Komponieren, trotz allem - Verena Naegele - E-Book

Komponieren, trotz allem E-Book

Verena Naegele

0,0

Beschreibung

Sie komponierte und musizierte ihr ganzes Leben lang, durfte ihre Begabung aber nicht zum Beruf machen. Martha von Castelberg (1892–1971) war die Tochter des Zürcher Bankiers Eduard von Orelli, der als Protestant zum Katholizismus konvertierte, um Beatrix von Reding heiraten zu können. Martha wurde streng katholisch erzogen, sie war eine gute Reiterin, lernte mehrere Sprachen und spielte hervorragend Violine. Der Musik galt ihre Leidenschaft, sie brachte sich autodidaktisch das Klavierspiel und damit auch das Komponieren bei. Im Austausch mit bedeutenden Zürcher Musikerpersönlichkeiten entwickelte sie ihren Stil weiter, ihre Motetten und geistlichen Lieder sind klanglich suggestiv. Als Gattin von Victor von Castelberg, dem Direktor der Schweizerischen Rückversicherung, kümmerte sie sich zudem um die künstlerische Erziehung ihrer Söhne Carlo und Guido von Castelberg, welche bedeutende ehrenamtliche Exponenten der Zürcher Kulturszene wurden. Im Nachlass der Familie von Castelberg haben Sibylle Ehrismann und Verena Naegele dem Leben und Werk dieser interessanten Schattenfigur nachgespürt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 137

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Martha von Castelberg-von Orelli1892–1971

Komponieren,trotz allem

Verena NaegeleSibylle Ehrismann

Martha von Castelberg Stiftung(Hg.)

Porträt aus den 1920er-Jahren.

Inhalt

Einleitung

I.Behütete Jugend im Zeichen von Religion und Musik

II.Autodidaktisches Komponieren ab 1912

III.Familienfrau und Komponistin

IV.Lied-Edition und kompositorischer Aufbruch

V.Die Hochs und Tiefs der Reifejahre

VI.Motetten und ausgefallene Werke

Nachwort der Stiftung

Lebensdaten

Liste der Werke

Anhang

Einleitung

Forschen auf wenigen Spuren

Als wir begannen, uns mit Martha von Castelberg-von Orelli zu beschäftigen, war es, als ob diese Frau hinter einem Vorhang verborgen wäre. Vordergründig waren nur ihre beiden «adligen» Namen bedeutsam: Der eine stammt von der mit Fürstäbten und Generälen dekorierten Dynastie von Castelberg aus dem bündnerischen Disentis. Diesen Namen trug Martha nach ihrer Heirat 1920 mit Victor von Castelberg.

Ihr ebenso illustrer Mädchenname, von Orelli, zeigt an, dass Martha vom Zürcher Zweig dieses berühmten Geschlechts abstammt, der ursprünglich im Kanton Tessin ansässig und im 16. Jahrhundert nach Zürich emigriert war. Ihr Vater, der Bankier Paul Carl Eduard von Orelli, baute für seine Familie im Talacker mitten in Zürich eine stattliche Familienresidenz. Hinter den beiden Namen von Castelberg und von Orelli schien sich eine musikalisch hochbegabte Frau zu verbergen, die ihre Talente nicht leben und verwirklichen konnte, wie die rudimentäre Quellenlage suggerierte.

So begaben wir uns auf Spurensuche nach dieser «Schattenfigur». Erste interessante Hinweise lieferte die Kurzbiografie zu Martha von Castelberg, die der Musikwissenschaftler Lukas Näf verfasst hatte. Die Sichtung des umfangreichen, noch nicht geordneten Nachlasses der Familie von Castelberg stellte uns dann aber vor Probleme, weil die Dokumente zur Person Martha von Castelberg-von Orelli nicht aussortiert waren. Sie befanden sich in über hundert Archivkisten unter den Namen ihres Mannes Victor und ihrer beiden Söhne, Carlo (1923–2006) und Guido (1927–2015). Beide waren erfolgreiche Juristen und ehrenamtliche Exponenten der Zürcher Kulturszene: Carlo als Präsident der Kunstgesellschaft Zürich (1975–1987), Guido als Vorstandsmitglied beziehungsweise Präsident der Musikkommission der Tonhalle-Gesellschaft Zürich (1958–1975). In den Nachrufen auf die beiden illustren Söhne wird der Name der Mutter nicht erwähnt, ja bei der Würdigung von Guido am 23. April 2015 in der Neuen Zürcher Zeitung ging der Autor sogar so weit, als Guidos musikalischen Mentor Willi Schuh zu bezeichnen und nicht seine Mutter.

