König und Meister - Theresa Hannig - E-Book

König und Meister E-Book

Theresa Hannig

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Beschreibung

Ada König will herausfinden, was diese wichtige Sache ist, die ihr Vater ihr erzählen wollte, kurz bevor er das Lenkrad herumriss und die Welt ins Chaos stürzte. Was hat es mit dem ‚Verbrannten Mann‘ auf sich, der Ada seit dem Autounfall verfolgt, und wieso träumt sie von Else, der alten Frau aus dem Dorf, die sich an nichts erinnert und doch nie vergisst, die Walnüsse aufzusammeln, die der Meister im Garten des Königs fallen lässt. „Du glaubst doch nicht, dass so ein Pakt über Leben und Tod ohne Gegenleistung geschlossen wird. Jeder weiß das. Jeder muss bereit sein, den Preis zu zahlen.“

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1. Auflage März 2021

Copyright © 2020 by Edition Roter Drache.

Edition Roter Drache, Holger Kliemannel, Am Hügel 7, 59872 Meschede

[email protected]; www.roterdrache.org

Titel- und Umschlagdesign: © Anke Koopmann, designomicon

Buchgestaltung: Karolina Witkowski

Lektorat: Hanka Leo

Korrektorat: Aimée M. Ziegler-Kraska

Schmutzseitebild: Anke Koopmann, designomicon

Gesamtherstellung: Jelgavas tipografia

Alle Rechte vorbehalten.

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN 978-3-96426-062-8

Auberon: »We thank you, Shaper. But this diversion, although pleasant, is not true. Things never happened thus.« Sandman: »Oh, but it is true. Things need not have happened to be true. Tales and dreams are the shadow-truths that will endure when mere facts are dust and ashes, and forgot.«

Neil Gaiman, The Sandman (19) »A Midsummer Night’s Dream«

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

Danksagung

Die Autorin

1. Kapitel

Ada zwickte sich in die empfindliche Haut ihres Unterarms, um nicht einzuschlafen. Es war wie ein Reflex: Kaum lehnte sie sich in das weiche Polster des Beifahrersitzes, atmete den unverwechselbaren Geruch von Leder und frisch gesaugter Fußmatte ein und lauschte den unablässigen Reden ihres Vaters, wollte ihr Geist abschalten. Für die nächsten dreißig, vierzig Minuten gab es nichts anderes zu tun, als zuzuhören und ab und zu ein »hm« oder »aha« vor sich hinzubrummen. Nicht einmal ein Nicken war vonnöten, denn ihr Vater widmete seine Aufmerksamkeit gewissenhaft der Straße und sah nur selten zu ihr herüber. Umso verlockender war der Gedanke, kurz die Augen zu schließen und wegzudösen. Ein Teil ihres Bewusstseins sank langsam tiefer in warme Abgründe, ließ hyperrealistische Traumbilder an ihr vorbeiziehen, die wundersame Abenteuer versprachen. Doch es blieb bei dem Versprechen, denn der wohlerzogene Teil in ihr mahnte sie: Es ist unhöflich, einzuschlafen, wenn dein Vater mit dir redet!

Wie sie diesen Brave-Tochter-Modus hasste! Also fingerte sie am Radio herum und suchte nach einem Sender, der etwas anderes als Werbung brachte. Adas Vater schien nur kurz irritiert und sprach dann weiter, als wäre nichts geschehen. Sie versuchte, ihre Konzentration auf den Liedtext zu richten, vergeblich.

»Und dabei hätte ich ihm das Land schon vor zehn Jahren abgekauft. Aber nein, mir wollte er es ja nicht überlassen. Wahrscheinlich, weil ich seiner Tochter damals keine besseren Noten gegeben habe. Hat mich immer wieder beschimpft, ich sei ein arroganter Pinkel, einer, der sich für was Besseres hält. Pah! Dabei war er es doch, der seine Tochter gegen jede Vernunft aufs Gymnasium schicken wollte. Und ich soll dann Schuld sein, wenn sie versagt. Was jetzt passiert, ist ja klar. Die wollen sicher einen Dreispänner hinbauen oder ein Hochhaus oder was weiß ich. Da kann man sich ja denken, was da für Leute einziehen. Dann ist es aus mit der Ruhe. Aber das kriegen die nicht durch. Ich habe schon einen Termin bei der Bürgermeisterin!«

Ada änderte ihre Sitzposition und richtete sich auf, um die Müdigkeit zu bekämpfen. Dabei streifte ihr Blick die Handtasche, die sie zwischen ihren Beinen im Fußraum deponiert hatte.

»Ach Papa, ich habe dir noch etwas mitgebracht«, sagte sie, glücklich darüber, das Thema wechseln zu können. »Hier, Pralinen vom Dallmayr. Die magst du doch so gerne.«

»Ja, Danke sehr. Tu sie am besten gleich ins Handschuhfach.«

Sie öffnete die Klappe vor sich, doch das Fach war bereits voll. In zwei durchsichtigen Zellophan-Tüten lagen eng aneinandergequetscht Dallmayr-Pralinen, dem Aussehen nach schon mehrmals geschmolzen und wieder hart geworden.

»Sag mir halt, wenn du keine Pralinen mehr magst«, knurrte sie und warf die Klappe zu.

»Nicht so feste, sonst geht der Verschluss kaputt«, ermahnte sie ihr Vater und begann gleich wieder über die Familie zu schimpfen, die auf dem Nachbargrundstück ein Haus bauen wollte.

Ada stopfte die Pralinen zurück in ihre Handtasche und verschränkte die Arme. Wäre sie doch einfach zu Hause geblieben. Die Wäsche wartete und ein Tag Ruhe wäre auch nicht schlecht gewesen.

Zu allem Überfluss hatte Adas Vater die Angewohnheit, immer langsamer zu fahren, je aufgewühlter er war. So würde es noch länger dauern, bis sie am Restaurant ankamen. Ada versuchte, mit ihrem Handy zu überprüfen, ob der Laden an diesem Sonntag auch wirklich geöffnet hatte. Nicht dass ausgerechnet heute der Wirt krank war oder eine geschlossene Gesellschaft den Schankraum besetzte, und sie am Ende den ganzen Weg hungrig wieder nach Hause fahren mussten. Aber sie hatte kein Netz, von wegen Internet an jeder Milchkanne.

Noch konnte sie sich zusammenreißen, doch je größer ihr Hunger wurde, desto ungeduldiger würde sie werden und das führte beim Redebedürfnis ihres Vaters über kurz oder lang zu Streit.

»Essen spielt in deinem Leben eine viel zu große Rolle«, hatte ihre Mutter Karin erst kürzlich zu Ada gesagt. »Versuch, dir im Alltag andere Belohnungen anzugewöhnen, als immer nur zu essen. Du siehst ja, wohin das führt. Geh lieber spazieren oder zum Yoga. Dafür hat wirklich jeder Zeit.«

Ada seufzte. Dann schon lieber essen gehen mit ihrem Vater.

Sie hatten Glück. Auf dem Parkplatz vom Huberwirt standen vier Fahrzeuge. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Küche geöffnet hatte. Es war schon fast zu einem Ritual geworden: Wenn Ada ihren Vater besuchte und sie wichtige Dinge zu besprechen hatten, fuhren sie zuerst gemeinsam zum Huberwirt, tranken ein dunkles Bier, aßen jeder eine Portion Pfannkuchensuppe und danach Wiener Schnitzel mit Pommes, natürlich mit Bratensoße. Wer Pommes ohne Bratensoße aß, war nach Ansicht von Adas Vater ein rückständiger Barbar.

