Komtess - Natascha Burghardt - E-Book

Komtess E-Book

Natascha Burghardt

0,0

Beschreibung

April 1945: Der zweite Weltkrieg geht dem Ende entgegen, Anna von Dransow hat in den Wirren des Krieges ihre gesamte Familie verloren und steht nun als neues Oberhaupt auf dem Gutshof. Als die amerikanischen Besatzer das Gut erreichen, steht sie neuen Herausforderungen gegenüber, die größte ist dabei der amerikanische Offizier Jacob Graham. Sie ist hin und her gerissen zwischen Liebe und Verstand, ebenso quält sie die Frage nach der eigenen Schuld während der NS Zeit und der verdrängte Schmerz nach dem Verlust ihrer Eltern und Brüder. Zu dem wird sie von einem alten Feind heimgesucht, der alte Wunden aufreißt und neue verursacht.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 305

Veröffentlichungsjahr: 2023

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Komtess

Roman

Natascha Burghardt

KOMTESS

Natascha Burghardt

Impressum

Texte: © 2023 Copyright by Natascha Burghardt

Umschlaggestaltung: © 2023 Copyright by Natascha Burghardt, Shutterstock

Verlag:

Natascha Burghardt

Kromenweg 9

36205 Sontra

[email protected]

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Diese Handlung, sowie alle handelnden Personen sind frei empfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen wäre rein zufällig.

1.Kapitel

Es ist Ende April 1945, der Morgen ist noch kühl, aber die Sonne kämpft sich Tag um Tag mehr durch den Wolkenverhangenen Himmel. Anna kommt an diesem Morgen kaum aus dem Bett, sie ist ungewöhnlich müde. Ihre Augen brennen und die Glieder schmerzen, so bleibt sie noch einen Moment unter ihrem warmen Federbett liegen, starrt an die Decke ihres Zimmer, uralter Stuck, dessen Formen sie langsam mit ihren müden Augen folgt. Wie schön dieser Stuck war, einen kurzen Moment fühlte sie sich fehl am Platz, war es doch eigentlich nicht ihr Bett, in dem sie lag und nicht ihr Schlafzimmer, in dem sie jeden Morgen aufwachte… Den Gedanken, warum sie nun hier lag und von ihrem Mädchenzimmer in das deutlich größere und herrschaftliche Schlafzimmer der Eltern zog, verdrängte sie schnell wieder. Zu schmerzhaft war es, darüber nachzudenken.

Sie sortierte ihre Gedanken und streckte vorsichtig den ersten Fuß aus dem Bett, die Kühle des Zimmers motivierte sie nicht zusätzlich aufzustehen. Aber es hilft nichts, seit dem die meisten der Knechte im Krieg sind, müssen alle auf dem Gut Dransow mit anfassen, auch Anna von Dransow, die Tochter des Grafen Hans Wilhelm und seiner Frau Charlotte- Auguste Gräfin von Dransow.

Anna denkt immer noch täglich an sie, an die liebe Mutter, deren Erziehung stets Liebevoll aber immer mit dem nötigen Respekt war und an den Vater, der immer ein offenes Ohr hatte für seine kleinste, wenn die beiden älteren Brüder Anna mal wieder hänselten und an ihren langen braunen Zöpfen zogen.

Gut, dass sie es nicht mehr erleben mussten, dass ihre Söhne im Krieg geblieben sind, zweifelsohne hätten sie diesen Schmerz kaum ertragen können, dachte Anna. "Gefallen für Führer und Vaterland" waren sie, in einem unsinnigen Krieg, der ihr die ganze Familie nahm. Ein schmerzhaftes Gefühl steigt in ihrer Magengegend auf, bis zum Herzen, welches heute noch so schmerzt wie vor zwei Jahren.

Sie konnte und wollte nicht weiter in diesem schmerzlichen Gedanken schwelgen, also schwingt sie ihr schweres Federbett zur Seite, schwingt die Beine aus dem Bett und steht auf. Das alte Parkett unter ihren Füßen knarrt bei jedem Schritt, den sie mit den bloßen Füßen geht, was könnten diese alten Dielen erzählen?  

Anna setzt sich auf den Stuhl vor ihrem kleinen Waschtisch, sie betrachtet sich im Spiegel, sechsundzwanzig Jahre war sie inzwischen, an manchen Tagen fühlte sie sich wie eine alte Frau, heute ist so ein solcher.

Sie bürstet ihre langen braunen Haare,  flechtet einen langen Pferdeschwanz und steckt diesen gekonnt mit vier Haarnadeln am Hinterkopf fest. Manchmal fragte sie sich, warum sie sich die Haare nicht längst auf Schulter Länge abschnitt, wie es so viele Frauen trugen, zweifelsohne wäre dies eine praktischere Länge, aber sie hing an ihren dicken, langen Haaren, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte.

Sie taucht mit beiden Händen in die Waschschüssel die vor ihr stand, formt mit den Händen eine Kuhle und benetzt ihr Gesicht mit dem klaren, kalten Wasser, es fühlt sich an wie aber viele kleine Nadelstiche, die ihr Stich um Stich die Müdigkeit vertrieben.

Sie zieht ihren dunkelblauen, wadenlangen Rock an und irgendeine Bluse, die sie greifen konnte, welche sie dann in den Rock steckt und schlüpft in ihre Schuhe. Wie gern würde sie sich wieder einmal wirklich hübsch anziehen, eines ihrer alten, guten Sonntagskleider überstreifen und in feine neue Lederschuhe schlüpfen. Aber es war keine Zeit und vor allem kein Platz für Eitelkeiten und unpraktische Kleidung.  