Dieses Verschweigen und «Verschwinden» Martha von Castelberg-von Orellis forderte uns heraus. Wir wollten ihrem Leben und Wirken mit intensiven Recherchen auf die Spur kommen. Was wir dabei entdeckten, ist ein Leben, das der Familie, dem Katholizismus und der Musik gewidmet war, wobei ihre zahlreichen vorwiegend liturgischen Kompositionen von erstaunlicher Qualität und suggestiver Klangkraft sind. Darüber hinaus entstand ein spannendes Bild von Zürich zu Beginn des 20.Jahrhunderts, welches sich in der Vita dieser musikalischen Frau vielfältig widerspiegelt.

Aufgewachsen zu einer Zeit, als Katholiken im protestantischen Zürich noch in der Diaspora lebten, wurde die Religion zum Lebensthema der 1892 im Thalhof geborenen Martha. Ihr aristokratisches Umfeld erlaubte nicht, dass das Mädchen hätte Geige und Klavier studieren und damit ihre Passion zum Beruf machen dürfen. Aufgeben mochte und konnte Martha von Castelberg-von Orelli ihr Talent trotz allem nicht, sie musizierte und komponierte auch nach ihrer Heirat täglich, und dies bis kurz vor ihrem Tod.

Ihr umfangreicher musikalischer Nachlass besteht aus Skizzen, Reinschriften, Stimmenmaterial und transponierten Fassungen. Dank des Grobinventars, das Lukas Näf erstellt hatte, konnten wir uns einen ersten Überblick über die von ihr bevorzugten Gattungen verschaffen. Leider datierte Martha von Castelberg ihre Werke jedoch nur in seltenen Fällen, eine chronologische Entstehungsgeschichte ist deshalb nicht möglich. Dennoch: Bei der vertieften Beschäftigung mit ihrer Notation und stilistischen Entwicklung, aber auch mit der Erforschung der Rezeption ihrer Musik, konnten wir eine frühe, mittlere und späte Schaffensphase eruieren. Zwei zu Lebzeiten der Komponistin gedruckte Notenausgaben und zwei Platteneinspielungen mit Werken Martha von Castelbergs bildeten weitere wertvolle Grundlagen für die Analyse und Einschätzung ihrer Musik.

Es schien uns daher sinnvoll, das Leben Martha von Castelbergs biografisch, aber auch musikologisch nachzuzeichnen. Die Historikerin Verena Naegele übernahm das mühevolle Puzzlewerk einer biografischen Rekonstruktion, die Musikologin Sibylle Ehrismann die Gliederung und Einschätzung ihrer Musik. Formal wechseln wir uns in den Kapiteln ab: Die Kapitel eins, drei und fünf sind der Biografie gewidmet, die Kapitel zwei, vier und sechs den drei Schaffensphasen ihrer Musik. Möge sich die Faszination, die uns während unserer Beschäftigung mit dem Leben und der Musik Martha von Castelbergs gepackt und nicht mehr losgelassen hat, auch auf unsere Leserschaft übertragen.