Als sie die schwere Tür zum Schankraum aufdrückte, quoll Ada der vertraute Duft nach Bier, Bratfett und heißem Kachelofen entgegen. Obwohl der Sommer draußen nicht zu Ende gehen wollte, war die Gastwirtschaft schon auf gemütliches Herbstwetter eingestellt. Denn je mehr die Gäste schwitzten, desto mehr tranken sie. Ada hatte nichts dagegen einzuwenden. Sie liebte die Hitze.

Kaum hatten sie an einem Tisch Platz genommen, erschien eine überaus füllige Bedienung in einem schwarzen Dienstdirndl von beeindruckenden Ausmaßen. Sie lächelte Ada herzlich an und begrüßte ihren Vater mit einem schelmischen Nicken.

»Ja, da schau her, der König gibt sich die Ehre. Wie geht’s, wie steht’s?«

»Gut. Danke. Viel zu tun.«

»Ach ja, so ist des immer bei den Rentnern. Kaum haben sie nichts mehr zum Arbeiten, geht der Stress schon los.«

»Ganz genau«, pflichtete er ihr ohne die geringste Spur von Ironie bei.

»Machen wir das Gleiche wie immer?«

»Ja, wie immer. Oder, Ada?«

Sie nickte, woraufhin die Bedienung das Bestellblöckchen in das Lederhalfter an ihrer Hüfte gleiten ließ und auf die Bierzapfanlage zusteuerte. Fasziniert blickte Ada ihr hinterher. Sie konnte die Füße nicht sehen und hätte schwören können, die Frau bewege sich auf Schienen, so elegant und zielstrebig glitt sie durch den Raum.

»Starr nicht so, Ada«, wies ihr Vater sie in wohlkalkulierter Lautstärke zurecht.

Er war ein Meister der Dosierung seiner Stimme. Das musste sie ihm lassen. Dass er auch in vielen anderen Dingen ein Meister war, glaubte oft nur er selbst. Wie selbstverständlich nahm er zur Kenntnis, dass ihn die Leute nur König, anstatt Herr König nannten. Als Ada klein gewesen war, hatte sie deshalb geglaubt, dass sie eine echte Prinzessin sei. Verbissen hatte sie sich gegen die Kinder aus dem Dorf gewehrt, die ihre adelige Abstammung bezweifelten. Nur Josef, der Nachbarsjunge von gegenüber, hatte ihr geglaubt und sie gegen die anderen verteidigt. Aber eines Tages hatte Adas Mutter die beiden beim Spiel beobachtet und mitangehört, wie Ada Josef hierhin und dorthin schickte, ihn Spielzeug und Obstschnitzer holen ließ, immer mit der Begründung, sie würde ja eines Tages Königin werden und er wie sein Vater nur Maurer. Da hatte ihre Mutter sich vor Josef hingekniet und ihm mit allem Ernst der Welt erklärt: »Glaub nicht jeden Mist, den Ada dir erzählt. Sie ist keine Prinzessin. Nur ein ganz normales Mädchen.« Ada hatte sich schrecklich geschämt und lange Zeit nicht mehr mit ihm spielen wollen. Aber irgendwann hatte er gesagt, es sei ihm egal, ob sie eine echte Prinzessin sei oder nicht und von ihm aus könne sie gerne auch Maurerin werden. Von da an hatten sie wieder gemeinsam gespielt. Sie hatten als Waisenkinder in den Bäumen gelebt, als Piraten Dämme in den Nebenarmen der Peining gebaut und im Gebüsch ihr Räuberlager aufgeschlagen.

»Ada. Ada, was ist nur mit dir?« Ihr Vater holte sie aus ihren Gedanken. »Es ist mir ein Rätsel, wie du in der Arbeit zurechtkommst, wenn du immer so verträumt bist. Hast du mir überhaupt zugehört?«

»Ja, klar. Du hast schon wieder über die Nachbarn geschimpft.«

»Ich schimpfe gar nicht. Ich will dir einfach nur einen Überblick über die Situation verschaffen.«

»Okay. Das hast du die ganze Fahrt über gemacht. Du hast doch vorhin gesagt, dass du etwas Wichtiges mit mir zu besprechen hast. Also, was ist denn so wichtig? Bist du krank?«

»Nein.« Er drehte sich um, doch die Leute an den anderen Tischen schienen ihn nicht zu beachten.

Ada wusste, dass ihn das nervös machte, denn er war es gewohnt, immer die ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Berufskrankheit der Lehrer, dachte Ada. Er selbst hatte wenige Tage vor seiner Pensionierung zu ihr gesagt: »Weißt du, wovor ich mich fürchte? Davor, dass ich keine Macht mehr habe.« Sie hatte gelacht, doch schon bald war ihr bewusst geworden, wie ernst er es gemeint hatte. Natürlich hatte er Macht gehabt: erst über das Leben der Schüler, jedes Jahr wieder von Neuem. Und dann, seit er im Rektorat gewesen war, die Macht über die anderen Lehrer. Ada hatte sich bis dahin kaum mehr Gedanken über seinen Arbeitsalltag gemacht. Sie war vorangekommen: Schule, Uni, Beruf. Und er war in der vierjährigen Endlosschleife der Grundschule gefangen gewesen. Irgendwie deprimierend. Aber das hatte sie ihm nicht gesagt.

Solange sie klein gewesen war, hatte sie es genossen, vier Jahre lang mit ihm zusammen zur Schule fahren zu können. Sie hatte sich wie ein Star gefühlt, war das Kind des Königs gewesen. Sie wusste, dass kein Lehrer es wagen würde, sie ungerecht zu behandeln – zu ihren Ungunsten. Und dass kein Schüler ihr etwas zuleide tun würde, solange der König über seine Noten urteilte. So hatte sie die Grundschule in einer Blase aus Sicherheit und Leichtigkeit hinter sich gebracht, die bereits am zweiten Tag auf dem Gymnasium zerplatzt war. Ein Kind hatte sie angerempelt, ein anderes war auf ihre Brotzeitdose getreten. Und keiner hatte ihr geholfen. Keiner hatte gesagt: Lasst sie in Ruhe, sie ist doch die Tochter vom König! Nein, niemanden hatte es interessiert. Da hatte sie erkannt, wie klein sein Königreich gewesen war. Er aber wusste es bis heute nicht. Für ihn war er immer noch das Zentrum der Welt.

Das Bier kam und sie stießen an. Ada trank durstig das halbe Glas leer, ihr Vater nippte nur vorsichtig und wischte sich danach den Schaum aus seinem weißen Bart. Er hatte ihn erst heute Morgen frisch geschnitten.

