Korsische Vendetta - Vitu Falconi - E-Book
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Vitu Falconi

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Beschreibung

Zwischen Mafia und malerischen Stränden: Krimi-Schriftsteller Eric Marchand ermittelt zum dritten Mal auf Korsika Eine Serie rätselhafter Anschläge erschüttert Korsika, die Stimmung auf der malerischen Insel ist angespannt. Nach der Entführung eines hochrangigen Mafia-Mitglieds verschieben sich die Kräfteverhältnisse in den Clans; Polizei und Presse müssen ohnmächtig mit ansehen, wie eine gefährliche neue Macht entsteht. Eric Marchand und seine Freundin Laurine fassen einen tollkühnen Plan: Undercover schleusen sie sich in die Verbrecher-Organisation ein, um nach dem verschwundenen Korsen zu suchen. Während ihr Leben immer wieder am seidenen Faden hängt, steuert die wunderschöne Mittelmeer-Insel auf eine Katastrophe zu ... Mit dem dritten Fall für den Wahl-Korsen und Krimi-Schriftsteller Eric Marchand hat Vitu Falconi erneut den unvergleichlichen Charme der Mittelmeer-Insel Korsika eingefangen, die mit malerischen Stränden ebenso bezaubert wie mit zerklüfteten Gebirgen und ihrer archaischen Kultur. Abenteuer, Spannung und jede Menge Korsika-Flair gibt es auch in den ersten beiden Urlaubs-Krimis mit Eric Marchand: • »Das korsische Begräbnis« • »Korsische Gezeiten«

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Seitenzahl: 409

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Vitu Falconi

Korsische Vendetta

Ein Korsika-Krimi

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

 

 

Über dieses Buch

Eine Serie rätselhafter Anschläge erschüttert Korsika, die Stimmung auf der male­rischen Insel ist angespannt. Nach der Entführung eines hochrangigen Mafia-Mitglieds verschieben sich die Kräfteverhältnisse in den Clans; Polizei und Presse müssen ohnmächtig mit ansehen, wie eine gefährliche neue Macht entsteht.

Eric Marchand und seine Freundin ­Laurine fassen einen tollkühnen Plan: Undercover schleusen sie sich in die Verbrecher-Organi­sation ein, um nach dem verschwunde­nen Korsen zu suchen. Als Postbote getarnt, beginnt Eric, Nachforschungen anzustellen. Und während sein Leben am seidenen Faden hängt, steuert die wunderschöne Mittelmeerinsel auf eine Katastrophe zu.

Mit dem dritten Fall für den Wahl-Korsen und Krimischriftsteller Eric Marchand hat Vitu Falconi erneut meisterhaft den rauen Charme Korsikas eingefangen, wo atemberaubende Natur, archaische Kultur, korrupte Politik und blühender Tourismus eine einzigartige Mischung eingehen.

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Prolog

Teil I

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

Teil II

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

Teil III

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

XXVIII

XXIX

XXX

XXXI

XXXII

XXXIII

XXXIV

XXXV

XXXVI

XXXVII

XXXVIII

XXXIX

Für Bruni.

Meine Insel der Schönheit.

Russura à la muntagna, acqua e ventu à li calcagna.

Wenn am Abend rote Wolken in den Bergen hängen, regnet es morgen oder es kommt starker Wind auf.

(Korsisches Sprichwort)

Corse-Matin

Le quotidien de la Corse – U nutiziale di a Corsica

 

Überfall auf der Ponte Vecchio

Von unserem Redakteur Petru Ciosi

 

– Bastia, 30. Juni – Am vergangenen Dienstag fand auf der berühmten Ponte Vecchio ein brutales Attentat statt. Laut Augenzeugenberichten wurde ein schwarzer Continental der Marke Bentley bei einem Überholmanöver von drei Fahrzeugen bedrängt und zum Anhalten gezwungen. Bewaffnete und maskierte Männer zwangen die Insassen mit Waffengewalt aus dem Wagen.

Zuvor hatte ein heftiger Schusswechsel stattgefunden, bei dem das Zielfahrzeug schwer beschädigt wurde. Linke Seite sowie Front und Heck wurden regelrecht von Kugeln durchsiebt. Die D27 zwischen dem Col de Menta und dem Col de Cricheto war für Stunden gesperrt. Fahrer, die auf der Gegenfahrbahn in Richtung Norden unterwegs waren, berichteten von dramatischen Momenten, als die offenbar islamischen Täter die beiden Fahrer auf die Straße zwangen und ihnen befahlen, sich hinzuknien. Der ältere der beiden wurde niedergeschlagen und in einen Kleinlaster gezerrt, während der jüngere hingerichtet werden sollte. Dazu kam es jedoch nicht mehr, da er über die Brücke sprang und in den vierzig Meter tiefer gelegenen Vecchio stürzte. Er überlebte den Aufprall zwar, wurde dabei aber schwer verletzt.

Wie sich herausstellte, handelte es sich bei den Opfern um Vater und Sohn einer alteingesessenen korsischen Familie. Aufgrund des schwebenden Ermittlungsverfahrens dürfen ihre Namen nicht genannt werden. Da die Familie aber Kontakte zur Frontu di Liberazione Naziunale Corsu pflegt, ist das Motiv eines Bandenkrieges nicht gänzlich auszuschließen. Sachdienliche Hinweise nimmt jede örtliche Polizeidienststelle entgegen.

Teil I

Die Gärten des Kaisers

I

Petru Ciosi verließ an diesem wunderschönen Samstagmorgen in bester Laune das Rathaus von Bastia in der Avenue Pierre Giudicelli. Sein Ziel: der Place du Marché. Seit Anfang Oktober führte der Wochenmarkt Trüffel, die sonst nur schwer zu bekommen waren. Merkwürdigerweise wuchs das schwarze Gold nicht auf Korsika und musste aus Südfrankreich importiert werden, was mit erheblichen Kosten verbunden war.

Petru hatte schon oft mit Pilzsammlern über das Thema gesprochen, aber keiner von ihnen wusste darauf eine Antwort. Das Fehlen der kulinarischen Kostbarkeit war umso verwunderlicher, als Trüffel Steineichen liebten, die es hier wie Sand am Meer gab. Ob Schweine sie ausgruben oder ob die Beschaffenheit des Bodens nicht ideal war, niemand hatte das Mysterium bislang lösen können. Und so blieb den pilzbegeisterten Korsen nichts anderes übrig, als ihr sauer verdientes Geld auf dem Wochenmarkt von Bastia zu lassen.

Die abgewetzte Ledertasche unter den Arm geklemmt, steuerte der Reporter die Altstadt an. Unterwegs traf er auf einen ehemaligen Kollegen, den er noch aus seiner Zeit beim La Corse kannte. Petru hatte dort einige Jahre als Reporter gearbeitet, ehe er nach Schließung der Tageszeitung zum Corse-Matin gewechselt war. Seit 1999 gehörte er in Ajaccio zum festen Redaktionsstamm und versorgte die Zeitung mit Berichten aus Politik und Lokalem.

Trotz des schwieriger werdenden Umfelds und des allgemeinen Trends zu Onlinemedien liebte Petru seine Arbeit. Politische Themen waren sein Steckenpferd, und davon gab es auf Korsika weiß Gott genug. Er beschäftigte sich vor allem mit Lokalpolitik, aber auch mit den großen Themen wie dem bröckelnden Europa, der Flüchtlingsproblematik sowie den erstarkenden Rechten. Korsika war ein Nährboden für die Nationalisten, die auf dem Rücken der Autonomiebestrebungen ungezügelt ihre Fremdenfeindlichkeit auslebten. Petru war gerade an einer Sache dran, die sich bei der angespannten politischen Lage rasch zu einem Flächenbrand entwickeln konnte. Wenn er recht hatte und wenn das, worauf er in den Archiven des Rathauses gestoßen war, stimmte, stand Korsika kurz vor einer Explosion.