Die schillernde, vielschichtige Biografie und die detaillierte Bewertung ihres Schaffens wären nicht in dieser Fülle gelungen, hätten wir nicht immer wieder auf Hinweise, neue Quellen und Bewertungen Dritter zählen dürfen. Zu ihnen gehören die Familien Willi und Hoigné, die als Zeitzeugen unschätzbare Hinweise geben konnten, die Kirchgemeinde St.Martin in Zürich, die Stiftungsrätin der Martha von Castelberg Stiftung und Enkelin Brida von Castelberg, der Musiker und Dirigent Rainer Held sowie die Sängerin und Stiftungsrätin Susannah Haberfeld, die 2020 mit der Herausgabe einer Musik-CD einen wichtigen Beitrag zur Verbreitung der Musik Martha von Castelbergs geleistet hat. Dem Stiftungspräsidenten, Thomas Fingerhuth, danken wir für das Vertrauen und dem Musikwissenschaftler Dr. Knud Breyer für das Lektorat der Liste der Werke. Gedankt sei auch Oliver Jucker, dem Geschäftsführer der Stiftung, der uns vertrauensvoll und umsichtig betreute. Allen Genannten und weiteren helfenden Händen im Hintergrund sind wir zu grossem Dank verpflichtet.

Verena Naegele und Sibylle Ehrismann

Beim Wandern in Disentis, 1919.

Verena Naegele

I.Behütete Jugend im Zeichen von Religion und Musik

Geboren wurde Maria Martha von Orelli am 5. April 1892 als Tochter des Bankiers Paul Carl Eduard von Orelli (1849–1927) und der Beatrix von Orelli-von Reding-Biberegg (1865–1929) im Thalhof am Talacker 31 in Zürich.1 Der reformierte Stamm der Familie von Orelli war im 16. Jahrhundert als Glaubensflüchtlinge aus Locarno in das zwinglianische Zürich geflohen und hatte sich hier eine blühende Existenz aufgebaut. Ein Familienzweig war später Mitbegründer des Verlagshauses Orell Füssli, ein anderer baute im 19. Jahrhundert ein Bankhaus auf.2 Dieses Bankhaus Orelli im Thalhof geht auf die Seidenhandelsfirma Pestalozzi im Thalhof zurück, welche 1759 als Firma Frey und Pestalozzi gegründet worden war. 1802 beerbte Cleophea Pestalozzi-von Orelli ihren Mann und Eigentümer der Firma; sie vererbte diese 18 Jahre später an ihre Neffen Hans Conrad und Hans von Orelli weiter. Erst 1835 wurde die Firma, immer noch unter dem Namen Pestalozzi im Thalhof, zum Bankhaus umgestaltet. Zu den illustren Vorfahren Marthas gehörten auch Johann Caspar von Orelli (1787–1849), der 1833 massgeblich an der Gründung der Universität Zürich beteiligt war, sowie Aloys von Orelli (1827–1892), der als Jurist und Ordinarius an der Universität Karriere gemacht hatte. 1840 liess sich der Grossvater von Maria Martha, der Bankier Hans Conrad von Orelli, am Talacker durch die Architekten Gustav Albert Wegmann, einen entfernten Verwandten der Familie von Orelli, sowie Hans Konrad Stadler ein mehrstöckiges, klassizistisches Herrschaftshaus zum Hinteren Thalhof bauen. Wegmann und Stadler waren zu dieser Zeit die bedeutendsten Architekten Zürichs.3 Als Bankier war Hans Conrad von Orelli in der Stadt Zürich zu Geld und Ansehen gekommen; das neue, mit getäferten Zimmern, Stuckdecken und prachtvoller Einrichtung ausgestattete Haus war sprechender Ausdruck davon.

