Körper - Behinderung - Pädagogik - Sven Jennessen - E-Book

Körper - Behinderung - Pädagogik E-Book

Sven Jennessen

0,0

Beschreibung

Die Körperbehindertenpädagogik lieferte bis vor 20 Jahren vor allem theoretische Grundlagen und praxisrelevante Impulse für die Gestaltung schulischer Bildungsangebote für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Eher sekundär bedeutsam schien die Reflexion zum Selbstverständnis der Disziplin und ihrer sozial-ethischen Rahmenbedingungen. Der Band erörtert, hinterfragt und klärt deshalb im ersten Kapitel zunächst die theoretischen Grundlagen des Faches im Kontext aktueller Herausforderungen. Im zweiten Kapitel geht es um das Berufswissen und -können der KörperbehindertenpädagogInnen, ihr Selbstverständnis und ihre Haltungen gegenüber ihrer "Klientel". Das dritte Kapitel zeigt ausgewählte Aspekte des Fachwissens hinsichtlich der Institutionen und Lebensthemen im Kontext des Lebenslaufs auf.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 500

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kompendium Behindertenpädagogik

 

Hrsg. von Heinrich Greving

Sven Jennessen/Reinhard Lelgemann

Körper Behinderung Pädagogik

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-023950-0

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-024083-4

epub:    ISBN 978-3-17-024084-1

mobi:    ISBN 978-3-17-024085-8

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

 

Vorwort des Herausgebers

Es existieren zurzeit relativ unterschiedlich strukturierte und gestaltete Lehrwerke zu den verschiedenen Ausprägungen der sog. Behindertenpädagogik, diese sind jedoch häufig recht kategorial orientiert und nehmen aktuelle disziplin- und professionsbezogene Diskurse auf den Feldern der Behindertenhilfe kaum einmal auf. Zudem konzentrieren sich viele dieser Lehrwerke auf das Handlungsfeld der Schule: in diesem und von diesem ausgehend scheint somit ein Großteil der Behindertenpädagogiken stattzufinden.

Die Bände mit dem Reihentitel „Kompendium Behindertenpädagogik“ versuchen dieser Situation Abhilfe zu schaffen, da in jeder der geplanten Publikationen alle Ausprägungen einer je spezifischen behindertenpädagogischen Grundlegung sowohl durch die Perspektiven der Disziplin und Profession als auch durch eine organisations- und handlungsfeldbezogene Lebenslauforientierung beschrieben, analysiert und konzeptuell verortet werden. Auf diesem Hintergrund ist auch die Gliederungslogik aller Bände zu verstehen, in welcher die Autorinnen und Autoren ihre Inhalte durch die Perspektiven dieser drei größeren Kapitel (Disziplin – Profession – Organisationen/Handlungsfelder) fokussieren und darstellen.

Im Hinblick auf die Beschreibung der Disziplin wird es jeweils darum gehen, die theoretischen Begründungsmuster einer je spezifischen Behindertenpädagogik darzulegen, diese historisch zu verorten, die begründenden Leitideen und Modelle vorzustellen sowie Aussagen zu jeweiligen ethischen Positionierungen im Kontext dieser Pädagogik einzunehmen bzw. zu formulieren. Auch wenn der Begriff der „Behinderung“ zurzeit intensiv diskutiert wird, er zudem nicht in allen Punkten kohärent ist, erscheint er im Rahmen der Gesamtdarstellung der hier zu bearbeiteten Themen als Brücke zwischen den einzelnen Teilbereichen und Problemen nutzbar zu sein. Dennoch wird er in den unterschiedlichen Bänden dieser Reihe, im Hinblick auf die jeweilige Thematik, konkret beschrieben, analysiert und gegebenenfalls kritisiert und modifiziert werden. Die Aussagen der einzelnen Bände stellen folglich auch eine kritische Differenzierung und Weiterentwicklung des Begriffes der „Behinderung“ dar. Im Rahmen der Professionsorientierung, also dem zweiten größeren Kapitel des jeweiligen Bandes, werden dann Konzepte, Methoden und Handlungsansätze dargelegt, so wie sie sich im Rahmen dieser Pädagogik, für die jeweils entsprechende Organisation als zielführend erwiesen haben bzw. als relevant erweisen können. In einem letzten größeren Kapitel wird dann die institutionelle Begründung und organisatorische Differenzierung einer je spezifischen Pädagogik erläutert. Hierbei wird auf die lebenslauforientierte Darstellung des pädagogischen Ansatz eingegangen, so dass dieser nicht nur für den Bildungsbereich, sondern auch für weitere behindertenpädagogische Handlungsfelder beschrieben wird. Hierbei unterscheidet die Differenziertheit der Lebenslaufperspektive die verschiedenen pädagogischen Disziplinen, d. h. dass diese in jenen höchst unterschiedlich ausgeprägt ist, wahrgenommen wird und (strukturelle wie inhaltliche) Konsequenzen erforderlich macht.

Einen zentralen weiteren Inhalt bildet der, auch kritisch zu führende, Inklusionsdiskurs: dieser stellt das Querschnittsthema dar, welches in allen drei Unterkapiteln bearbeitet wird – eine innovativ, diffizil und kritisch differenziert dargelegte Positionierung der Inklusion ist folglich das Netz bzw. das Referenzsystem aller Kapitel und Aussagenkomplexe der jeweiligen Bände. Hierbei wird es jedoch, je nach Autorin und Autor und konkretem Thema zu unterschiedlichen Gewichtungen kommen. In der wechselseitigen Durchdringung einer inklusiven Perspektive mit den Themen der Disziplinorientierung, der Professionsbezogenheit und der hierbei relevanten Organisationen und Handlungsfelder leistet demzufolge jeder Band dieser Reihe eine in sich schlüssige und kohärente Gesamtdarstellung des jeweiligen Themenfeldes.

Heinrich Greving

 

Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Herausgebers

Einleitung

Körper – Behinderung – Pädagogik – eine Einführung

Sven Jennessen/Reinhard Lelgemann

I Disziplin

1 Lebenssituationen von Menschen mit körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigungen in Gegenwart und Zukunft gestalten – in Kenntnis der historischen Entwicklungen

Reinhard Lelgemann

Vorbemerkung

1.1 Geschichte in Spannungsfeldern

1.2 Zur Sicherung des Bildungsangebotes

Heterogenität des Personenkreises und Spannungen zwischen den unterschiedlich beeinträchtigten Gruppen

Eingeschränkte Partizipationsmöglichkeiten in den Lebensbereichen Arbeiten und Wohnen

Öffentliche Wahrnehmung körperbehinderter Menschen

Fokussierung auf Hilfsmittel und Technik

Unterschiedliche Sozialleistungen für Menschen mit einer erworbenen Schädigung

Politische Partizipation körperbehinderter Menschen

Vermeidung menschlichen Lebens mit einer Beeinträchtigung

1.3 Perspektiven

2 Diversity- und Disability-Studies als Bezugspunkte der Körperbehindertenpädagogik

Sven Jennessen

3 Der Körper in der Körperbehindertenpädagogik

Sven Jennessen

3.1 Körper und Leib

3.2 Der differente Körper als Produkt der Gesellschaft

3.3 Der Körper als Produzent von Gesellschaft

3.4 Geschlechtlicher Körper

Einwurf: Gesundheit und Krankheit in der Körperbehindertenpädagogik

Christian Walter-Klose

Herausforderungen im Verhältnis von Medizin und Pädagogik

Krankheitsmodelle und pädagogische Handlungsmöglichkeiten

Gesundheitsmodelle und pädagogische Handlungsmöglichkeiten

Zusammenfassung und Überblick über pädagogische Handlungsmöglichkeiten

Einwurf: „Weil nicht (mehr) sein kann, was nicht sein darf“ – Erfahrung von Behinderung trotz inklusiver Zeiten?!

Philipp Singer/Dorothee Kienle

Problemskizze

Inklusion und die Erfahrung des (Körper-)Behindert-Seins

Inklusion und intersubjektive Erfahrungen mit Behinderten

Fazit und Ausblick

4 Ethik und Körperbehindertenpädagogik

Sven Jennessen

4.1 Ethik und (Sonder-)Pädagogik

4.2 Selbstbestimmung – Inklusion – Ethik – Körperbehinderung

4.3 Anerkennung – Care – Körperbehinderung

4.4 Technik – Orthesen – Körperbehinderung

4.5 Körperbehinderung – Lebensanfang – Lebensende

Einwurf: Ethische Fragen am Lebensanfang

Martina Schlüter

Vorbemerkung

Zusammenfassung der Erkenntnisse für den Themenbereich Pränataldiagnostik und Ethik

5 Aufträge und Perspektiven für die Wissenschaft

Sven Jennessen

5.1 Leiblichkeit und Sozialität des Körpers

5.2 Interdisziplinarität

5.3 Heterogenität der Personengruppe

5.4 Spezifität im Inklusionsdiskurs

II Profession

Einwurf: Professionalisierung in der Sonderpädagogik. Koordinatensysteme (sonder-)pädagogischer Professionalisierung

Andrea Dlugosch

1 Zur Bedeutung der Professionalität in der Körperbehindertenpädagogik

Reinhard Lelgemann

1.1 Zum Selbstverständnis der in der Körperbehindertenpädagogik Tätigen

1.2 Zum Gedanken der „Anwaltschaft für“ Menschen mit körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigungen

1.3 Selbsthilfebewegung und professionelles Selbstverständnis

1.4 Sorge und Fürsorge – Elemente eines professionellen Selbstverständnisses?

1.5 Beteiligung am gesellschaftlichen Diskurs

2 Handlungsfelder und Tätigkeitsprofile

Reinhard Lelgemann

2.1 Pädagogische Einrichtungen

2.2 Wohnen

2.3 Arbeitsbereiche

3 Spezifische Kompetenzen und Fachwissen

Reinhard Lelgemann

Einwurf: Pädagogische Kompetenzen im Umgang mit schwer und mehrfach beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen

Andreas Fröhlich

Haltung, Kompetenz, Technik in der Pädagogik – eine unzertrennbare Einheit

Kompetenzen

Haltung, Kompetenz, Technik

Einwurf: Veränderte Perspektiven durch sich verändernde Krankheitsverläufe bei Muskeldystrophie Duchenne – Konsequenzen für die Körperbehindertenpädagogik

Volker Daut

Veränderungen im Leben und in den Krankheitsverläufen von Menschen mit Muskeldystrophie Duchenne

Mögliche Belastungen

Konsequenzen und Forderungen

4 Perspektiven für Wissenschaft und Praxis

Reinhard Lelgemann

III Lebensphasen und Lebenssituationen

1 Institutionen und De-Institutionalisierung

Sven Jennessen

2 Lebensphase Kindheit

Sven Jennessen

2.1 Personale und familiäre Situation

2.2 Frühförderung

2.3 Inklusion und frühe Förderung

Einwurf: Erfahrungen mit Institutionen und Hilfen

Nicole Nordlohne

Einwurf: Die Zeit der Einschulung

Petra Stuttkewitz

3 Kinder und Jugendliche mit einer körperlichen oder mehrfachen Beeinträchtigung – zwischen exkludierenden, exklusiven und inklusiven Lebenssituationen

Reinhard Lelgemann

3.1 Zur schulischen Situation

3.2 Zur Bedeutung der Eltern

3.3 Freizeitangebote

3.4 Möglichkeiten der Mit- oder auch Selbstbestimmung

3.5 Leben in einer Gemeinde

3.6 Zur Bedeutung kommunikativer Aspekte

3.7 Weitere Aspekte

Fazit

Einwurf: Sexualität – eine lebenslange Lernaufgabe

Barbara Ortland

Sexualität bei Menschen mit Behinderung als Tabu?

