Komponisten in Bayern. Band. 67: Vivienne Olive -  - E-Book

Komponisten in Bayern. Band. 67: Vivienne Olive E-Book

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Beschreibung

Seit sie mit sieben Jahren das erste Mal am Klavier saß, komponiert Vivienne Olive, die in diesem Jahr ihren 70. Geburtstag feiert. Ihr Œuvre ist ungemein facettenreich, geprägt von unterschiedlichen Einflüssen und lädt stets zum Entdecken ein. Ihr Werkverzeichnis umfasst - so Olive selbst - seriöse, häufig auch serielle Kompositionen für Solisten, kleine Besetzungen bis hin zu groß angelegten Orchesterapparaten und Chören. Diesen widmet Olive vor Fertigstellung umfangreiche Studien und Analysen, zum Teil mit detaillierten Proportionsplänen. Auch spontane Unterhaltungsmusik komponiert Olive des Öfteren, wie den flotten Bush Gin Rag. Obwohl sie als eine der wenigen Frauen im Komponistenberuf einige Hindernisse zu überwinden hatte, freut sich Olive heute über eine gute Vernetzung und zahlreiche Editionen ihrer eigenen Werke, die der Furore Verlag seit den 1980er-Jahren publiziert. Dieser Band versteht sich als ein weiterer Baustein in der Sichtbarmachung von Komponistinnen und festen Verankerung von Frauen im kulturellen Leben. Olive selbst möchte sich in der Frauenförderung auch weiterhin in ihrer Funktion als Festivalleiterin engagieren und Werke von Komponistinnen zum Erklingen bringen.

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Komponisten in Bayern

Dokumente musikalischen Schaffens im 20. und 21. Jahrhundert

begründet von

Alexander L. Suder

herausgegeben im Auftrag des Tonkünstlerverbandes Bayern e. V. im DTKV

von Theresa Henkel und Franzpeter Messmer

Band 67: Vivienne Olive

Kuratorium:

Oswald Beaujean, Bayerischer Rundfunk

Linde Dietl, Tonkünstlerverband Bayern e. V.

Richard Heller, Tonkünstlerverband Bayern e. V.

Theresa Henkel, Herausgeberin

Dr. Dirk Hewig, Deutscher Tonkünstlerverband e. V.

Axel Linstädt, Deutscher Komponistenverband

Dr. Franzpeter Messmer, Herausgeber, Vorsitzender

Dr. Klaus Molitoris, beratendes Mitglied als Vertreter des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kuns

Dr. Robert Münster, Herausgeber der Musica Bavarica

Dr. Reiner Nägele, Musiksammlung der Bayerischen Staatsbibliothek

Dr. Helga-Maria Palm-Beulich, Musikwissenschaftlerin

Prof. Dr. Hartmut Schick, Universität München und Gesellschaft für Bayerische Musikgeschichte

Dr. Bernhold Schmid, Bayerische Akademie der Wissenschaften

Prof. Dr. Stephan Schmitt, Hochschule für Musik und Theater München

Dr. Wolf-Dieter Seiffert, Verleger

Alexander Strathern, Verleger

Prof. Dr. Alexander L. Suder, Ehrenvorsitzender

Vorstand des Tonkünstlerverbandes Bayern e. V. im DTKV:

1. Vorsitzender: Prof. Ulrich Nicolai, München

1. Stellvertretende Vorsitzende: Prof. Barbara Metzger, Würzburg

2. Stellvertretende Vorsitzende: Andrea Schlegel-Nolte

Ehrenvorsitzende: Prof. Dr. Alexander L. Suder, Dr. Dirk Hewig, Linde Dietl, Dr. Franzpeter Messmer, München

Schatzmeister: Philip Braunschweig, München

Schriftführer: Prof. Eckhart Hermann

Die Buchreihe Komponisten in Bayern wird vom Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst sowie von Rotary München 100 unterstützt und gefördert.