Ihr erster Weg führte sie morgens in die Küche, wo Martha, ihre Hausdame und Köchin,  bereits wirbelte. Seit den zunehmenden Bombenangriffen auf deutsche Städte wohnen nun rund 40 Menschen mehr auf dem Gut, welche auch ernährt werden mussten, sie waren vor einer Bedrohung geflohen, von der die Landbevölkerung nur beiläufig etwas mitbekam. Sie verließen ihre zerbombten Häuser und Wohnungen und machten sich meist mit nichts mehr, als dem, was sie am Körper trugen, auf den Weg raus aus den Städten. Hinzu kamen Menschen aus den Ostgebieten Deutschlands, die vor dem Vormarsch der roten Armee flohen. Ihre Geschichten waren angsteinflößend, die Menschen oft traumatisiert, sie mussten alles zurücklassen, was ihnen lieb und teuer war. Hier auf Gut Dransow fanden sie eine Bleibe, ein sicheres Dach über dem Kopf und etwas für ihre leeren Mägen, dafür halfen sie bei allen anfallenden Arbeiten auf dem Gut. Bei der Versorgung der Tiere, dem Bestellen der Felder, in der Küche und bei allem was auf so einem großen Hof anfällt.

Anna sah es, genau wie ihre Mutter, als christliche Pflicht an, diesen Menschen zu helfen, sie sah sie nicht als schäbige Flüchtlinge, so wie viele andere Menschen in Dorf sie sahen, nein, sie sah sie als hilfesuchende, gab ihnen was sie benötigten und sie gaben es ihr durch ihre Arbeitsleistung zurück.

Nie spielte Anna sich als Herrin auf, obwohl sie es natürlich hätte tun können, nein sie begegnete den Menschen mit Respekt, dies hatte sie so gelernt, vor dem Herrn waren sie schließlich alle gleich.

Nachdem sie Martha begrüßte ging sie raus auf den Hof, das Gut war als vier Seiten Hof angelegt, durch ein großes Torhaus gelangt man in das innere des Hofes und ging geradewegs auf das zweistöckige Gutshaus zu, mit seiner großen Treppe und den hübschen Fensterläden. Links und rechts des Hauses gingen direkt die Wirtschaftsgebäude ab, Ställe für Pferde, Rinder, Schweine und Hühner, Lager für verschiedenstes Getreide und landwirtschaftlichen Maschinen. Hinter manch einer Scheunentür verbargen sich nun Zimmer, die die Mensche bewohnten, die auf dem Gut Zuflucht fanden. Den obwohl sie im Haus einige Schlafzimmer hatte, so war nur das ihre bewohnt, das Haus war ihr heilig. Es war das Heim ihrer geliebten Familie und sie ertrug es nicht, fremde Menschen dort wohnen zu lassen. So aßen sie auch zusammen in dem Speiseraum der Angestellten im Keller, wo sich auch die Küche befand. Das große Speisezimmer im Haus betrat sie nur noch selten, zu schmerzhaft waren die Erinnerungen an die Abende vor dem Krieg, wo die ganze Familie zusammenkam, die Tafel reich gedeckt war und das Stimmengewirr den Raum erhellte. Schon wieder schweift Anna in Gedanken.

Sie besinnt sich und geht geradewegs in Richtung Pferdestall, löst den großen rostigen Riegel der Stalltür und tritt ein, wie jeden Morgen begrüßen sie die hungrigen Tiere mit einem freundlichen, aber erwartungsvollen Brummeln.

Sie schob jedem der Tiere eine Gabel Heu hin, bevor sie mit dem Eimer voller Hafer die nächste Runde geht. Sobald Anna den grauen Eimer in die Hand nahm, wieherten die Pferde ungeduldig, sie wissen, was nun kommen würde. Anna gab ihnen immer etwas mehr Hafer, sie weiß, dass die Tiere immer genauso viel schuften mussten, wie sie selbst. Sie dreht sie noch einmal um, schaut zu den Pferden und verlässt dann den Stall, um die Hühner zu füttern und Eier zu sammeln, das ist ihr festes Morgenritual, strukturierte Abläufe die helfen, in dieser verrückten Zeit nicht den Verstand zu verlieren. So etwas ist ihr wichtig, es ist nun 5:30, sie geht nun zu den restlichen Viechern, die Versorgung dieser übernahm sie morgens gern selbst, Tiere liebt Anna schon immer. Anschließend geht sie zurück zu Martha in die Küche, die bereits einen Teig knetet, um Brot zu backen. Sie hilft ihr noch ein wenig, bis nach und nach immer mehr Menschen in der großen Küche des Gutshauses eintrafen und ihr geschäftiges Treiben aufnahmen, es gibt schließlich immer etwas zu tun.  

Um acht Uhr setzen sie sich zum Frühstück insoweit es die Arbeit zulässt, aber gemeinsame Mahlzeiten sind Anna wichtig, sie stärken das Miteinander und sorgen für etwas Alltag in dieser zerrütteten Zeit.

Anna sieht sich selbst als Mädchen für alles, ohne sich selbst damit abzuwerten, aber sie ist gern in alles involviert, was auf ihrem Gut passiert, sie ließ sich von ihrem Vater alles über Landwirtschaft erklären, war wissbegierig und lernte schnell. Ihr Vater war erst nicht angetan davon, warum sollte sie dies auch alles wissen? Als junges Fräulein wäre Kinderpflege in seinen Augen der wichtigere Lerninhalt gewesen. Aber nun ist sie dankbar darüber, ihrem Vater monatelang auf den Pelz gerückt zu sein, ihre ältester Bruder Walther würde nun nicht mehr zurückkommen, um seinen Platz als neuer Graf einnehmen und auch der zweite Bruder Ernst August würde nicht wieder zurückkehren, so lag es an ihr, das Gut zu leiten, auch wenn es sich manchmal falsch für sie anfühlte. Sie ist ja "nur" die Komtess, die Tochter des Grafen, jung und unverheiratet. Anna fühlt sich unwohl, wenn Martha, die schon seit sie denken kann, bei ihrer Familie arbeitet, sie als Fräulein Gräfin bezeichnet. Martha ist 72 und schon seitdem sie ein  junges Mädchen ist, im Dienste derer von Dransows. Sie ist stets loyal und obwohl sie Anna in Windeln früher durch die Gegend trug, ist sie in ihren Augen die legitime Gräfin.