Behinderungsspezifische Themen

Eigene Attraktivität/Auseinandersetzung mit der eigenen Behinderung

Einfinden in Geschlechterrolle/Liebeserfahrungen

Pflege

Abschluss

4 Das eigene Leben gestalten – Erwachsensein

Reinhard Lelgemann

4.1 Wohnen

4.2 Universelles Design

4.3 Soziales Leben

4.4 Erfahrungen im medizinischen Bereich

4.5 Arbeit und Beschäftigung, Ausbildung und Studium

4.6 Perspektiven

Einwurf: Persönliches Budget

Karl-Josef Faßbender

Einwurf: Menschen mit körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigungen im Alltag begleiten – selbstbestimmt leben mit Behinderung in Hamburg

Mathias Westecker

Einwurf: Das Alter(n) als Lebensphase erleben und gestalten

Sabine Schäper

Altern mit einer körperlichen Beeinträchtigung: Chancen und Herausforderungen einer neuen Lebensphase

Gesundheitsrisiken und medizinische Versorgung

Biographische und psychosoziale Aspekte

Sozialrechtliche Rahmungen für die Sicherstellung von Teilhabechancen bis zum Lebensende

Von der Förderplanung zur Teilhabeplanung: Anforderungen an die professionelle Begleitung von Menschen mit Behinderungen im Alter

5 Palliative Care für Menschen mit Körperbehinderung

Sven Jennessen

5.1 Palliative Care

5.2 Palliative Care für Kinder und Jugendliche

5.3 Pädiatrische Palliativversorgung

5.4 Kinder- und Jugendhospizarbeit

5.5 Palliative Care für Erwachsene

6 Perspektiven für Wissenschaft und Praxis

Reinhard Lelgemann

AutorInnenverzeichnis

 

 

 

 

 

Einleitung

Dieses Buch ist unserer Freundin und ehemaligen Kollegin, Frau Dr. Martina Schlüter, gewidmet. Sie starb im Spätsommer 2013, mitten in den vorbereitenden Gesprächen zu diesem Buch, plötzlich, für uns alle unerwartet und nur schwer begreifbar. In unseren Planungsgesprächen hatte sie nachdrücklich darauf bestanden, dass dieses Buch grundsätzliche Fragen ansprechen muss, die über die traditionellen Reflexionen und medizinorientierten Zugänge innerhalb der Körperbehindertenpädagogik hinausgehen sollten. Gerade Martina hat in ihrer über mehr als zwei Jahrzehnte dauernden Tätigkeit für die Fachrichtung Körperbehindertenpädagogik an der Universität zu Köln immer wieder gefordert, dass diese es auch als ihren pädagogischen Auftrag zu begreifen habe, politisch zu denken und politisch zu agieren. Ihre eigenen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen und ethischen Fragestellungen spiegeln diese Position wider, die innerhalb des Faches durchaus umstritten war und immer noch ist.

In Bezug auf das nun vorliegende Buch waren wir uns einig, dass wir, ähnlich unserem 2010 erschienenen Buch „Leben mit Körperbehinderung. Perspektiven der Inklusion“, Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftlern, ebenso aber Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung und deren Angehörigen ein Publikationsforum bieten wollen. Reflektiert werden sollten Themen, die sich mit den eher traditionellen (körperbehinderten-)pädagogischen Aufgabenfeldern, aber auch darüber hinaus mit den aktuellen Themen der sonderpädagogischen Diskussion beschäftigen und dabei dezidiert auch aus der Sicht von Menschen mit einer körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigung betrachtet werden sollten, auch und gerade wenn diese in den fachrichtungsspezifischen Diskussionen bisher nicht aufgegriffen wurden. Das Ergebnis liegt nun vor Ihnen und ist Martina, Frau Dr. Martina Schlüter, gewidmet.

Wer sie kannte, kann sich vorstellen, dass unsere Diskussionen auch Gespräche unter Freunden waren, in persönlichem Rahmen bei Kaffee und Brötchen, vor allem aber Wein und Zigaretten, geraucht auf dem Balkon. Martina hat ein intensives Leben gelebt, mutig, fordernd und genießend. Martina war eine beeindruckende Persönlichkeit mit einem sehr eigenen Kopf und häufig kompromissloser Haltung – die Deutlichkeit ihrer Aussagen ging manchmal sehr nahe – und doch eine gute Freundin und eine Begleiterin vieler Studierender, die mit ihr eine mütterliche und gleichzeitig fordernde Dozentin verloren haben. Martina hat mit ihrer Beeinträchtigung – und in früheren Zeiten hätte man gesagt, trotz ihrer Beeinträchtigung – ein erfülltes Leben geführt: ein Leben mit ihrem Partner, sehr verbunden mit ihrer Heimatgemeinde und ihren Eltern, ein Leben mit den Kollegen und ihren Studierenden, in ihrem Veedel (wer an sie denkt, sieht sie auf dem dreirädrigen Fahrrad, mit dem sie zur Uni fuhr und im Stadtteil unterwegs war) und mit ihren Freundinnen und Freunden, denen sie langjährig und intensiv verbunden war. Martina, wir denken an Dich und bedauern, dass Du viel zu früh sterben musstest.

Dieses Buch folgt dem Aufbau der Reihe, wie sie Prof. Dr. Heinrich Greving als Reihenherausgeber entwickelt hat, differenziert dies aber doch anders aus. Durch die Turbulenzen, die der Tod unserer Mitautorin bewirkte, und durch weitere erschwerende Entwicklungen auf Seiten der beiden Herausgeber verschob sich der ursprünglich geplante Erscheinungstermin leider gravierend. Das nun vorliegende Buch konnte nur publiziert werden, weil wir auf die Unterstützung zahlreicher Autorinnen und Autoren bauen konnten, die uns frühzeitig und verbindlich die hier vorliegenden Artikel zur Verfügung stellten. Hierfür und für die Bereitschaft des Reihenherausgebers, in diesem Band ein wenig von der Systematik der Reihe abzuweichen, bedanken wir uns herzlich.

Unser Buch diskutiert, wie bereits angesprochen, aktuelle Fragen der Körperbehindertenpädagogik in den Teilgebieten Disziplin, Profession sowie Lebensphasen und Lebenssituationen. Neben grundlegenden Artikeln der beiden herausgebenden Autoren finden sich Beiträge von Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftlern, persönliche und fachliche Einwürfe von Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung sowie Angehörigen im Feld der Körperbehindertenpädagogik, die aktuelle Perspektiven diskutieren und thematisch vertiefen oder derzeit noch neue, eher ungewöhnliche Themenfelder ansprechen. Der hier publizierte Text mit Auszügen aus von Martina Schlüter veröffentlichten Schriften, insb. ihrem Entwurf für eine Habilitationsschrift, wurde von Sven Jennessen zusammengestellt.

Der Leserin wird vielleicht auffallen, dass der schulische Bereich in dieser Publikation in thematisch umfassenderen Erörterungen einbezogen wird. Diese Entscheidung hat auch uns im Vorfeld beschäftigt, doch wir haben uns aus zwei Gründen für diese Vorgehensweise entschieden:

•  Einerseits liegen zum schulischen Bereich, der traditionell den Schwerpunkt der meisten Publikationen in der Körperbehindertenpädagogik ausmacht, zahlreiche Schriften vor, die auch aktuelle Entwicklungen diskutieren (verwiesen sei hier auf Lelgemann 2010; Haupt 2013; Bergeest, Boenisch & Daut 2015; Lelgemann, Singer & Walter-Klose 2015).

•  Andererseits möchten wir mit diesem Buch den Fokus ganz bewusst erweitern. Dies haben wir sowohl im Sinne einer zahlreiche Lebensphasen und Lebensperspektiven umfassenden als auch in einer Sichtweise, die grundlegende Fragen der Disziplin und des professionellen Verständnisses in allen Tätigkeitsfeldern aufgreift, umzusetzen versucht.

Wir würden uns freuen, wenn wir mit diesem Band unser Fachgebiet, die Körperbehindertenpädagogik, stärken, indem wir grundlegende Fragen der Theorie und Praxis aus unterschiedlichen, teilweise auch gegensätzlichen Perspektiven erörtern. Hierzu dienen auch und vor allem die unterschiedlichen „Einwürfe“ einzelner AutorInnen, die einleitend, ergänzend, erweiternd oder auch anderen Aussagen des Buches widersprechend gestaltet sind. Nur im Rahmen einer kritischen Diskussion und Weiterentwicklung in Wissenschaft, Lehre und Praxis kann unser Fachgebiet einen Beitrag zur Entwicklung immer vielfältigerer Lebensperspektiven leisten, die zunehmend mehr Wahlmöglichkeiten eröffnen und gleichzeitig beste persönliche Entwicklungsmöglichkeiten dauerhaft sichern.

Landau und Würzburg im August 2016

Prof. Dr. Sven Jennessen und Prof. Dr. Reinhard Lelgemann

Universität Koblenz-Landau und Universität Würzburg

 

KÖRPER – BEHINDERUNG – PÄDAGOGIK – EINE EINFÜHRUNG

Sven Jennessen/Reinhard Lelgemann

Körperbehindertenpädagogik als pädagogische Disziplin befindet sich in einem kontinuierlichen Wandel, der von ihrer Entstehung bis zu ihrer aktuellen Situation unterschiedliche Phasen und (Dis-)Kontinuitäten beinhaltet (vgl. hierzu den nachfolgenden Beitrag von Lelgemann). Die derzeit eher prekäre universitäre Situation des Faches durch die Abstufung und Umwidmung von Professuren an bundesdeutschen Universitäten geht einher mit aktuellen bildungspolitischen Diskussionen und Entwicklungen, die als Herausforderungen verstanden werden sollten, über Fragen der Weiterentwicklung des Fachgebiets in Theorie, Forschung und Praxis nachzudenken (vgl. Lelgemann 2015, 623). Letztendlich steht die Disziplin somit vor einer originär wissenschaftlichen Aufgabe: der reflexiven Selbstverständigung des Faches in Abhängigkeit von historisch und gesellschaftlich relevanten Kontextfaktoren. Diese Kontextfaktoren sind derzeit stark geprägt von der rechtlich verankerten politischen Forderung nach Inklusion. „Die Erziehungswissenschaft als Forschungs- und Ausbildungsdisziplin steht angesichts dieser Situation vor der Aufgaben, Stellung zu den bildungspolitischen, konzeptionellen und praktischen Fragen zu beziehen, die sich im Kontext von Inklusion stellen. Andererseits ist die Forderung nach Inklusion in die erziehungswissenschaftliche Fachdebatte einzuordnen […]“ (Hascher & Kessl 2015, 5). Ohne die Begriffsdiskussion an dieser Stelle führen zu können, sei lediglich auf die kontroverse und diffuse Verwendung des Inklusionsterminus verwiesen und nachfolgend von einem weiten Inklusionsverständnis auszugehen, das sich nicht nur auf Kinder mit Förderbedarf bezieht, sondern Menschen aller Altersstufen und unterschiedlichster Heterogenitätsdimensionen impliziert. Den genannten, mit dem Inklusionsanspruch konnotierten Aufgaben sind auch sämtliche erziehungswissenschaftliche Teildisziplinen verpflichtet. In der Sonderpädagogik wird in der Diskussion um die wissenschaftliche Einordnung des Inklusionsanspruches häufig auf die Aspekte der De- und Umkategorisierung Bezug genommen. Hierbei geht es letztlich immer um die Frage einer adäquaten Berücksichtigung von Spezifik in einer Pädagogik, die die Heterogenität ihrer AdressatInnen als grundlegende Tatsache begreift und – und hier ist Erziehungswissenschaft immer auch normativ – eben diesen Sachverhalt als Bereicherung für Lehr-, Lern-, aber auch Lebensprozesse interpretiert.