Die von Orellis waren eine hoch angesehene protestantische Familie, welche die aufblühende Stadt Zürich im 19. Jahrhundert in verschiedenen Wirtschaftszweigen des Grossbürgertums geprägt hatte. Das nach wie vor unter dem Namen Bankhaus Pestalozzi im Thalhof geführte Unternehmen der Familie von Orelli war mitbeteiligt am liberalen Aufschwung der Stadt, und es expandierte seine Tätigkeit sukzessive bis nach Amerika. Marthas Vater, Paul Carl Eduard von Orelli, verbrachte wegweisende Auslandsjahre zuerst bei der Bank Munroe & Co in Paris und nach deren Übersiedlung nach London auch in England, wo er das Bankgeschäft gründlich erlernte und umfassende Sprachkenntnisse erwarb. 1891 übernahm er das Bankhaus als Direktor und bezeichnete es fortan als Bankhaus von Orelli im Thalhof.4 Bereits 1882 hatte er «aus Überzeugung» zum Katholizismus konvertiert,5 wohl aber auch, um 1883 seine Verlobte Beatrix aus der illustren und streng katholischen Innerschweizer Familie von Reding-von Biberegg heiraten zu können. Diese Konversion ging sowohl in der Familie von Orelli6 als auch in der Presse nicht ohne beträchtliche Nebengeräusche vonstatten, so wurde von Orelli in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) deswegen auch öffentlich heftig angegriffen.7 Dies bekam das kleine Mädchen Martha, das im Familienkreis liebevoll «Mutz» genannt wurde, ebenfalls zu spüren.8 Martha wurde im protestantischen Zürich nach katholischen Regeln erzogen, die in dieser Diaspora noch strenger gelebt wurden als anderswo. Darauf deutet auch die Bedeutung von Marthas namentlich nicht bekanntem Patenonkel hin, wie einem Gedicht zu entnehmen ist: «Der Götti selbst, als Dichter damals lenkt/ des kleinen Kindes frommen Sinn/ zu höheren Idealen hin».9 Der Götti war in der damaligen Gesellschaft als «geistiger Vater» mitverantwortlich für die religiöse Erziehung eines Kindes – Marthas Götti stammte sicherlich aus der Familie von Reding, da die Verwandtschaft der von Orellis in Zürich protestantisch geblieben war. Das Mädchen wuchs im Hinteren Thalhof in grosser Geborgenheit auf.10

Blick in den Salon im Hinteren Thalhof Zürich, undatiert, um 1920.

Zürich war bei der Geburt von Martha noch übermächtig zwinglianisch geprägt. Nach der Reformation war die erste katholische Kirche der Stadt erst 1874 eingeweiht worden, es war die Kirche St. Peter und Paul in Zürich Aussersihl. In Marthas Geburtsjahr, 1892, begannen erste Vorarbeiten für den Bau einer zweiten katholischen Kirche, der Liebfrauenkirche an der Weinbergstrasse, deren Grundsteinlegung am 13. Mai 1893 erfolgte, die Einsegnung datiert vom 7. Oktober 1894. In diesen beiden Kirchen erlebte das Mädchen seine katholische Sozialisierung, deren selbstverständlicher Bestandteil die lateinische Messe war, eine «exotische» Spezialität im damaligen Zürich. Die erste heilige Kommunion empfing die Elfjährige dann am 2. Juli 1903, allerdings nicht in Zürich, sondern in der Gnadenkapelle in Einsiedeln, und zwar durch Columban, den Abt des Benediktinerklosters, höchstpersönlich. So ist es verzeichnet in Marthas kostbar in Leder gebundenem Büchlein «Mein schönster Tag – Belehrungen und Gebete für die Jugend besonders für die Kommunikantenkinder», erschienen 1897 im Benziger Verlag in Einsiedeln. Die Familie der Mutter, die von Reding-Biberegg, waren mit dem Kloster Einsiedeln eng verbunden, waren doch etliche Familienmitglieder im Laufe der Jahrhunderte dort ins Benediktinerkloster eingetreten. Diese enge Bindung galt auch für Marthas Vater, Eduard von Orelli, der im Kloster Einsiedeln in die katholische Kirche aufgenommen worden und mit Abt Columban Brugger befreundet war.11

In der Einsiedler Stiftskirche befindet sich die Gnadenkapelle mit der berühmten Schwarzen Madonna (Maria) als Begründerin des Pilgerorts. Im Nachlass von Martha von Orelli findet sich ein «Herz Jesu-Büchlein» mit einer langen Widmung ihrer «innigliebenden Grossmutter Beatrix von Reding-Biberegg» zur Kommunion am «Tage der Heimsuchung Mariäe». Eigentlich hiess das Mädchen ja Maria Martha, es wurde aber stets Martha genannt. Wohl hatte Maria, die Mutter Gottes, sowohl für die katholische Kirche insgesamt wie für das Kind eine besondere Bedeutung. Nicht nur, dass Martha später etliche Werke zu Ehren Marias komponierte. Es gibt im Nachlass auch ein Büchlein von Pater Sigismund de Courten aus dem Kloster Einsiedeln zur Schwarzen Madonna – «Sancta Mater dei, ora pro nobis» – mit einer persönlichen Widmung des Autors an Martha von 1911. De Courten blieb für Martha bis zu seinem Tod 1947 ein wertvoller Seelsorger und Begleiter, den sie zusammen mit der Mutter schon als Jugendliche mehrfach im Kloster Einsiedeln besuchte.12