Anna geht nach dem mageren Frühstück in das Büro ihres Vaters, wo alle Ordner und Unterlagen lagerten, die sie für ihre Buchhaltung benötigt, sie schrieb schon immer alles akribisch auf. Sie führte lange Listen und Tabellen, wofür sie von den älteren Männern belächelt wurde, sie sollte mehr Landwirtin und weniger Sekretärin sein. Aber der Erfolg sprach für sie, Anna hatte es nach dem Tod ihrer Familie nicht einfach, sich gegen die Altbauern der umliegenden Gehöfte durchzusetzen. Aber sie schaffte es, das Gut durch diese schweren Zeiten zu lenken, es ist ihr Zuhause und sie würde immer dafür kämpfen und einstehen. Es war das Heim ihrer Familie, die zwar nicht mehr physisch anwesend war, aber sie spürt ihre Anwesenheit in jeder Ritze, in jeder Diele, in jedem Knarzen, das durch das alte Haus ging, sie spürte ihre Nähe, wenn ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief und sie eine Gänsehaut bekommt. Aber niemand traute ihr es zu, als junge allein stehende Frau ein solches Anwesen zu leiten. Ohne Mann war man in den Augen dieser alten Männer nichts wert und zu gern hätten sie Anna einen ihrer Söhne ins Auge gedrückt, ganz uneigennützig, wie sie es immer zu erklären versuchten. Die meisten von ihnen waren fanatische Nazis und sie hasst nichts mehr als diese. Allen voran Hubertus Völkel, selbst nicht adeliger Großgrundbesitzer, mit mehreren Söhnen, der schlimmste von ihnen ist Fritz. Fritz und Anna kennen sich schon seit Kindesbeinen an, aber so ganz geheuer war er ihr noch nie, er war immer irgendwie ein Außenseiter, schnell gereizt und dann nur schwer wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er machte die Schule nicht fertig, fing auch keine Lehre an, sein Schicksal war abzusehen. Bis zu dem Tag, als Fritz der SS beitrat und sich schnell einen Namen durch seine Abgebrühtheit machte.

Er umwarb Anna bereits 1941, diese wies ihn aber entschieden zurück, danach begannen die Schikanen seiner Seits mit seinem Gefolge, gegen die von Dransows.

Annas Eltern nahmen noch vor Kriegsbeginn zwei jüdische Familien aus der Gemeinde auf, Gräfin Charlotte ahnte, was diesen Menschen widerfahren sollte und quartierte sie fortan auf dem Speicher Dachboden ein. Alles natürlich streng geheim, nur die Familie und Martha wussten von den 9 Personen, oben unter dem Dach. Aber es gab immer Menschen die redeten und da der Graf erst spät, gezwungenermaßen in die Partei eintrat, fiel er sowieso in Ungnade bei den hiesigen Bauern, die begeisterte Anhänger dieses kleinen, dunkelhaarigen Mannes mit komisch gestutztem Bart waren.

Fritz Völkel kam immer und immer wieder auf das Gut, wegen fadenscheinigen Gründen, nach dem Tod von Annas Eltern wurde es noch schlimmer, er war sich sicher, fühlte sich überlegen und wollte Anna nun endlich ehelichen, er sah es als sein Recht an dies zu tun, als Anna darüber nachdachte wurde ihr schlecht, sie schob diesen Gedanken und diesen Menschen zur Seite. Zu viel Elend hatte er ihr angetan und versucht anzutun.  

2. Kapitel

Annas Blick schweift durch das große Zimmer mit seinen dunklen Wandvertäfelungen, den vielen Schränken mit aber vielen Büchern, manche so alt wie das Gut selbst. Sie lehnt sich an den großen, massiven Holzschreibtisch und fährt mit den Fingern über die Bücher und Unterlagen, die auf ihm liegen. Plötzlich vernimmt sie Schritte, die durch den Vorraum der Bibliothek direkt auf sie zukommen. Es sind große, schwere Schritte, als würde ihr Träger ebenso schwere Stiefel tragen. In dem Moment läuft Anna ein Schauer den Rücken runter, sie wusste, wem diese Stiefel gehören und wer hier ohne zu Fragen das Haus betrat und geradewegs auf sie zukam.

Es war Fritz, süffisant grinsend steht er im Türrahmen der alten Flügeltür zur Bibliothek, die seither auch als Büro genutzt wurde. Fritz war noch nie ein Frauenheld, er war zwar recht groß gewachsen, aber dürr wie Bohnenstroh, seine Haut war fahl, als würde ihn nie die Sonne anlächeln (was durchaus denkbar ist) dachte Anna. Er hat vom Kopf abstehende Ohren, die durch sein blondes Haar guckten, sein Gesicht ist langgezogen, auf dem Kopf trägt er diese abscheuliche Mütze mit dem Totenkopf. Kleider machen Leute seit jeher, aber in Fritzs Fall sah er aus, als würde er das Kostüm eines anderen tragen. >>Was willst du?<< fragt Anna, in dem Wissen, warum er hier ist und was er wollte. Sie.

