Koordinationstraining für Senioren - Hans J. Schaller - E-Book

Koordinationstraining für Senioren E-Book

Hans J. Schaller

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Beschreibung

Bewegungs- und Sportprogramme für das fortgeschrittene Lebensalter tragen häufig der Notwendigkeit einer Förderung der Bewegungskoordination nicht hinreichend Rechnung. Das vorliegende Buch zeigt nach einer theoretischen Einführung, wie durch geeignete Übungen und Methoden die koordinativen Fähigkeiten älterer Menschen erhalten und verbessert werden können. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Diagnostik koordinativer Fähigkeiten. Die Schulung der koordinativen Fähigkeiten verringert u. a. auch das Sturzrisiko und trägt insbesondere zum Erhalt der Selbstständigkeit und somit zu einer gesteigerten Lebensqualität im höheren Alter bei. "Koordinationstraining" bietet nicht nur eine umfassende Übungssammlung für Übungsleiter und Trainer im Seniorensport, es richtet sich ebenso direkt an alle aktiven Seniorinnen und Senioren.

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Seitenzahl: 140

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Hans-Jürgen Schaller / Panja Wernz

Koordinationstraining für Senioren

Besser orientieren - Schneller reagieren - Sicherer stehen und gehen

Meyer & Meyer Fachverlag & Buchhandel GmbH

Inhaltsübersicht

1 Bewegungskoordination1.1 Begriffliches1.2 Die gut koordinierte Bewegung2 Koordinative Fähigkeiten3 Zur Bedeutung der koordinativen Fähigkeiten im höheren Erwachsenenalter3.1 Zur Bedeutung koordinativer Fähigkeiten bei sportlicher Betätigung3.2 Zur Bedeutung der koordinativen Fähigkeiten im Alltag4 Zur Entwicklung der koordinativen Fähigkeiten im höheren Erwachsenenalter5 Erhaltung und Förderung der koordinativen Fähigkeit5.1 Die Rolle der Bewegungserfahrung5.2 Zur Gestaltung von Übungsprogrammen5.2.1 Geeignete Inhalte5.2.2 Geeignete Methoden5.3 Zur Diagnostik koordinativer Fähigkeiten6 Gleichgewichtsfähigkeit6.1 Definition6.2 Biologische Grundlagen6.3 Die Bedeutung der Gleichgewichtsfähigkeit6.3.1 Bedeutung im Sport6.3.2 Bedeutung im Alltag6.4 Allgemeine Prinzipien zur Verbesserung der Gleichgewichtsfähigkeit6.5 Praktische Übungen zur Förderung der Gleichgewichtsfähigkeit6.5.1 Förderung der statischen Gleichgewichtsfähigkeit6.5.2 Förderung der dynamischen Gleichgewichtsfähigkeit6.5.3 Förderung der Objektgleichgewichtsfähigkeit6.6 Diagnostik der Gleichgewichtsfähigkeit6.6.1 „Einbeiniges Schwebestehen“6.6.2 „Modifizierter Rombergtest“6.6.4 „Zonengehen“6.6.5 „Ballbalancieren mit der Hand“6.6.6 „Stabbalanciertest“7 Antizipationsfähigkeit7.1 Definition7.2 Biologische Grundlagen7.3 Die Bedeutung der Antizipationsfähigkeit7.3.1 Bedeutung im Sport7.3.2 Bedeutung im Alltag7.4 Allgemeine Prinzipien zur Verbesserung der Antizipationsfähigkeit7.5 Praktische Übungen zur Förderung der Antizipationsfähigkeit7.6 Diagnostik der Antizipationsfähigkeit7.6.1 „Ballfangtest“7.6.2 „Pendelzielwurf“8 Kinästhetische Differenzierungsfähigkeit8.1 Definition8.2 Biologische Grundlagen8.3 Die Bedeutung der kinästhetischen Differenzierungsfähigkeit8.3.1 