Dezember 2020

Allitera Verlag

Ein Verlag der Buch&media GmbH, München

© 2020 Buch&media GmbH, München

© 2020 der Einzelbeiträge bei den AutorInnen

Satz: Franziska Gumpp

Titelfoto: Vivienne Olive, 2014 (Foto: Volker Blumenthaler)

Printed in Europe

ISBN print 978-3-96233-254-9

ISBN epub 978-3-96233-255-6

ISBN pdf 978-3-96233-256-3

Inhalt

Vorwort zum 67. Band

Theresa HenkelChronik

Charlotte CubittVivienne Olive – Kindheit und erste Einflüsse

Vivienne OliveZwischen Tonalität und Serialismus: Hochschule, Ausbildung und Berufsleben

Mary Ellen Kitchens»… es gibt immer noch sehr viel zu tun.« Gespräch mit Vivienne Olive

Bildteil

Janosch UmbreitVivienne Olives dramatische Werke

Mary Ellen KitchensKompositionen für Vokalensemble und Chor

Arno LeichtVivienne Olive: Die Klavierlieder

Theresa HenkelMit Musik zur Ruhe kommen – Kompositionen für Soloinstrumente und Orchester

Matthias StubenvollVivienne Olives Kammermusik mit Stimme

Barbara GablerWerke für instrumentale Kammermusik

Stefan GrasseKompositionen für Gitarre

Uta WaltherVivienne Olive: Werke für Tasteninstrumente

Werkverzeichnis (Stand 2020)

Literaturauswahl

Autor*innen

Personenregister

Vorwort

»I was always writing music.«  – Seit sie mit sieben Jahren das erste Mal am Klavier saß, komponiert Vivienne Olive, die in diesem Jahr ihren 70. Geburtstag feiert. Ihr Œuvre ist ungemein facettenreich, geprägt von unterschiedlichen Einflüssen und lädt stets zum Entdecken ein. Ihr Werkverzeichnis umfasst – so Olive selbst – seriöse, häufig auch serielle Kompositionen für Solisten, kleine Besetzungen bis hin zu groß angelegten Orchesterapparaten und Chören. Diesen widmet Olive vor Fertigstellung umfangreiche Studien und Analysen, zum Teil mit detaillierten Proportionsplänen. Auch spontane Unterhaltungsmusik komponiert Olive des Öfteren, wie den flotten Bush Gin Rag.

Sie war schon immer vom Reisen begeistert und so verwundert es nicht, dass Olive viele Orte auf dem Globus ihr Zuhause nennen konnte. Ihre Heimatstadt London verließ sie, ging zum Studium nach York und fasste schließlich Fuß auf dem europäischen Festland, wo sie sich nach mehrjährigen Aufenthalten in Mailand, Wien und Freiburg Ende der 1970er-Jahre in Nürnberg niederließ. Dort profilierte sie sich an der Hochschule für Musik (früher Meisterkonservatorium der Stadt Nürnberg), war bis 2015 Dozentin für Musiktheorie und Kom-position – dank ihrer Initiative wurde letzterer Studiengang Anfang der Achtzigerjahre erst gegründet – und wurde 2014 zur Honorarprofessorin ernannt. Bis heute gestaltet sie das kulturelle Leben der mittelfränkischen Stadt und ist als Initiatorin und künstlerische Leitung des Brixworth Festival ebenso wieder in ihrem Heimatland aktiv. Auch nach Australien pflegt sie gute Kontakte, wie ihre Zeit als »composer in residence« in Bundanon unter Beweis stellt.

Obwohl sie als eine der wenigen Frauen im Komponistenberuf einige Hindernisse zu überwinden hatte, freut sich Olive heute über eine gute Vernetzung und zahlreiche Editionen ihrer eigenen Werke, die der Furore Verlag seit den 1980er-Jahren publiziert. Dieser Band versteht sich als ein weiterer Baustein in der Sichtbarmachung von Komponistinnen und festen Verankerung von Frauen im kulturellen Leben. Olive selbst möchte sich in der Frauenförderung auch weiterhin in ihrer Funktion als Festivalleiterin engagieren und Werke von Komponistinnen zum Erklingen bringen.

Ich möchte allen Autor*innen für ihre spannenden und inspirierenden Beiträge herzlich sowie den Furore- und Allitera- Mitarbeiter*innen, die bei der Entstehung des Bandes mit Rat und Tat zur Seite standen, danken. Nicht zuletzt möchte ich Vivienne Olive einen besonderen Dank aussprechen, die mir als Herausgeberin und den Autoren bei jedweden Fragen zu ihrem Werk und Wirken eine wichtige Stütze war.