>>Du weißt, warum ich hier bin, Anna. Du weißt, dass ich jedes mal aus dem selben Grund hier bin. Ich will mein Recht endlich einfordern, du wirst meine Frau, du wirst mir gehören, dein Vater hat es besiegelt mit seiner Unterschrift!<<

Anna senkt den Kopf, sie beißt den Kiefer aufeinander, es macht sie wütend, dass dieser Mörder ihren Vater in diese Sache mit reinziehen möchte. Noch bevor Anna etwas antworten könnte, steht Fritz vor ihr, drückt sie noch fester gegen den Schreibtisch und kommt ihrem Gesicht gefährlich nahe.

>>Verschwinde Fritz!<< schreit Anna und versucht, ihn mit all ihrer Kraft von sich wegzudrücken. Es misslingt ihr, Fritz umfasst sie mit seinem linken Arm, der rechte wandert ungeniert an ihrem Bauch herunter, Anna windet sich wie ein Aal, sie versucht diesem glitschigen Ungetüm zu entkommen, vergebens.

>>Anni, wir kennen uns nun doch schon so lange, du müsstest wissen, dass ich dir nichts böses will, ich will nur das, was jeder Mann von einer so hübschen jungen Frau wie dir, will.<<

>>Lass mich in Ruhe, Fritz! Lass mich!<< schreit Anna, während sich Fritzs rechte Hand unziemlich unter Annas Rock schiebt. Anna unternahm einen letzten Versuch ihn von sich wegzuschieben, wieder vergebens.

>>Lass mich!<< ruft sie erneut, in der Hoffnung, dass sie jemand hört. Es ist nicht das erste Mal, dass ihr Fritz zu nahe kommt, sie wagt es nicht auszusprechen, was er mit ihr vor hatte. Die ersten beiden Male hatte Anna Glück, der Müller war gerade auf dem Hof, hörte Annas Hilferufe und scheute sich nicht, Fritz von ihr herunter zu zerren. Danach blieb Fritz immer eine Zeit lang weg, aus Scham, vermutete Anna. Aber diesmal schrie sie aus voller Kehle und niemand schien sie zu hören.

Plötzlich vernahm sie eine Unruhe, die von draußen ausgeht, sie hört Stimmen und Motoren. Da sie mit dem Rücken zum Fenster gewandt steht, sieht sie nicht, was draußen vor sich geht. Aber sie schaut geradewegs in Fritzs Gesicht, der noch blasser wurde, als er ohnehin schon ist. Plötzlich lässt er von ihr ab, ohne ein Wort zu sagen, macht er auf der Stiefelspitze kehrt und rannte wie ein kleiner Junge davon. Anna sackt vor Anspannung in sich zusammen, rutscht an dem Schreibtisch, an dem sie immer noch gelehnt stand, hinunter und sitzt regungslos auf dem Fußboden des herrschaftlichen Zimmers. Sie zittert am ganzen Körper, Tränen stiegen in ihren Augen auf, sie weiß nicht, was auf dem Hof passiert, blinde Dankbarkeit stieg in ihr auf, was auch immer es ist, es sorgte dafür, dass Fritz die unverzügliche Flucht antrat und von ihr abließ. Ein Feigling war er, er versteckt sich nur in dieser grauen Uniform, um nicht aufzufallen.  

Anna zog sich am Tisch hoch, ihre Beine waren weich und sie läuft wie auf rohen Eiern. Sie muss sich einen Moment sammeln, als sie aus dem Fenster schaut, um zu ordnen, was sie dort sieht. Zig Männer und Militärfahrzeuge fuhren durch das große Tor des Torhauses hindurch und sammeln sich auf der freien Fläche vor dem Gutshaus. Sie braucht einen weiteren Moment, um zu begreifen, dass dies keine Fahrzeuge der SS sind, sondern eine ganz und gar andere Flagge die Waagen ziert. Es sind Amerikaner! Man hörte schon vor einigen Tagen, dass "feindliche" Truppen immer weiter vorstoßen, ein Gefühl von Erleichterung und Unwohlsein durchzieht ihren Körper. Einerseits muss sie jetzt nicht mehr fürchten, dass die SS noch einmal wiederkommt, andererseits sind es viele fremde Männer, die noch dazu eine Sprache sprechen, die sie nur in Fetzen beherrscht. Als Mädchen musste sie früher als ihre Brüder die Schule verlassen und kannte die englische Sprache nur in Brocken aus dem Wörterbuch. Anna beobachtet das Treiben noch kurz, die meisten Bewohner des Guts sammelten sich ebenfalls vor dem Haus, Anspannung steht in ihren Gesichtern geschrieben, aber wie bei ihr, auch ein Hauch von Erleichterung, nicht nur Anna musste die Schikanen der Nazis über sich ergehen lassen. Eine kleine Gruppe von Männern steht etwas abseits und beobachtet das Szenario mit Argwohn. Es sind die wenigen Männer, die, warum auch immer, nicht an die Front mussten, aber in der Heimat dafür umso stärker des Führers Parolen schreien. Anna konnte sie nicht alle entlassen, zum einen benötigte sie die Arbeitskraft der Männer, zum anderen hätte sie sich noch mehr Schikanen ausgesetzt, wenn sie diese bekennenden Nazis rausgeworfen hätte, Anna wusste nicht, wie lange das Versteck auf dem Dachboden des Speichers noch unentdeckt blieb. Ein Katz und Mausspiel. jeden Tag auf neue. Aber nun könnte das endlich vorbei sein, unter den Amerikanern würden die Nazis ihre gerechte Strafe erhalten und die unschuldigen Menschen, die hausten wie die Sardinen, könnten nun endlich ihr Versteck verlassen.