Marthas Vater war einer der bedeutendsten Förderer der katholischen Kirche in Zürich – er unterstützte sie nicht nur finanziell, sondern auch mit zahlreichen Kommissionsarbeiten. So war er stark beim Aufbau der Liebfrauenkirche involviert; er war treibende Kraft beim Bau des ersten katholischen Spitals in Zürich, dem Theodosianum am Klusplatz, sowie der Missione Cattolica Italiana an der Hohlstrasse. Der familiäre Druck auf den konvertierten Eduard von Orelli und damit auch auf das Töchterchen Martha muss gross gewesen sein, jedenfalls erhielt die junge Frau am «Auffahrtsfest 1916» von ihrem Vater das Buch «Fügung und Führung. Konvertitenbilder» von Alban Stolz und Kordula Wöhler geschenkt.13 Kordula Wöhler (1845–1916) war als Pastorentochter 1870 zum Katholizismus konvertiert und von der reformierten Familie verstossen worden. Unter ihrem Pseudonym Cordula Peregrina schrieb sie religiöse Lyrik, darunter das volkstümliche Marienlied «Segne du, Maria, segne mich, dein Kind». Als Widmung schrieb der Vater in dieses Buch: «Meiner lieben Martha, das grösste Glück für Zeit und Ewigkeit ist, der Katholischen Kirche anzugehören, welche allein die Wahrheit lehrt. Wir bleiben bei unserem alten Glauben, Dein getreuer Vater Ed. v. Orelli». Die Widmung unterstreicht, wie die katholische Kirche und Religion unter dem erzieherischen Einfluss der Eltern für Martha von Orellis Leben und Denken von zentraler Bedeutung waren. Zu diesem Zeitpunkt zählte sie bereits 24 Jahre.

Sigismund de Courten als junger Pater im Kloster Einsiedeln.

Jugend im prunkvollen Familiensitz Thalhof

Aufgewachsen war Martha von Orelli also im Thalhof in Zürich, der aus einem Bauensemble von drei Häusern mit einem grossen Gartenumschwung bestand. Es war der Stammsitz der Familie von Orelli und ein «Stück Alt-Zürich», das sich noch mitten in der schnell wachsenden und sich verändernden Stadt befand. In diesem in sich geschlossenen Bereich stand das Haus zum Vorderen Thalhof, das direkt an den Talacker grenzte, und das grosse, klassizistische Herrschaftshaus zum Hinteren Thalhof, Marthas Elternhaus, das adeligen Ansprüchen mit üppiger Ausstattung entsprach. Ausgesuchte Gemälde, vom Porträt über Stillleben bis zu Landschaften, edle Stoff- und Papiertapeten, prachtvolle Lüster und erlesene Möblierungen in barockem Stil sowie eine kunstvoll gefertigte Ahnentafel zeugen vom hohen Status der Familie. Der gesellschaftliche Austausch des grossbürgerlichen Hauses erforderte entsprechende Repräsentativräume für Nachmittagsvisiten oder Soiréen. Direkt an dieses Areal grenzte das am Pelikanplatz gelegene, aus der gleichen Bauepoche stammende Giebelhaus Zum Thalacker an, das die Familie 1830 erworben hatte.

Beim Hinteren Thalhof gab es den Kleinen Thalhof, ein umgebautes Weberhaus, das als Wohnhaus für die vielen Dienstpersonen und die Gärtner diente.14 Die Baugruppe mit Gartenanlage stellte ein zusammenhängendes Ganzes in unmittelbarer Nachbarschaft des 1833 eingeweihten Alten Botanischen Gartens am Schanzengraben dar.15 Es war eine idyllische Gegend, zu der auch Pferdestallungen gehörten, die von Stallknechten unterhalten wurden.