In Anlehnung an Ainscow und Miles (2009) benennen Lindmeier und Lütje-Klose (2015) neben weiteren Schlüsselelementen für Inklusion die „partikuläre Hervorhebung derjenigen Gruppen von Lernenden, für die Exklusion, Marginalisierung und Unterachievement ein besonderes Risiko darstellen“ (ebd., 10), als Bestandteil dieses Prozesses. „Es geht darum, Verantwortung und Aufmerksamkeit für diese Lernenden sicherzustellen, um ihre Präsenz, ihre Partizipation und ihren Erfolg im allgemeinen Erziehungssystem zu gewährleisten“ (ebd.). Dieses für die Schulpädagogik formulierte Postulat behält für sämtliche menschlichen Lebensbereiche und Lebensphasen seine Gültigkeit. Sind Menschen von besonderen Exklusionsrisiken bedroht, bedarf es einer genauen Analyse ihrer individuellen Ausgangsbedingungen und der exkludierenden Praktiken und Barrieren. Inklusion und die Benennung besonderer Bedürfnisse stellen deshalb keinen Widerspruch dar. Im Gegenteil: Erst durch die Identifikation individueller Ausgangslagen in der Wechselwirkung mit interpersonellen, gesellschaftlichen und institutionellen Barrieren können Bedingungen für Teilhabe an wirklich allen gesellschaftlichen Vollzügen geschaffen werden. Prengel (2007, 56) weist auf die Notwendigkeit der Präzisierung eines Tertium Comparationis im Kontext von Verschiedenheit hin, da ohne diesen sämtliche Gleichheits- und Differenzaussagen über humane Beziehungen pauschal und unsinnig werden. Für die hier diskutierte Dimension Körperbehinderung bedeutet dies beispielsweise, „spezifische Bedingungen inklusiven schulischen Lernens körperbehinderter Kinder und Jugendlicher zu konkretisieren, um daraus gleiche und verschiedene Anforderungen an schulische Lebens- und Lernprozesse abzuleiten“ (Jennessen 2010, 123). Das Wissen um spezifische Bedingungen des Lernens und Lebens von Menschen mit Körperbehinderungen ist originär körperbehindertenpädagogisch und somit fundamental für die Disziplin Körperbehindertenpädagogik. Eine kooperierende und unterstützende Haltung gegenüber körperbehinderten Menschen sowie die Fähigkeit, aus diesem Wissen adäquates pädagogisches Handeln abzuleiten, sind Kennzeichen körperbehindertenpädagogischer Kompetenz.

Für die Spezifizierung des Kriteriums „körperliche Differenz“ bleibt jedoch zu konstatieren, dass dieses als Merkmal für Exklusionsprozesse in Interdependenz und Wechselwirkung mit anderen Heterogenitätsdimensionen betrachtet und analysiert werden muss, um seine potentiellen Auswirkungen auf den Grad der individuellen Teilhabe zu erfassen (Intersektionalität). So sind Menschen mit Körperbehinderung beispielsweise immer auch Männer und Frauen, haben ein bestimmtes Alter, einen spezifischen sozio-ökonomischen und Bildungsstatus und eine bestimmte Ethnizität. Eine analytische Auseinandersetzung mit Ungleichheits- und Marginalisierungsprozessen bei differenter Körperlichkeit sollte immer auch diese Dimensionen in den Blick nehmen, wobei sowohl der soziale Status (vgl. z. B. Jennessen, Kastirke & Kotthaus 2012) als auch die Visibilität und die Schwere der Behinderung (vgl. z. B. Lelgemann et al. 2012) als Auslöser für Exklusionspraktiken gelten, die sich im Bezug auf Frauen mit Behinderung noch verschärfen (vgl. BMBF 2012).

Aus den bisherigen Ausführungen ist abzuleiten, dass sich die Körperbehindertenpädagogik in ihrem disziplinären Kern an einem aktuellen Verständnis von Körperbehinderung zu orientieren hat, das die unterschiedlichen in der Internationalen Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) (DIMDI 2005) benannten Ebenen berücksichtigt:

Zum einen ist die körperlich-motorische Grundbedingung des Individuums zu beachten. Relevant im Kontext von Behinderung ist diese dann, wenn die Körperfunktionen und Körperstrukturen nicht einer – lediglich informell festgelegten, tradierten – Norm entsprechen. Auch wenn alle Menschen im Hinblick auf ihre Körperlichkeit unterschiedlich sind, ist das Maß der gesellschaftlich geduldeten Verschiedenheit genormt. „Die Menschen, die außerhalb dieser Norm liegen, werden, oftmals mit einer differenzierten Ursache belegbar, als ‚geschädigt‘, gerne auch als ‚krank‘ bezeichnet“ (Schlüter 2010, 15). Hierbei ist unter Zuhilfenahme des salutogenetischen Konzeptes Antonovskys von einem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum auszugehen (vgl. Antonovsky 1997; vgl. auch den Beitrag von Walter-Klose in diesem Band). So ist kein Mensch jemals nur gesund und selbst sterbende Menschen verfügen noch über gesunde Körperfunktionen. Dementsprechend scheint die rein individuelle Ebene nicht ausreichend, um den Marker zu benennen, der letztendlich den Unterschied zwischen Körperbehinderung und Norm ausmacht. Dennoch sind auf der Ebene des Individuums sowohl die Prozesse der Selbstwahrnehmung (vgl. hierzu auch den Beitrag von Kienle und Singer in diesem Band) als auch der Fremdwahrnehmung sowie die Wechselwirkungen zwischen diesen Ebenen relevant. So kann ein Mensch sich durchaus in seiner körperlichen Verfasstheit und seinem körperlichen Erleben als different und im Vergleich zu seinen Mitmenschen als eingeschränkt oder behindert erleben und dieses Erleben im Spiegel der anderen wieder und bestärkt finden. Andere körperbehinderte Menschen empfinden ihre Differenz als Teil ihrer Identität, ohne dass diese negativ konnotiert sei.

Diese Perspektive muss demnach um die in der ICF benannten Ebenen der gesellschaftlichen Dimensionen und Strukturen erweitert werden, die die Möglichkeiten der Aktivität und Partizipation fokussieren. In einem sozialwissenschaftlichen Verständnis von Behinderung wird davon ausgegangen, dass diese in Interaktionen verortet ist: „Behinderungen können situativ oder kontinuierlich auftreten. Überdauernde Formen, die wiederholt zu Ausschluss – häufig der gleichen Personen(gruppen) – führen, können sich zu Erfahrungen verdichten, die wiederum weiteren Handlungen zugrunde liegen. Behinderung wird dabei in Relation zu kontextuellen Erwartungen […] verstanden“ (Sturm 2015, 26). Diese kontextuellen Erwartungen lassen sich beispielsweise im Bildungssektor an der Norm des Leistungsprinzips festmachen. Für sämtliche außerschulischen, gesellschaftlich relevanten Bereiche kann diese Erwartung sich darin zeigen, alle zur Verfügung stehenden Strukturen nutzen zu können, die für Menschen, deren körperliche Verfasstheit auf dem Kontinuum nahe an der Norm der Gesundheit angesiedelt ist, (scheinbar) problemlos zugänglich sind. Hinzu kommen historisch gewachsene und kulturell geprägte Bilder von Körpern und ihren Abweichungen und die mit diesen einhergehenden interaktiven Marginalisierungsprozesse. Die Ausgestaltung der gesellschaftlichen Bedingungen ist neben den eher auf der sozialpsychologischen Ebene angesiedelten interpersonellen Exklusionspraktiken ausschlaggebend für die Behinderung und die Teilhabe körperlich differenter Menschen. Konkret:

„Dies können Bordsteine sein, die das Leben schwer oder leicht machen, wenn sie abgeflacht sind, die (Nicht-)Zugänglichkeit öffentlicher Verkehrsmittel, das Vorhandensein und die Akzeptanz bzw. Nutzung unterstützter Kommunikationsmittel, das Vorhandensein notwendiger therapeutischer Angebote, die gesetzlichen Rahmenbedingungen oder die Struktur der Bildungsangebote einer Gesellschaft.“ (Lelgemann 2015, 624)

Auf der Grundlage dieses sowohl die individuellen als auch die interpersonellen und gesellschaftlichen Bedingungen berücksichtigenden Verständnisses von Behinderung und Körper soll in Anlehnung an die Definitionen von Leyendecker (2005) und Lelgemann (2015) Körperbehinderung wie folgt definiert werden:

Körperbehinderung bezeichnet ein komplexes Phänomen, bei dem die Wechselwirkungen zwischen der individuellen körperlich-motorischen Verfasstheit eines Menschen, seinen anderen personalen sowie interpersonellen, institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen die Durchführung von Aktivitäten und Partizipation an sämtlichen gesellschaftlichen Bezügen erschweren.

Literatur

Ainscow, M./Miles, S. (2009): Developing inclusive education systems: How can we move policies forward? URL: http://www.ibe.unesco.org/fileadmin/user_upload/COPs/News_documents/2009/0907Beirut/DevelopingInclusive_education_Systems.pdf (Letzter Zugriff: 07.01.2016)

Antonovsky, A. (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung von Gesundheit. Tübingen.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2012): Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland. Meckenheim.

DIMDI (2005): ICF – Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Neu-Isenburg.

Hascher, T./Kessl, F. (2015): Inklusion – eine erziehungswissenschaftliche Perspektive. In: Erziehungswissenschaft 51, 26. Jg., 5–6.

Jennessen, S. (2010): Spezifik in einer Pädagogik der Vielfalt – Schulische Inklusion körperbehinderter Kinder und Jugendlicher. In: Jennessen, S./Lelgemann, R./Ortland, B./Schlüter, M. (Hrsg.): Leben mit Körperbehinderung – Perspektiven der Inklusion. Stuttgart. 120–134.

Jennessen, S./Kastirke, N./Kotthaus, J. (2012): Diskriminierung im Bildungsbereich. Eine Bestandsaufnahme unter besonderer Berücksichtigung der Merkmale des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). Expertise im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Berlin.