Anna verlässt ebenfalls ihr Versteck, so fühlt es sich jedenfalls an, als sie zwischen den Gardinen hindurch die Menschen draußen beobachtet und geht durch die beiden großen Zimmer zur Haustür. Sie tritt vor die Tür, die durch die hohe, doppelseitige Treppe über den Köpfen der Soldaten liegt. Einen kurzen Moment fühlt sie sich beobachtet, eilt dann aber die Treppe hinunter und stellt sich zu Martha, die ebenfalls schon draußen stand. Die amerikanischen Soldaten machten keine Anstalten, zu erfragen, wem das Haus gehört, sie laden ihre Lastwagen ab und fangen an  mit einer Selbstverständlichkeit unzählige Kisten in das Haus, in ihr Haus zu tragen. Die Situation überfordert Anna im ersten Moment, was soll sie tun? Können sie denn einfach so ihr Haus besetzen? Ein Soldat nach dem anderen trug Kiste für Kiste die Freitreppe hoch. Da versteht Anna, dass sie das durften, dass dies sogar ihr Recht war, Anna begriff, dass der Krieg nahezu vorbei ist und die Amerikaner zu den Siegern zählen, sie durften sich zweifellos nehmen, was ihnen beliebt und was sollte sie schon machen? Womöglich würden sie sie standrechtlich erschießen, wenn sie sich ihnen in den Weg stellen würde. Anna war froh, dass durch die Anwesenheit der US Truppen der Krieg nun vorbei war, aber sie wusste nicht, was das für Menschen sind, sie kommen aus einem weit entfernten Land und hegen, wie wahrscheinlich jedes andere Land auf dieser Welt, einen Groll gegen jeden und jede Deutsche. Und konnte man es ihnen verdenken? Weiß Gott nicht. Anna selbst hegte ja einen Groll gegen die Regierung dieses einst so schönen Landes.

Sie beobachtet das Treiben noch eine Weile, sie kann ja ohnehin nichts dagegen tun, dann geht sie zu Martha in die Küche.

>>Anna komm zu uns, wie harren der Dinge die da kommen.<< Anna setzte sich zu ihr und den anderen Frauen, draußen wurde es unruhig, die Soldaten fangen an alle übriggebliebenen Männer auf ihre Lastwagen zu bringen, dabei machen sie keinen Unterschied zwischen Männern und den Jungen der Flüchtlinge. Ihr Unterbewusstsein meldete sich, es sagt ihr dass sie dazwischen gehen sollte, aber noch bevor Anna sich weitreichende Gedanken machen konnte, sieht sie, wie eine der Frauen, die noch draußen auf dem Hof steht, auf sie zeigt, nach dem sie von einem Soldaten angesprochen wurde. In Anna steigt ein natürlicher Fluchtreflex auf, am liebsten würde sie jetzt aufspringen und sich verstecken, aber das wäre wohl recht aussichtslos und nicht hilfreich. Also sah sie zu, wie der amerikanische Soldat auf sie zukommt, er ging durch die Außentür der Küche und geradewegs auf sie zu. Annas Herz klopft, dass sie annahm, jeder im Raum würde es hören.

>>Frau Dransow?<< sprach der Soldat mit einem nett klingenden Akzent. Ohne zu antworten, springt Anna auf und nickte dann. Mit einer Geste symbolisiert er ihr, dass sie ihm folgen sollte, sie tat wie ihr geheißen und ging dem Mann nach. Ihnen schließt sich noch ein weitere uniformierter Mann an.  So gehen sie die Freitreppe zur Haustür hoch, durch den Flur links abbiegend in den Vorraum zur Bibliothek, dies war früher ein kleiner Salon. Anna hielt kurz inne, einige Soldaten trugen Möbel, andere rollten Teppiche weg, wieder andere stellten Klapptische und Stühle auf und sortierten Unmengen an Unterlagen. Sie vernimmt ein Räuspern im Nacken, es war der Soldat, der hinter ihr lief und ihr zu verstehen gab, dass sie weiterlaufen sollte. Anna fühlt sich plötzlich stark und selbstbewusst, sie hat nichts Unrechtes getan, ihre Familie genauso wenig und die Amerikaner waren in ihrem Haus! Sie vernahm das leise Klackern ihrer flachen Absätze auf dem alten Parkett, dann hört sie, wie ein Mann auf deutsch, mit Akzent sprechend, zu einem anderen sagt

>>Ich wollte den Herr des Hauses, nicht dessen Frau! Den, der was zu sagen hat!<< Noch bevor Anna den Mann sah, der offenkundig nicht sie, sondern jemanden, wie ihren verstorbenen Vater erwartete, polterte sie los. >>Es tut mir leid, sie enttäuschen zu müssen, hier gibt es keinen Mann mehr, nur noch mich, die Herrin des Hauses, Anna von Dransow! Ich hoffe, sie sind nicht allzu enttäuscht darüber!<<

Sie geht selbstbewusst in den Raum hinein und hatte immer noch nicht den Mann gesehen, der nach ihr  geschickt hatte. Ihr Blick geht zu dem großen Schreibtisch, sie sah auf und dem Mann direkt in seine blauen Augen. Sofort wendete sie ihren Blick wieder ab, nur um dann Sekunden später erneut in diese Augen zu blicken, sie fühlte sich wie in einem Sog, konnte sich nicht abwenden, konnte nichts sagen, sie steht wie angewurzelt, ihr Herzschlag beschleunigte sich. Aber auch der groß gewachsene Mann mit den fesselnden blauen Augen wendet seinen Blick nicht ab. Ihr Gegenüber ist Captain Jacob Graham, der mehr als erstaunt ist, dass hier eine junge Frau in den Raum stürmt, sein Blick bleibt genauso versteinert auf sie gerichtet wie der ihrer. Er kann sich von ihren dunkelbraunen Augen nicht abwenden. Von ihr ging eine Präsenz aus, die er nur schwer greifen kann.