Bedeutung im Sport8.3.2 Bedeutung im Alltag8.4 Allgemeine Prinzipien zur Verbesserung der kinästhetischen Differenzierungsfähigkeit8.5 Praktische Übungen zur Schulung der kinästhetischen Differenzierungsfähigkeit8.6 Diagnostik der kinästhetischen Differenzierungsfähigkeit8.6.1 „Ballzielwurftest“8.6.2 „Wurf auf eine horizontale Zielscheibe“8.6.3 „Genaues Ballrollen mit der Hand“9 Kopplungsfähigkeit9.1 Definition9.2 Biologische Grundlagen9.3 Die Bedeutung der Kopplungsfähigkeit9.3.1 Bedeutung im Sport9.3.2 Bedeutung im Alltag9.4 Allgemeine Prinzipien zur Verbesserung der Kopplungsfähigkeit9.5 Praktische Übungen zur Schulung der Kopplungsfähigkeit9.6 Diagnostik der Kopplungsfähigkeit9.6.1 „Seitliches Umsetzen“9.6.2 „Ballführtest“9.6.3 „Wurf gegen die Wand“10 Orientierungsfähigkeit10.1 Definition10.2 Biologische Grundlagen10.3 Die Bedeutung der Orientierungsfähigkeit10.3.1 Bedeutung im Sport10.3.2 Bedeutung im Alltag10.4 Allgemeine Prinzipien zur Verbesserung der Orientierungsfähigkeit10.5 Praktische Übungen zur Schulung der Orientierungsfähigkeit10.6 Diagnostik der Orientierungsfähigkeit10.6.1 „Medizinball-Pendellauf“10.6.2 „Ball durch die Beine an die Wand“11 Reaktionsfähigkeit11.1 Definition11.2 Biologische Grundlagen11.3 Die Bedeutung der Reaktionsfähigkeit11.3.1 Bedeutung im Sport11.3.2 Bedeutung im Alltag11.4 Allgemeine Prinzipien zur Verbesserung der Reaktionsfähigkeit11.5 Praktische Übungen und Spielformen zur Schulung der Reaktionsfähigkeit11.6 Diagnostik der Reaktionsfähigkeit11.6.1 „Komplexer Reaktionstest“11.6.2 „Stabfassen“12 Rhythmusfähigkeit12.1 Definition12.2 Biologische Grundlagen12.3 Die Bedeutung der Rhythmusfähigkeit12.3.1 Bedeutung im Sport12.3.2 Bedeutung im Alltag12.4 Allgemeine Prinzipien zur Verbesserung der Rhythmusfähigkeit12.5 Praktische Übungen zur Schulung der Rhythmusfähigkeit12.6 Diagnostik der Rhythmusfähigkeit12.6.1 „Rhythmuswechseltest aus der ROS (Rostock-Oseretzky-Skala)“12.6.2 „Rhythmustest“13 Umstellungsfähigkeit13.1 Definition13.2 Biologische Grundlagen13.3 Die Bedeutung der Umstellungsfähigkeit13.3.1 Bedeutung im Sport13.3.2 Bedeutung im Alltag13.4 Allgemeine Prinzipien zur Verbesserung der Umstellungsfähigkeit13.5 Praktische Übungen zur Schulung der Umstellungsfähigkeit13.6 Diagnostik der Umstellungsfähigkeit13.6.1 „An der Wand entlang“13.6.2 „Ball umgreifen“13.6.3 „Pappröhrentest“14 Empfehlenswerte Medien15 LiteraturBildnachweis

1 Bewegungskoordination

Ein Beispiel vorab!

Wer einmal versucht, auf einem Bein zu stehen und mit dem freien Bein einen Kreis zu beschreiben, wird mit der Ausführung dieser Bewegung kaum größere Schwierigkeiten haben. Noch leichter fällt es wahrscheinlich, einen Arm auf und ab zu bewegen. Sollen wir aber beide Bewegungen zur gleichen Zeit und über Kreuz ausführen, dann stellen wir rasch fest, dass uns die Bewältigung dieser Doppelaufgabe nicht auf Anhieb gelingt. Unversehens verursacht die Kopplung beider Teilbewegungen erhebliche Probleme. Wir müssten wohl längere Zeit üben, bis wir dieses Kunststück anderen vorführen könnten und dies, obwohl es uns an Kraft, Beweglichkeit und Ausdauer keineswegs mangelt.