»Gut, du bist nicht krank. Ein Glück!«, sagte Ada und fühlte sich gleich ein bisschen wohler. Ihr Vater wurde alt und es war nur eine Frage der Zeit, bis er gebrechlich und krank werden würde. Doch dieser Tag war nicht heute. Nicht heute. Mit einem Lächeln legte sie ihre Hand auf seine. »Was ist es dann?«

»Ich komme schon noch dazu. Lass mich dir doch erst mal in Ruhe ein paar Dinge erklären. Also, das Grundstück rechts neben uns …«

Es ging wieder los. Ada stellte ihren Blick in die Unendlichkeit und beobachtete, wie das Gesicht ihres Vaters immer weiter im Raum verschwand, obwohl es unbeweglich an der gleichen Stelle verharrte. Er redete unablässig von den Nachbarn, vom Grundstück rechts neben seinem, von dem Bauantrag, von den zu erwartenden Bauarbeiten. Vom Lärm, von den Baufahrzeugen, die die Straße versperren würden. Davon, dass sie sicherlich wegen der Bäume Ärger machen würden, obwohl doch jeder wusste, dass er seine Bäume nur fällte, wenn er es für richtig hielt. Und den Meister würde er unter keinen Umständen fällen. Dass die Nachbarn die schöne Natur gar nicht zu würdigen wüssten und die Ruhe zerstören würden. Wie dumm die Bauherren sein müssten, weil sie sicher einen nassen Keller bekommen würden, wenn sie unten am Hang neben dem Lauf der Peining bauen würden, und dass das Ganze sowieso nur genehmigt worden sei, weil die Dorfgrenze verschoben worden war. Und überhaupt: Es sei eine Schande, wie die Bauvorschriften und die geltungssüchtigen Lokalpolitiker sich in die Privatsphäre der Bürger einmischten. Politiker seien das Letzte, unfähig und korrupt, allesamt.

Noch ehe die Suppe kam, hatte der König bereits die gesamte politische Elite Deutschlands, Frankreichs und der USA als unfähig entlarvt, das System der Demokratie für gescheitert erklärt und ihm den baldigen Untergang prophezeit.

Ada hörte all dies und hörte es doch nicht. Es waren die immer gleichen Themen, die immer gleiche leichte Überheblichkeit gepaart mit wachsender Bitterkeit, die ihr Unbehagen bereitete. Früher hatte sie sich gerne mit ihm unterhalten, das heißt, sie hatte gerne seinen Vorträgen gelauscht, die sich über scheinbar jedes beliebige Thema erstrecken konnten. Im Studium hatte die Fassade erste Risse bekommen. Ada hatte ihren Vater immer wieder dabei ertappt, dass er Fehler machte. Er behauptete Dinge, von denen er offensichtlich keine Ahnung hatte, und drehte die Gewichtung der Fakten so, dass sie in seine Argumentation passte, oder er stellte die Datenbasis als Ganzes infrage. Wenn sie ihn auf die Fehler hinwies, wurde er entweder wütend oder herablassend. Niemals ließ er sich von seiner Meinung abbringen. Zu dieser Zeit hatte Ada viele Kämpfe mit ihm ausgefochten und keinen von ihnen gewonnen. Meist war sie irgendwann wutentbrannt nach Hause gefahren, hatte allein im Auto die Diskussion mit ihrem imaginären Gesprächspartner weitergeführt und ihm all die Argumente, Flüche und Beschimpfungen entgegengebrüllt, die ihr in der echten Auseinandersetzung nicht eingefallen oder nicht angemessen erschienen waren. Und meist hatte sie dann, kaum zu Hause, bei ihm angerufen und Frieden geschlossen, was sich wie eine weitere Niederlage angefühlt hatte.

Irgendwann hatte sie eingesehen, dass es keinen Sinn hatte. Sie konnte ihm bei jedem Satz widersprechen, oder es einfach sein lassen. Nichts würde sich für ihn ändern, sich selbst ersparte sie aber eine Menge Ärger. Der Preis war ihr Respekt für ihn. Sie konnte seinen ewigen Redeschwall nur ertragen, wenn sie ihn nicht mehr ernst nahm. Sie wusste nicht, ob er sich dessen bewusst war. Zumindest schien es ihn nicht zu stören. Also hielt sie sich raus. Nur manchmal versagte die Strategie und sie ließ sich doch wieder in eine dieser sinnlosen Diskussionen verwickeln.

Als sie ihr Schnitzel, die Pommes und den kleinen Beilagensalat bis zum letzten Tropfen Soße verspeist hatte, hatte er gerade mal das zweite Stück Fleisch auf der Gabel, die jedoch verwaist auf dem Teller lag, weil er beide Hände zum Argumentieren benötigte.

»Und dann verkaufen die im Rewe die Milch für unter einem Euro, stell dir das vor!«

»Dann kauf doch woanders«, erwiderte Ada schwach. Sie freute sich schon darauf, auf dem Sofa im Wohnzimmer ein Nickerchen zu machen.

»Nein, nein, ich bin ja nur der Kunde. Selbstverständlich kaufe ich da, wo es am billigsten ist. Das machen alle anderen ja auch so. Warum sollte ich für das gleiche Produkt mehr Geld zahlen?«

»Dann kauf bio. Dann hast du ein anderes Produkt.«

»Ach, Ada. Lass dich doch nicht für dumm verkaufen. Bio ist doch alles Betrug. Der Rewe soll die Milch zu anständigen Preisen von den Bauern kaufen. Sonst verlieren die ihre Existenzgrundlage. Und dann können sie den Preis ja teurer machen. Und dann kaufen es die Leute auch, weil sie keine Alternative haben.«

»Wenn du das Problem erkannt hast, dann handle doch entsprechend und mach da nicht mit. Es gibt auch Läden, in denen die Milch teurer ist.«

»Ja, aber das stecken ja die Verkäufer ein, diese Verbrecher. Nein, ich als Verbraucher habe von allen am wenigsten Geld, ich kaufe da, wo es am billigsten ist.«

Ada presste die Lippen aufeinander. Alles, was sie jetzt sagen wollte, würde nur zu Streit führen. Um sich abzulenken, ging sie in Gedanken die Einkaufsliste für ihre Wohnung durch. Sie brauchte noch Brot, Glasreiniger, Marmelade und … Milch!

»Warum sagst du eigentlich nie was?«

Die darauffolgende Stille riss sie aus ihren Gedanken.

»Was?«

»Du bist immer so stumm, hast du denn gar keine Meinung zu dem Ganzen?«

»Doch, aber du willst sie ja nicht hören.«

»Stimmt nicht. Ich rede ja nur, weil du nichts sagst. So ist das mit allen. Alle schweigen immer. Niemand hat was zu sagen, niemand hat eine Meinung. Und am Ende bin immer ich der, der alle unterhalten muss.«

»Papa, du musst niemanden unterhalten. Es ist auch überhaupt nicht schlimm, wenn eine Minute mal keiner von uns was sagt.«

»Aber dafür sind wir doch hier, um zu reden.«

»Ja, wenn wir uns was zu sagen haben, nicht, um soziale Geräusche zu machen.« Innerlich fluchte Ada. Sie hatte es schon wieder getan. Sie hatte die Gleichgültigkeit aufgegeben und ihm widersprochen. Jetzt würde alles noch länger dauern.