Er verabschiedete sich von seinem Kollegen, verließ den Place Saint-Nicolas und wollte gerade die Rue Miot überqueren, als ihn ein Geräusch erschrocken innehalten ließ. Ein ohrenbetäubendes Jaulen, das an eine hochdrehende Bohrmaschine erinnerte. Sein Blick zuckte nach rechts.

Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Ein Motorrad mit zwei Typen im Sattel bretterte die Straße herunter und hielt trotz Warnlichtern und Fußgängerüberweg ungebremst auf ihn zu.

Petru spürte einen Ruck und flog einen halben Meter zurück. Um ein Haar wäre er gestürzt, doch der Mann, der ihn nach hinten gerissen hatte, verhinderte das Schlimmste.

Fassungslos starrte Petru auf die Maschine, die mit kreischendem Antriebsaggregat an ihnen vorbeifegte. Ein Windstoß blies ihm heiße Abgase ins Gesicht. Ohne Helm, nur mit einem Mundtuch verschleiert, blickten die beiden Kerle auf dem Motorrad starr geradeaus. Sie würdigten ihn keines Blickes.

An der nächsten Kreuzung bog die Enduro rechts ab und raste weiter Richtung Altstadt.

Petru atmete schwer. Sein Herz schlug bis zum Hals. Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, dann brüllte er los: »Idioten, Kretins!«

Er bezweifelte, dass sie ihn hören konnten, doch er musste seiner Wut ein Ventil geben. »Bescheuerte Armleuchter!«

Keuchend ließ er die Luft aus seinen Lungen entweichen. Seine Beine fühlten sich ganz zittrig an. Als er sich umwandte, sah er seinem Retter in die Augen.

»Haben Sie das gesehen? Unglaublich, oder? Danke, dass Sie mir geholfen haben.«

»Sie haben Glück, dass Sie noch am Leben sind«, sagte der junge Mann. Er trug einen gut sitzenden Anzug, ein weißes Hemd und Lederschuhe. Mittleres bis gehobenes Management, schätzte Petru. Vielleicht Bankangestellter.

Der Mann schüttelte grimmig den Kopf. »Es wird immer schlimmer mit denen. Wir sind ja hier einiges gewohnt, aber das schlägt dem Fass den Boden aus. Haben Sie die dunkle Haut und die Haare gesehen? Maghrebs, wenn Sie mich fragen. Marokkaner, vielleicht auch Syrer oder Iraker.«

»Möglich, ja …«, murmelte Petru.

»Höchste Zeit, dass wir politisch gegen diese Typen vorgehen. Die müssen endlich von unserer Insel verschwinden. Ich kann nur hoffen, dass die Gendarmerie sie irgendwann zu fassen kriegt und sie aus dem Verkehr zieht.«

Petru wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Der Schreck steckte ihm zu tief in den Gliedern. »Danke noch mal«, sagte er.

»Nichts zu danken. Geben Sie auf sich acht.« Der Mann formte seine Hand zum Gruß, dann verschwand er in den engen Gassen der Terra Vecchia.

Petru brauchte ein paar Minuten, um sich zu sammeln, ehe er seinen Weg fortsetzte. Dabei hatte der Tag so gut begonnen.

Weiter in Richtung Wochenmarkt schlendernd, musste er an diese Sache von vor einem Jahr denken. Das spektakuläre Attentat auf den stellvertretenden Bürgermeister von Ajaccio. Die Täter damals waren ebenfalls auf Motorrädern unterwegs gewesen. Zeugenaussagen nach hatte es sich wohl um Islamisten gehandelt, auch wenn das nie klar bewiesen werden konnte. Diesbezügliche Ermittlungen der Polizei waren im Sande verlaufen. Aber auch das war typisch für Korsika. Wohin man blickte, Schweigemauern. Es gab sogar einen eigenen Begriff dafür: Omertà. Wer dagegen verstieß, war seines Lebens nicht länger sicher.

Petru fragte sich, ob die beiden Ereignisse vielleicht etwas miteinander zu tun hatten. Andererseits: nein. Er war zwar tendenziell paranoid, aber das ging dann doch zu weit. Damals, das war ein akribisch geplanter Anschlag gewesen, dies eben nur zwei Jugendliche, die auf sich aufmerksam machen wollten. Zu viele Hormone, zu wenig Verstand.

Aber sosehr er sich auch bemühte, Petru wurde das Bild nicht los. Die schwarzen Haare, die dunkle Haut, das Mundtuch. Am eindrücklichsten aber waren diese Augen. Harte Augen. Fanatische Augen. Blicke, wie er sie sonst nur von Mitgliedern der Mafia oder anderen kriminellen Vereinigungen kannte. Freilich war das nur ein Gefühl. Nichts, worauf sich eine Anklage stützen ließ. Aber Petru war lange genug im Geschäft, um einen Riecher für Menschen zu entwickeln. Und die zwei waren nicht koscher.

Er schob den Gedanken fort, zog rasch noch etwas Bargeld an einem EC-Automaten und ging dann auf den Markt. Inzwischen hatte sein Zittern nachgelassen.

Der Stadtteil Terra Vecchia grenzte an den alten Hafen und bildete die Unterstadt Bastias. Über den steilen Gässchen mit dem bröckelnden Putz, den hohen, schiefen Häusern und den vielen kleinen Geschäften thronte das Wahrzeichen der Stadt: die beeindruckende doppeltürmige Barockkirche Église Saint-Jean-Baptiste aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Direkt dahinter schloss sich der Place du Marché an, das Zentrum der Altstadt. Hier wurde jeden Samstag und Sonntag der Wochenmarkt abgehalten. Treffpunkt von Einheimischen, aber auch von Touristen, die vor allem in den Sommermonaten für unerträgliches Gedränge sorgten. Kulinarisch Interessierte fanden hier alles, was das Herz begehrte. Obst, Gemüse, frischen Fisch und Fleisch, aber auch lokale Besonderheiten. Figatellu, Coppa, Lonzo, Niolincu, Calenzana, Brocciu sowie andere Wurst- und Käsespezialitäten. »Wer ihn nicht gekostet hat, kennt nicht die Insel«, schrieb einst der Journalist und Schriftsteller Émile Bergerat über den Brocciu aus Ziegen- oder Schafsmilch, den Nationalkäse der Korsen. Und immer noch gehörte er zum täglichen Leben. Frisch und mild auf die morgendliche Tartine, mittags im Omelett, abends in der Pulenta oder den Cannelloni und zwischendurch in jedem Fiadone, jeder Falcullela und zu jeder Goûte mit Wein und Brot.

Jeder, der sich ein wenig für landesübliche Küche interessierte, musste diesen Markt besuchen, und sei es nur, um über die teilweise astronomischen Preise zu schmunzeln.

Der Trüffelstand befand sich im hinteren Abschnitt des Marktes, nahe dem Restaurant Marché Saint-Jean, in dem Petru schon oft gegessen und dem Treiben auf dem Platz zugeschaut hatte. Wie zu erwarten, herrschte gerade Hochbetrieb. Kurz vor elf, das war die Zeit, in der die Bummler und Flaneure auf die Hobbyköche trafen, die für den Mittagstisch oder das Abendessen einkauften. Die Menschen schoben sich zentimeterweise an den Ständen vorbei. Gelächter und Gesprächsfetzen schwebten über den Platz, irgendwo spielte ein Musiker korsische Volkslieder. Der Geruch von Paella und Fettgebackenem hing in der Luft.

Die Tasche mit den wertvollen Kopien vor die Brust gedrückt, wich Petru auf die Straße aus. Dort war das Durchkommen leichter, zumal der Place du Marché während der Marktzeiten für den Autoverkehr gesperrt war. Ein paar Mopeds knatterten trotzdem vorbei, was aber niemanden störte. Sie gehörten zum Stadtbild von Bastia einfach dazu.

Petru hatte den Trüffelstand beinahe erreicht, als er etwas hörte, was ihn aufhorchen ließ. Das Jaulen einer hochdrehenden Enduro.