Theresa Henkel, Herausgeberin

Theresa HenkelChronik

1950

Geburt in London

1968

Lehrdiplom am Trinity College of Music in London. Fächer: Klavier, Cembalo, Orgel und Musiktheorie

1968–71

Studium an der University of York (B. A. Musik)

1971–72

Kompositionsstudium bei Bernard Rands an der University of York

1972–75

Studien bei Franco Donatoni in Mailand und Roman Haubenstöck-Ramati in Wien

1975

Promotion (Dr. phil.) an der University of York

1975–78

Kompositionsstudien bei Klaus Huber und Brian Ferneyhough; Cembalostudium an der Hochschule für Musik in Freiburg i. Br. bei Stanislav Heller (DAAD-Stipendiatin)

1978

Künstlerische Reifeprüfung (Cembalo)

1979

Gründungsmitglied des Internationalen Arbeitskreises Frau und Musik

1979–2015

Dozentin für Musiktheorie und Komposition am Meistersinger-Konservatorium der Stadt Nürnberg, später Hochschule für Musik Nürnberg

1980

Mitgründerin der

Tage Neuer

Musik in Nürnberg

1993–95

Aufenthalt in Australien

1994

Dozentin an der James Cook University of North Queensland, Leitung der dortigen Musikakademie und des Musikfestivals

Contempofest

94

1995

Publikation

A Functional Approach to Harmonic Style and Analysis

im EigenverlagMitglied des Vorstands des Internationalen Arbeitskreises Frau und Musik

2004

Composer in Residence

in Bundanon, N. S. W., Australien

2014

Honorarprofessur der Hochschule für Musik Nürnberg Gründung des Brixworth Music Festival

Preise und Auszeichnungen

1978

Stuttgarter Förderpreis für

Tomba di Bruno

1988

Empfehlung der Bachakademie (Stuttgart) für ihr Chorwerk

Stabat Mater

1992

1. Preis beim Hamelner Kompositionswettbewerb für Jugendorchester

1998

1. Preis beim Internationalen Wettbewerb Leni Neuenschwander der Gedok für Gleichsam einem Garten Stuttgarter Förderpreis der Bachakademie für

Stabat Mater

Hamelner Jugendmusikschulpreis für

An English Suite

2019

Sonderpreis »Emotion« Wettbewerb

www.komponistinnen.de

Charlotte Cubitt

Vivienne Olive – Kindheit und erste Einflüsse

Vivienne Olive kam am 31. Mai 1950 im Bearsted Maternity Hospital (The Lost Jewish Hospital) in Stoke Newington, London zur Welt. Diese jüdische Entbindungsklinik, die auch Patientinnen anderer Glaubensrichtungen aufnahm, war ursprünglich ein Gutshaus in der östlichen Umgebung von London, das im frühen 19. Jahrhundert verkauft wurde.

Die Eltern

Beide Eltern wurden 1914 in London geboren: die Mutter, Gladys Victoria Clarke, im nordöstlichen Teil, Edmonton, und der Vater, Thomas James Olive, im östlichen Viertel, Bow. Dadurch qualifizierte er sich zum echten »Cockney-Status«, weil er innerhalb der Klangreichweite der Kirchenglocken von Bow-Church geboren wurde. Die verschiedenen Ortschaften im Londoner East End waren bekannt für ihre Armut, Kriminalität und für die vielen Einwanderer aus aller Welt. Aufgewachsen im Ersten Weltkrieg hatten Gladys und Tom keine schöne Kindheit.

Gladys’ Vater war schon in den ersten Wochen gefallen. Sie musste einen eifersüchtigen, brutalen Stiefvater ertragen, der sie auch nachts aufsuchte. Eine ihrer Aufgaben war, die in den nahen River Lea von den Treidelschiffen herausgefallenen Kohlen zu sammeln und sie für die Heizung nach Hause zu bringen. Sie liebte die Musik, aber es war ihr nicht erlaubt, sie im Radio zu hören. Sie hätte gern das Klavierspielen erlernt. Zwar gab es im Haus ein altes Instrument, aber ihr wurde der Unterricht wegen Geldmangels verwehrt. Als Erwachsene konnte sie dennoch recht gut auf dem Klavier improvisieren.

