuchen. Ganz unauffällig am Rand, aber so, dass er alles sehen konnte. Möglichst alles.

An die Kasse musste er nicht, er hatte eine Jahreskarte, die musste er nur durchziehen. So war es ihm lieber. Wer so oft kam wie er, wurde wiedererkannt. Irgendwann angesprochen. Ein Stammkunde, mit dem man hier und da ein wenig plaudern konnte. Das war nicht in seinem Sinn. Gar nicht.

Drinnen, im Becken, kannten ihn die Bademeister. Das ließ sich nicht vermeiden, aber bei Schwimmern war das nichts Ungewöhnliches. Immer zur gleichen Zeit seine Bahnen schwimmen, mehrmals die Woche. Man war schließlich Sportler und musste im Training bleiben. Außerdem trug er eine Badekappe und Brille. Die Hose wechselte er in regelmäßigen Abständen. Vor allem aber stellte er sich nicht so dumm an wie manch anderer.

Ja, es gab sie. Einige außer ihm. Er erkannte sie sofort. Daran, dass sie am Beckenrand blieben, die Kinder mit fiebrigen Augen verfolgten. Manche stierten ungeniert, gaben sich nicht einmal den Anschein, als seien sie zum Schwimmen in die Halle gekommen.

Er war raffinierter. Zog seine Bahnen. Blieb mit dem Kopf unter Wasser. Was auch seinen Reiz hatte. Manchmal schwamm er hinter einem der Jungen her und sah, wie dieser beim Schwimmen die Beine spreizte.

Aber jetzt stand er in der Umkleide und zog sich aus. Die Badehose hatte er schon an. Langsam und umständlich räumte er seine Sachen in den schmalen Spind und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie die Jungs in die Umkleide kamen. Einer setzte sich, eine Armlänge von dort entfernt, wo er stand. Schob sich die Sneakers von den Füßen und pfefferte sie unter die Bank.

Er spürte, wie das Kribbeln kam. Das leichte Zittern von der inneren Anspannung. Die Vorfreude darauf, wenn der Junge sich nach und nach aus den Klamotten schälte. Das Sweatshirt über den Kopf streifen würde, danach das T-Shirt. Er könnte einen Blick auf den Oberkörper riskieren, auf die schmale Brust, den Bizeps, die eckigen Schultern, die zarte haarlose Haut. Manche hatten schon den ersten dunklen Haarstreifen, der sich vom Schritt zum Bauchnabel zog.

Das war nichts für ihn. Dann war es vorbei, er verlor das Interesse. Er mochte sie am liebsten, wenn sie im Dazwischen waren. Keine Kinder mehr und noch keine Männer. Wenn sie blühten. Diese Mischung aus kindlicher Unberührtheit und erotischem Verlangen.