»Warum bist du auf einmal so giftig? Wir gehen zusammen essen, haben eine gute Zeit und dann kommt aus dem Nichts so eine saublöde Bemerkung. Das machen Frauen immer. Aus irgendeinem Grund müsst ihr dauernd sticheln. Immer das Haar in der Suppe finden.«

»Papa, ich stichel gar nicht. Im Gegenteil. Ich hatte echt eine mega anstrengende Woche und hätte jetzt am liebsten einfach nur meine Ruhe. Du warst derjenige, der unbedingt irgendwas Wichtiges mit mir besprechen wollte, und hier bin ich. Aber anstatt zum Punkt zu kommen, redest du nur wieder von den Nachbarn, von den Politikern und dem blöden Rewe. Das nervt.«

»Gut. Dann fahren wir jetzt nach Hause. Ich will das nicht in der Öffentlichkeit thematisieren.«

»Aber ich dachte, deswegen wären wir hier.«

»Nein, wir sind hier, um schön essen zu gehen, aber mit dir kann ich das mittlerweile ja wohl vergessen. Zahlen, bitte!«

Er konnte schlimmer schmollen als ein vierjähriges Kind. Und er war nachtragend. Wer es sich einmal so richtig mit ihm verscherzt hatte, konnte in diesem Leben nicht auf Rehabilitierung hoffen. Es gab in Peining einen Bauern, einen Friseur und die Mesnerin Kreutner, die ein solches Schicksal ereilt hatte. Mit ihnen hatte der König gebrochen und sie konnten von Glück sagen, dass er nicht die Macht besaß, sie hinrichten zu lassen. Beim Düngen seiner Wiese hatte der Bauer einmal versehentlich den Apfelbaum des Königs mit Odel bespritzt. Das war nicht das Problem gewesen, sondern seine Weigerung, für die Entschuldigung vom Traktor abzusteigen. Das hatte Adas Vater so rasend gemacht, dass er aus dem Männergesangsverein ausgetreten war, dessen Chorleiter der Bauer gewesen war. Der Friseur hatte den König stets zu unsanft gekämmt, was seine sensiblen Haarwurzeln nur schlecht vertragen hatten. Einmal im Monat war Adas Vater zum Haar- und Bartschneiden zu ihm gegangen und jedes Mal hatte ihn im Anschluss ein Haarwurzelkatarrh geplagt. Als er den Friseur endlich auf dessen Unzulänglichkeit hingewiesen hatte, hatte dieser das Ganze mit einem Schulterzucken abgetan und dem König eine unmännliche Überempfindlichkeit attestiert. Adas Vater war mit frisch eingeschäumtem Haar aufgestanden und hatte den Friseurladen seither nie wieder betreten. Er ließ sich die Haare nun bei einem Spezialisten in München schneiden, der zwar ein Vermögen verlangte, dafür aber die Haare mit einer Vorsicht kämmte, als hinge sein Leben davon ab. Was die Dame von der Kirche verbrochen hatte, war aus Adas Vater nicht herauszukriegen. Doch wenn er sie im Dorf sah, wechselte er sofort die Straßenseite.

2. Kapitel

Sie fuhren schweigend zurück. Ada kannte den Weg auswendig, hätte ihn blind selbst fahren können und doch starrte sie mit einer Inbrunst nach draußen, als glühe hinter den Wipfeln der prächtigste Sonnenuntergang und nicht nur eine nullachtfünfzehn Nachmittagssonne mit versprengten Wattewölkchen. Jetzt hatte sie ihre Ruhe, doch es war eine bedrückende Stille. Ihr Vater war wütend, das spürte sie, und in ihr wuchs immer stärker das Bedürfnis, sich zu entschuldigen. Einfach entschuldigen, da ist doch nichts dabei. Dann ist alles wieder gut, dachte die brave Tochter in ihr. Aber nein, sie war es satt, um der Harmonie willen einlenken zu müssen. Sie war es so satt.

Aus der Jackentasche kramte sie ihr Handy hervor und machte ein Video der vorüberjagenden Landschaft.

»Schau mal, da vorn«, sagte ihr Vater.

Sie schwenkte das Handy nach links. Neben der Fahrbahn grasten ein paar Rehe, die wie gleichgeschaltet den Kopf hoben, als das Auto an ihnen vorbeirauschte. Fünf oder sechs mochten es sein. Als Ada wieder nach vorn sah, stand auf der Straße das siebte.

»Ach du …«, zischte ihr Vater, bevor er das Lenkrad ruckartig zur Seite riss und die Welt ins Chaos stürzte.

Der Wagen schoss rechts über die Fahrbahn hinaus, tauchte in die Böschung ab und wurde vom nächsten Baum wie ein Kreisel um die eigene Achse gerissen. Die Wucht des Aufpralls war übermenschlich. Es schien Ada, als würde sich der Druck durch das Metall über den Sitz direkt in ihren Kopf wühlen. Die Gewalt, mit der sie in den Gurt geworfen und herumgeschleudert wurde, war so überwältigend, dass ihr Innerstes durch die Poren der Haut nach außen gepresst zu werden schien. Instinktiv spannte Ada alle Muskeln an, um nicht zerfetzt zu werden. Die Zeit dehnte sich auf schreckliche, unaufhaltsame Art und wurde gleichzeitig auf einen winzigen Punkt komprimiert, der nur in ihrem Bewusstsein existierte. In diesem unendlichen Stillstand durchflutete sie ein Gefühl, das sie nur aus den fiebrigsten Albträumen ihrer Kindheit kannte und das eine grässliche eisige Lähmung erzeugte, die ihren Atem und alle Lebenskraft aufsaugte. So fühlte sich das Grauen an. Sie wusste genau, was geschah. Wir haben einen Autounfall. Jetzt gerade. Ada dachte an Bäume, Äste, einen Wald aus hölzernen Speeren, die sie durchbohren würden. Und sie wusste, dass es jeden Augenblick vorbei sein konnte. Doch selbst den größten Schrecken wollte sie haben, wollte ihn greifen, jede Sekunde ihres Lebens so lange wie möglich auskosten – sich das schlagartige Ende vorzustellen, war unerträglich. Sie wollte leben. Leben, sonst nichts. Es war ihr egal, was mit ihrem Vater geschah, solange sie nur leben durfte.

»Bitte«, flehte sie, »Ich will noch nicht sterben. Lass mich leben. Nur mich, nur mich, nur mich.«

Dann krachte der Wagen in den nächsten Stamm und löschte alles aus.

Sie musste das Bewusstsein verloren haben, denn als sie wagte, die Augen wieder zu öffnen, stand das Auto still. Vor ihr klickte der Warnblinker, von links hörte sie gurgelndes Keuchen. Ihr Vater hing über dem Lenkrad, den blutverschmierten Airbag wie ein zerwühltes Laken unter sich. Mit jedem Atemzug sprudelten Speichel und Blut aus den Öffnungen seines Gesichts, das sie hinter dem Gewirr seiner Haare nicht erkennen konnte. Feine rote Bläschen zerplatzten dazwischen. Ein Bild aus der Hölle.

Bitte hör auf, dachte Ada. Sie konnte den Anblick des blutigen Schaums nicht ertragen. Bitte hör auf zu atmen, dann ist alles vorbei.

Doch stattdessen klopfte jemand an ihr Fenster. Reflexartig nickte sie: jaja, alles okay. Ich lebe noch.

Nahtlos ergriff die Zivilisation von ihr Besitz, denn es bereitete ihr Unbehagen, dass sich die Fremden um sie herum unnötig Sorgen machen würden, wo doch jetzt alles in Ordnung schien – sie war doch mit dem Leben davongekommen!

Ada blickte an sich herab. Weißer Glitzerstaub aus Glas bedeckte ihre Kleidung, ihre Hände, sicher auch die Haare. Ein dumpfer Körperschmerz pochte im Hintergrund, als würde er sich darauf vorbereiten, bald ihr ganzes Bewusstsein einzunehmen. An ihrem linken Knie sah sie einen blutigen Riss. Dort hatte sich ein Teil der Mittelkonsole ins Fleisch versenkt. Sie wagte kaum, das Bein zu bewegen, weil sie nicht wusste, wie tief die Wunde war. Nicht den Schmerz fürchtete sie, sondern den Anblick. Wenn sie jetzt aufstand, war es durchaus möglich, dass sie ihr Bein unter dem immer tiefer klaffenden Spalt im Auto zurücklassen würde. Doch die Verletzung stellte sich als kleiner heraus, als befürchtet, das Bein war nicht abgetrennt, auch die anderen Körperteile waren noch da, wo sie hingehörten.