Thomas musste als Kind andere Fähigkeiten erwerben. Seine Aufgabe war es, ganz leise und still zu sein, wenn immer ein Gerichtsvollzieher an die Tür klopfte (sein Vater hatte nämlich ständig Spielschulden) und er musste früh verstanden haben, sich und seine Familie vor den Behörden zu verstecken. Er war im späteren Leben ein zurückhaltender Mann, hatte eine gute Singstimme – der von Bing Crosby sehr ähnlich – und liebte die Oper. Aber wie Gladys hatte er nie die Möglichkeit, Musikunterricht zu erhalten.

Während Thomas in eher verklemmten Verhältnissen aufwuchs, konnte Gladys, trotz aller Schwierigkeiten, ein recht lebhaftes Zuhause genießen. Es gab oft laute, feuchtfröhliche Familienzusammenkünfte, bei denen gesungen und getanzt wurde. Ihr Onkel Bert hatte sogar eine eigene Band, und am Samstagabend wurde immer ausgelassen gefeiert. Die Liebe zum Tanz behielt Gladys ein Leben lang.

Die ärmlichen Verhältnisse der beiden Familien schadeten den Schulleistungen von Gladys und Tom scheinbar nicht, denn beide wurden mit Stipendien für das Gymnasium belohnt. Beide hätten vielleicht interessante Karrieren haben können, wenn nicht der Zweite Weltkrieg ausgebrochen wäre. Sie lernten sich beim Badeurlaub kennen, heirateten im Jahre 1937, aber schon zwei Jahre später wurde Tom einberufen und verbrachte die nächsten sechs Jahre in der Marine, während Gladys zurückblieb und den häufigen Luftangriffen in London ausgesetzt war. Gladys verlor ihr erstes Kind, einen Sohn namens Barry, während dieser Zeit, wohl durch eine Blutvergiftung, die nicht rechtzeitig entdeckt wurde. Es gibt einen sehr bewegenden Brief von Gladys an Tom während dieser schrecklichen Zeit:

»Dear Tom,When they gave me the baby today to try and feed it I didn’t like the look of it and when the staff nurse came in I told her. She immediately grabbed it and ran away. It appears it was in a convulsion … and I am worrying myself sick … … … Can you find out anything about him and let me know … Please darling let me know and swear to tell me the truth …«1

Tom bekam selten Urlaub vom Kriegsdienst. 1943 brachte Gladys ihre erste Tochter, Kay, zur Welt. Zwei Jahre lang konnten sich Tom und Gladys überhaupt nicht sehen. Kay war schon zwei Jahre alt, als Tom vom Krieg zurückkehrte. 1950 kam dann Vivienne zur Welt. Nachdem der Mutter zuvor die Eierstöcke entfernt werden mussten, grenzt dies an ein Wunder!

Vivienne: Die frühe Kindheit

Das Jahr 1950 war trotz der nach dem Krieg immer noch bestehenden Einschränkungen und Lebensmittelrationen doch recht vielversprechend. Das Geld war knapp, denn die Kriegsschulden mussten noch auf Jahre hinaus beglichen werden; das Empire schmolz langsam dahin. Aber der neu gegründete National Health Service erwies sich als großer Vorteil für die Eltern des neuen Babys. Außer der kostenlosen Gesundheitsversorgung und freiem Orangensaft und Lebertran bekam die kleine Vivienne ihre ersten Schühchen, sobald sie laufen konnte, und nicht wie ihre Mutter eine Generation zuvor erst mit dreizehn Jahren.

Auch das Festival of Britain 1951 trug dazu bei, den Briten Hoffnung auf bessere Zeiten zu versprechen. Der viel geliebte König starb zwar Anfang 1952, aber die Krönung der neuen jungen Königin, Elisabeth II., und die damit landesweiten Straßenfeste waren freudige Ereignisse, welche die Bevölkerung zusammenbrachten.2

Gleichzeitig wuchs die Hauptstadt London zusehends. Aus den ursprünglich mittelalterlichen Dörfern wurden Londoner Gemeinden, einige sehr wohlhabend, andere mit einem eher schlechten Ruf. Viele Einwohner, die es sich nicht leisten konnten, zogen es vor, in den vornehmeren Vororten zu wohnen; so auch Viviennes Eltern. 1954 zogen sie mit ihren zwei Töchtern nach Chingford, Essex, einem der neuesten Londoner Vororte, am Rande von Epping Forest. Der Ort östlich von London war aber noch in Reichweite der restlichen Verwandten. Gladys und Tom hatten genug gespart, um eine Hypothek auf ein eigenes kleines Haus aufzunehmen. Der Umzug nach Chingford erwies sich bald von großer Bedeutung für die Erziehung der beiden Töchter; denn die Schulen hier legten großen Wert auf die musikalische Ausbildung.