Mit diesem kleinen Versuch haben wir uns auf ein Feld begeben, das man als Bewegungskoordination bezeichnet. Im Alltag werden uns Probleme bei der Bewegungskoordination kaum einmal bewusst. Weil wir es gewöhnt sind, Alltagshandlungen, Bewegungen „des täglichen Bedarfs”, wie Treppensteigen, Zähneputzen, essen und trinken routinemäßig und stereotyp auszuführen, merken wir von den damit einhergehenden und zum Teil sehr komplizierten inneren Vorgängen so gut wie nichts. Irritationen ergeben sich erst, wenn uns abverlangt wird, gewohnte Bewegungen unter ungewohnten oder neuen Bedingungen auszuführen. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn wir uns als Verkehrsteilnehmer in England auf den dort praktizierten Linksverkehr einstellen müssen. Wie im ersten Beispiel werden wir zunächst allerlei Misserfolge erleben, bis wir uns schließlich, nach einiger Übung, an die neue Situation angepasst haben.

Ähnliches erleben auch Menschen, die z.B. wegen einer mit Bettruhe verbundenen Krankheit zu längerer Passivität verurteilt waren. Vorher problemlose Handlungen bereiten plötzlich erhebliche Schwierigkeiten, die nicht allein mit einem Verlust an Kraft zu erklären sind.

In besonderer Weise treten Koordinationsprobleme auf, wenn schwierige, z.B. sportliche Bewegungen erst einmal neu erlernt werden sollen. Wer z.B. beobachtet, wie sich kleine Kinder abmühen, um das Rad fahren zu erlernen, wer zusieht, wie oft Skianfänger zu Fall kommen, bis die erste sturzfreie Abfahrt gelingt, wer verfolgt, wie sich Anfänger beim Schlittschuhlaufen anstellen, um ohne Hilfe eine kleine Strecke auf dem Eis zu gleiten, der kann ermessen, wie schwer es sein kann, neue Bewegungen richtig zu koordinieren.

Schließlich stoßen wir auch an Grenzen der Bewegungskoordination, wenn wir älter werden. Was uns früher „leicht von der Hand ging”, das dauert jetzt auf einmal viel länger oder es misslingt nicht selten ganz.

Probleme mit der Bewegungskoordination treten demnach vor allem auf

während motorischer Lernprozesse.

bei der Ausführung von Bewegungen unter ungewohnten oder neuen Bedingungen.

nach längerer Passivität .

als Folge des biologischen Alternsprozesses.

1.1 Begriffliches

Mit dem Terminus „Bewegungskoordination” werden alle Prozesse bezeichnet, die der Regulation von ziel- und zweckgerichteten Bewegungen dienen.

Demzufolge ist Bewegungskoordination „die Abstimmung aller Teilprozesse des motorischen Aktes im Hinblick auf das Ziel, auf den Zweck, der durch den Bewegungsvollzug als Handlungsbestandteil erreicht werden soll” (MEINEL/SCHNABEL 1987, 54).

Der koordinative Prozess bildet ein komplexes System von Informationsaufnahme (Wahrnehmung), Informationsverarbeitung (einschließlich kognitiver Prozesse), Informationsspeicherung (Gedächtnis, Erfahrung) und Informationsabgabe (Bewegungssteuerung) auf verschiedenen, miteinander vernetzten Ebenen (SCHNABEL/HARRE/BORDE 1997, 67). Als biologisches Substrat gilt das geordnete Zusammenwirken von sensorischem System (Sinnesorgane), Nervensystem und Skelettmuskulatur innerhalb eines ziel- und zweckgerichteten Bewegungsaktes im Zusammenspiel mit der Umwelt.