Als würde sie wieder zu sich kommen, schüttelt sie sich innerlich, blinzelte und hatte das Gefühl, tief Luft holen zu müssen.

Auch Jacob benötigt einen Moment, um aus dieser Trance zu erwachen und sich wieder zu sammeln.

>>Sie sind keineswegs eine Enttäuschung, für meine Augen schon gar nicht. Jedoch habe ich mit einem Mann als Herr des Hauses gerechnet, Frau von Dransow<<

>>Fräulein von Dransow<< erwidert Anna prompt. >>Ich bin nicht verheiratet, war es nie, daher Fräulein<<.

Er blickte verwundert in ihre Augen.

>>Verzeihen sie mir meine Neugierde, Fräulein von Dransow, aber wieso sind sie, wie meine Männer mitteilten, die Gräfin des Gutes, wenn sie doch nicht verheiratet sind und auch sonst kein Mann hier ist, ihr Vater zum Beispiel?<< Warum auch immer ist er nicht unglücklich darüber, dass diese junge Frau offenkundig  unverheiratet ist, auch wenn dieser Gedanke unpassend ist.

In Annas Hals bildet sich ein dicker Klos, sie wendet ihren Blick ab und schaute zu ihren Händen, die nun unruhig auf ihrem Schoß lagen. Wie konnte sie sich von der einen auf die andere Sekunde so stark und dann wieder so schwach und verletzlich fühlen? Sie öffnet den Mund, als wollte sie etwas sagen, schließt ihn aber direkt wieder, sie ringt nach den richtigen Worten. Ungern erzählt sie ihre Geschichte, einem fremden Mann schon gar nicht, vor allem nicht so einen, der sie schon mit seiner bloßen Anwesenheit durcheinander brachte.

Jacob spürt, dass etwas in dieser jungen Frau gerade brodelte, ihre ganze Körpersprache veränderte sich. Er merkt, dass sie mit dem hadert, was er sie fragte, er drängt sie nicht weiter, wartet darauf, dass sie von selbst zu sprechen beginnt.

3. Kapitel

Anna sammelt sich noch einen Moment. Der Mann gegenüber von ihr, sitzt noch immer ruhig da, er drängt sie nicht, beobachtet sie einfach nur eindringlich. Sie schluckt noch einmal kräftiger, als würde sie den soeben gebildeten Klos in ihrem Hals runterschlucken wollen.

>> Es gibt deswegen nur noch mich, weil meine Brüder gefallen sind und meine Eltern von der SS ermordet wurden.<< Dieser Satz fiel ihr so unendlich schwer, ohne es zu wollen, durchlebt sie direkt wieder diese schlimmen Erinnerungen. Ihre Stimme veränderte sich, sie war nicht mehr stark, sie versucht das zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

>> Das tut mir leid<< antwortete ihr, ihr Gegenüber, dessen Namen sie noch immer nicht weiß. Seine Worte klangen ehrlich gemeint, was Anna wiederum berührte, damit rechnete sie nicht.

Jacob war ehrlich erstaunt, über das, was er gerade gehört hat, auch wenn es nur eine oberflächliche Erklärung ist, sie sagte alles und sie erklärte, warum diese Frau plötzlich so in sich zusammen sackte, seine Beileids Bekundung war keine einfache Phrase, er meint es wirklich so, weil er den Schmerz seines Gegenübers fühlte und auch an eigene seelische Wunden erinnert wurde.

Anna sitzt regungslos da, ihr Blick geht ins Leere, sie würde nicht weiterreden, wenn sie nicht konkret gefragt würde.

>>Ich bitte sie erstmal um Verzeihung, wie unhöflich, mich ihnen nicht vorzustellen. Captain Jacob Graham.<< Er stockt, während Anna kurz zu ihm aufsieht.

>>Erzählen Sie mir, warum die SS ihre Eltern ermordet hat, war ihr Vater als Graf nicht Offizier bei der Wehrmacht? Ist er desertiert?<<

Anna schaute ihn geschockt an, ihr Vater ein Deserteur? Was denkt dieser Captain Graham sich eigentlich? >>Nein! Mein Vater ist nicht desertiert, ihm wurden in Frankreich ein Arm und ein Bein kaputt geschossen, sodass er nicht mehr kampftauglich war!<<

Als sie das sagte, sah sie dem Captain in die Augen, er solle spüren, dass ihr Vater kein Feigling war. Dann musste sie wieder schwer schlucken, sie spürt wie ihre Augen zu brennen beginnen, sie durfte jetzt nicht weinen, bloß keine Schwäche zeigen! Wieder stockte sie und brauchte ein paar Sekunden, um die Wörter in ihrem Kopf zu sammeln, wieder wartete ihr Gegenüber geduldig.

>> Das ist im Grunde eine längere Geschichte. Aber um es kurz zu fassen, meine Eltern versteckten auf unserem Gut zwei jüdische Familien aus der Gemeinde, gute Freunde meiner Familie. Ich muss ihnen ja nicht erklären, wieso wir das mussten. Meine Eltern waren als gläubige Menschen stets gegen Hitler und sein Terrorregime, lehnten einen Beitritt in diese Verbrecher Partei ab und schickten weder mich, noch meine Brüder in die HJ oder BDM, zumindest nicht bis es zur Pflicht wurde und auch sich auch mein Vater und meine Brüder einem Parteieintritt nicht verwehren konnten.<<

Wieder macht sie eine Pause beim erzählen, im Raum war es ruhig, neben den Captain stand ein weiterer junger Soldat, hinter ihr standen die beiden Männer, die sie hierher brachten. Aber niemand sagt etwas, alle schauten nur gespannt zu Anna, als hätten sie noch nie gehört, dass es auch Deutsche gab, die den Führer nicht bis ins Mark anhimmeln.