Besonders Gladys, die als Kind so gerne Klavier gelernt hätte, konnte jetzt ihre Liebe zur Musik auf ihre Kinder übertragen, und bald nach dem Umzug nach Chingford kam ein Klavier ins Haus – ersteigert von Gladys für 4 Pfund bei einer Auktion in London. Kay bekam Gesangs- und Klavierunterricht, Vivienne Klavier- und Theorieunterricht. Kay fühlte sich immer vom Theater und von der Oper angezogen, aber Vivienne war eher »akademisch« veranlagt. Mit dem Komponieren fing sie an, sobald sie den ersten Klavierunterricht mit sieben Jahren bekam. Vielleicht schlug Kay eher nach dem Vater, der seine Schallplattensammlung mit berühmten Opernarien liebte, und Vivienne eher nach der Mutter, die ihre Kreativität ins Schreiben von Gedichten und Märchen legte.

Die Schuljahre

Vivienne und ihre ältere Schwester Kay mit ihrer schönen Singstimme hatten das Glück, in eine gute Grundschule und danach in ein Gymnasium zu gehen, wo hervorragende Musiklehrer tätig waren. In der Chase Lane Junior School unterrichtete Leslie Winters, einer der Lehrer des Komponisten Michael Nyman, der auch die Chase Lane School besuchte. An der Chingford County High School gab es den Waliser Howell Davies, der Kays Gesangskarriere förderte und dann später den in Oxford ausgebildeten Organisten und Cembalisten, Anthony Sharp, der sowohl Viviennes Interesse an alter Musik entfachte als auch ihre Kompositionen in der Schule aufführen ließ. Musiktheorie, Werkanalyse, Musikgeschichte und Gehörbildung wurden damals in den englischen Schulen sehr ernst genommen, gleichgestellt mit den anderen Fächern; schon in der Grundschule gab es einen strengen Solfège-Unterricht und gute Kinderchöre, die bei Wettbewerben auftraten. Eine bessere Grundlage für den Musikberuf hätten die beiden Schwestern nicht bekommen können. Viviennes Klavierlehrer während dieser Zeit waren Leslie Winters und Norman Rimmer, der, wie Thomas Tallis im 16. Jahrhundert, als Organist in der nahegelegenen, ehemaligen Augustiner-Abtei von Waltham Abbey tätig war. Gleichzeitig entdeckte Vivienne ihre Leidenschaft für die deutsche Sprache und genoss während ihrer ganzen Zeit am Gymnasium einen ausführlichen Unterricht in diesem Fach, was ihr später zugutekommen würde.

Hochschule und Universität

Im Vergleich zum England des 21. Jahrhunderts hatte die englische Generation der Sechzigerjahre die besten Möglichkeiten zur Entfaltung ihrer Talente und Berufswünsche. Alle künstlerischen und humanistischen Fächer wurden an den Schulen gefördert. Es gab Stipendien von den Gemeinden für Musikunterricht, und die weitere Ausbildung an Universitäten und Hochschulen wurde vom Staat finanziert. Vivienne und Kay kamen als erste in der ganzen Familie in den Genuss, sich weiterbilden zu lassen: Kay als Opernsängerin an der Guildhall School of Music and Drama, und Vivienne, zuerst mit Hilfe eines Stipendiums als Gaststudentin für Cembalo und Orgel am Trinity College of Music in London, dann 1978, mit 18 Jahren, als reguläre Studentin an der University of York.

Dort gab es ab Ende der Sechzigerjahre eine neue Musikabteilung, die nur von Komponisten geleitet wurde. Professor Wilfred Mellers war Chef der Abteilung. Er ermutigte zu möglichst viel Kreativität und Freiheit.