Mit SCHNABEL/HARRE/BORDE (1997, 56) ist darauf hinzuweisen, dass sich Bewegungskoordination auf einen „zweiten” biologischen Grundmechanismus bezieht, der sich von dem „ersten” , durch sportliche Betätigung möglichen Prozess morphologisch-funktioneller Veränderungen im Organismus unterscheidet: Während sich etwa Ausdauer und Kraft über morphologisch-funktionelle Anpassung (Adaptation) verbessern lassen, lässt sich die Verbesserung der Bewegungskoordination als „Verbesserung der Informationsorganisation” bezeichnen.

Beide „Mechanismen” führen über entsprechende körperliche Beanspruchung zu mehr oder weniger dauerhaften Veränderungen. Allerdings unterscheiden sich beide Prozesse hinsichtlich des zugrunde liegenden biologischen Geschehens: Während morphologisch-funktionelle Verbesserung vorzugsweise über die sogenannte „Superkompensation” geschieht und im Wesentlichen als energetisch interpretierbarer, reaktiver Prozess verläuft, trägt der Prozess der Verbesserung der Informationsorganisation in hohem Maße auch aktive Züge (SCHNABEL/HARRE/BORDE 1997, 56), die vom Begriff „Anpassung” nicht mehr zur Gänze abgedeckt werden (vgl. KIRCHNER/SCHALLER 1996, 43).

Wenn es auch nur sehr bedingt möglich ist, biologische Prozesse mit mechanischen Modellen zu vergleichen, so soll doch das Beispiel eines Verbrennungsmotors bemüht werden, um den Unterschied zu verdeutlichen: Ein Automotor verfügt über einen „energetischen” Teil, in dem unter anderem mithilfe des Brennstoff-Luft-Gemisches die Kolben in den Zylindern bewegt werden und einen „koordinativen” Teil, der mittels elek-trischer Energie für die geordneten Abläufe (Verteilung) der Zündvorgänge sorgt. Beide Teilsys­teme müssen in optimaler Abstimmung aufeinander funktionieren, damit der Motor rund und ökonomisch läuft und effektiv die Kraft entwickelt, die das Fahrzeug, gelenkt von einem intelligenten Fahrer, sicher zum Ziel bringt.

Diesem Umstand Rechnung tragend, macht es durchaus Sinn, immer dann von „Trainieren” zu sprechen, wenn auf dem Wege der Superkompensation morphologische Anpassungsprozesse beabsichtigt sind, wenn also in erster Linie die Verbesserung konditioneller Fähigkeiten wie Kraft, Ausdauer (und Beweglichkeit) angestrebt wird (KURZ 1978, 131-132).

Steht stattdessen die Verbesserung der Bewegungskoordination im Vordergrund, so bietet es sich zur Markierung des Unterschiedes an, die dazu eingesetzten Aktivitäten als „Üben” zu bezeichnen (KIRCHNER/SCHALLER 1996). Alltagssprachlich wird man freilich auch dann „Trainieren” sagen, wenn man die Verbesserung der Bewegungskoordination im Auge hat.

Selbstverständlich laufen beide „Mechanismen” – Trainieren und Üben – nicht unabhängig voneinander ab. Es bestehen Wechselwirkungen in Richtung einer gegenseitigen Beförderung, aber auch einer gegenseitigen Behinderung. So profitiert z.B. das Üben der Gleichgewichtsfähigkeit von einer gut trainierten Muskulatur. Andererseits können bestimmte Formen des Krafttrainings die Schulung der Bewegungskoordination negativ beeinflussen.

Bei der Gestaltung von Übungsprogrammen zur Erhaltung und Förderung der Bewegungskoordination muss dieser zwiespältige Sachverhalt stets im Auge behalten werden.

1.2 Die gut koordinierte Bewegung

Da es – wie ausgeführt – innere Vorgänge sind, die über die Bewegungsqualität entscheiden, hängt das Gelingen einer Bewegung ab vom geordneten Zusammenwirken der an der erforderlichen Koordination beteiligten internen Faktoren und Prozesse. Wie gut das Zusammenspiel funktioniert, wird zunächst vom Entwicklungsstand und vom Niveau der motorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten des Individuums beeinflusst.