Mit zittrigen Fingern schnallte sie sich ab, während von draußen immer mehr Leute versuchten, mit bloßen Händen die Beifahrertür herauszureißen. Plötzlich kamen Ada Bilder von Fahrzeugexplosionen in den Sinn. Was, wenn das Auto Feuer fing, was, wenn sie hier bei lebendigem Leib verbrennen würde? Von Panik erfasst zwängte sie sich durch die geborstene Seitenscheibe, wo helfende Hände sie ergriffen, damit sie nicht zu Boden fiel. Jemand stützte sie beim Gehen und setzte sie an den Straßenrand. Viele besorgte Gesichter. Ein paar Arme um ihre Schulter. Im Hintergrund hörte sie die Schreie anderer Menschen, als sie versuchten, ihren Vater zwischen Fahrersitz und Lenkrad herauszuwühlen.

Erst jetzt erkannte sie in dem verformten Wrack den Wagen, der vollkommen in sich zusammengeknüllt und unförmig, wie weggeworfenes Bonbonpapier, halb um den Stamm einer Tanne gefaltet war. Darunter ragten die Äste kleinerer umgeknickter Bäume hervor. Ein paar Meter weiter rechts krümmte sich ein Baum, als hätte ein Raubtier mit seiner Pranke eine tiefe Wunde in den Stamm gerissen. Von dem Mann fehlte jede Spur. Nein, korrigierte Ada ihre Gedanken. Es war kein Mann, der auf der Straße gestanden hatte. Es war ein Reh.

Wie geisterhaftes Hintergrundrauschen nahm sie die Menschen wahr, die sich um den Unfallort versammelt hatten. Gesichter von Leuten, die selbst nicht wussten, ob sie mehr Gaffer oder mehr Helfer waren: freundliche Augen, lächelnde Münder, aber auch Wangen, die vor Aufregung rot leuchteten. Ada registrierte, dass einige versuchten, mit ihr zu sprechen. Sie bewegten ihre Lippen und sahen auch sonst sehr nett und hilfsbereit aus, doch aus irgendeinem Grund konnte sie ihre Worte nicht verstehen. Vielleicht stehe ich unter Schock, dachte sie, und wunderte sich gleichzeitig, wie distanziert und unbeteiligt sich dieser Gedanke anfühlte.

Ohne zu wissen, wie und warum saß sie plötzlich in einem Notarztwagen. War sie wieder ohnmächtig geworden? Zwei Sanitäter untersuchten sie, sprachen zu ihr mit ruhigen, wohlwollenden Stimmen, doch die Worte drangen nicht zu ihr durch. Nur »gut« immer wieder »gut«, das sagten sie. Ihr Knie wurde versorgt, und sie bekam eine Infusion, die augenblicklich schwere Müdigkeit über sie breitete. Doch die breiige Dunkelheit, die sie umhüllte, war nicht dicht genug, um das Martinshorn auszublenden, das direkt neben ihr aufheulte und sich mit knirschenden Reifen und lautem Motorenkeuchen entfernte. Das Reh werden sie nicht so abtransportieren, dachte Ada. Dann war es ihr Vater. Er lebt noch!, war der letzte Einfall, bevor sie endlich nichts mehr dachte.

3. Kapitel

Als Ada erwachte, wusste sie sofort, was geschehen war und wo sie sich befand. Sie lag in einem Einzelzimmer eines Krankenhauses in einem frisch bezogenen hellblauen Bett. Sie trug eines jener Patientenhemden, die oben wie ein Lätzchen zugebunden waren und den Rücken frei ließen, sodass man sich nachts den Tod holte, wenn man die Decke von sich gestrampelt hatte. Erleichtert stellte sie fest, dass sie noch ihre eigene Unterwäsche trug. Das Zimmer war winzig, bot gerade genug Platz für einen Stuhl, der zwischen Bett und Schrank gezwängt worden war, und bei Ikea sicher in der Kategorie Singlewohnung oder Raumwunder bestellt werden konnte. Das Fenster zu ihrer Linken zeigte den grauen Himmel und das mit Kies gedeckte Vordach des Haupteingangs, neben dem sich die Raucher tummelten, die trotz oder wegen ihres Krankenhausaufenthalts nicht aufhören konnten. Ganz hinten, am Beginn der Auffahrt, sah Ada einen Bettler, der dort sein Lager aufgeschlagen hatte.

Sie wandte den Blick ab. Auf dem aufklappbaren Tischchen neben ihr wartete ein Tablett: zwei Scheiben Graubrot, ein zehn-Gramm-Würfel Butter, zwei Räder Fleischwurst, ein Prisma Käse, ein Becher Himbeerjoghurt. Ada war im Standard der deutschen Gesundheitsversorgung angekommen. Obwohl sie keinen Hunger verspürte, löffelte sie den Joghurt. Es war kein Genuss, aber Essen beruhigte sie immer, egal ob es schmeckte oder nicht. Sie hätte gerne mit einem Arzt gesprochen und gefragt, was mit ihrem Vater los war. Doch sie wagte es nicht, die Notruftaste zu betätigen. Immerhin war Nichtwissen kein Notfall und solange sie nicht nachfragte, war er auch nicht tot. Schrödingers Vater, dachte sie, und fand, dass der Joghurt plötzlich bitter schmeckte. Mit zittrigen Fingern drückte sie dann doch auf den orangenen Knopf mit der aufgedruckten Krankenschwester.

Bis sich endlich die Tür öffnete, hatte Ada schon das erste Käsebrot verspeist.

»Guten Morgen, Frau König. Wie ich sehe, geht es Ihnen schon viel besser. Mein Name ist Dr. Kern«, sagte die Frau im weißen Kittel.

»Guten Morgen. Wo bin ich, was ist mit meinem Vater? Wir hatten einen Unfall, er wurde noch vor mir abtransportiert.«

Dr. Kern nickte bei jedem Wort. Ihr Mund war zu einem dünnen Strich zusammengepresst. »Sie hatten gestern einen Verkehrsunfall. Jetzt sind wir im Krankenhaus Rechts der Isar. Ihr Vater ist auch hier. Er hat leider schwere Verletzungen erlitten und befindet sich auf der neurologischen Intensivstation. Falls Sie möchten, können Sie ihn besuchen.«

Die unendliche Last eines möglichen Universums, in dem Adas Vater bereits tot war, wich von ihr.

»Ja, das würde ich sehr gerne. Wo sind denn meine Klamotten?«

»Die sind in einer Plastiktüte im Schrank, aber ich würde Ihnen empfehlen, sie zuerst zu waschen. Sie sind voller … Blut und Scherben. Am besten werfen Sie sie weg. Wir dürfen das nicht, wir müssen alle persönlichen Gegenstände aufbewahren.«

»Haben Sie dann was anderes für mich zum Anziehen?«

»Ich werde mal bei den Schwestern nachfragen, die haben sicher was. Als Erstes möchte ich aber überprüfen, wie es Ihnen geht, in Ordnung?«

Ada nickte und ließ sich von Dr. Kern den Blutdruck messen, Brust und Rücken abhorchen und mit der Taschenlampe in die Augen leuchten. Auch den Verband, der um Adas linkes Knie geschlungen war, kontrollierte sie. Erst als sie nach Schmerzen fragte, merkte Ada das Ziehen, das alle Schichten ihres Körpers durchdrang, als habe sie einen gewaltigen inneren Muskelkater.