Weil der Kurs in York mehrere Wahlfächer zuließ, konnte Vivienne sich nicht nur auf ihre Kompositionsstudien konzentrieren, sondern auch weiterhin Musiktheorie und alte Musik studieren, insbesondere Cembalo. Sie trat als Solistin auf, war Mitglied im Kammerchor, der sich mit Musik von der frühen Renaissance bis zur Moderne befasste, und nahm Teil an mehreren verrückten »Happenings«. Man durfte damals sogar die Universitätsbibliothek als »Instrument« verwenden und »bespielen«. Und im Hintergrund war immer der Einfluss der Popmusik. Die Beatles färbten diese Jahre in York und andere Gruppen wie The Incredible String Band. Es war eine wunderbare Zeit der Entfaltung und Entdeckung auf allen musikalischen Ebenen.

Italien, Österreich und Deutschland

Nach dem erfolgreichen Abschluss der Bachelorstudien an der University of York gab es die Möglichkeit, sich im Fach Komposition zu spezialisieren und sich nach drei bis vier Jahren promovieren zu lassen. Dazu musste man nicht unbedingt an der Universität bleiben, sondern hatte die Möglichkeit, im Ausland zu studieren. Bernard Rands, ihr Kompositionslehrer in York und selbst Schüler von Luciano Berio, riet Vivienne, der Klasse von Franco Donatoni in Mailand beizutreten. Dies war eine Entscheidung, die Vivienne mit etwas innerlichem Widerstand traf. Instinktiv wollte sie lieber nach Österreich oder Deutschland gehen; aber der starke Einfluss der italienischen Schule der Sechziger- und Siebzigerjahre auf ihre Musik ließ diese Entscheidung logisch erscheinen. Wieder mit Hilfe eines Stipendiums, aber immer noch unter der Obhut der University of York, verbrachte Vivienne zwei Jahre in Mailand, wo sie nicht immer glücklich war. Als einzige Frau in der Kompositionsklasse fühlte sie sich häufig nicht ernst genommen und oft dem Spott der männlichen Kommilitonen und Dozenten ausgesetzt. Die italienische Sprache lag ihr nicht besonders, auch wenn der Französischunterricht aus Gymnasialzeiten ihr eine gute Grundlage für diese romanische Sprache gab. Sie komponierte fleißig, fühlte sich aber isoliert in einem Land, das noch Lichtjahre von der aufkommenden Frauenbewegung der späteren Siebzigerjahre entfernt war.

Die Kompositionsklasse von Roman Haubenstock-Ramati in Wien in den 1970ern war eine willkommene Unterbrechung. Hier fühlte sich Vivienne von diesem liebenswürdigen Lehrer nach der Geringschätzung in Mailand wieder ernst genommen. Sie war nicht offiziell Studentin der Hochschule in Wien. Haubenstock-Ramati unterrichtete sie dort mehr oder weniger privat, ohne ein Honorar zu verlangen. Mit wiederhergestelltem Selbstwertgefühl kehrte Vivienne nach England zurück und konnte sich der Prüfungskommission (Dr. Phil. in Komposition) stellen, und zwar mit großem Erfolg.

Aber nach der Promotion in Komposition dachte Vivienne immer noch nicht daran, mit dem Studium aufzuhören. Wieder bewarb sie sich erfolgreich um ein Stipendium, diesmal des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, sodass sie endlich in ihr geliebtes Deutschland fahren konnte. Mit der Zusage zu einem Studienplatz in der Klasse von Klaus Huber an der Hochschule für Musik in Freiburg zog Vivienne in das Land, das ihre Heimat werden sollte.

1 März 1940. Übersetzung von Vivienne Olive: »Lieber Tom, als man mir heute das Baby zum Stillen gab, mochte ich sein Aussehen gar nicht. Als die Oberschwester kam, habe ich es ihr gesagt, und sie hat das Baby sofort zu sich genommen und ist weggelaufen. Anscheinend hatte es gerade einen Krampfanfall … und ich mach mir schreckliche Sorgen …… Kannst Du irgendwas in Erfahrung bringen und mir sagen, was los ist. Bitte, Liebstes, sag mir Bescheid und schwöre, mir die Wahrheit zu sagen …«

2 Vgl. Bildteil in diesem Band, S. 31.

Vivienne Olive

Zwischen Tonalität und Serialismus: Hochschule, Ausbildung und Berufsleben

Tonale Anfänge und neue Entdeckungen

Ich denke oft an Charles Ives’ Äußerung über die Tonalität:

»Warum man die Tonalität über Bord werfen sollte, verstehe ich nicht. Warum sie immer präsent sein müsste, verstehe ich auch nicht. Es hängt davon ab, würde ich meinen, […] was man erreichen will, vom Gemütszustand, von der Tageszeit, oder was sonst noch im Leben so passiert.«1

Das klingt alles so locker und tolerant und ich mag diese grundsätzlich musikalische Art mit dem Komponieren umzugehen. Warum müssen wir uns einer bestimmten musikalischen Denkschule verpflichtet fühlen? Ich habe Kollegen gekannt, die aggressiv die Tonalität ablehnen, als wäre sie eine Art Seuche, die ausgemerzt werden müsse. Andere kenne ich, die fest und hartnäckig die Tonalität verteidigen, als wäre sie die einzige Musiksprache, die der Mensch je verstehen könnte. Beide Einstellungen finde ich sehr einschränkend. Und in einem Zeitalter, wo in der westlichen Welt Diversität an oberster Stelle steht, finde ich es merkwürdig, dass Komponist*innen, die sich sonst liberal und frei denkend einschätzen, sich so intolerant gegen bestimmte Musiksprachen auflehnen.

Vielleicht hätte ich in der tonalen Welt bleiben können, die meine schulische Musikausbildung geprägt hatte. Aber im Laufe meines Studiums spielten allmählich andere Einflüsse eine Rolle. Mit der Aufnahme an der Universität York in England wurde ich mit neuen Entwicklungen auf dem Gebiet der Komposition konfrontiert.

Unter der Obhut von Bernard Rands, meinem ersten Kompositionslehrer, erfuhr ich, was sich in der Welt der neuen Musik zugetragen hatte, während ich in meine eigene Welt von Beethoven, den Beatles und der alten Musik vertieft gewesen war. Bis dahin hatte ich nie etwas von Olivier Messiaen, Karlheinz Stockhausen, John Cage oder Luciano Berio gehört. Einige Kommilitonen aus Australien erweckten zudem meine Neugier für die Musik anderer Kulturen. Ich fühlte mich unwissend, aber gleichzeitig angeregt und energiegeladen.

Ich hatte mich schon immer für Musiktheorie und Werkanalyse interessiert und jetzt fand ich mich von der Zwölftontechnik fasziniert. Ich bin sogar der damaligen Modewelle gefolgt und fing an, alles Tonale als langweilig und konservativ zu verachten. Ich wollte neue Kompositionstechniken untersuchen, neue Tonsprachen kennenlernen. Ich war jung und beeinflussbar. Während ich instinktiv Benjamin Brittens The Turn of the Screw für eine der großartigsten Opern des 20. Jahrhunderts hielt, bin ich trotzdem auf den Zug aufgesprungen und habe seine Musik als hoffnungslos reaktionär angeprangert. Die Dummheit der Jugend! Aber durch diese Dummheit taten sich ganz neue Klangwelten für mich auf; ich war auf Entdeckungsreise und so begann mein Berufsweg als Komponistin.

Bescheidene Anfänge – die Siebzigerjahre

Ein Frühwerk, das ich 1971 noch als Bachelor-Studentin schrieb, war für drei Frauenstimmen und drei Bratschen. Es hieß At all, at all … (ein Zitat aus dem von mir vertonten Gedicht). Dieses Werk war stark sowohl vom Komponisten Vic Hoyland beeinflusst, der als Doktorand auch in York studierte, als auch von den Vokalwerken von Berio, bei dem mein Lehrer Rands studiert hatte. Dem Werk liegt ein Gedicht der amerikanischen Dichterin Anne Sexton namens Die Abtreibung zugrunde. Es war weder eine politische Aussage noch hatte das Werk eine persönliche Bedeutung. Ich wollte lediglich die aufgewühlten Emotionen einer Frau in Musik ausdrücken, zu einem Thema, das in den Sechzigerjahren immer noch tabu war. Es war ein erster Ausflug aus der Tonalität heraus, die meine gesamte musikalische Ausbildung bis dahin beherrscht hatte. Die Tonsprache ist einfach, stützt sich auf frei erfundene Harmoniefelder und enthält ein Zitat aus einem englischen Wiegenlied. Das Stück ist rau, dramatisch und vielleicht aus einem anderen Grund von Bedeutung: Es beweist nämlich meine stetige Faszination mit der Textvertonung, die meine ganze Kompositionskarriere überdauert hat. Auch wenn ich viele rein instrumentale Werke komponiert habe, war doch immer der Einfluss des geschriebenen Wortes und dessen Vertonung unterschwellig vorhanden. At all, at all … verrät auch – durch den Gebrauch des Wiegenliedzitats – mein Bedürfnis nach einem tonalen Referenzpunkt, auch in einer überwiegend atonalen Umgebung.