Lelgemann, R. et al. (2012): Qualitätsbedingungen schulischer Inklusion für Kinder und Jugendliche mit dem Förderschwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung. URL: http://www.uni-wuerzburg.de/fileadmin/06040400/downloads/Forschung/Zusammenfassung_Forschungsprojekt_schulische_Inklusion.pdf (Letzter Zugriff: 06.10.2015)

Lelgemann, R. (2015): Körperbehindertenpädagogik – Vorschläge für eine Weiterentwicklung in Theorie und Praxis. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 66, 2015, 623–634.

Leyendecker, C. (2005): Motorische Behinderungen. Grundlagen, Zusammenhänge und Förderungsmöglichkeiten. Stuttgart.

Lindmeier, C./Lütje-Klose, B. (2015): Inklusion als Querschnittsaufgabe in der Erziehungswissenschaft. In: Erziehungswissenschaft 51, 26. Jg., 7–16.

Prengel, A. (2007): Diversity Education – Grundlagen und Probleme der Pädagogik der Vielfalt. In: Krell, G./Riedmüller, B./Sieben, B./Vinz, D. (Hrsg.): Diversity Studies. Frankfurt a. M. 49–68.

Schlüter, M. (2010): Körperbehinderung und Inklusion im Speziellen. In: Jennessen, S./Lelgemann, R./Ortland, B./Schlüter, M. (Hrsg.): Leben mit Körperbehinderung – Perspektiven der Inklusion. Stuttgart. 15–32.

Sturm, T. (2015): Inklusion: Kritik und Herausforderung des schulischen Leistungsprinzips. In: Erziehungswissenschaft 51, 26. Jg., 25–32.

 

I           DISZIPLIN

 

1          LEBENSSITUATIONEN VON MENSCHEN MIT KÖRPERLICHEN UND MEHRFACHEN BEEINTRÄCHTIGUNGEN IN GEGENWART UND ZUKUNFT GESTALTEN – IN KENNTNIS DER HISTORISCHEN ENTWICKLUNGEN

Reinhard Lelgemann

Vorbemerkung

In einer Zeit, in der ohne Unterbrechung hunderte von Informationen auf uns einwirken und ebenso rasch vergessen werden, stellt sich durchaus die Frage, welche Bedeutung die Kenntnis historischer Entwicklungen für die Gegenwart der eigenen professionellen Tätigkeit haben kann; weitergehend für die Gestaltung von Handlungsmöglichkeiten von Menschen mit körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigungen. Derartige Reflexionen können sich dabei sowohl aus einem spezifischen, ebenso aber häufig wohl aus einem eher allgemeinen Interesse ergeben. Ein spezifisches Interesse liegt dann vor, wenn historischen Reflexionen Bedeutung für Fragestellungen im professionellen Kontext gegeben wird, die für die Gegenwart bzw. die nahe Zukunft relevant sind. Beispiele hierfür sind z. B. konzeptionelle Überlegungen zur Gestaltung der pädagogischen Zusammenarbeit mit Schülern mit sehr schweren Beeinträchtigungen oder Planungen zur Weiterentwicklung eines Einrichtungsträgers von Angeboten für Menschen mit Beeinträchtigungen (vgl. Schmuhl & Winkler 2010). Wesentlich häufiger aber wird es ein eher unspezifisches Interesse im Rahmen der eigenen Ausbildung sein, welches z. B. der beruflichen Selbstvergewisserung dient.

Sicherlich wäre es vermessen, durch die Beschäftigung mit historischen Entwicklungen konkrete Entscheidungshilfen für aktuelle Anliegen zu erwarten. Doch hofft der Autor, dass historische Reflexionen für die historischen Hintergründe weitergehender Entwicklungen und möglicher Strategien, in die Professionelle als Handelnde eingebunden sind, sensibilisieren. Dies ist vermeintlich wenig, doch aus Sicht des Autors genug, um einen erneuten Versuch zu wagen, einige Stränge der Geschichte der Körperbehindertenpädagogik zu verfolgen. Die Darstellung stellt angesichts der Kürze des Beitrages eine durchaus subjektive Auswahl der Fragestellungen dar, die dennoch anstrebt, wesentliche und aktuell relevante Kernthemen zu reflektieren. Der Artikel orientiert sich im ersten Teil am 1999 erschienenen Beitrag von Hans Weiß zu zentralen Aspekten einer Geschichte der Körperbehindertenpädagogik. Bergeest in der ersten Auflage seines Kompendiums zur Körperbehindertenpädagogik (2000), vor allem aber Stadler und Wilken (2003) gebührt das Verdienst, die großen Leitlinien einer Geschichte der Körperbehindertenpädagogik in den letzten Jahren differenziert und kenntnisreich dargestellt zu haben. Zudem liegen inzwischen einzelne Studien zu Teilaspekten des Fachgebietes und naheliegender Gebiete vor, auf die hier nur verwiesen werden kann (z. B. Bösl 2009; Fuchs 2001; Musenberg 2003).

1.1       Geschichte in Spannungsfeldern Geschichte in Spannungsfeldern

Weiß hat in seinem 1999 erschienenen Artikel Spannungsfelder einer historischen Betrachtung innerhalb des Fachgebietes benannt, die auch noch heute, fast 20 Jahre später, von Bedeutung sind. Als solche benennt er:

•  die Herausforderung der Entwicklung und Ausgestaltung institutionell-professioneller Angebote

•  die Diskussion und konkrete Entwicklung von Heim- und Tagesschulen

•  das Verhältnis „separater“ und „integrativer“ Formen der Erziehung und Bildung von Schülerinnen und Schülern mit Körperbehinderungen

•  die Frage der Kooperation mit den Eltern der Schülerinnen und Schüler

•  die Herausforderung der uneingeschränkten Einbeziehung von Schülerinnen und Schülern mit sehr schweren, mehrfachen und sog. schwersten Behinderungen in schulische Bildungsprozesse als permanent zu sichernde Aufgabe

•  die didaktische Herausforderung der Verbindung von Unterricht, Pflege und Therapie

•  die kritische Auseinandersetzung mit utilitaristischem Denken

•  die Frage der Einbeziehung von Schülerinnen und Schülern mit weiteren Beeinträchtigungen (Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf im Bereich Lernen oder kognitive Entwicklung, Sehen und Hören)

•  das Verhältnis von Medizin (Therapie) und Pädagogik, Didaktik und Erziehung

Auch wenn seine Systematik stark am schulischen Bereich orientiert ist, so erscheint dies berechtigt, denn Körperbehindertenpädagogik hat sich im historischen Kontext immer deutlich über dieses Aufgabenfeld definiert. Viele der hier zu Grunde liegenden Herausforderungen sind auch für die Gegenwart relevant und zudem eng miteinander verknüpft. Die Ausgestaltung der konkreten pädagogisch-strukturellen Angebote steht z. B. gegenwärtig in direkter Beziehung zur Frage der weiteren Entwicklung integrativer bzw. inklusiver oder spezialisierter Bildungsangebote. Gerade in diesem Kontext stellt sich erneut die Frage der Bedeutung bzw. Sicherung therapeutischer und pflegerischer Elemente für ein unterstützendes Bildungsangebot oder die Frage der Einbeziehung von Schülerinnen und Schülern mit sehr schweren Beeinträchtigungen in die weiteren bildungspolitischen Entwicklungen.

1.2       Zur Sicherung des Bildungsangebotes

Die hier durch die Impulse von Weiß angesprochenen Aspekte der historischen Entwicklung können an dieser Stelle nicht vertieft behandelt werden. Hier muss auf die bereits genannten Publikationen sowie aktuelle Veröffentlichungen im didaktisch-methodischen Kontext verwiesen werden (z. B. Bergeest, Boenisch & Daut 2015; Lelgemann 2010).

Grundlegend lassen sich die hier nur grob skizzierten historischen Entwicklungen überdies aus gerechtigkeitsphilosophischer Perspektive reflektieren. Insbesondere Philosophinnen wie Martha Nussbaum (2010), noch deutlicher aber Eva Kittay (2006), stellen die Frage, ob die starke Orientierung der Gerechtigkeitsphilosophie und vieler staatlicher Verfassungen am unausgesprochenen Grundgedanken fähiger, nicht gesundheitlich eingeschränkter Menschen, wie sie sich im ersten Entwurf von Rawls (1979) findet, nicht dazu führt, dass weniger begabte, gesundheitlich eingeschränkte Menschen und ihre Angehörigen, vor allem also die Mütter, in solch einer Gesellschaft strukturell benachteiligt werden. Auf der Basis ihrer kritischen Anfragen entwickeln sie ein Gerechtigkeitsmodell, welches staatlichen Strukturen die Verantwortung dafür gibt, Voraussetzungen zu schaffen, auf deren Basis ein möglichst gutes Leben aller Menschen möglich wird. Hierbei soll insbesondere berücksichtigt werden, dass alle Menschen als hilflose, zu pflegende Wesen geboren werden, alle Menschen Abhängigkeitssituationen auch in ihrem weiteren Leben zeitlich begrenzt erfahren, manche auch ein Leben lang, und zudem alle Menschen im hohen Alter erneut fürsorge- und pflegebedürftig sein werden und pflegender Angehöriger bedürfen. Auf der Grundlage der von Weiß vorgeschlagenen Themenfelder und mit Hilfe der Überlegungen von Nussbaum und Kittay lassen sich so Kriterien ableiten, mit denen historische und aktuelle Entwicklungen der Körperbehindertenpädagogik systematisch analysiert und kritisch betrachtet werden können.

Mit Bezug auf die Entstehung und Gestaltung von Bildungsangeboten für Schülerinnen und Schüler mit körperlichen oder mehrfachen bzw. schwersten Beeinträchtigungen können z. B. folgende Leitfragen untersucht werden:

•  Hatte und hat der Staat eine Verpflichtung, Menschen mit einer Beeinträchtigung ein Bildungsangebot zu ermöglichen oder sollte er dies privaten Initiativen oder den Familienangehörigen überlassen?

•  Reicht es, wenn diese Schülergruppe formal dem allgemeinen Bildungssystem angehört, oder sind spezifische Unterstützungsleistungen notwendig?

•  Sollen in dieses Angebot auch Personengruppen einbezogen werden, die absehbar keinen produktiven Beitrag leisten können?

Diese ethischen Fragestellungen sind gleichermaßen für die Gegenwart als auch historisch bedeutsam. Im 19. und 20. Jahrhundert sahen staatliche Strukturen und deren Institutionenvertreter ihre zentrale Aufgabe in der Sicherung der Funktionsfähigkeit des nationalen Staatengebildes. Hierzu gehörte die Sicherung der Produktivität und der Leistungsfähigkeit des eigenen Staates, seiner Verteidigungsfähigkeit und damit der nationalen Souveränität. Entscheidungen in vielen anderen Handlungsbereichen, seien dies die Gesundheitsfürsorge, die öffentlichen Verkehrswege, ebenso aber das komplette Bildungswesen, waren diesen Grundaufgaben untergeordnet und wurden erst im Verlaufe der historischen Entwicklung als bedeutsam erachtet. Es bestand ein breites bürgerliches Grundverständnis, dass trotz aller praktischen Erschwernisse die Familien als Fundament der Gesellschaft galten und für ihr eigenes Wohlergehen und damit auch das Wohl der Kinder selbst verantwortlich waren. Kaum jemanden interessierte, wenn in der Produktion im 18. und 19. Jahrhundert zunehmend Kinder eingesetzt wurden, solange nicht die staatliche Verteidigungsfähigkeit eingeschränkt war. Ebenso interessierten Krankheit und damit auch Behinderung der arbeitenden Bevölkerung erst, als ihre Bedeutung für die Funktionsfähigkeit der Verteidigung und schließlich der Wirtschaft begriffen wurde. Bildung sollte, sobald ihre Bedeutung überhaupt anerkannt wurde, Produktivität sichern und war damit in den konkreten städtischen und dörflichen Lebenssituationen weit entfernt von einem humboldtschen Bildungsverständnis.