Er reckte den Hals und sah sich um. Tatsächlich. Da waren die zwei Typen. Etwa zwanzig Meter entfernt standen sie an einer Hausecke und sahen sich um. Dass sie dabei den Passanten den Weg blockierten, schien sie überhaupt nicht zu stören. Sie kamen nicht mal auf die Idee, ihre Dreckskarre auszumachen. Knatternd und die Luft verpestend, standen sie da und glaubten, ihnen gehöre die Straße.

Petrus Laune verfinsterte sich. Einen kurzen Moment lang überlegte er, ob er rübergehen und es auf einen Streit ankommen lassen sollte, aber er verwarf den Gedanken wieder. Solchen Typen war mit Vernunft nicht beizukommen. Denen kochte ständig das Blut. Die warteten förmlich darauf, dass einer sie dumm von der Seite anmachte. Im Zweifelsfall verstanden sie nicht mal Französisch.

Nein, es war sinnlos. Besser, die Wut unterdrücken und dafür alle Zähne behalten. Immerhin hatte er etwas, worauf er sich freuen konnte. Ein dîner romantique!

Die neue Kollegin aus der Buchhaltung kam ihn heute Abend besuchen, und er wollte das Treffen nicht dadurch versauen, dass er ihr mit einem Veilchen und einer Beißschiene entgegentrat.

Seinen Schritt beschleunigend, versuchte er, Abstand zwischen sich und die beiden Idioten zu bringen. Er war schon fast an ihnen vorbei, als er aus den Augenwinkeln bemerkte, dass einer der beiden sich abgesetzt hatte und ihm folgte. Petru blieb an einem Stand mit Töpferwaren stehen und tat so, als würde er die Auslagen betrachten. Der Typ hielt ebenfalls an. Als Petru sich wieder in Bewegung setzte, tat der andere das auch. Es war offensichtlich, dass er etwas von ihm wollte.

Petru ging noch ein paar Meter, dann wurde es ihm zu dumm. Wutentbrannt drehte er sich um. »Warum folgen Sie mir? Reicht es Ihnen nicht, dass Sie mich vorhin fast überfahren hätten?«

Statt einer Antwort zuckte die Rechte des Kerls nach vorn.

Petru reagierte instinktiv. Seine Aktentasche fing den Hieb zwar ab, trotzdem spürte er ein schmerzhaftes Stechen in der Bauchregion.

Mit einem wütenden Schrei riss der Angreifer seine Hand zurück. Dabei blitzte etwas auf. Ein Messer!

Petru traute seinen Augen nicht. Träumte er, oder war das echt? Nein, der Kerl hatte wirklich vor, ihn abzustechen. Hier, mitten auf dem überfüllten Platz.

Vor aller Augen!

Es gab Momente im Leben, in denen der Verstand versagte und der Instinkt die Führung übernahm. Noch ehe der Angreifer zu einem zweiten Stich ansetzen konnte, schmetterte Petru ihm die Aktentasche ins Gesicht. Die Wirkung war befriedigend: das hässliche Knirschen eines gebrochenen Nasenbeins, gefolgt von einem Schmerzensschrei. Petru war kräftig. Kräftiger jedenfalls, als man es bei einem Mann seines Alters und seiner Statur vermutet hätte. Seit seinem zwanzigsten Lebensjahr war er Reporter. Tagtäglich auf den Beinen, immer unterwegs. Teilweise bepackt mit schwerer Kameraausrüstung. Dass er gerne aß und dabei zu viele Kalorien zu sich nahm, war eine Sache. Aber der Speck lag über einer Schicht knallharter Muskeln, die im Laufe der Jahre nicht weniger geworden waren. Petru gehörte zu der Art von Reportern, die sich nicht verkrümelten, wenn es brenzlig wurde. Männer, die in vorderster Front ihrem Job nachgingen. Ob auf Demonstrationen, Kundgebungen oder Versammlungen – er war immer dort, wo die Emotionen hochkochten. Mehr als einmal hatte er handfeste Schlägereien erlebt und sich dabei verletzt. Doch noch niemals war er das Opfer eines Attentats gewesen. Das hier besaß eine neue Qualität.

Der Mann war in die Knie gegangen und presste sein Mundtuch gegen die Nase. Blut strömte zwischen seinen Fingern hervor. Arabisch klingende Flüche drangen aus seinem Mund. Das Messer hielt er immer noch umklammert. Der Stahl funkelte wie Öl auf einer Pfütze. Auf dem Unterarm war eine Tätowierung zu sehen. Ein Skorpion? Petru wartete nicht darauf, dass der Typ wieder zustieß, sondern schmetterte ihm die Tasche noch einmal gegen den Kopf.

»Was ist, hast du endlich genug?«

Das Gesicht des Mannes färbte sich bläulich. Aber noch immer lag er nicht am Boden.

Die Menschen ringsherum hatten inzwischen begriffen, dass hier eine ernsthafte Auseinandersetzung im Gange war. Mütter brachten ihre Kinder in Sicherheit, Männer gingen auf Abstand, Frauen stießen Warnrufe aus.

Messerstechereien waren ein fester Bestandteil des korsischen Alltagslebens. Die Blutrache gab es immer noch, auch wenn sie nicht in der Touristensaison ausgeübt wurde, sondern in den Monaten davor oder danach. Die Menschen wussten, wie sie sich zu verhalten hatten. Raushalten lautete die Devise. Nicht einmischen, wenn einem das eigene Leben lieb war.

Petru durfte keine Hilfe erwarten. Er war auf sich allein gestellt.

Sein Gegner war immer noch benommen, Petru musste jetzt handeln. In panischer Eile machte er kehrt und floh in Richtung Hafen. Die Rue Cardinal Viale Prelà runter, vorbei an dem Restaurant und hinein in das Gewirr der Altstadtgässchen. Ehe die Straße endete und zur Rue Saint-Jean wurde, führte sie an der mächtigen Barockkirche Saint-Jean-Baptiste vorbei.

Eingezwängt inmitten krummer, schief stehender Häuser, ragte das Gebäude wie eine Galeone aus einer Flotte von Fischerbooten. Wer sie in ihrer ganzen Pracht bestaunen wollte, musste das südliche Steilufer erklimmen. Aus der Nähe präsentierte sich die Kirche nur mit schroffen Fassaden und einem schmucklosen Osteingang – der jedoch fast immer geöffnet war.

Petru sah die offen stehende Tür und verlangsamte seinen Schritt. Ob der Anschlag vielleicht doch einen islamistischen Hintergrund hatte? Womöglich stand er in Zusammenhang mit dem Fall, an dem er gerade arbeitete.

Inzwischen glaubte er nicht mehr an einen Zufall. Wenn es sich um strenggläubige Muslime handelte, war das Innere einer Kirche möglicherweise ein besserer Zufluchtsort als das Innere einer Polizeistation.

Seinem Instinkt folgend, trat er in den Schatten des Gotteshauses.

II

Eric schaltete einen Gang runter und versuchte, mehr Kraft auf die Pedale zu bekommen. Irgendwo in seinen ausgelaugten Muskeln mussten doch noch ein paar Reserven zu finden sein. Einige Zuckermoleküle, die sich in Energie umwandeln ließen.

Ihr Ziel lag in greifbarer Nähe. Noch etwa zwei Kilometer, dann hatten sie es geschafft. Man konnte bereits die Kirchtürme von Speloncato auf dem Hügel emporragen sehen.

Fünfzig Kilometer. Nur eine kleine Aufwärmrunde, wie Laurine ihm versichert hatte. Eine Aufwärmrunde! Er wollte nicht wissen, was eine ausgewachsene Runde für sie bedeutete. Von den Höhenmetern, die man hier runterstrampeln musste, ganz zu schweigen.

Er war Schriftsteller, kein Alpinfahrer, verflucht. Wie hatte er nur so leichtsinnig sein können? Laurine hatte mit ihren langen Wimpern geklimpert, und er Idiot hatte mal wieder jegliche Vorsicht vergessen. Dabei hätte er es wirklich besser wissen sollen.