Jacob versucht sein Pokerface zu wahren, er war geschockt über das, was die junge Gräfin hier gerade mitteilte. Er war überzeugt davon, dass die Deutschen alle gleich gestrickt sind, dass sie alle Gehirn gewaschen sind. Er hegte einen persönlichen Groll gegen dieses Volk und er wollte es, dass jeder Deutsche dies spürte. Aber jetzt war er verwirrt, damit hatte er nicht gerechnet. Dann erzählt Anna weiter.

>>Aufgrund der Zurückhaltung meiner Eltern gerieten wir ins Fadenkreuz der Gestapo, regelmäßig wurde das Gut auf den Kopf gestellt, aber sie fanden nichts oder besser gesagt niemanden. Bis zum 12. Mai 1943, als wieder die SS, angeführt von Fritz Völkel, auf unseren Hof rollte. Sie gingen wieder mit aller Gewalt vor, zimperlich ist diese Bande nicht, das sage ich ihnen. Ich versteckte mich auf einem Zwischenboden über dem Pferdestall. Nach einer Stunde hörte ich wildes Geschrei auf dem Innenhof, ich traute mich nicht hervor, als ich die Stimme meiner Mutter hörte, bekam ich es mit der Angst. Und dann ging alles so schnell, dass ich es nicht greifen konnte, zwei Schüsse fielen. Mein Herz begann zu rasen, Geistesabwesend sprang ich die Leiter herunter und rannte durch den Stall, hin zum Tor und raus auf den Hof. Da lag meine Mutter, tot. Erschossen von der SS, mein Vater kniend daneben, mit einer Wunde an der Schulter. Ich schrie und rannte zu ihnen, als mich die Gefolgschaft des Herrn Völkel festhielt und zu Boden drückte. Ich sah noch, wie Fritz meinem Vater ein Stück Papier mitsamt Stift hinhielt und ihn zwang, dies zu unterschreiben.<< Anna stockt der Atem, jetzt stiegen ihr die Tränen in die Augen, unaufhaltsam, sie konnte nichts dagegen tun. Zu real waren die Bilder vor ihren Augen.  

>>Dann nahm er das Schreiben, dessen Inhalt mich die nächsten Jahre verfolgen sollte, trat wenige Schritte zurück und gab meinem Vater den "Gnadenschuss" wie er es nannte.<<

Annas glasiger Blick fällt auf ein Portrait ihrer Brüder, das an der Wand, links neben dem  Schreibtisch hängt. >>Der einzige Trost ist, dass sie nicht mehr auf dieser Welt mitbekamen, dass ihre geliebten Söhne vier Wochen nach ihnen und nur kurz nacheinander fielen.<<

Eine Träne rollt über Annas Wange, sie schmeckt ihren salzigen Geschmack, als sie ihren Mundwinkel streift.

Irgendetwas an dieser jungen Frau fesselte Jacob, ob es diese Stärke war, die sie ausstrahlte, als sie den Raum betrat, oder ob es der Schmerz ist, den man in jedem Wort hört, welches sie soeben sprach? Er weiß es nicht, aber er konnte seine Augen nicht von ihr ablassen. Sie war sicherlich einige Jahre jünger als er selbst, dennoch empfand er so etwas wie Respekt vor dieser jungen Deutschen. Was schon ein Wunder für sich war.

Anna sitzt noch immer regungslos da, ihr Blick schweift von dem Bild ihrer Brüder Walter und Ernst, zurück zu Captain Graham, der ihr, zu ihrer Verwunderung, noch immer in die Augen sieht. Da begreift sie, dass sie sich gerade unglaublich verletzlich und schwach gezeigt hat, etwas, das sie die letzten Jahre, gerade Männern gegenüber, versuchte tunlichst zu vermeiden. Niemand sprach, was die Situation nicht besser machte, Anna wünscht sich, dass sich unter ihren Füßen ein großes Loch auftut und sie mit ihren Sorgen und Ängsten verschluckt.  Die Stimme des Captain unterbricht diese unerträgliche Stille.

>>Ihre Eltern waren sicherlich tapfere Menschen. Kam die SS anschließend noch weiter? Und haben sie die Juden weiterhin versteckt, jetzt wo ihnen das Risiko bekannt war?<<

Anna runzelte die Stirn

>>Was denken sie, was passiert wäre, wenn ich diese Leute vors Hoftor gesetzt hätte? Dasselbe wie meinen Eltern. Natürlich habe ich sie da behalten, ich liefe doch keinen Menschen an ihren Henker aus! Und was das Risiko angeht, selbst Opfer der SS zu werden.. Was hatte ich denn zu verlieren? Meine gesamte Familie ist diesem Regime zum Opfer gefallen.<< Die Frage, ob sie die Menschen unter ihrem Dach verraten und vor die Tür setzen würde, machte Anna sauer. Dieser Mann schaffte es, sie von einer auf die andere Sekunde wieder in Rage zu versetzen. Für wie schwach hielt er sie? Die Frage war irrelevant, sie kannten einander ja nicht. Anna versucht sie wieder innerlich zu beruhigen, sie kann ihre Emotionen wenn es um ihre Familie geht immer nur schwer in Schach halten, daher meidet sie Gespräche darüber. Auf dem unbequemen Klappstuhl hält sie es keine Sekunde länger aus. Unter den wachsamen Augen des Captain steht sie langsam auf, sie mustert sein Gesicht erneut. Der adrette Mann mit den braunen Haare, den blauen Augen und diesen markanten Wangenknochen gefiel Anna auf eine für sie fremde Art und Weise. Sie verbot sich dies, aber sie kann nichts dagegen tun. Und im Grunde war sie den Amerikanern nach wie vor dankbar für ihre Anwesenheit, man wird sich schon arrangieren mit den fremden Männern aus Übersee.