Diese Welt erschien vermutlich den meisten Menschen gerecht, war aber noch weit davon entfernt, eine Gerechtigkeitsstruktur zu realisieren, wie sie Rawls (1979 und revidiert 2006) in seiner gerechtigkeitsphilosophischen Konzeption in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte. Er beschrieb das Modell einer gerechten Welt, die so gestaltet sein sollte, dass es gleichgültig wäre, in welcher Familie ein Mensch geboren würde. Staatliche Strukturen sollten es gleich geborenen, wenn auch sehr individuellen Personen ermöglichen, ihr Glück zu finden. Die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts führte in vielen industrialisierten Staaten für viele Bürger durchaus zu einer derartigen Lebenssituation. Doch war auch diese Entwicklung keine „natürlich“ vorgegebene, sondern eine, die durch starke gesellschaftliche Veränderungen, nicht zuletzt die Demokratisierung und eine deutliche Stärkung der Arbeitnehmerrechte, erzwungen wurde und auch aktuell immer wieder neu ausgehandelt werden muss.

So können die zunehmend bessere Bildung in städtischen und ländlichen Bereichen, die Stärkung der Frauenrechte und ihre Einbeziehung in alle Bildungsbereiche als Beispiele für solch eine deutlich gerechtere Entwicklung bezeichnet werden. Staatliche Bildungsangebote für Menschen mit Beeinträchtigungen entwickelten sich allerdings erst viel später, da ihr Nutzen lange bezweifelt wurde. Nicht zuletzt kann durch eine derart knappe historische Skizze nur angedeutet werden, welche besondere Leistung in diesen historischen Kontexten die Einrichtung von Bildungsangeboten darstellte, die im damaligen gesellschaftlichen Grundverständnis eigentlich nicht notwendig erschienen und von Seiten des Staates oftmals nicht unterstützt wurden. Dies gilt für die erste arbeitsorientierte Einrichtung eines Edlen von Kurz in München ebenso wie für zahlreiche weitere Gründungen im neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert, wie z. B. das Potsdamer Oberlinhaus, welches als erste Einrichtung nicht nur männliche Schüler mit Beeinträchtigungen aufnahm, bei denen eine spätere produktive Tätigkeit zu erwarten war, sondern auch Mädchen ein Bildungsangebot eröffnete sowie ebenso jungen Menschen mit schwereren Beeinträchtigungen. Auf diesem Hintergrund erscheint auch die Entwicklung des Oskar-Helene-Heims als herausragende Leistung, übernahm hier doch erstmalig der preußische Staat von Anfang an Verantwortung für die Errichtung und fortlaufende Finanzierung der Einrichtung. Die Entwicklung des Förderschulwesens allgemein und in diesem Rahmen auch die Entwicklung schulischer Bildungsangebote für körperbehinderte Schülerinnen und Schüler galten in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts europaweit als mustergültig. Nicht einbezogen wurden aber, bis auf wenige Ausnahmen, Menschen mit sehr schweren Beeinträchtigungen, wozu in der damaligen Zeit auch durchaus Personen mit einer schweren Tetraspastik gehörten.

Wie wenig gesichert diese bescheidenen Angebote waren, zeigte sich nicht zuletzt im Nationalsozialismus, in dem Förderschulen und Heime für körperbehinderte junge und ältere Menschen geschlossen wurden, bestehende Einrichtungen oftmals ein ausgeprägt utilitaristisches und deshalb reduktionistisches pädagogisches Verständnis entwickelten und sich Mitglieder einer Behindertengruppe gegenüber stärker beeinträchtigten Personen abgrenzten bzw. sich von diesen distanzierten, indem sie auf die eigene Nützlichkeit verwiesen (vgl. Wilken 2004b). Die Entwicklung von Bildungsangeboten für Menschen mit körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigungen war zudem in beiden deutschen Staaten der Nachkriegszeit keine Selbstverständlichkeit. Diesseits und jenseits der Grenze entstanden Schulen für körperlich beeinträchtigte Schülerinnen und Schüler erst zum Ende der fünfziger Jahre, also zehn bis fünfzehn Jahre nach Kriegsende, in der Bundesrepublik Deutschland überdies zumeist auf Elterninitiative. In beiden Staaten wurden selbst körperlich beeinträchtigte Schüler mit stärkeren Lernproblemen nur in geringem Umfang aufgenommen. Sehr schwer beeinträchtigte Schüler wurden in der DDR als nicht bildungsfähig angesehen und den Eltern oder christlichen Einrichtungen überlassen. In der Bundesrepublik setzte sich erst Ende der siebziger Jahre die Erkenntnis durch, dass auch Schüler mit komplexen Beeinträchtigungen ein Bildungsrecht haben und nicht dauerhaft vom Schulbesuch befreit werden dürfen. Allerdings galten in beiden Bildungssystemen Angebote der Therapie und der Pflege als selbstverständliche unterstützende Elemente des Bildungsangebotes in Schulen für Körperbehinderte, auch wenn diese im Einzelnen unterschiedlich realisiert wurden (vgl. Hardt et al. 2008).

Die Entwicklung des Bildungsangebotes für Menschen mit einer körperlichen oder mehrfachen Beeinträchtigung kann historisch und für einige Regionen der Welt als gelungener Prozess der Eröffnung von Bildungschancen betrachtet werden; ebenso aber auch als Prozess, der in seiner aktuellen Entwicklung immer wieder neu kritisch reflektiert werden muss. Hier ergeben sich z. B. Fragen danach, wie das Bildungsrecht mehrfachbehinderter und besonders beeinträchtigter Schülerinnen und Schüler gesichert wird, welche Aufgaben das Bildungssystem übernimmt und welche es an Eltern delegiert, insbesondere auch in den Bereichen Therapie, Pflege und Mobilität.

Eine historische Betrachtung der Situation körper- und mehrfachbehinderter Menschen würde aber zu kurz greifen, wäre sie vor allem am schulischen Bildungsbereich orientiert. So hatte bereits der Perl-Bund, der wohl erste Selbsthilfeverband körperbehinderter Menschen, seinen Mitgliedern eine berufsvorbereitende Beratung ermöglicht (vgl. Wilken 2004b, 264), eigene Betriebe gegründet und sich in die damaligen gesellschaftlichen Debatten eingebracht (vgl. ebd., 265). Historische Reflexionen erfordern zudem, die jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungen einzubeziehen. Wiederum in Thesen, die anschließend erläutert werden, soll dies hier in einigen Bereichen geschehen:

•   Heterogenität des Personenkreises und Spannungen zwischen den unterschiedlich beeinträchtigten Gruppen: Wenn von einer Gruppe „der“ Menschen mit körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigungen gesprochen wird, so ist dies historisch und in der Gegenwart immer als Hilfskonstrukt zu verstehen. Die Lebenssituationen von Menschen mit unterschiedlichen körperlichen Beeinträchtigungen unterscheiden sich sehr stark und dies führte im historischen Rahmen zu großen Spannungen zwischen schwerer behinderten Menschen, sogenannten Siechen, und leichter körperlich beeinträchtigten Menschen. Dieses Spannungsverhältnis muss bis in die Gegenwart bedacht werden, auch wenn es nicht mehr öffentlich betont wird.

•   Eingeschränkte Partizipationsmöglichkeiten in den Lebensbereichen Arbeiten und Wohnen: Den eigenen Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen und individuell gewünschte Wohnmöglichkeiten zu verwirklichen, sind Kennzeichen gesellschaftlicher Partizipation und haben sowohl Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung wie auch die Institutionen der sogenannten Behindertenhilfe immer schon beschäftigt. In beiden Handlungsfeldern werden bis in die Gegenwart hinein gruppenbezogene Arbeits- und Wohnformen auf Seiten der Kostenträger präferiert. Erst in den letzten Jahren entwickeln sich zunehmende Alternativmöglichkeiten, deren Einrichtung und Finanzierung aber immer noch nicht selbstverständlich sind.

•   Öffentliche Wahrnehmung körper- und mehrfachbehinderter Menschen: Die öffentliche Wahrnehmung körper- und mehrfachbehinderter Menschen ist historisch geprägt durch die Wahrnehmung von Hilflosigkeit und Hilfebedürftigkeit, durch Fokussierung auf Leiden oder eingeschränkte Partizipationsmöglichkeiten, immer wieder aber auch durch Betonung des „Ungewöhnlichen und Exotischen“ (vgl. Bosse 2014). Bildliche und weitere mediale Darstellungen inszenierten über viele Jahrhunderte hinweg Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung als verängstigend oder erschreckend sowie in der Zeit des Nationalsozialismus als sozial ausnutzend. Erst in den letzten Jahren scheint es hier zu einer deutlichen Veränderung der medialen Präsentation zu kommen.

•   Fokussierung auf Hilfsmittel und Technik: In der öffentlichen Wahrnehmung, ebenso in der aktuellen bildungspolitischen Diskussion, überwiegt immer wieder die rein motorische Perspektive einer körperlichen Beeinträchtigung, die durch Hilfsmittel behoben werden kann bzw. könnte. Der Aspekt der technischen Hilfsmittel ist für körperbehinderte Menschen durchaus bedeutsam. Während aber z. B. in Folge des Contergan-Skandals Hilfsmittel zwangsverordnet wurden, die bei den Betroffenen oftmals auf Ablehnung stießen, der Rollstuhl, oder in früheren Zeiten ein Rollwagen, in der Öffentlichkeit Sinnbild der Abhängigkeit waren, hat sich diese Einschätzung inzwischen deutlich verändert. Von vielen Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung wird der Rollstuhl als Möglichkeit der Mobilität wahrgenommen und in einer breiten Öffentlichkeit werden hochentwickelte Hilfsmittel bzw. Prothesen inzwischen sogar als Möglichkeit wahrgenommen, Körperbehinderung „rückgängig“ zu machen oder prothetische, weil leistungssteigernde Hilfsmittel sogar für nicht körperlich beeinträchtigte Menschen diskutiert. Es besteht die Gefahr, dass weitere bedeutsame Probleme von Menschen mit einer körperlichen oder mehrfachen Beeinträchtigung, wie Wahrnehmungs- oder auch Lernschwierigkeiten, um nur zwei Bereiche zu nennen, oftmals nicht zur Kenntnis genommen werden.