Seit Wochen quälte sie ihn mit ihren Radtouren. Ihr Argument, er müsse mehr für seine Ausdauer tun, saß wie ein Stachel in seinem Fleisch. So lieblich die Balagne vom Auto aus wirkte, so unbarmherzig präsentierte sie sich, wenn man im Sattel eines Fahrrads unterwegs war. Vor allem, wenn die Nachmittagshitze das Land fest im Griff hatte.

Gab es irgendwo noch einen kleineren Gang? Eric fummelte an der Schaltung herum, fand aber nichts. Er fuhr bereits auf dem letzten Ritzel.

Er biss die Zähne zusammen. Im Leben hätte er nicht vermutet, dass Fahrradfahren so an die Substanz gehen konnte. Wie machte Laurine das nur, dass sie so leichtfüßig den Berg hinaufstrampelte? Ein paarmal hatte sie sogar umgedreht und war wieder runtergefahren, um nach ihm zu sehen. Lächelnd. Ihn anfeuernd. Er wusste, dass sie ihn damit motivieren wollte, doch er empfand es als blanken Hohn.

Schweiß lief ihm in die Augen und brannte sich dort fest. Ungehalten wischte er mit der Hand über sein Gesicht, doch das Brennen blieb bestehen.

»Komm schon«, presste er zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Streng dich an. So weit ist es nicht mehr.« Doch unter solchen Bedingungen konnten selbst einhundert Meter zur Qual werden.

Besorgt tastete er nach seinem Unterleib. Seit einer halben Stunde hatte er keine Signale mehr von unten empfangen. Dort schien alles abgestorben zu sein. Er spürte ein unangenehmes Kribbeln. Irgendetwas stimmte nicht mit der Durchblutung. Hieß es nicht, Durchblutungsstörungen würden zu Sterilität führen? Das konnte doch nicht gesund sein. Der Gedanke an eigene Kinder lag zwar in weiter Ferne, das hieß aber nicht, dass er dieses Thema schon völlig abgehakt hatte.

Laurine wartete an der nächsten Kehre auf ihn. »Na, alles klar? Nur noch drei Schleifen, dann sind wir oben.«

»Hör mal, kann es sein, dass Radfahren zu Impotenz führt? Ich spüre da unten nichts mehr …«

Sie lachte. »Halb so wild. Das bedeutet nur, dass wir die Neigung deines Sattels verstellen müssen. Dann geht es wieder.«

»Aha …«

»Wir können absteigen und schieben, wenn du keine Lust mehr hast. Ist nur noch ein Katzensprung.« Ihr Lächeln war wie ein warmer Frühlingstag. Doch es reichte nicht, um seinen verletzten Stolz zu heilen.

»Absteigen?«, zischte er. »Schieben? Ich fahre da jetzt hoch und wenn ich tot umfalle.«

»Könntest du das bitte vermeiden?«, erwiderte sie lachend. »Ich will noch etwas von dir haben. Ein impotenter Schlaganfallpatient ist nicht unbedingt der Mann, von dem ich träume.«

Eric wollte etwas erwidern, doch ihm fehlte die Puste.

»Zum Trost lade ich dich gleich auf ein Pietra im La Voûte ein«, sagte Laurine. »Das hast du dir verdient. Je eher du oben bist, desto eher hat das Martyrium ein Ende. Wenn du nichts dagegen hast, radele ich schon mal vor und suche uns einen schönen Tisch aus. Bis gleich.« Sprachs und radelte mit einer Leichtigkeit davon, über die er nur den Kopf schütteln konnte. Als hätte sie eingebauten Rückenwind.

So viel zu seinem lockeren Mundwerk und seiner Behauptung, Radfahren wäre nur etwas für Kinder.

 

Als er im La Voûte eintraf, warteten dort nicht nur Laurine und ein Pietra auf ihn, sondern ein Mann, den er schon länger nicht gesehen hatte. Kräftig, schwitzend, mit Bluejeans und Karohemd. Unter der Halbglatze und der Brille mit dem billigen Silbergestell funkelten wachsame Augen.

Vergessen waren Schmerz und Anstrengung. Eric grinste vergnügt. »Petru!«

Der Reporter sah ihn an, als wäre er das letzte Einhorn. Das Lächeln unter dem Bart entblößte eine Zahnlücke. »Was treibst du da, mein Freund? Radfahren? Hat sie dich dazu gebracht?«

Eric blickte an sich herunter und strich über sein Trikot. »Ach das. Laurine meinte, es wäre praktischer so. Kühlend und atmungsaktiv.«

Petru lachte. »Eric Marchand, ein Mamil, ein Middle aged man in Lycra. Wer hätte jemals gedacht, dass du so tief sinken würdest?«

»Hör nicht auf ihn«, sagte Laurine. »Ich finde, es steht dir gut. Außerdem fliegt einem kein Ungeziefer in Ausschnitt und Ärmel, was Petru wüsste, wenn er jemals seinen fetten Hintern auf ein Rad schwingen würde. Was er natürlich nicht tut, denn dann müsste er sich ja anstrengen.«

Eric kam sich auf einmal sehr albern vor.

Laurine deutete auf den freien Stuhl. »Komm, mein Liebster. Setz dich, und trink dein Bier. Du hast es dir verdient.«

Mühsam stieg Eric vom Rad. Er war steif wie ein Brett. Er stellte das Rad ab und ging mit watschelnden Schritten zu ihrem Tisch.

Das Grinsen wollte nicht aus Petrus Gesicht weichen. »Mit deinen Kronjuwelen alles in Ordnung, alter Freund? Du wirkst, als hätte man dich im Schraubstock.«

Eric ließ sich auf seinen Stuhl fallen.

»Lass dir einen guten Rat von mir geben. Vergiss es. Sport ist nichts für unsereins.«

Laurine kräuselte die Lippen und nippte an ihrem Weißwein. »Männer. Um euch muss man sich erst Sorgen machen, wenn ihr aufhört, euch zu beklagen.«

Sie wuschelte Eric durch die Haare und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.

Er setzte das Glas an und leerte es in einem Zug. Das Bier war gut. Kühl und erfrischend. So langsam kehrten seine Lebensgeister zurück. Er winkte Ernestu zu und bestellte per Handzeichen noch eines.

»Was macht dein Roman?«, erkundigte sich Petru.

»Der ist fertig und wird in den nächsten Tagen erscheinen«, entgegnete Eric.

»Das ist ja wunderbar. Wieso hast du mir nichts davon erzählt?«

»Ich wollte erst mal abwarten, wie er sich verkauft, ehe ich es an die große Glocke hänge.«

»Und deine Hauptfigur?«

»Figuret …«

»Ja …«

»Der darf überleben, ganz so wie mein Lektor Albert Montreuil von Gallimard sich das gewünscht hat. Ich habe die Handlung hierher nach Korsika verlegt und geschrieben, dass Figuret Gefallen am Inselleben gefunden hat.«

»So wie du …«

Eric lachte. Das zweite Bier kam, und Eric war mit sich und der Welt schon fast wieder im Einklang.

»Möchte sonst noch jemand etwas?« Ernestu war der Besitzer der Bar La Voûte. Gleichzeitig war er aber auch noch Bürgermeister, was für Korsika nicht ungewöhnlich war. Jedes korsische Dorf, mochte es auch noch so klein sein, leistete sich einen standesgemäßen Repräsentanten. Das gehörte sich einfach so.

»Nein danke.«

»Alles klar. Gebt Bescheid, wenn ihr etwas braucht.«

Ernestu, dessen Leibesumfang von Jahr zu Jahr zunahm und dessen raue Stimme und grau melierter Bart sein Auftreten als Respektsperson unterstrichen, war für diese Position wie geschaffen. Zusammen mit Émile und Francine, denen das Le Gallieni gehörte, dem Bäckerehepaar Sandrine und Jean-Jacques sowie Marie-Ange, die den kleinen Lebensmittelladen in der Rue Porciletti führte, war er einer der Eckpfeiler dieses Ortes.