Die von Orellis waren der Inbegriff des städtischen Zürcher Grossbürgertums, das sich unter anderem durch Wohlstand definierte und über eine grosse Dienerschaft verfügte. Dazu gehörte zwingend die Nichterwerbsarbeit der Ehefrau und der Töchter, die eines der sichtbarsten und wichtigsten Merkmale damaliger bürgerlicher «Wohlanständigkeit» war. Zu dieser weitverbreiteten Auffassung von Bürgerlichkeit gesellte sich auch bei den von Orellis eine hohe Wertschätzung für Bildung und Wissenschaft, für Literatur, Kunst und Musik. Gerade in diesen Bereichen kam den Frauen und Töchtern eine herausragende Rolle zu, sie waren verantwortlich für Ästhetik und für musikalische Präsentation auf gutem «dilettantischem» Niveau. Geschmack, das Betonen von Bildung, Wissen und höheren Werten schufen soziale Distanz und stifteten zugleich Identität.16 Bekanntschaften mit anderen bedeutenden Zürcher Familien gehörten für die von Orellis selbstverständlich dazu, so mit den illustren Familien Escher, Bodmer, Abegg und Koch-Vlierboom, die alle auch mit Martha bekannt waren.17 Eduard Koch de Vlierboom hatte sich als Vorstandspräsident für die neue Tonhalle in Zürich starkgemacht. Mit der musikliebenden Annie Abegg-Stockar (1868–1969), die seit 1901 zusammen mit ihrem Mann, dem Seidenindustriellen Carl Abegg, die Villa Bleuler an der Zollikerstrasse 32 bewohnte, hatte Martha auch als erwachsene Frau regen Kontakt – die Musik war im Hause von Orelli also durchaus präsent. In diesem Milieu wuchs Martha zusammen mit ihren Schwestern Beatrix (*1885), Maria (*1886), Gabrielle (*1888) und Anna (*1890) in behüteten Verhältnissen auf. Am 20. August 1896 gesellte sich endlich auch noch der lang ersehnte Stammhalter Eduard zur fröhlichen Kinderschar.18

Den bürgerlichen Normen gemäss beschäftigte sich Martha neben dem katholischen Glauben schon früh mit Musik. Im Elternhaus erhielt das Mädchen Geigenunterricht, wo bereits Joseph Ebner, ihr erster, sehr bekannter Lehrer, den Vater auf die hohe musikalische Begabung seiner jungen Schülerin aufmerksam machte. Ebner war Mitglied des Zürcher Streichquartetts und unterrichtete später am Konservatorium Zürich. Martha von Orelli erhielt eine seriöse Grundschulung durch gängige Violinschulen von Arthur Seybold oder Ferdinand Küchler. Auch Spezialitäten wie die Tonleiterschule op. 5 und die Violinschule op. 14 (1919) von Joseph Bloch in ungarischen Ausgaben finden sich unter den erhalten gebliebenen Noten. Erste Spielversuche des Mädchens auf der Geige lassen sich bis ins Jahr 1903 zurückverfolgen, bald kamen auch kleinere Unterhaltungsstücke dazu. Schön Rosmarin von Fritz Kreisler, Scène de la Csárdas und Rêverie von Jenö Hubay oder die leichte Canzonetta op. 35 von Tschaikowsky, aber auch Klassiker für die Jugend führte Martha in ihrem Repertoire. Einerseits waren diese Stücklein sehr kindergerecht, andererseits entsprachen sie auch dem Bedürfnis des grossbürgerlich geprägten Hauses von Orelli nach unterhaltender Musik, die das Mädchen wohl auch an Soiréen vor Gästen vortragen durfte.19

Trotz systematischer Schulung und dem offensichtlich grossen Talent des Mädchens fand Eduard von Orelli jedoch, Musik als Beruf sei für seine Tochter nicht das Richtige.20