•   Unterschiedliche Sozialleistungen für Menschen mit einer erworbenen Schädigung: Die historisch bedeutenden Unterschiede in der Unterstützung sogenannter Kriegskrüppel oder Zivilgeschädigter wurden erst Mitte der 1980er Jahre überwunden. Heute sind eher Unterschiede in der Versorgung von Menschen, die durch einen Arbeitsunfall eine körperliche Beeinträchtigung erworben haben, Menschen, die eine solche Schädigung im Freizeitbereich erwarben oder die von Geburt an behindert sind, relevant.

•   Politische Partizipation körperbehinderter Menschen: Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass in den politischen Gremien bis in die 1980er Jahre hinein noch vor allem über Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung gesprochen wurde. Dies hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt. Viele Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen beteiligen sich aktiv in öffentlichen Diskussionen und Entscheidungsprozessen, bis hin zu überstaatlichen Einrichtungen.

•   Vermeidung menschlichen Lebens mit einer Beeinträchtigung: Mit jedem neuen vorgeburtlichen Diagnoseinstrument stellt sich die Frage, wie die Gesellschaft damit umgeht, ob es nahegelegt und durch Kostenerstattungen leicht gemacht wird, eine solche selektierende Diagnostik anzuwenden. Schlüter (2011) verwies darauf, dass die Anwendung derartiger Verfahren jungen Eltern die Möglichkeit gibt, sich bewusst für ein Kind mit einer Beeinträchtigung zu entscheiden, ebenso aber für die vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft. Möglichkeiten der zielgerichteten Diagnostik, der seit Jahren betriebenen Spätabtreibung oder auch der fortlaufenden Diskussionen des begleiteten Suizids, wie er in den Niederlanden und Belgien auch bei Kindern möglich ist, signalisieren eine zunehmende gesellschaftliche Offenheit für derartige Entwicklungen. Zudem leben wir in einer Welt, die einerseits immer mehr Möglichkeiten der medizinischen Heilung verspricht, andererseits aber auch erwartet, dass Menschen sich in höchstem Maße in ihrem Beruf einbringen, sich optimal „vermarkten“ und die hohen Anforderungen der Familie, Erziehung und des Berufes erfolgreich bewältigen. So wird nahegelegt, dass ein Kind mit einer Behinderung vor allem eine Belastung darstellt.

Im Folgenden werden diese kurzen Thesen in ihrer historischen Bedeutung für die Gegenwart noch einmal differenzierter erörtert.

Heterogenität des Personenkreises und Spannungen zwischen den unterschiedlich beeinträchtigten Gruppen

Am Beispiel des Otto-Perl-Bundes lässt sich aufzeigen, dass dessen zahlreiche Initiativen zur Partizipation nicht davor bewahrten, sich von schwerer behinderten Menschen abzugrenzen (vgl. Wilken 2004b). Ausdrücklich lässt sich dies bei Otto Perl selbst belegen, der im Jahr 1936 in einem Schreiben an Adolf Hitler vorschlug, die finanziellen Mittel, welche für die Versorgung des Personenkreises der Siechen genutzt wurden, doch besser in der Rehabilitation der damals so genannten Krüppel zu investieren. Ebenso sperrten sich noch in den 1960er Jahren zahlreiche Bildungseinrichtungen, schwerer körperlich beeinträchtigte Menschen in ihre Einrichtungen aufzunehmen. Als schwerer behindert konnte schon ein Mensch mit einer ausgeprägten Tetraspastik gelten und selbst in den 1960er Jahren war es keine Selbstverständlichkeit, dass Schulen für Körperbehinderte lern- und geistig beeinträchtigte junge Menschen aufnahmen. Das von Ursula Haupt und vor allem Andreas Fröhlich Ende der 1970er Jahre realisierte Forschungsprojekt zur Bildungsfähigkeit schwerstbehinderter Menschen führte erst in den 1980er Jahren dazu, dass auch diese Gruppe in allen Förderschulen aufgenommen wurde. Dies gilt auch für die Gruppe der nicht sprachlich kommunizierenden Menschen, die in den ersten Jahren häufiger darüber berichteten, dass sie im persönlichen Kontakt immer wieder Erfahrungen der Abwertung machten und nicht angemessene Bildungsangebote erhielten. Eine Einbeziehung der Gruppe der sehr schwer behinderten Menschen in öffentliche Stellungnahmen im Kontext der UN-Behindertenrechtskonvention findet erst seit kurzem statt und belegt damit, wie wichtig die selbstkritische Diskussion aller Beteiligten und Gruppen in bildungspolitischen ebenso wie sonderpädagogischen Kontexten ist, um wirklich allen Personen politische Partizipation zu ermöglichen.

Eingeschränkte Partizipationsmöglichkeiten in den Lebensbereichen Arbeiten und Wohnen

Aus historischer Perspektive kann kaum beurteilt werden, in welchem Maße Menschen mit körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigungen von gesellschaftlich anerkannter Arbeit ausgeschlossen oder an dieser beteiligt waren. Historisch verbürgte Beispiele beruflicher Tätigkeit sind etwa Stefan Farffler, ein Uhrmacher aus Altdorf, der ein handbetriebenes rollstuhlähnliches Fahrzeug entwickelte, oder Thomas Schweicker, ein armloser Kunstschreiber aus Schwäbisch Hall. In einigen wenigen figürlichen Darstellungen aus ägyptischer Zeit finden sich Darstellungen körperlich beeinträchtigter Menschen, die ebenfalls als Schreiber tätig waren. Auch die Darstellungen kleinwüchsiger Menschen als Harlekine und Unterhalter an fürstlichen Höfen lassen auf eine anerkannte Tätigkeit schließen. Es ist aber davon auszugehen, dass diese Beispiele eher Ausnahmen darstellen. In vielen Fällen werden Menschen mit körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigungen in den Familien mitgearbeitet oder als Bettler zum Einkommen der Familie beigetragen haben.

In der Gestalt von Gefängnissen und Irrenhäusern entwickelten sich schließlich Einrichtungen, die dem öffentlichen Elend, sprich behinderten, chronisch kranken, verarmten, allein lebenden und ebenso auch kriminellen Personen Einhalt gebieten sollten. Dort entstand die Notwendigkeit, den Insassen eine Beschäftigung anzubieten (vgl. Sierck 1992). Gefängnisse und Irrenhäuser der damaligen Zeit müssen als totale Institutionen im Sinne Goffmans (1973) bezeichnet werden. Zu sagen, dass in ihnen gewohnt, gearbeitet und im weitesten Sinne gelebt wurde, ist bei genauerer Betrachtung mehr als euphemistisch. Häufig war es ein Vegetieren und Verwalten menschlichen Elends auf einem Niveau, welches in keiner Weise menschenwürdig war. Erst vor etwa 130 Jahren entstanden Einrichtungen (z. B. das Oberlinhaus), die Menschen mit körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigungen gleichzeitig Schutz und die Möglichkeit boten, an einem Bildungsprozess teilzunehmen, sich an einfachen Arbeiten zu beteiligen sowie soziale Kontakte zu knüpfen. Gleichzeitig aber waren sie in aller Regel doch so organisiert, dass das eigene Leben in sehr hohem Maße fremdbestimmt war durch festgelegte Tages-, Wochen- und Jahresrhythmen. Ein individuelles oder privates Leben angesichts des Lebens in Gruppenschlafräumen und in ständiger Öffentlichkeit war so nicht möglich. Alle Abläufe des alltäglichen Lebens richteten sich nach den Organisationsvorgaben der Einrichtung und der dortigen Mitarbeiter aus. Die Forderung nach normalisierten Lebensbedingungen, wie sie in den siebziger Jahren erhoben wurde, war deshalb ein großer gesellschaftlicher Fortschritt, denn sie beinhaltete die Forderung, gesellschaftlich vergleichbare Lebensbedingungen für alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens von Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen zu ermöglichen. Beck (1996) hat in einem der letzten zu diesem Paradigma publizierten Artikel denn auch deutlich gemacht, dass das Verständnis von Normalität sich ebenso weiterentwickelt wie die Gesellschaft und heute eher individuell gestaltete Lebensbedingungen ermöglichen will, die das Leben allein, in einer Partnerschaft oder in einer Wohngemeinschaft ebenso umfassen wie das Leben in einem Wohnheim oder einer Komplexeinrichtung.

Die Mitte bis Ende der 1980er Jahre entwickelten Unterstützungssysteme für eine Arbeit oder Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, z. B. die Integrationsfachdienste oder die Bereitstellung vielfältiger Wohnformen, sind deshalb – aus historischer Betrachtung – bedeutende Schritte hin zu individuelleren Lebensformen bzw. Wahlmöglichkeiten, die in vielen Regionen immer noch keine Selbstverständlichkeit darstellen. Hinzuweisen ist z. B. darauf, dass durch die Arbeit der Integrationsfachdienste schwerer beeinträchtigte Menschen derzeit kaum erreicht werden. So bleibt die Eröffnung vielfältiger Arbeits- und Wohnmöglichkeiten auch in der Gegenwart ein Auftrag, der kontinuierlicher Aufmerksamkeit bedarf.

Öffentliche Wahrnehmung körperbehinderter Menschen

Aus historischer Perspektive überwog über Jahrhunderte hinweg sicherlich die Wahrnehmung körper- und mehrfachbehinderter Menschen als Personen, die sowohl außerhalb der menschlichen Gesellschaft leben, die dieser Gesellschaft zur Last fallen, die betrügen, mit dem Teufel im Bunde stehen, die für ihr früheres schlechtes Leben bestraft wurden oder nur durch ihre Präsenz schon Unheil verbreiten und eine Gefahr für schwangere Frauen darstellten. Für kriegsversehrte Krüppel galt diese Sichtweise allerdings weniger (vgl. Bergeest et al. 2015, 81). Ebenso galten behinderte Menschen als exotisch und außergewöhnlich und verdienten ihren Lebensunterhalt auf Jahrmärkten bzw. wurden hierfür auch missbraucht, wie im Falle epilepsiekranker Menschen, die in Zirkusbuden gegen Gebühr betrachtet werden konnten bzw. über die man sich bei Besuchen in Irrenanstalten als Wochenendvergnügen belustigte. Ein weiteres Beispiel für das Fortbestehen dieser ambivalenten gesellschaftlichen Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung stellt die Zurschaustellung kleinwüchsiger Personen dar, wie sie noch bis Mitte der 1990er Jahre in einem rheinland-pfälzischen Freizeitpark stattfand (vgl. Krause 2013) oder erneut im Jahr 2010 aus der Volksrepublik China berichtet wurde. Der Besitzer eines Freizeitparks, in dem nur kleinwüchsige Darsteller tätig sind, legitimierte diesen als sinnvolles Arbeitsangebot und als schützende Hilfe in einer eher ablehnenden Gesellschaft (vgl. Grzanna 2010).

Die nationalsozialistische Darstellung behinderter Menschen betonte durchgängig die Kosten, die diese Gruppe verursacht, sowie die Last, die die Versorgung dieses Personenkreises für die Gesellschaft insgesamt darstellt, und versuchte, die Ermordung behinderter Menschen als selbst gewünschte Befreiung (auch der Familien) aus einer leidvollen Lebenssituation medial zu vermitteln.