»Auf dein Wohl, Eric«, sagte Petru und erhob sein Glas. »Auf den Erfolg deines Romans. Und auf euch beide. Auf jeden Topf ein Deckel, wie meine Mutter immer zu sagen pflegte.«

»Salute!« Eric und Laurine erhoben ebenfalls ihre Gläser.

Eric spürte, wie das Bier ihm zu Kopfe stieg. »Was führt dich in unser kleines Paradies? Sehnsucht nach Francines Brocciu-Krapfen?« Er zwinkerte in Richtung Le Gallieni.

»Ich wünschte, es wäre so. Tatsächlich aber hätte nicht viel gefehlt und ich säße heute nicht hier.« Petrus Ausdruck verdüsterte sich. »Auf mich wurde heute ein Anschlag verübt. Mitten auf dem Marktplatz von Bastia.«

»Wie bitte?«

»Beinahe wäre ich über die Klinge gesprungen. Im wahrsten Sinne des Wortes.«

Laurine beugte sich vor und senkte die Stimme. »Was ist geschehen?«

Er sah sich um, als würde er Spitzel in der Nähe vermuten, dann fing er an.

Mit knappen Worten berichtete er von seinem Besuch im Rathaus von Bastia, von der ersten Begegnung mit dem Motorrad und dem Ereignis auf dem Marktplatz.

»Wie ist dir die Flucht gelungen?«, erkundigte sich Eric.

Petru lächelte schief. »Ich hab mich in die Église Saint-Jean-Baptiste geflüchtet. Père Emmanuel ist ein guter Freund von mir. Ich dachte mir, wenn es wirklich ein Araber ist, würde ihn ein fremdes Gotteshaus vielleicht abschrecken.«

»Und?«

»Ich habe mich getäuscht. Der Verfolger betrat kurz nach mir die Kirche. Zum Glück hatte Emmanuel mich auf den geheimen Hinterausgang hingewiesen. Den durch die Krypta. Das war gut so, denn sonst hätte ich dort in der Falle gesessen.«

»Konntest du ihn erkennen?«

»Ja. Allerdings nur kurz. Ich sah ihn auf dem Weg nach unten.«

»Und?«

Petru zuckte die Schultern. »Für eine Gegenüberstellung würde es nicht reichen, aber ich konnte zumindest erkennen, dass er ein Maghreb war. Ich möchte euch dringend ermahnen, die Augen offen zu halten. Und da nicht klar ist, wer dahintersteckt und was die Typen wollten, könntet auch ihr in Gefahr sein.«

»Wie bist du denn nun entkommen?«, fragte Laurine.

»Emmanuel sperrte mir auf, ich floh durch den Seitentunnel und kam an der Westseite der Kirche wieder raus. Ich habe mich ins Auto gesetzt und bin sofort hierhergefahren.«

Beim Anblick von Petrus Ledertasche lief es Eric kalt den Rücken hinunter. Die Einstichstelle war gut zu sehen. Er steckte seinen Finger hinein, und der kam auf der anderen Seite wieder heraus. Der Schnitt ging glatt durch.

»Zum Glück war die Tasche randvoll mit Kopien«, sagte Petru. »Hätte ich sie nicht geistesgegenwärtig vor die Brust gedrückt, wäre der Stich mitten ins Herz gegangen. So hat er nur die oberste Hautschicht geritzt. Zum Glück habe ich eine dicke Speckschicht auf den Rippen.«

Aus Laurines Gesicht war jegliche Farbe gewichen. Vermutlich bewegten sich ihre Gedanken in ähnlichen Bahnen wie die von Eric. Der Terroranschlag in Ajaccio. Der Überfall auf hochrangige Mitglieder der korsischen Nationalbewegung vor vier Monaten. Die Entführung des Familienoberhauptes der Santini.

So viel war seither geschehen. Wenn Petru ins Fadenkreuz geraten war, konnte das schnell zu ihnen rüberschwappen. Die Frage war, ob es da einen Zusammenhang gab. Eric runzelte die Stirn. »Was sind das für Dokumente, die du ausgegraben hast?«

»Darüber möchte ich lieber noch nicht reden«, entgegnete Petru. »Ihr werdet es zu gegebener Zeit erfahren. Je weniger ihr wisst, desto besser. Wenn es stimmt, was ich vermute, dann haben wir ein großes Problem. Allerdings benötige ich noch weitere Beweise, um meinen Verdacht zu untermauern. Eine zweite Quelle, um sicherzugehen, versteht ihr?«

»Du willst die Sache weiterverfolgen?« Eric sah seinen Freund erstaunt an. »Ist das nicht riskant?«

Petru zuckte die Schultern, was Eric dazu bewegte, nachzuhaken.

»Gesetzt den Fall, deine Gegner wissen, worauf du aus bist und was du suchst, ist es doch sehr wahrscheinlich, dass sie dir auflauern und dir eine Falle stellen. Ich würde es so machen.«

»Das Risiko besteht natürlich«, erwiderte Petru. »Aber ich bin das gewohnt und werde entsprechend vorsichtig sein. Ich arbeite schon zu lange in diesem Job, um ein zweites Mal ins offene Messer zu laufen.« Er verstaute die Tasche wieder unter dem Stuhl. Eric sah das Ding an, als enthielte es eine Bombe.

Der Rest des Gespräches drehte sich um alltägliche Themen. Irgendwann zahlten sie und schlenderten zurück in die Oberstadt. Laurine und Petru vorneweg, Eric mit ein paar Metern Abstand hinterher. Er hatte Mühe, das Mountainbike durch die engen Gässchen zu manövrieren. Nicht so sehr, weil es so eng war, sondern weil er mit seinen Kräften am Ende war. Vermutlich würde er morgen einen herrlichen Muskelkater haben. Seine Gedanken mäanderten wie die Gässchen der Altstadt. Mal hierhin, mal dorthin. Ohne Richtung und Ziel.

Ein Gutes hatte das Radfahren. Es befreite den Kopf und setzte Gedanken frei. Auf einmal fielen ihm tausend Dinge ein. Details und Kleinigkeiten aus seiner jüngeren Vergangenheit. Die Entdeckung seines Namens und die Enthüllung seiner Familiengeschichte. Danach ging es Schlag auf Schlag. Sein Konflikt mit Mateu, der Schatz von Lava, Moniques Rückkehr. Seine Begegnung mit Laurine. Eine Freundschaft und Liebe, die sein ganzes Leben verändert hatte. Wegen ihr war er hiergeblieben. Sie war der Grund, weshalb er sein altes Leben in Paris aufgegeben hatte und hierhergezogen war.

Ein Jahr war seither vergangen, doch er fühlte sich bereits wie ein waschechter Korse. Auch wenn das natürlich Einbildung war. Man war nicht Korse, wenn man nicht wenigstens in der dritten Generation hier lebte. Aber er aß wie ein Korse, er dachte wie ein Korse und liebte eine Korsin. Nicht so oberflächlich und kurzlebig wie in Pariser Zeiten, sondern ernsthafter. Respektvoll und mit mehr Verständnis. Es gab Dinge, über die er und Laurine grundverschieden dachten. Sie war ein spiritueller Mensch, er ein überzeugter Atheist. Sie hatte außer Korsika in ihrem Leben noch nichts gesehen, er war durch die halbe Welt gereist. Sie war hungrig und abenteuerlustig, er sehnte sich nach Ruhe und Frieden. Sie hatte seine abgestorbenen Wurzeln geheilt, die verbrannten Blätter und die verdorrte Rinde erneuert, er hatte sie dafür aus ihrer selbst gewählten Einsiedelei geholt. Seine Begegnung mit ihr hatte ihn geerdet, ihn wieder Vertrauen in seine Fähigkeiten und Talente fassen lassen. Das war etwas, was keine Psychotherapie vermocht hätte. Laurine und Korsika waren eins. Zwei Seiten derselben Münze.