Ein anderes erwähnenswertes Vokalwerk während dieser studentischen Zeit der Entdeckung war C für großen Chor (30 separate Stimmen) und fünf Schlagzeuger. Auch von Berio tief beeinflusst ist das Werk eine Hommage an die Schriftstellerin Virginia Woolf und den Komponisten Jean Sibelius. Ich hatte gehört, wie kunstvoll Berio in seiner Sinfonia Zitate aus Samuel Beckett und Gustav Mahler miteinander verbunden hatte, daher hatte ich keine Hemmungen, ein ähnlich unwahrscheinliches Bündnis zu schmieden. Der Bewusstseinsstrom und die seltsamen Harmonien der symphonischen Dichtung Tapiola führten dazu, dass ich die Werke dieser beiden kreativen Künstler intensivst analysierte. Ich erinnere mich an die Arbeit an dieser Komposition als eine Zeit der jugendlichen Begeisterung und erwartungsvollen Freude.

Einführung in die Zwölftonmusik und serielle Techniken

Während dieser Zeit führte mich Bernard Rands in die serielle Musik ein. Diese Arbeit mit Tonreihen begleitete mich in Welten der Melodie und Harmonie, die ich wahrscheinlich sonst nie entdeckt hätte, wenn ich weiterhin in der tonalen Sprache meiner bisherigen Erziehung gearbeitet hätte. Ein kleines, bescheidenes Stückchen, mein Text Ifür Soloflöte, kann als erstes serielles Werk gesehen werden. Es sollte mich auf einen Weg bringen, der meinen ganzen nachfolgenden Output beeinflussen sollte. Indem ich mit Tonreihen und deren Transpositionen arbeitete, verschiedene Methoden der Auswahl entwickelte, wurde meine Liebe zu Rätseln wachgerufen. Und oft denke ich, dass der Kompositionsprozess mit dem Rätsellösen verglichen werden kann.

Diese studentischen Experimente führten in den frühen Siebzigerjahren zu mehreren seriellen Werken, die nicht alle musikalisch überzeugen. Während ich in Mailand mit Franco Donatoni studierte, erweiterte ich dieses erste Experiment zu zwei Kammerwerken: Context und Out of Context, die etwas unsicher in der Instrumentation sind. Sie stehen in meinem Werkkatalog, weil sie einfach diese Zeit dokumentieren. Dann kam aber mein erstes Orchesterwerk, Tomba di Bruno, das dem Dirigenten und Komponisten, Bruno Maderna, gewidmet war. Dieses später mit dem Stuttgarter Förderungspreis gekrönte Werk wurde in Mailand angefangen und in Wien fertiggestellt. Es zeigt eine viel sicherere Beherrschung der Form und Instrumentation auf. Und auch wenn das Werk nicht tonal ist, fing ich doch an zu verstehen, dass einige Aspekte der Tonalität auch in der Atonalität Prinzipien der Form bestimmen, z. B. harmonische Fortschreitungen und Leittönigkeit, die dem Hörer das Gefühl verleihen, irgendwohin transportiert zu werden, »anzukommen« und Ruhe zu finden. Die harmonische Struktur von Tomba di Bruno ist sehr streng und, auch wenn etwas überladen und stur durchorganisiert, das Gesamtergebnis zeigt eine verbesserte Beherrschung der Materie.

Dieses Werk wurde in Wien fertiggestellt, als ich mit Roman HaubenstockRamati studierte. Quasi als »Gegenmittel« zu dieser streng durchprogrammierten Arbeitsweise habe ich eine lyrische Vertonung von einem Gedicht von Georg Trakl vertont. In den Nachmittag geflüstert lässt erkennen, dass der Einfluss von Luciano Berio mich doch noch nicht losgelassen hatte, diesmal allerdings mit einem deutschsprachigen expressionistischen Gedicht verbunden.

Auch wenn ich selber merkte, dass Tomba die Bruno