Beteiligt sind jedoch in jedem Falle die folgenden Teilbereiche:

Orientierende Informationsaufnahme und -selektion aus der Umwelt (Wahrnehmung, Beobachtung).

Programmierung der Bewegung (Bewegungsentwurf) und mentale Vorwegnahme des Ereignisses (im Zusammenhang mit dem motorischen Gedächtnis).

Steuerimpulse an die Muskulatur.

Bewegungsausführung durch die Bewegungsorgane.

Rückmeldungen über den Verlauf der Bewegung.

Gegebenenfalls angemessene Korrekturimpulse.

Bestehen auch nur an einer Stelle dieses ineinander greifenden, komplexen Gefüges Defizite oder Hemmnisse, z.B. durch fehlende Bewegungserfahrung oder durch Wahrnehmungsschwächen, dann kann es zunächst nicht zu geglückten, gut koordinierten Bewegungen kommen.

Äußerlich ist eine gut koordinierte Bewegung daran zu erkennen, dass ihre einzelnen Phasen im Hinblick auf das Ziel der Bewegung sinnvoll ineinander greifen, dass die Teilbewegungen des Körpers in der jeweils erforderlichen Weise gekoppelt sind und die Bewegungen den für sie typischen, unverwechselbaren Rhythmus zeigen. Auch müssen die Aktionen im richtigen Tempo und mit dem angemessenen Krafteinsatz ausgeführt werden. Schließlich muss der Umfang der Bewegung stimmen und die Bewegung muss präzise, d.h. treff- und zielgenau sowie fließend-kontinuierlich ablaufen (MEINEL/SCHNABEL 1987, 170).

Schon dem ungeschulten Betrachter erscheinen gut koordinierte Bewegungen als harmonisch, rhythmisch, beherrscht, rund und anmutig sowie als den gegebenen Umständen angepasst. Mängel an (externer) Bewegungsqualität lassen Bewegungen als eckig, disharmonisch, schlaff, steif, unrhythmisch, unzweckmäßig, unsicher und als den jeweiligen situativen Gegebenheiten unangemessen – stereotyp – erscheinen.

Ihre Ursachen können diese Defizite an verschiedenen Stellen des beschriebenen, komplexen internen Koordinationssystems haben. Nicht selten ist es schwer, die jeweils vorliegenden Gründe zu erkennen. Dies behindert in der Praxis eine zielsichere Intervention.

2 Koordinative Fähigkeiten

Die zunehmende wissenschaftliche Beschäftigung mit Fragen der Bewegungs-koordination hat dazu geführt, dass „koordinative Fähigkeiten” inzwischen als ein eigener Komplex der menschlichen Motorik angesehen werden, der sich sowohl von den motorischen Fertigkeiten als auch von den konditionellen Fähigkeiten abgrenzen lässt. Zwar gibt es deutliche Beziehungen zwischen diesen drei Komponenten der körperlichen Leistungsfähigkeit, wie auch zu anderen, insbesondere psychischen Leistungsmerkmalen. Die relative Eigenständigkeit der koordinativen Fähigkeiten wird aber unter anderem dadurch bestätigt, dass zu ihrer Erhaltung und Förderung spezielle Maßnahmen erforderlich und möglich sind.

Von SCHNABEL/HARRE/BORDE (1997, 115) wird folgende Definition übernommen:

Bei den koordinativen Fähigkeiten handelt es sich um „eine Klasse motorischer Fähigkeiten, die vorrangig durch die Prozesse der Bewegungsregulation bedingt sind und relativ verfestigte und generalisierte Verlaufsqualitäten dieser Prozesse darstellen“.

Das Merkmal der „relativen Verfestigung” verweist auf die Genese der koordinativen Fähigkeiten als nicht bloß kurzfristiger, flüchtiger Persönlichkeitsmerkmale. Zugleich schränkt es die zu erzielende zeitliche Dauer dieser „Stabilität” aber auch wieder ein, indem es bereits bei deren Definition auf die Vergänglichkeit der koordinativen Fähigkeiten aufmerksam macht.