So aufregend dieses Jahr auch gewesen sein mochte, es hatte Erics schöpferische Kräfte wiederaufleben lassen, ihm einen Neuanfang geschenkt. Endlich konnte er wieder schreiben. Sein Kopf war voller Ideen. Die Gedanken strömten nur so aus ihm heraus und formten starke Worte auf dem Papier. Sein aktueller Roman endete auf dieser Insel, doch sein neuer würde ausschließlich hier spielen. Auf diesem merkwürdigen Eiland an der Grenze zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West.

Laurines Haus befand sich am höchsten Punkt von Speloncato. Das Dorf lag auf einem Gebirgsausläufer des Monte Tolo und schwebte wie ein Krähennest sechshundertfünfzig Meter über der Ebene. An schönen Tagen war das dreißig Kilometer entfernte Meer zum Greifen nah. Ein blaues Band, das nur von einigen spitz aufragenden Felsen zerteilt wurde. Im Sommer zählte Speloncato zu den beliebtesten Ausflugszielen der Balagne. Kühler als die Ebene, aber immer noch nah genug am Meer, um rasch dorthin zu gelangen. Und wenn es einen nach Bergwanderungen gelüstete, war Speloncato das ideale Basiscamp. Sowohl der berühmte GR 20 als auch die Wanderwege Mare e Monti und Mare a Mare verliefen unweit von hier und versprachen spektakuläre Landschaftseindrücke. Laurine hatte ihn bereits mehrfach auf eine mehrtägige Tour eingeladen, er war bislang jedoch nicht dazu gekommen. Das würde jetzt anders werden. Ehe er mit seinem neuen Roman begann, würde er mit ihr ein paar Tage …

»Nein!«, hörte er sie rufen. Und dann noch mal: »Nein, nein, nein …«

Alarmiert blickte Eric nach vorn. Er stellte sein Fahrrad ab und sprintete, so schnell es seine müden Beine erlaubten, die Gasse hinauf.

Laurine und Petru waren hinter der nächsten Biegung verschwunden, sodass er nur ihre aufgeregten Stimmen hören konnte. Irgendetwas musste vorgefallen sein. Laurine war eigentlich nicht der Typ, der sich schnell aufregte.

Ihr Haus schmiegte sich an das Berggestein, sodass man fast nicht erkennen konnte, wo das Mauerwerk begann und der Fels endete. Die Tür stand sperrangelweit offen. Laurine war bereits im Inneren, und die Geräusche, die sie von sich gab, klangen alles andere als ermutigend. »Ihr Schweine«, hörte er ihre erboste Stimme. »Was habt ihr nur …? Oh, nein, meine Vase! Mein Porzellan!«

Petru stand draußen und schien nicht zu wissen, ob er eintreten oder besser draußen bleiben sollte. Als Eric bei ihm eintraf, warf er ihm einen warnenden Blick zu.

»Was ist denn los?«, fragte Eric. »Klingt wie ein Tobsuchtsanfall.«

»Eingebrochen haben sie«, erklang eine heisere Frauenstimme in ihrer Nähe. Eric fuhr herum und sah Madame Talamoni, die aus dem Fenster lugte. Laurines Nachbarin war über neunzig Jahre alt und kaum von einem Stück Holz zu unterscheiden. Ein rot geblümtes Kopftuch umrahmte ein faltiges Gesicht.

»Hab mitgekriegt, wie sie wieder rausgekommen sind. Zwei Männer. Dunkelhäutig. Muslime, wenn Sie mich fragen.« Sie spuckte in ihren Kräutergarten.

»Muslime?« Eric sah Petru alarmiert an. »Vielleicht auf einem Motorrad?«

»Kann ich nicht sagen. Gesehen hab ich keins.«

»Wann war das?«

Die Alte zuckte die Schultern. »Vor ’ner Stunde vielleicht. Hab nicht auf die Uhr geschaut.«

Petru zog seinen Block raus und machte sich Notizen. »Haben Sie schon die Gendarmerie verständigt?«

»Polizei, bah!« Sie spuckte noch mal aus, dann verschwand sie. Mit lautem Scheppern schlugen die Fensterläden zu.

»Anscheinend nicht«, sagte Eric.

»Herzallerliebst«, murmelte Petru. »So eine Nachbarin wünscht sich doch jeder. Was meinst du, sollen wir mal reingehen?«

»Natürlich gehen wir rein«, sagte Eric, auch wenn ihn davor graute, was ihn erwarten mochte. Laurines Stimmlage nach zu urteilen, kam man ihr gerade besser nicht in die Quere.

III

Laurine blickte auf die Scherben ihrer Existenz. In ihrem Haus stand buchstäblich kein Stein mehr auf dem anderen. In der Küche waren sämtliche Teller, Töpfe und Pfannen aus den Regalen geworfen worden. Dazu ihre schönen Vasen und die alten mundgeblasenen Gläser, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte.

Im Bad sah es nicht viel besser aus. Hängeschränke waren aus der Verankerung gerissen worden, ihre Kosmetik lag kreuz und quer im Raum verteilt. Nicht, dass sie die Sachen wirklich brauchte. Eric sagte ihr immer wieder, dass Rouge und Kajal bei ihrem dunklen Teint nicht nötig seien, aber für sie war es Teil des Morgenrituals. Vor allem während der Sommermonate, wenn sie die Gäste vom Club Med in Sant’Ambroggio betreute. Das Servicepersonal war angewiesen, sich stets gepflegt zu präsentieren, und dazu gehörte für eine Frau nun mal, sich zu schminken. Die kleine Flasche Chanel N°5 hatte den Sturz überlebt, es war allerdings kaum noch etwas drin.

Vollkommen aufgelöst verließ Laurine das Bad und lief dabei Eric und Petru über den Weg. Die beiden wirkten betroffen. Eric streckte seine Hand nach ihr aus, doch Laurine schüttelte nur den Kopf. Sie wollte nicht getröstet werden, erst musste sie das ganze Ausmaß des Schadens begutachten.

Das Wohnzimmer hatte es besonders schlimm erwischt. Möbel waren umgeworfen worden, die Bücherregale leer gefegt. Auf dem Esstisch sah sie hässliche Kratzer, und ihr Sofa hatte man mit einem scharfen Messer der Länge nach aufgeschnitten. Aus der Wunde quoll Füllmaterial. Als Laurine bemerkte, dass diese Vandalen nicht mal vor den kleinen Skulpturen einer befreundeten Künstlerin haltgemacht hatten, stieg ein Schluchzen aus ihrer Kehle. Sie konnte nicht anders im Angesicht dieser Zerstörungsorgie.

»Warum?«, presste sie hervor. »Ich verstehe das nicht. Was habe ich diesen Leuten getan?«

»Wurde etwas gestohlen?«, erkundigte sich Eric.

Sie ging rüber zu ihrem Wandschrank, in dessen Schubladen sie ihr Bargeld aufbewahrte, öffnete die kleine Schatulle und zählte nach. Es gab noch ein paar andere Orte, an denen sie nachsah, dann war der Fall klar.

»Nein. Das Geld ist da.«

»Schmuck oder andere Wertgegenstände?«

Kopfschütteln. Sie war ratlos.

»Aber was soll das dann?«

»Vermutlich eine Warnung«, sagte Petru. »Ein Exempel, eine Zurschaustellung von Macht.«

»Du meinst, ein Einschüchterungsversuch?«, fragte Eric.

»Ist für mich das Wahrscheinlichste.«

»Aber von wem und warum?« Eric durchschritt die Wohnung, hob dieses auf und jenes. Laurine wünschte sich, er würde es lassen. »Wenn ich jemanden einschüchtern will, dann hinterlasse ich ihm doch eine Botschaft. Aber hier ist nichts.«

»Abwarten«, sagte Petru. »Noch haben wir nicht alles gesehen.«

Laurine hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie verließ die beiden Männer. Sie musste jetzt allein sein.

In ihrem Behandlungszimmer waren die Verwüstungen nicht ganz so schlimm. Ein paar Kräuter, die sie zum Trocknen aufgehängt hatte, waren von der Decke gerissen worden, einige Tiegel mit Salben und Pulvern umgeworfen. Die Liege, der Tisch sowie sämtliche Verbandsmaterialien waren noch intakt. Fast, als hätten die Angreifer Respekt vor ihrer Tätigkeit als Heilerin gehabt.