>>Sie und ihre direkt unterstellten Männer schlafen hier im Haupthaus, das Speisezimmer wird ohnehin schon des längeren nicht mehr genutzt, da können sie speisen, ich denke das ist rechtens für Offiziere. Für ihre restlichen Männer bereiten meine Mitarbeiter gerade das Torhaus vor. Gastfreundschaft wird bei uns jeher groß geschrieben, wenn sie noch etwas benötigen, geben sie mir einfach bescheid.<<

Anna stand auf und geht in Richtung Tür, niemand stellte sich ihr in den Weg, da drehte sie sich noch einmal in die Richtung des Captain.

>>Wir haben uns hier an feste Speisezeiten gewöhnt, es wäre schön, wenn wir dies weiterführen könnten, dies gibt uns wenigstens etwas Alltägliches, etwas Normales. Also lassen sie es mich wissen, wenn ich noch etwas tun kann.<<

Der Captain zog erstaunt die Brauen hoch. >>Eine Frage habe ich doch noch, dieses Versteck, wie findet man es?<<

Ein Lächeln huscht über Annas Lippen, Charm hat dieser Mann, das muss man ihm lassen.

>>Ich zeige es ihnen gern, wenn sie mögen.<<

Jacob Graham stand auf, nickt seinem Unteroffizier zu und Anna verstand, dass sie die beiden Männer nun zu dem seit Jahren geheimgehaltenen Versteck auf dem Speicherboden führen soll. Die beiden Männer folgen ihr dicht, sie gehen in den Keller, durch die Küche und durch eine Tür, am anderen Ende weiter durch den Anbau, durch mehrere Türen weiter, alte Treppen hoch und dann stehen sie auf einem Dachboden. Dieser sieht auf den ersten Blick erstmal völlig normal aus, mehrere Truhen und Schränke befinden sich dort, Anna schaut in die verwundert blickenden Gesichter der beiden Männer. Dann steuert sie geradewegs auf einen großen Holzschrank zu, der zur rechten Seite des Raumes stand, sie öffnet die großen, massiven Türen, schiebt irgendwelche Leinen zur Seite und kramte dann an der Rückseite des Schrankes, bis sie ein metallenes Geräusch vernommen hatte. Sie spürt die Blicke der Männer, als Anna in dem großen Schrank verschwindet. Graham und seine Begleitung kommen dem Schrank näher, dann sahen sie, dass die rückwärtige Wand komplett geöffnet ist, wie eine weitere Tür. Anna schaut geradewegs in die beiden verdutzten Gesichter der Männer und konnte sich dabei ein Lächeln nicht verkneifen. Beide tun es Anna gleich und steigen durch die Tür in den Speicher und schauen sich um. Dort sind behelfsweise Wände eingezogen, die den Familien wenigstens etwas Privatsphäre einräumen sollten.

Als Jacob dort oben, unter dem großen Dach der Scheune stand, hatte er ein beklemmendes Gefühl. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es sein muss, über Jahre hier oben auszuharren, immer in der Angst doch entdeckt und deportiert zu werden. Was das für die Menschen bedeutete, die sich hier versteckten, aber was das auch für die Familie bedeutete, die ihnen hier eine Obdach anboten und letztenendlich diese Menschlichkeit mit dem Leben bezahlten.

Plötzlich kam ein kleiner blonde Junge auf sie zu gerannt,  >>Fräulein Gräfin! Fräulein Gräfin!<< Anna nimmt den Jungen beherzt hoch, er schaut erst sie an, dann in die Richtung der beiden fremden Männer. Bevor jemand etwas sagen konnte, stieß seine Mutter dazu. >>Entschuldigen sie, Fräulein von Dransow, ich sagte Richard, dass er nicht so ungestüm sein soll.<< Anna lässt den Jungen zu Boden

>>Das macht doch nichts!< Dann schaut die junge Frau an Anna vorbei direkt zu den beiden Amerikanischen Soldaten und erschrak. Erst ein paar Sekunden später begreift sie, dass von den Männern keine Gefahr ausging, zumindest nicht für sie. Daher drehte sie sich besorgt zu Anna

>>Bekommen Sie Schwierigkeiten, Fräulein von Dransow? Das würde ich nicht wollen, wo sie und ihre Familie doch immer so gut zu uns waren!<< Anna lächelt und schaut in die Richtung der beiden Männer. >>Ich denke nicht, Lotte, bis jetzt gab ich ihnen, denke ich, keinen Grund mich festzunehmen<<. Wieder lächelt Anna, der Captain erwidert dies, so dass sie verlegen zu Boden schaut.

Anschließend verließen sie das Versteck, aber ohne die Schranktüren wieder zu schließen, diese können nun geöffnet bleiben und die Menschen, die sich solange dahinter in Sicherheit wähnten, ihr Versteck verlassen.

Anna begleitet die beiden Männer nach unten und zur Küche, dort verabschiedet sie sich von ihnen, sie bereitet das Abendessen mit zu, das aufgrund des ausgefallenen Mittagessen durch das Eintreffen der Amerikaner etwas üppiger ausfallen soll.