»Sie haben ein Schleudertrauma. Das geht vorbei. Auch Ihr Bein sieht schlimmer aus, als es ist. Es wurde genäht, die Röntgenbilder sind unauffällig. Ihr Blutdruck ist vollkommen in Ordnung, die Lunge frei. Falls Sie laufen können, dürfen Sie aufstehen. Gegen die Schmerzen gebe ich Ihnen ein paar Tabletten. Wir sehen uns heute Abend noch einmal zur Visite, aber ich denke, dass Sie morgen früh nach Hause können. Haben Sie noch Fragen?«

»Wie es meinem Vater geht, das …«

»Das können Sie am besten die Kollegen vor Ort fragen.«

»Gut, danke.«

»Dann probieren wir am besten gleich mal, aufzustehen, in Ordnung?«

»Echt?«, fragte Ada langsam.

Sie hatte damit gerechnet, als Vorsichtsmaßnahme das Bett hüten zu müssen, und hatte den Verdacht, dass Dr. Kern das Ausmaß ihrer Verletzungen unterschätzte. Doch die schob den Tisch zur Seite und bot ihr den Unterarm an, wie ein Gentleman aus längt vergangenen Zeiten. Ada schlug die Decke zurück und schob vorsichtig ihre Beine über die Bettkante. Ein dunkler Ball aus Schmerz meldete sich in ihrem linken Knie.

»Das tut schon ganz schön weh«, sagte sie.

Dr. Kern nickte verständnisvoll. »Tut es nur weh oder tut es so weh, dass Sie sich nicht bewegen können?«

Zögernd ließ Ada ihre Füße auf den kalten Linoleumboden gleiten. Der Schmerz blieb gleich, kein Stechen, kein Aufheulen, nur der dumpfe Hinweis ihres Körpers, dass etwas grundsätzlich nicht in Ordnung war. Vorsichtig verlagerte Ada ihr Gewicht auf die Füße. Ja, es klappte. Am Arm der Ärztin humpelte sie die paar Meter zum Klo.

»Ich glaube, den Rest schaffe ich alleine«, brachte sie heraus und fühlte sich sehr tapfer.

»In Ordnung. Dann sage ich den Schwestern Bescheid wegen Ihrer Kleidung und auch wegen Krücken.«

»Danke.«

»Keine Ursache.« Damit verschwand die Ärztin aus dem Zimmer und Ada konnte sich im Bad erleichtern.

Zurück im Bett freute sie sich, das Abenteuer überstanden zu haben. Ihr Knie pochte, während sich in ihrem Nacken und dem Rücken der Muskelkater weiter ausbreitete. Es schien, als habe ihr Körper nur darauf gewartet, dass sie stark genug war, um die Schmerzen zu ertragen, die er ihr bislang vorenthalten hatte. Doch sie erkannte, wie gut es ihr eigentlich ging. Der Anblick des völlig zerstörten Autos blitzte durch ihre Gedanken. Die roten Blasen auf dem Airbag. Ada zitterte und zog die Bettdecke fester um sich.

Ein Krankenpfleger in fliederfarbener Uniform kam herein, lehnte zwei Krücken an ihren Besucherstuhl und überreichte ihr ein in Plastik eingeschweißtes Päckchen, in dem sich offenbar eine identische Pflegeruniform befand.

»Die müssen Sie aber bitte wieder zurückbringen«, sagte er.

»Natürlich«, erwiderte Ada dankbar.

Der Pfleger lächelte und verschwand aus dem Zimmer.

Sie riss die Plastikverpackung auf und streifte sich das T-Shirt über. Die Hose bereitete ihr Schwierigkeiten, da sie ihr verletzten Knie nicht anwinkeln und den schmerzenden Rücken kaum vorbeugen konnte, doch sie wollte nicht schon wieder um Hilfe bitten. Als sie es endlich geschafft hatte, sich hineinzuwinden und auf der Bettkante sitzend versuchte, das Pochen in ihrem Körper wegzuatmen, klopfte es erneut an der Tür.

Zwei uniformierte Polizisten – ein Mann und eine Frau – traten ein.

Sie waren jung, sicherlich jünger als Ada und zeigten offene, freundliche Gesichter. Es war nichts bedrohlich an ihnen, wenn man von den schusssicheren Westen und den obligatorischen Schusswaffen am Gürtel absah, und doch war Ada, als zöge sich ihr Innerstes zu einem Eisblock zusammen. Nichts wünschte sie sich mehr, als dass die Polizisten sie allein ließen und ihr keine Fragen stellten!

»Grüß Gott, ich bin Polizeimeisterin Wagner, das ist mein Kollege Polizeioberwachtmeister Ertl.«

»Hallo …«, brachte Ada schwach heraus.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte die Polizistin freundlich und reichte Ada zur Begrüßung die Hand. In der Linken trug sie eine schwarzlederne Aktenmappe.

»Ganz gut, danke.«

»Wir konnten am Unfallort zwei Ausweise sichern und so Ihre Personalien feststellen. Sie sind Ada König, richtig?« Die Polizeimeisterin holte aus der Mappe eine Plastiktüte mit rotem Reißverschluss, in der Ada ihren Personalausweis erkannte.

»Ja.«

»Und der Fahrer des Wagens war Ihr Vater, Frank König.«

»Genau.«

»Wir sind hier, um Ihnen ein paar Fragen bezüglich des gestrigen Autounfalls zu stellen. Ist das in Ordnung, oder möchten Sie die Vernehmung lieber zu einem anderen Zeitpunkt durchführen?«

Ada zögerte. Am liebsten würde sie überhaupt nicht über den Unfall sprechen, aber jetzt waren die Polizisten schon einmal hier und da es sicherlich nicht angenehmer wurde, konnte sie die Sache auch gleich hinter sich bringen. »Ist schon in Ordnung. Was wollen Sie denn wissen?«

»Falls Sie nichts dagegen haben, würden wir die Befragung mit der Stenorette aufzeichnen«, sagte der Polizist Ertl, und holte ein schmales, graues elektronisches Gerät aus seiner Jackentasche, das verdächtig nach einem Diktiergerät aus dem letzten Jahrtausend aussah.

»Na klar, kein Problem.«

»Gut«, sagte Ertl und drückte auf einen Knopf. »Vernehmung von Ada König am dritten September im Klinikum Rechts der Isar. Gestern um fünfzehn Uhr zwanzig wurden Sie mit dem Rettungswagen hierher gebracht. Laut Aussage der Rettungssanitäter waren Sie an einem Verkehrsunfall beteiligt. Können Sie uns bitte den Unfallhergang schildern?«

»Ich war mit meinem Vater essen. Auf dem Nachhauseweg stand plötzlich ein …« Sie stockte. Was war auf der Straße gewesen?

Ihr war, als würden die Bilder in ihrem Kopf an dieser Stelle flimmern, wie Luft über einer heißen Straße. Ein Teil ihrer Erinnerung wusste, dass es sich um ein Reh gehandelt hatte. Das siebte Reh, ein rotbraunes Tier mit aufgerichteten Ohren und goldenen Augen. Ein anderer Teil war sich sicher, etwas anderes gesehen zu haben. Aber was? Allein schon die Vorstellung jagte ihr erneut Eisschauer über den Rücken. Was war hinter den flimmernden Gedanken? Stand da ein Mann? Was für ein Mann? Ihr Atem ging schneller, Übelkeit und Hitze stiegen in ihrem Rachen auf. Was war nur los mit ihr?