Laurine war zwar keine ausgebildete Ärztin, aber sie beherrschte die traditionellen korsischen Heilmethoden. Dazu gehörte das Naturheilverfahren, einige Formen der Physiotherapie und auch Geburtshilfe.

Sie war eine Adeptin des Occhjiu, einer auf Korsika verbreiteten Form weißer Magie, die auf der Rezitation geheimer Formeln sowie einer Art Gesangspredigt beruhte. Laurine hatte das von ihrer Großmutter gelernt, und einige ältere Frauen im Dorf kamen regelmäßig zu ihr, um sich vor Flüchen schützen zu lassen.

Wenn nachts eine Tür quietschte, wenn der Wind ums Haus strich oder ein fahles Licht in den Bergen leuchtete, konnte das ein Hinweis auf eine zornige Seele sein. Sie zu besänftigen und böse Geister fernzuhalten war Ziel des Occhjiu.

Eric erschien neben ihr in der Tür. »Und, wie sieht’s hier aus? Ist es sehr schlimm?«

Sie zuckte die Schultern. »Ein kleiner Lichtblick in all dem Chaos. Diese Salben, Tinkturen und Pulver stellen meinen größten Schatz dar. Teilweise hat es Jahre gedauert, sie zu sammeln. Vermutlich war es den Tätern nicht bewusst, aber hier hätten sie mich am härtesten treffen können.«

»Oder sie hatten Respekt davor.« Seine Gedanken schienen in ähnlichen Bahnen zu verlaufen wie ihre. Wie gut er sie inzwischen kannte.

»Lass uns den Rest in Augenschein nehmen.«

Vorratskammer und Gästezimmer waren ebenfalls kaum betroffen, dafür das Schlafzimmer. Laurine schlug die Hand vor den Mund. Der Geruch war kaum zu ertragen. Die Bettdecke war zur Seite geschlagen, und einer der Attentäter hatte sich auf ihrem Bett erleichtert. Mit Fäkalien war eine Zeichnung an die Rückwand des Zimmers geschmiert worden. Was sollte das sein, ein Skorpion?

Laurine konnte nicht mehr. Würgend und hustend stolperte sie aus dem Zimmer.

Tränen der Wut und Verzweiflung stiegen ihr in die Augen. Womit hatte sie das verdient? Wer glaubte, sie derartig demütigen zu müssen?

Sie wankte in die Küche, klaubte einen Topf vom Boden, setzte Wasser auf und holte ein Büschel getrockneten Salbei. Sie brauchte jetzt etwas, um ihre Nerven zu beruhigen. Eric war ihr leise gefolgt. »Kann ich etwas für dich tun?«

Sie wischte sich ein paar Tränen aus den Augen, dann streckte sie die Hand aus.

»Sei einfach da, fate u piacè.«

»So lange du willst. Wir werden das wieder hinbekommen, das verspreche ich dir. Wenn du magst, beauftrage ich jemanden mit der Reinigung und der Reparatur. Zusammen haben wir das ruckzuck wieder aufgeräumt. Und wir werden herausfinden, wer das getan hat. Wer immer es war, wir werden ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. Petru macht gerade noch ein paar Aufnahmen für die Polizei. Er meint, der Skorpion habe etwas zu bedeuten.«

Sie schniefte. »So?«

»Er behauptet, er habe dieselbe Form wie die Tätowierung auf dem Unterarm des Attentäters. Stimmt’s, Petru?«

»Was?« Der Reporter kam aus dem Wohnzimmer, sein Smartphone in der Hand.

»Du meintest doch, der Skorpion sei ein Clanabzeichen oder so was.«

»Könnte ein Clanabzeichen sein, ja. Clément soll das überprüfen. Er ist bereits auf dem Weg hierher.«

Laurine hob die Brauen. »Du hast ihn angerufen?«

»Ja. Ich hoffe, das ist okay für dich.«

Laurine zuckte die Schultern. Es wäre ihr zwar lieber gewesen, er hätte sich mit ihr abgestimmt, aber okay. »Du glaubst, es gibt da einen Zusammenhang?«

»Du etwa nicht?« Petru deutete auf das Chaos. »Sieh dich doch mal um. Irgendjemand hat die Verbindung zwischen uns aufgedeckt und fängt an, uns einzuschüchtern. Die Frage ist nur, wie wir darauf reagieren. Ich bin immer für einen offensiven Umgang.« Er sah sich um. »Wir sollten uns für die nächsten Tage nach einer anderen Bleibe umsehen«, sagte er. »Ich hatte vor, Battista zu besuchen. Wenn ihr mögt, frage ich sie, ob sie uns Asyl gewährt.«

»Deine Schwester dürfte nicht begeistert sein, wenn wir schon wieder bei ihr aufkreuzen.« Laurine griff nach der Kanne und goss Tee auf. Sofort entfaltete sich ein beruhigender Duft. »Ich suche mir lieber ein Hotel. So oder so, hier werde ich auf keinen Fall bleiben.«

»Ich könnte Madame Borghetti fragen, ob wir ein paar Nächte bei ihr verbringen dürfen«, sagte Eric. »Ich weiß, dass sie zurzeit keine Gäste beherbergt. Sie würde uns sicher aufnehmen.«

Laurine blickte zweifelnd.

»Elisa ist zwar ein bisschen altmodisch, was unverheiratete Paare angeht, aber ich könnte mir vorstellen, dass sie bei uns ein Auge zudrückt.«

Petru schien von dieser Idee nicht begeistert. »Zu unsicher«, sagte er und wiegte den Kopf. »Zu nah am Ort des Geschehens. Für eine Nacht mag das in Ordnung sein, aber auf Dauer halte ich Battista für die bessere Lösung. Weit genug weg, aber nicht so weit, dass man nicht beobachten kann, was hier vorgeht. Zweiter Vorteil: Sie lebt so abgeschieden, dass wir mitbekommen würden, wenn sich ein Unbekannter nähert.«

Laurine nahm die Teeblätter raus und schenkte drei Tassen ein. Petrus Worte hatten sie überzeugt. »Meinst du, sie lässt vielleicht mit sich reden?«

»Überlass das mir«, sagte er augenzwinkernd. »Wenn ich es richtig anstelle, frisst mir meine Schwester aus der Hand.«

Um ein Haar hätte Laurine laut aufgelacht, doch dann sah sie die Trümmer ihrer Wohnung, und das Lächeln verschwand. Trotzdem, die Vorstellung, Battista könne ihrem Bruder aus der Hand fressen, war reichlich absurd. Die Künstlerin war einen Kopf größer als er und hätte ihn im Kräftevergleich spielend in die Tasche gesteckt. Sie war auch mindestens so klug, allerdings hatte sie ein weiches Herz, und wenn sie erfuhr, was hier geschehen war, würde sie vielleicht doch einlenken.

»Na gut«, sagte Laurine seufzend. »Versuch dein Glück. Ich werde derweil meine wichtigsten Habseligkeiten zusammenräumen.«

»Ich kümmere mich um Maler und Müllabfuhr, dann rede ich mit Elisa«, sagte Eric. »Du wirst sehen, in ein paar Tagen ist es, als wäre nichts geschehen.«

Laurine bezweifelte auch das.

IV

Eric erwachte von einem zaghaften Klopfen. Die Augen öffnend, benötigte er einen Moment, um sich zu orientieren. Goldenes Morgenlicht strömte durch das Fenster und ergoss sich über den Boden. Der Sessel sowie die erlesenen Möbel glänzten wie mit Honig überzogen.

Eric war wieder in seinem alten Zimmer. Dort standen der Sekretär, der Kleiderschrank, der Tisch sowie die alten Gemälde. Er sah die Decke in Freskotechnik mit kunstvollen Vögeln und filigranen Blumen sowie die Bodenfliesen und das marmorgetäfelte Badezimmer. Von unten drang das Ticken der schweren Standuhr zu ihnen herauf. Das Fenster wies nach Westen. Ein sanfter Wind bewegte die Vorhänge. Seine Erinnerungen wurden von einem erneuten Klopfen unterbrochen.