In der Nachkriegszeit wurde einerseits das Leid der kriegsversehrten und aus Gefangenschaft heimkehrenden Männer, die auch körperlich beeinträchtigt waren, thematisiert, ohne deren Traumatisierungen tatsächlich zu begreifen, andererseits aber wurden Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen kaum wahrgenommen oder immer noch versteckt. Dies änderte sich in Folge zahlreicher medizinischer Kampagnen, z. B. zur Bekämpfung der Kinderlähmung und deutlich mit der Aktion Sorgenkind. Während aber die medizinischen Kampagnen mit der Furcht vor einer Beeinträchtigung operierten, veränderte die Werbung der Aktion Mensch den Blick auf Kinder und Jugendliche, die zwar als Sorgenkinder begriffen wurden, damit aber erstmalig als zu umsorgende öffentlich wahrgenommen wurden.

Eine selbstbewusste Darstellung behinderter Menschen in den Medien, wie sie sich heute bereits in zahlreichen Beispielen findet, entwickelte sich erstmalig in den 1980er Jahren, in denen Menschen mit Körperbehinderung und die von ihnen gegründeten Verbände, wie z. B. der CeBeeF, für einen barrierefreien Nahverkehr oder die rechtliche Gleichstellung eintraten (Mürner & Sierck 2009). In den 1980er und 1990er Jahren wurde die Situation von Menschen mit Behinderungen zunehmend in der Öffentlichkeit dokumentarisch und literarisch thematisiert und Menschen mit Behinderung brachten sich selbst immer stärker ein. Eine vor allem auf Vorurteilen basierende öffentliche Darstellung, die oftmals auch ein geradezu voyeuristisches Interesse bediente, wurde zunehmend von einer realistischeren Darstellung abgelöst. Dies gilt, obwohl im Rahmen der Paralympics 2012, in deren Vermarktung leistungsstarke Menschen mit Behinderungen gar als „Super-Humans“ bezeichnet wurden, schon fast wieder ein Fremdheit unterstützendes Element eingesetzt wurde, wie es in der Geschichte im Rahmen von Jahrmarktauftritten zu finden war.

Gegenwärtig erleben wir eine immer größer werdende Präsenz von Menschen mit Behinderung oder einer körperlichen Beeinträchtigung in den Medien. Personen wie z. B. Raul Krauthausen, Anastasia Umrik oder viele andere präsentieren sich selbstbewusst, gestalten die öffentliche Diskussion mit und beteiligen sich durch zahlreiche konkrete Initiativen an der Verbesserung ihrer Lebensbedingungen.

Kritisch anzumerken bleibt, dass die Gruppe der sehr schwer beeinträchtigten Menschen, die insbesondere auch signifikante Veränderungen im Gesicht aufweisen, bis heute selbst in der Werbung der Aktion Mensch oder in qualitativ hochwertigen Spielfilmen kaum vorkommt. Scheinbar hat sich unsere Gesellschaft weiterentwickelt, weiß aber immer noch nicht, wie dieser Personenkreis einbezogen werden kann. Allerdings setzt die Schwere der Beeinträchtigung einer würdevollen Darstellung, zu der der Mensch eben auch zustimmen muss, Grenzen, wie sie auch bei Menschen mit einer schweren Krankheit und Demenz gelten.

Fokussierung auf Hilfsmittel und Technik

Hilfsmittel und technische Hilfsmittel können unterschiedlicher Natur sein. In der Gegenwart werden sie vor allem positiv bewertet; seien dies einfache kommunikative Hilfsmittel oder elektronische Kommunikationssysteme, seien dies technisch oder vom Material her anspruchsvolle Prothesen, die einen Ausgleich fehlender Glieder oder sogar eine bessere Funktionsfähigkeit als z. B. mit den normalen menschlichen Beinen im Sport ermöglichen. Inzwischen gilt es nicht mehr als Eingeständnis eigener Hilfsbedürftigkeit, wenn Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung Hilfsmittel beantragen und in der Öffentlichkeit nutzen. In aller Regel fühlen sich mobilitätseingeschränkte Menschen nicht an den Rollstuhl gefesselt, sondern erleben ihn als Möglichkeit, sich selbstständig, ggf. auch mit Hilfe eines Motors, fortzubewegen. Sogenannte Exoskelette werden für Menschen mit einer erworbenen Querschnittslähmung beworben, als würden sie die ursprüngliche Bewegungsfähigkeit wiederherstellen, und der inzwischen selbstverständliche Rollatoren-Gebrauch ist weit vom verschmähten Einsatz früherer Jahre entfernt. So positiv diese Entwicklung ist, so muss mit Dederich (vgl. 2013, 140f.) doch auch darauf aufmerksam gemacht werden, dass noch genauer geschaut werden muss, welche Bedeutung diese technischen Hilfsmittel, die z. B. im Fall von mit Nervenbahnen verbundenen Prothesen oder dem unter der Kopfhaut eingesetzten Cochlea-Implantats auch eine Bedeutung für die Wahrnehmung der eigenen körperlichen oder besser leiblichen Wahrnehmung besitzen, für Menschen mit Beeinträchtigungen haben.

Ein Blick in die Geschichte kann darauf aufmerksam machen, dass öffentlich gebrauchte Hilfsmittel zwar durchaus als Hilfen durch körperlich beeinträchtigte Menschen erlebt wurden, diese aber immer auch eine gesellschaftliche Stigmatisierung ermöglichten. Ja, dass gerade auch Kinder im Fall des Contergan-Skandals zum Einsatz technisch unausgereifter Prothesen gezwungen wurden, ohne dass sie diese akzeptiert oder einen Nutzen für sie gehabt hätten (vgl. Bösl 2009). Sehr wohl aber hatten sie eine Funktion für die Angehörigen, die sich davon erhofften, fehlende Gliedmaßen ersetzen zu können und Behinderung damit vielleicht auch ungeschehen erscheinen zu lassen. Auch für den Einsatz prothetischer Technik, unabhängig davon, ob dies eine Unterarmgehstütze aus Holz oder eine Hightech-Prothese aus Carbon ist, gilt, dass durch ihren Einsatz ein Stigmatisierungsprozess ebenso ausgelöst werden kann wie die Signalisierung erfolgreicher gesellschaftlicher Teilhabe. Eine durchaus ebenfalls nicht neue Entwicklung stellt die Nutzung technischer Unterstützungssysteme oder von Prothesen zur Leistungssteigerung von Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung dar. Einerseits dient Technik immer auch der Verbesserung der Lebensbedingungen bzw. der Lebensqualität der Menschen im Allgemeinen, andererseits erscheint es irritierend, wenn Leichtathleten allein mit Unterstützung unterschiedlich gebauter Beinprothesen ihre Leistungen steigern und in Konkurrenz mit nicht körperlich beeinträchtigten Menschen treten und diese übertrumpfen. Hier werden grundlegende gesellschaftsphilosophische Fragen angesprochen, die hier nicht vertieft werden können und weit von den alltäglichen Anforderungen der meisten Menschen mit einer körperlichen oder mehrfachen Beeinträchtigung entfernt sind.

Zu bedenken ist weiterhin, dass, obwohl zahlreiche Sinnesschädigungen und körperliche Beeinträchtigungen durch technische Hilfsmittel kompensiert werden können, die Erfahrungen der eigenen leiblichen Realität von Beeinträchtigung und Abhängigkeit auch von noch so moderner Technik nicht aufhebbar erscheinen.

Unterschiedliche Sozialleistungen für Menschen mit einer erworbenen Schädigung

Wer die historische Entwicklung der Unterstützungs- und Bildungsangebote für Menschen mit einer körperlichen oder mehrfachen Beeinträchtigung betrachtet, wird feststellen, dass fast alle Gesellschaften behinderte Menschen unabhängig vom Grad einer Beeinträchtigung unterschiedlich behandelt haben. So finden sich unterschiedliche Versorgungssysteme zwischen im Krieg geschädigten und von Geburt an beeinträchtigten Menschen schon in frühen Gesellschaften. Immer waren kriegsbedingt geschädigte Personen besser versorgt und stärker geachtet. Schließlich wurde ihre Beeinträchtigung als im Dienste der Gemeinschaft erworben wahrgenommen. Dies setzte sich bis in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland fort. Erst in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts änderte sich dies. Unterschiede finden sich auch im Ausmaß der Rehabilitationsleistungen für Menschen, die körperliche Beeinträchtigungen im Rahmen ihrer beruflichen Arbeitstätigkeit und im Privathaushalt erworben haben, obwohl die meisten Arbeitsunfälle in Privathaushalten stattfinden. Kinder und Jugendliche mit körperlichen oder mehrfachen Beeinträchtigungen von Geburt an wurden erst vor gut 100 Jahren eine Zielgruppe der Bildungspolitik und Sozialpolitik. Durch alle Kulturen und Gesellschaften hindurch lassen sich zudem unterschiedliche Behandlungen von Kindern und Jugendlichen mit einer körperlichen oder mehrfachen Beeinträchtigung aus wohlhabenden und armen Elternhäusern finden.

Alle diese Unterschiede sind historisch erklärbar und, obwohl schwer nachvollziehbar, auch in modernen Gesellschaften zu finden. Deshalb sollte differenziert beobachtet und analysiert werden, welche Differenzen zwischen den jeweils verfügbaren Bildungs- oder Rehabilitationsangeboten und den konkret persönlich verfügbaren Möglichkeiten unterschiedlicher Personengruppen gegeben sind. Eine gerechte demokratische Gesellschaft darf sich keine durch das System produzierten größeren Differenzen erlauben.

Politische Partizipation körperbehinderter Menschen

Historisch betrachtet waren Menschen mit einer stärkeren körperlichen Beeinträchtigung zumeist, wenn nicht immer, Objekte der Fürsorge. Zudem wurden sie z. B. innerhalb der preußischen Sozialgesetzgebung lange überhaupt nicht berücksichtigt. Erst vor etwa 100 Jahren wurden sie zu einer Zielgruppe fürsorgerischer Bemühungen und es entsprach dem Zeitgeist, dass jeder, der öffentliche Hilfen in Anspruch nahm, z. B. sein Wahlrecht verlor. Das Bild des Almosenempfängers, selbst wenn dieser ein Kriegskrüppel war oder als Mitglied der christlichen Gemeinschaft angesehen wurde, war über viele Jahre dem eines Kindes vergleichbar, das ebenso keine Rechte hatte und erst mit dem Eintritt in die produktive Arbeitsphase langsam eine begrenzte rechtliche Stellung erwarb.