»Ein Reh!«, platzte sie heraus. »Ein Reh stand auf der Fahrbahn. Da hat mein Vater das Lenkrad verrissen und wir sind in den Graben gefahren.« Das hörte sich plausibel an.

»War es ein Reh oder ein Rehbock?«, fragte Polizeimeisterin Wagner.

»Ein Reh. Es hatte kein Geweih.«

»Und das ist auf die Straße gesprungen.«

»Es stand auf der Straße.« Ganz deutlich konnte sie sich das Reh ausmalen. Aber es war ein erfundenes Reh, eines, das wie ein Flicken einen Riss im Bild überdeckte.

»Es stand die ganze Zeit auf der Fahrbahn?«

»Ja, nein, was weiß ich … Ich habe nicht gesehen, wie es auf die Straße gesprungen ist. Es war einfach plötzlich da.«

»Waren noch andere Rehe in der Nähe zu sehen?«

»Ja, auf der linken Seite, also auf der Seite meines Vaters.«

»Kann es sein, dass Ihr Vater sich durch die Rehe neben der Fahrbahn ablenken ließ?«

»Keine Ahnung … wir sind gefahren, da war ein Reh und mein Vater hat zur Seite gelenkt. Das ging alles so schnell.«

»Befanden sich außer Ihnen und Ihrem Vater noch andere Personen im Fahrzeug?«

»Nein.«

»Waren noch andere Verkehrsteilnehmer an den Unfall beteiligt?«

Ein Mann. Irgendwie war da noch ein Mann. »Nur das Reh.«

»Sie müssten dann noch eine Wildunfallbescheinigung ausfüllen. Das ist wichtig für Ihre Versicherung«, sagte Polizeioberwachtmeister Ertl hilfsbereit. »Wir werden den zuständigen Jagdpächter informieren.«

»Warum?«

»Wir haben am Unfallort kein totes Tier entdeckt. Es könnte verletzt sein und sich verstecken.«

»Aber wir haben das blöde Vieh doch gar nicht berührt!«

Etwas in der Jackentasche der Polizistin piepste. Sie gab ihrem Kollegen mit einem Handzeichen zu verstehen, die Aufnahme zu pausieren, und holte dann ein Funkgerät hervor.

»Ja bitte?« Sie lauschte hinein, nickte und verzog dann das Gesicht. »Ja, verstanden. Wir kommen gleich.« Dann zu Ada gewandt. »Tut mir leid, wir müssen sofort los. Ein Notfall. Wir werden die Vernehmung zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen. Können Sie zu uns auf die Wache …« Sie ließ den Satz unbeendet, als ihr Blick auf Adas dick verbundenes Knie fiel. »Wissen Sie was? Wir kommen noch mal vorbei. Das ist, denke ich, einfacher. Am besten, Sie geben uns eine Telefonnummer, unter der wir Sie erreichen können.« Ada sprach die Nummer noch auf das Diktiergerät und schon waren die beiden verschwunden.

Als die Tür ins Schloss fiel, ließ Ada die Atemluft zischend entweichen. Seit der Uni-Abschlussprüfung hatte sie keine solche Erleichterung mehr verspürt, dabei hatte sie den Polizisten doch alles gesagt, was sie wusste, alles, was wirklich passiert war. Und trotzdem fühlte es sich irgendwie falsch an, unvollständig. Die Sekunden zwischen dem Augenblick, als noch alles normal gewesen war, und dem Aufprall dehnten sich ins Unendliche. Die Erinnerung an ihren eigenen Schreck jagte jedes Mal neue Schübe Adrenalin durch die Glieder und Schweiß auf ihre Haut. Es war unerträglich und gleichzeitig so intensiv und unmittelbar, dass sie es immer und immer wieder nachfühlen wollte. So wie man eine schmerzende Wunde immer wieder berührte, um sich zu vergewissern, dass sie noch da war. Und dann ihre Gedanken. Dieser eine Gedanke, der in ihrem Kopf brannte wie ein unsichtbarer Glassplitter im Fleisch.

Sie hatte um ihr Leben gefleht. Nur um ihr eigenes, nicht um das ihres Vaters. Aber was waren schon Gedanken, die man in Todesangst hatte? Dafür brauchte sie sich nicht zu schämen. Doch sobald sie meinte, der Glassplitter wäre verschwunden und die Aufmerksamkeit auf etwas anders richtete, meldete er sich wieder scharf, und gnadenlos. Sie hatte nur an sich gedacht. Das Leben ihres Vaters war ihr in diesem einen Augenblick völlig gleichgültig gewesen. Es half nichts, es zu leugnen. Sie konnte ihre eigenen Gedanken nicht ungeschehen machen. Aber es sind nur Gedanken!

»Ich hab doch gar nichts gemacht«, sagte sie laut zu sich selbst, doch das Geräusch ihrer eigenen Stimme im leeren Raum verunsicherte sie mehr, als dass es sie beruhigte. »Papa ist gefahren. Er hat nicht aufgepasst. Er hat das Steuer herumgerissen. Er war wie immer nicht angeschnallt. Ich kann doch nichts dafür, dass mir kaum was passiert ist.«

Die Stille gab keine Antwort. Ada begann zu schluchzen, vergrub das Gesicht in den Händen. Eine Welle Schrecken, Angst und Trauer rollte über sie hinweg und sie ließ sich ganz davon erfassen, sich mittragen und durchdringen. Sie ließ alles aus sich herauslaufen, weinte so lange, bis keine Tränen mehr da waren und eine hohle Nüchternheit blieb, die erst nach und nach wieder mit Gefühlen aufgefüllt werden würde.

Schließlich kämpfte sie sich aus dem Bett, hangelte sich am Stuhl entlang zu den Krücken, um sich im Bad die Nase putzen. Im Spiegel sah sie ihr jämmerliches, verheultes Gesicht. Wie so oft schnitt sie sich selbst Grimassen. Es hatte keinen Zweck. Das leere Gefühl blieb.

Sie zog das Hemd aus, wusch sich Gesicht und Oberkörper mit kaltem Wasser ab und putzte sich die Zähne so lange, bis sie das Brennen der scharfen Zahnpasta nicht mehr aushielt. Dann gab es nichts mehr für sie zu tun und sie machte sich auf den Weg zu ihrem Vater.

4. Kapitel

Der Wartebereich der neurologischen Intensivstation befand sich im Zwischengeschoss direkt vor zwei großen Treppenaufgängen, über die kaum Besucher oder Patienten kamen, dafür eine Menge Ärzte und Ärztinnen, Klinikpersonal und Reinigungskräfte. Die meisten beachteten Ada nicht, doch wer zufällig ihren Blick streifte, runzelte kurz die Stirn oder hob verwundert die Augenbrauen, als fragte er sich, was eine Krankenschwester auf Krücken hier zu suchen hatte.

Ada klingelte an der zweiflügligen Milchglastür und wartete auf einen Summton. Doch stattdessen öffnete sich die Tür einen Spalt breit und eine dunkelhaarige Frau mit müden Augen lugte heraus.

»Ja bitte?«

»Ich bin Ada König und möchte zu meinem Vater, Frank König. Er wurde gestern hier eingeliefert. Wir hatten einen Autounfall.«

Der Blick der Krankenschwester glitt an Adas verheultem Gesicht hinab zur lila Uniform, ihren Krücken und wieder zurück zu den Augen. In einer Sekunde hatte sie Adas Situation erfasst und lächelte sie erschöpft, aber ehrlich an.