Die Tatsache, dass koordinative Fähigkeiten „generalisiert” sind, lässt sich mit HIRTZ (1985, 13) am Beispiel der Fähigkeit, das Gleichgewicht zu halten oder wiederherzustellen veranschaulichen: Obwohl es sich beim Turnen auf dem Schwebebalken, bei der Standwaage, beim Rad fahren, beim Skilaufen oder beim Klettern um ganz unterschiedliche Bewegungssituationen handelt, werden in all diesen Fällen ähnliche Anforderungen an die Bewegungskoordination gestellt. Diese und viele weitere Bewegungshandlungen profitieren von einer gut entwickelten, verallgemeinerten, für eine ganze Reihe von Bewegungshandlungen relevanten, eben „generalisierten” Gleichgewichtsfähigkeit als einer wesentlichen koordinativen Fähigkeit.

Eine allgemein anerkannte Systematik koordinativer Fähigkeiten steht bis heute aus. Stattdessen liegen mehr oder weniger voneinander abweichende, mehr oder weniger schlüssige, mehr oder weniger theoretisch und empirisch fundierte Versuche vor, den Komplex der koordinativen Fähigkeiten zu strukturieren.

Lange Zeit kannte man nur eine koordinative Fähigkeit, die Gewandtheit, als die Fähigkeit, eine motorische Aufgabe schnell und zweckmäßig zu lösen. Allerdings klang schon bei der Beschreibung dieser sportlichen Leistungskomponente, z.B. durch HARRE (1971), an, dass Gewandtheit vorläufig nur als Sammelbezeichnung für einen Komplex unterschiedlicher Fähigkeiten anzusehen war, die Einfluss auf die Bewegungsregulation nehmen. Gleiches gilt für den Begriff „Geschicklichkeit“, welcher vor allem zur Kennzeichnung gut koordinierter feinmotorischer Aufgabenlösungen eingeführt wurde.

Eine solche undifferenzierte Sichtweise des Komplexes der koordinativen Fähigkeiten, ebenso wie seine in der medizinischen Literatur anzutreffende pauschale Behandlung unter der Bezeichnung „Koordination“ (z.B. HOLLMANN 1999, 10), erweist sich inzwischen aber als theoretisch unzureichend und praktisch insbesondere dann als hinderlich, wenn es um die Erstellung von Übungsprogrammen zur Entwicklung, Erhaltung und Förderung der komplexen Koordinationsfähigkeit geht.

Wird nämlich nicht ausreichend bedacht, dass die „Koordinationsfähigkeit“ mehrdimensional strukturiert ist, dann werden bei der Entwicklung von Übungsvorschlägen leicht wichtige Aspekte übersehen und einseitige, auf eine oder nur wenige koordinative Fähigkeiten abgestellte Übungen propagiert. Von solchen Übungsanregungen profitieren die Übenden dann weniger, als es bei einer hinreichenden Differenzierung eigentlich möglich wäre.

Wenngleich sich die Tatsache, dass eine allgemein akzeptierte Systematik koordinativer Fähigkeiten bis heute nicht vorliegt, für das Anliegen einer breitensportlich und alltagsorientierten Förderung und Erhaltung koordinativer Fähigkeiten als weniger erheblich darstellt, soll auf vier unterschiedliche Konzepte, welche die Komplexität der Koordinationsfähigkeit benennen, verwiesen werden.

Ein von RIEDER (1987) stammendes offenes Schema koordinativer Fähigkeiten ist in Abb. 1 wiedergegeben.

Abb. 1: Ein offenes Schema koordinativer Fähigkeiten (RIEDER 1987)

Der Ansatz von BLUME (1979, 187-194) unterscheidet, ausgehend von charakteristischen Merkmalen der einzelnen Sportarten, sieben koordinative Fähigkeiten, welche für alle Bereiche des Sports von Bedeutung sind:

Kopplungsfähigkeit

Orientierungsfähigkeit

Differenzierungsfähigkeit

Gleichgewichtsfähigkeit

Reaktionsfähigkeit

Umstellungsfähigkeit

Rhythmisierungsfähigkeit.