Die Demokratieentwicklung der letzten fünfzig Jahre hat Bedingungen geschaffen, in denen sich zahlreiche Gruppen endlich aktiv in gesellschaftliche Prozesse einbringen konnten. Dies gilt auch für den Kreis der vornehmlich körperbehinderten Menschen, die zudem höhere Bildungsabschlüsse erwarben. Sie sind inzwischen in den parlamentarischen und außerparlamentarischen Gremien vertreten und gestalten die sie betreffende, ebenso wie die allgemeine Gesetzgebung genauso mit wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger. Mitwirkungsstrukturen in den Arbeits- und Wohninstitutionen sind seit etwa dreißig Jahren verankert und werden zunehmend mit Leben gefüllt. Pädagogische Angebote wie die Leichte Sprache werden in Zukunft sicherlich eine immer größere Bedeutung haben (vgl. Lebenshilfe Bremen 2013). Während Personen, die nicht sprachlich kommunizieren, noch in den 1990er Jahren nur in geringem Maße Bildung und Partizipationsmöglichkeiten, selbst in Einrichtungen wie der Werkstatt für behinderte Menschen, wahrnehmen konnten (vgl. Lelgemann 1999), haben sich in den letzten Jahren nicht nur dort, sondern auch in weiteren Kreisen unterstützt kommunizierende Menschen gefunden, die sich in öffentliche Diskurse einbringen und diese mitgestalten. Dies ist aber immer noch keine Selbstverständlichkeit und erfordert auch zukünftig eine Unterstützung und Begleitung unterstützt kommunizierender oder schwerer beeinträchtigter Menschen, gerade auch in öffentlichen Gremien und auf allen Ebenen, von der Gemeinde-, über die Landes- bis hin zur Bundespolitik.

Vermeidung menschlichen Lebens mit einer Beeinträchtigung

Ein weit über die Körperbehindertenpädagogik hinaus seit einigen Jahren breit diskutiertes Thema ist das der Wertschätzung von Menschen mit einer Beeinträchtigung oder chronischen Erkrankung zu Beginn des Lebens, also bereits während und kurz nach der Zeugung, bei einem Zustand schwerer chronischer Erkrankung und zum Lebensende hin. Wertet eine Gesellschaft Menschen mit einer schweren Beeinträchtigung ab, versucht sie behindertes Leben zu verhindern, legt sie dies zumindest nahe oder verweigert den betroffenen Familien gegenüber eine gesellschaftliche Verantwortung? All diese Fragen verweisen darauf, dass hier nicht nur im engeren Sinne ethische Fragen im Kontext von Menschen mit einer chronischen Erkrankung oder schweren Beeinträchtigung angesprochen sind, sondern grundsätzliche Fragen der gesellschaftlichen Strukturen und der dominanten Haltungen. Verstehen sich Gesellschaften z. B. so, dass der einzelne alleine in der Verantwortung steht, sein Leben und das seiner Familie zu organisieren? Oder schreibt eine Gesellschaft autoritär vor, was als gesund, krank, schön, ungestaltet oder wehrhaft gilt und deshalb ein oder kein Lebensrecht hat, wie es in vielen historischen Gesellschaften, unabhängig davon, ob diese sich als kapitalistisch oder kommunistisch verstanden haben, zu finden ist?

Derartige Grundhaltungen haben deshalb nicht nur Relevanz für die Einstellung schwerer behinderten Menschen gegenüber, sondern auch gegenüber alten Menschen. Sie prägen in allen Kulturen auch die Haltungen der Menschen gegenüber einem eigenen Kind mit Behinderung bzw. Menschen mit Behinderungen in allen Lebensphasen. Wie human eine Gesellschaft ist, zeigt sich wesentlich nicht daran, wie sie mit ihren Kindern umgeht, denn diese sind Träger vieler Wünsche, Erwartungen und Hoffnungen, oder am Umgang mit kranken Menschen, solange hier die Hoffnung besteht, sie wieder in die relevanten gesellschaftlichen Prozesse einbeziehen zu können, sondern am Umgang mit Menschen, die in vielfältiger Weise beeinträchtigt sein können, denn sie sind häufig nicht utilitaristisch zu inkludieren und bleiben eine Herausforderung für jede Gesellschaft, wie sich an zahlreichen historischen Beispielen darstellen lässt.

1.3       Perspektiven

Die hier vorgelegte Darstellung gibt Hinweise, verweist auf weitere Quellen und muss doch sehr knapp gehalten bleiben. Was ist bzw. kann dennoch aus derartigen historischen Erörterungen, aus der Beschäftigung mit der Geschichte gelernt werden, besser: Wofür kann eine historische Perspektive sensibilisieren? Jede Beantwortung dieser Frage ist persönlich geprägt und so verstehen sich die nun folgenden Ausführungen wiederum als Thesen, die hoffentlich die weitere Diskussion und das Interesse der Leserin und des Lesers anregen bzw. wecken:

•  Da Körperbehindertenpädagogik derzeit in ihrem bildungspolitischen Kontext (Anzahl der integrativen/inklusiven und spezialisierten Angebotsstrukturen, Entwicklung der Schülerschaft) wesentlich durch landespolitische und regionale Entwicklungen geprägt wird, können bildungspolitische Entwicklungen zunehmend öffentlich diskutiert werden. So bieten sich Chancen der Beteiligung für alle Interessierten, die genutzt werden sollten.

•  Körperbehindertenpädagogik wurde in den letzten 60 Jahren sicherlich vor allem als schulbezogenes, institutionsbasiertes Angebot realisiert. In Zukunft sollten körperbehindertenpädagogische Angebote über den Schulbereich hinaus in alle gesellschaftlichen Bereiche, wie sie in der UN-Behindertenrechtskonvention benannt werden, eingebracht und berücksichtigt werden.

•  Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung bringen sich gegenwärtig deutlich in die aktuellen Diskussionen und Entwicklungen ein. Dies gilt auch für ihre Angehörigen. Zukünftig wird weiterhin darauf geachtet werden müssen, dass unterschiedliche Gruppen ihre Interessen vertreten können und auch diejenigen über Partizipationsmöglichkeiten verfügen, die sich derzeit nicht selbst vertreten können (bei aller Sensibilität für paternalistische Strukturen).

•  Menschen mit einer körperlichen oder mehrfachen Beeinträchtigung eröffnen sich seit einigen Jahren zahlreiche neue Perspektiven der Lebensgestaltung, die auch zu einer veränderten Wahrnehmung der Personengruppe in unserer Gesellschaft führen könnte. Da aber eine körperliche Beeinträchtigung keine Konstruktion, sondern leibliche Realität eines jeden Menschen in dieser Situation ist, sind auch zukünftig Unterstützungsleistungen individueller und gesellschaftlicher Art notwendig. In diesem Feld Tätige sollten deshalb darauf achten, wie über die Möglichkeiten des Einsatzes von Therapien und technischer bzw. personeller Unterstützungssysteme diskutiert wird, und gemeinsam mit engagierten Menschen für die Absicherung dieser Unterstützungssysteme in allen Lebensbereichen eintreten.

•  Die Handlungs- und Wahlmöglichkeiten für Menschen mit einer körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigung in unserer Gesellschaft haben in den letzten Jahren zugenommen. Dies ist eine positive Entwicklung. Die Beteiligung an inklusiven beruflichen Bildungsprozessen ist gerade für Menschen mit einer mehrfachen Beeinträchtigung aber immer noch ein großes Problem. Selbst wenn akzeptiert wird, dass die Anforderungen an Berufstätige seit Jahren steigen und Tätigkeiten für mehrfachbehinderte Menschen abgenommen haben, so zeigen zahlreiche Initiativen, dass die Einrichtung von Arbeitsplätzen für mehrfachbehinderte Menschen durchaus möglich ist. Allerdings beziehen sich viele dieser Projekte noch auf Menschen, die ihre Hände zielgerichtet einsetzen können. Es wird deshalb zukünftig bedeutsam sein, vielfältige Arbeitsangebote für Menschen mit körperlichen, vor allem aber mehrfachen Beeinträchtigungen zu entwickeln, die möglichst inklusiv realisiert werden.

•  Die gesellschaftlichen Leitideen der Selbstbestimmung und individuellen Freiheit werden sicherlich vielen Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung neue Entfaltungsmöglichkeiten eröffnen und den Kreis derjenigen erweitern, die sich innerhalb unserer Gesellschaft entfalten können. Der Personenkreis mit einer mehrfachen oder sehr schweren Beeinträchtigung wird allerdings bestehen bleiben und auch zukünftig eine nicht paternalistisch gelebte, fürsorgende Aufmerksamkeit seitens der Gesellschaft, ihrer Institutionen und verantwortlicher Einzelner benötigen. Dies gilt insbesondere auch in Lebensphasen, in denen sich Angehörige nicht mehr engagiert einbringen können.

•  Selbst in einer Situation, in der die meisten Forderungen der UN-Behindertenrechtserklärung erfüllt wären und personelle und technische Unterstützungssysteme ausgereift sein sollten, bleibt die Situation bestehen, dass eine erhebliche körperliche Beeinträchtigung die Lebenssituation, den Alltag und die ganz nahen, leibbezogenen Aktivitätsmöglichkeiten deutlich beeinflussen, behindern und erschweren kann und doch gleichzeitig Bestandteil des eigenen Lebens ist. Es wird deshalb auch in Zukunft von Bedeutung sein, fachliche Begleitung erhalten zu können, wenn diese gewünscht wird.

•  … und auch wenn all dies in unserer mitteleuropäischen Gesellschaft einmal so gestaltet werden könnte, dass ein Leben mit einer schweren körperlichen Beeinträchtigung ebenso viele Handlungsoptionen aufweist wie das anderer Bürgerinnen und Bürger, ist darauf hinzuweisen, dass diese historisch gewachsenen Optionen selbst in vielen Staaten Europas und der Welt noch keine Selbstverständlichkeiten sind und in Phasen finanzieller Schwierigkeiten, auch in Europa, immer wieder neu gesichert werden müssen.

Literatur

Beck, I. (1996): „Norm, Identität, Interaktion: zur theoretischen Rekonstruktion und Begründung eines pädagogischen und sozialen Reformprozesses“. In: Beck, I., Düe, W./Wieland, H. (Hrsg.) (1996): Normalisierung: Behindertenpädagogische und sozialpolitische Perspektiven eines Reformkonzeptes, Heidelberg. 19–43.

Bergeest, H. (2000): Körperbehindertenpädagogik. Bad Heilbrunn.

Bergeest, H./Boenisch, J./Daut, V. (2015): Körperbehindertenpädagogik. Grundlagen – Förderung – Inklusion. Bad Heilbrunn.

Bösl, E. (2009): Politiken der Normalisierung: zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Bielefeld.

Bosse, I. (2014): Menschen mit Behinderung in den Medien – Mittendrin oder außen vor? Online verfügbar unter: http://www.bpb.de/gesellschaft/medien/medienpolitik/172759/menschen-mit-behinderung-in-den-medien?p=all (Zugriff am 29.05.2015)

Dederich, M. (2013): Philosophie in der Heil- und Sonderpädagogik. Stuttgart.

Fuchs, P. (2001): Körperbehinderte zwischen Selbstaufgabe und Emanzipation: Selbsthilfe – Integration – Aussonderung. Neuwied.

Goffman, E. (1973): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt a. M.

Grzanna, M. (2010): Im Land der kleinen Menschen. Erschienen in Süddeutscher Zeitung. http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/china-im-land-der-kleinen-menschen-1.991341 (Zugriff am 06.06.2015)

Hardt, K./Rummel, M. K./Lelgemann, R. (2008): Die Schule für Körperbehinderte – Geschichte und Gegenwart aus der Perspektive ehemaliger Schulleiter In: ZfH. 59. 268–277.