»Natürlich, Frau König. Kommen Sie rein.«

Sie hielt die Tür auf, damit Ada auf ihren Krücken hineinhumpeln konnte. Dann seufzte sie, als hätte sie gerade eine schwere Aufgabe hinter sich gebracht, und marschierte den Gang entlang. Ada versuchte, mit den forschen Schritten mitzuhalten, doch sie kam nur langsam hinterher. Ihr Knie brannte und ihre Hände verkrampften sich. Die empfindliche Haut zwischen Daumen und Zeigefinger war von der ungewohnten Belastung durch die Krücken schon ganz wund. Endlich kam sie am Ende des Gangs an, an dem die Krankenschwester wartete und in die letzte offene Tür wies. Unsicher blieb Ada neben ihr stehen.

»Waren Sie wirklich mit im Fahrzeug?«, fragte die Krankenschwester.

Ada atmete schwer, wie nach einem Sprint. Das gab ihr Zeit, auf das Namensschild der Krankenschwester zu blicken, während sie nickte. Mirovic.

»Ja, aber ich war angeschnallt. Mein Vater schnallt sich nie an.«

»Oh, das erklärt einiges«, sagte Frau Mirovic, strich sich verlegen über Stirn und Wange und fügte dann mit einem Nicken in Richtung der Krücken hinzu: »Sie haben Glück gehabt. Ist das alles?«

»Ja, sonst ist mir nichts passiert. Ich habe noch ein Schleudertrauma, aber …« Ada schluckte, angesichts der Frage, die sie als Nächstes stellen musste. »Wie geht es meinem Vater?«

Sekunden verstrichen, bevor Frau Mirovic antwortete. Adas Finger schlangen sich fester um das harte Plastik der Krücken. Im Grunde war die Frage absurd. Sie standen im Gang der neurologischen Intensivstation.

»Ich kann gleich den diensthabenden Arzt rufen, damit er Ihnen …«, begann die Krankenschwester, doch Ada unterbrach sie mit gepresster Stimme:

»Können Sie mir es nicht sofort sagen? Bitte.« Sie konnte sich unmöglich noch länger an die Hoffnung krallen und dann enttäuscht werden. Lieber gleich die schlimmste aller Nachrichten.

Frau Mirovic verschränkte die Arme. »Ihr Vater, Herr König, hat mehrere sehr schwere Verletzungen erlitten, die durchaus typisch für einen Unfall ohne Sicherheitsgurt sind. Durch die Wucht des Aufpralls wird der Fahrer nach vorne auf das Lenkrad geschleudert, dabei knickt der Kopf nach hinten ab, das Gesicht schlägt mit der Stirn und dann der Nase gegen die Windschutzscheibe. Wenn der Körper wieder zurückfällt, prallt der Hinterkopf nicht selten an das seitliche Fenster oder die B-Säule des Autos. All das scheint ihrem Vater passiert zu sein. Ich arbeite viel in der Notaufnahme … diese Kombination ist typisch.«

»Aber der Airbag …?«

»Der ist aufgegangen, ja, aber die Verletzungen, die Ihr Vater erlitten hat, sind dennoch – es tut mir leid, wenn ich es nicht anders sagen kann: drastisch. Im CT wurden Einblutungen in den Kopf festgestellt. Im Augenblick ist das Gehirn aber noch zu geschwollen, um sagen zu können, wie groß die Verletzungen insgesamt sind. Wir müssen abwarten, und sehen, wie es sich entwickelt.«

»Kann ich zu ihm?«

»Natürlich.«

Frau Mirovic löste sich aus ihrer Erstarrung und führte Ada in das Zimmer, in dem insgesamt vier Patienten hinter teilweise geschlossenen Vorhängen lagen. Die Krankenschwester blieb an der rechten hinteren Parzelle vor dem Fenster stehen. Dort, in einem Bett, das mehr einem Industrieroboter als einem Möbelstück ähnelte, lag unter der weißen Decke ein Körper, dessen Innerstes durch zahlreiche Schläuche mit der Außenwelt verbunden war. Nirgends konnte Ada Haut sehen. Die Hände steckten in dicken Bandagen und auch das Gesicht war bis auf die Nasenspitze und den Mund vollkommen in einem weißen Mullkokon verschwunden. Eine Magensonde mit kaffeebrauner Flüssigkeit führte in eines der Nasenlöcher. Aus dem Mund ragte ein halbtransparenter Schlauch, durch den von der Beatmungsmaschine Luft in die Lungen ihres Vaters gepumpt wurde. In dem dunklen Loch, das einst sein Mund gewesen war, lag träge eine rosa Zunge, umrahmt nur von ein paar weißen Stümpfen. Die restlichen Zähne waren verschwunden. Im rechten Mundwinkel glitzerte halb geronnenes Blut. Auch an anderen Stellen des Kopfes traten frische rote Flecken durch den Verband.

Adas Atem beschleunigte sich. Schweiß sammelte sich unter ihren Achseln. Ein harter, dumpfer Schmerz stieß von ihren Handflächen nach oben zu den Unterarmen, bis sie bemerkte, dass sich ihre Finger um die Krücken krampften. Mit aller Kraft stieß sie die Gehhilfen von sich, die daraufhin mit ohrenbetäubendem Krach auf den Boden polterten. Augenblicklich begann einer der Apparate über dem Nachbarbett zu piepen.

»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Mirovic und hielt Ada an beiden Oberarmen, als befürchte sie, sie könne fallen.

»Danke, ich … das hatte ich nicht …«

»Schon gut. Setzten Sie sich erst mal.« Sanft, aber bestimmt, drückte die Krankenschwester Ada auf einen Stuhl neben dem Bett. Dann hob sie die Krücken auf und reichte sie ihr. »Atmen Sie durch. Es tut mir leid, aber ich muss mich um die anderen Patienten kümmern. Kommen Sie klar?«

»Ja, natürlich …«

»Soll ich einem der Ärzte Bescheid sagen?«

»Das wäre sehr nett. Danke.«

»Gut.«

Damit schob sich Frau Mirovic an ihr vorbei, drückte auf dem Weg nach draußen noch ein paar Knöpfe am Nachbarbett, sodass der Alarm verstummte, und verschwand dann aus dem Zimmer.

Ada starrte auf die Mumie, die ihr Vater sein sollte. Sie hatte Schlimmes erwartet, aber doch nicht so schlimm. Sie hatte gehofft, ihn sehen, ihn erkennen zu können. So war es nur ein Stück Fleisch, ein lebloser Körper, der von den Maschinen am Leben erhalten wurde.

Sie hätte ihn gerne umarmt oder seine Hand berührt, doch sie wagte nicht, die weißen Verbände anzufassen. Vorsichtig rückte sie mit dem Stuhl näher an das Kopfende heran.

»Hallo, Papa«, sagte sie leise. »Kannst du mich hören?«

Der König zeigte nicht die geringste Reaktion. Ada streckte ihre Hand nach seiner aus und zog sie dann auf halbem Weg wieder zurück. »Papa, mir geht es gut. Mir ist nichts passiert.«

Ihr war, als würde sich sein Puls, den der Monitor aufzeichnete, mit einem Mal beschleunigen, doch dann kehrte die Anzeige zu ihren konstanten 63 Schlägen zurück. Obwohl überall Maschinen klickten, surrten und piepten, war es sonderbar still – es war die Abwesenheit von menschlichen Geräuschen. Überaus deutlich nahm Ada den fremden Geruch ihrer Kleidung nach Krankenhauswaschmittel und parfumfreier Seife wahr.