Nach ZIMMERMANNs (1987, 258) Konzept, das den Vorschlag BLUMEs aufgreift, stellt sich die Koordinationsfähigkeit als ein horizontal und vertikal strukturiertes Gefüge dar, demzufolge sich elementare Fähigkeiten von komplexen Fähigkeiten herleiten lassen bzw. auf diese verweisen (Abb. 2).

Abb. 2: Strukturelles Gefüge der koordinativen Fähigkeiten (aus ZIMMERMANN 1987, 258)

Acht „bedeutsame, psychomotorisch-koordinative Fähigkeiten“ sieht LOOSCH (1999, 223) als für die Praxis des Sports besonders bedeutsam an:

Kinästhetisch-propriozeptive Differenzierungsfähigkeit

Reaktionsfähigkeit

Gleichgewichtsfähigkeit

Rhythmusfähigkeit

Antizipationsfähigkeit

Räumliche Orientierungsfähigkeit

Wahrnehmungs- und Beobachtungsfähigkeit

Soziomotorische Kooperationsfähigkeit.

Die vier Beispiele machen deutlich, dass zwar hinsichtlich der Anzahl und Bezeichnungen der koordinativen Fähigkeiten keine abschließende Übereinstimmung besteht, dass sich aber aus den unterschiedlichen Konzepten ein Kern von koordinativen Fähigkeiten herauslesen lässt, der offenbar von hoher Akzeptanz ist.

Im Sinne der Vereinfachung und Verdichtung des komplexen Gefüges koordinativer Fähigkeiten spricht vieles dafür, bei der Entwicklung von Übungsprogrammen auf diesen Kern zurückzugreifen und ihn im Sinn eines Arbeitsmodells zu verwenden, welches praktisch umsetzbar ist, d.h., welches vor allem die gute Ableitung von differenzierten Übungsformen und diagnostischen Verfahren ermöglicht (ZIMMERMANN 1987, 247-248). Das im vorliegenden Buch verwendete Arbeitskonzept (Kapitel 6-13) schließt an entsprechende Vorschläge in der Fachliteratur an.

Im Sinne eines Arbeitsmodells zur Entwicklung von Übungsprogrammen werden als wesentliche koordinative Fähigkeiten hervorgehoben:

Gleichgewichtsfähigkeit

Antizipationsfähigkeit

Kinästhetische Differenzierungsfähigkeit

Kopplungsfähigkeit

Orientierungsfähigkeit

Reaktionsfähigkeit

Rhythmusfähigkeit

Umstellungsfähigkeit.

Die Einteilung stellt eine idealtypische Differenzierung dar: Bei jeder dieser koordinativen Fähigkeiten handelt es sich um ein relativ komplexes Gebilde, welches kaum einmal in reiner Form, sondern meist in charakteristischen Verknüpfungen in Erscheinung tritt. Virulent werden koordinative Fähigkeiten, je nach Kompliziertheit der Bewegungshandlung einzeln oder in unterschiedlichen Konstellationen gebündelt, an der Nahtstelle von Potenzialen des Individuums und spezifischen Anforderungen der Umwelt. Das bedeutet, koordinative Fähigkeiten werden dem Individuum bei der Lösung spezifischer motorischer Handlungen abverlangt, wie sie sich auch bei spezifischen motorischen Handlungen entwickeln und stabilisieren. Banal gewendet: Zum Rad fahren ist eine gut entwickelte Gleichgewichtsfähigkeit erforderlich, durch Rad fahren entwickelt und verbessert sich auch die Gleichgewichtsfähigkeit weiter.

Es ist wahrscheinlich, dass sich jede der koordinativen Fähigkeiten schwerpunktmäßig auf eines oder mehrere biologische Teilsysteme stützt. Das macht u.a. die Plausibilität der Unterscheidung verschiedener koordinativer Fähigkeiten aus. In den einzelnen Kapiteln 6-13 wird in knapper Form auf die biologische Korrespondenz verwiesen.