»Ja?«, murmelte er verschlafen. »Wer ist da?«

Die Tür ging einen Spalt auf. Madame Borghettis Kopf erschien. Seine ehemalige Vermieterin war noch genauso neugierig wie damals. Fröhlich zwinkerte sie ihm zu. »Hätten Sie beide vielleicht Lust auf ein schönes Frühstück? Ich könnte Mathilde bitten, zwei zusätzliche Gedecke aufzulegen.«

Eric blickte zur Seite. Laurine schlief in seiner Armbeuge. Aus ihrem geöffneten Mund drang leises Schnarchen.

»Gerne«, flüsterte er. »Würde es Ihnen in einer halben Stunde passen?« Er war davon überzeugt, dass Laurine nichts gegen ein Frühstück einzuwenden hätte, wollte aber nicht über ihren Kopf hinweg entscheiden. Vielleicht wäre es ihr peinlich. »Ich muss sie erst noch fragen.«

»Aber natürlich«, sagte Madame Borghetti. »In einer halben Stunde also. Geben Sie mir einfach Bescheid.« Mit leisem Klicken fiel die Tür ins Schloss.

Eric lächelte. Wie sehr man sich doch an gewisse Rituale gewöhnen konnte. Ein halbes Jahr lang war er jeden Tag auf diese Weise geweckt worden. Jetzt spürte er, wie sehr er das vermisst hatte. Nicht, dass es ihm nicht gefiel, bei Laurine zu wohnen, im Gegenteil. Aber dieser Blick, die Gerüche und Geräusche – hier hatte alles seinen Anfang genommen.

»Laurine?« Er strich sanft über ihren Arm. »Hörst du mich?«

»Mmh …?«

»Magst du mit mir frühstücken gehen? Elisa hat uns eingeladen, ihr Gesellschaft zu leisten.«

»War sie hier?« Laurine schlug die Augen auf.

»Ja. Vor ein paar Minuten. Sie fragte, ob wir runterkommen wollen. Ich habe gesagt, etwa in einer halben Stunde.«

»Hat sie uns zwei im Bett gesehen?«

Er grinste. »Ich denke schon.«

»Oh, nein …« Laurine zog sich die Decke über den Kopf.

»Wieso? Ist doch nichts dabei. Sie schien jedenfalls nicht überrascht.«

Unter der Decke waren undefinierbare Laute zu hören.

»Komm schon«, sagte er. »Da gibt es nichts, wofür wir uns schämen müssten. Das halbe Dorf weiß, dass wir ein Paar sind. Wieso genierst du dich plötzlich so?«

Die Bettdecke wurde wieder aufgeschlagen. »Weil das Elisa ist. Ich kenne sie, seit ich mich erinnern kann. Sie und meine Großmutter waren beste Freundinnen. Sie hat mich praktisch mit aufgezogen.« Sie lächelte. »Würdest du dich nicht genieren, wenn du von deiner Großmutter mit jemandem im Bett erwischt würdest?«

»Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Daran, dass sie hier zur Tür reinspaziert, bin ich gewöhnt. Das hat sie immer getan.« Er grinste. »Sie ist ein Fan, sie darf das.«

»Sie sind ein Müttersöhnchen, Eric Marchand.«

»Und das mit dem größten Vergnügen. Was denkst du wohl, warum ich bei dir eingezogen bin?«

Sie sah ihn entgeistert an. »Oh, du …« Sie wollte mit dem Kissen auf ihn einschlagen, doch er hielt sie fest und küsste sie leidenschaftlich. Ihr Geruch brachte ihn beinahe um den Verstand.

Seit der kurzen Episode mit seiner Ex-Freundin Monique vor einem halben Jahr war Laurine wie ausgewechselt. Es schien, als ob dieses kleine bisschen Eifersucht den Ausschlag gegeben hätte. Merkwürdig, dass Monique sich seither nicht mehr gemeldet hatte. Gut, sie hatten sich offiziell getrennt, aber ein Lebenszeichen wäre doch drin gewesen, oder? Stattdessen Totenstille. Das entsprach nicht Moniques Stil. Egal. All das lag nun hinter ihm.

»Wie sieht’s aus? Hunger?«, fragte er. Er hoffte, sie würde Nein sagen und sie könnten noch eine Stunde im Bett bleiben, doch sie löste sich von ihm und richtete sich auf. »Hunger nicht gerade, aber einen Kaffee könnte ich vertragen. Und Elisa macht den besten. Ich springe nur kurz unter die Dusche. Bis gleich.« Sie schlug die Decke zur Seite und stand auf. Zu sehen, wie sie ihre schokoladenbraunen Beine aus dem Bett schwang und halb nackt im Badezimmer verschwand, erregte ihn.

 

Ein paar Minuten früher als besprochen kamen sie unten im Esszimmer an. Elisa war bereits dort und sortierte die Backwaren. Der Raum duftete verführerisch nach Kaffee und Croissants. »Ah, da sind ja meine beiden Turteltäubchen. Setzt euch, setzt euch. Bedient euch schon mal, ich komme gleich nach. Ich warte nur noch auf die Frittelle. Oh, da sind sie ja schon.«

Mathilde, die stämmige Haushälterin, brachte ein kleines Backblech voller korsischer Käseküchlein. Eric leckte sich die Lippen. Die Krapfen waren während der Esskastaniensaison ein fester Bestandteil der Speisetafel. Der nussige Geschmack des Esskastanienmehls, vermischt mit dem süßlichen Aroma von Brocciu, das war eine Gaumenfreude. Und eine gehaltvolle dazu.

Eric musste daran denken, welche Mühe es ihn gekostet hatte, zu seiner alten Form zurückzufinden. Er schwor sich, nicht mehr als drei davon zu essen. Na gut, vielleicht vier.

»Wie hast du geschlafen, du Ärmste?«, fragte Madame Borghetti, während sie Laurine Kaffee einschenkte. »Hast du überhaupt ein Auge zubekommen?«

»Überraschenderweise habe ich ziemlich gut geschlafen«, entgegnete Laurine. »Wie ein Baby. Ich verstehe es selbst nicht.«

»Liegt vermutlich an Erics kräftigen, schützenden Armen.« Madame Borghetti lächelte. »Zu zweit lassen sich die Wogen des Lebens weitaus besser ertragen als allein. Seit mein Sampièro von mir gegangen ist, muss ich alles allein bewerkstelligen. Zum Glück habe ich Mathilde, ich wüsste sonst gar nicht, wie ich das schaffen sollte.«

Eric zwinkerte Laurine zu. Sie wussten beide, dass Elisa alles andere als wehr- und hilflos war. Sie konnte sogar mit dem Gewehr umgehen, das dort drüben über dem Kaminsims hing. Eric hatte sie einmal bei Schießübungen im Garten beobachtet. Sie war durchaus imstande, ihr kleines Reich zu verteidigen. Aber einer Dame ihres Alters waren ein paar Annehmlichkeiten vergönnt. Zumal sie durchaus vermögend war. Neben diesem gehörten ihr noch zwei weitere Häuser in Speloncato. Alle vermietet und eines schöner als das andere. Natürlich hängte Elisa ihr Vermögen nicht an die große Glocke. Kein Korse, der etwas auf sich hielt, tat das. Geld hatte man, oder man hatte es nicht. Auf keinen Fall aber sprach man darüber.

»Nun ja, jedenfalls kann ich dir behilflich sein, meine Liebe«, fuhr Madame Borghetti fort. »Ich kenne gute Handwerker und Restaurateure, die werden dein Haus im Nu wieder auf Vordermann bringen. Und wenn ich sie anrufe, kommen sie auch.«

Eric verstand die Anspielung. Wer kein Einheimischer war oder nicht über entsprechende Kontakte verfügte, der konnte hier mitunter monatelang auf Handwerker warten. Sie waren die ungekrönten Könige dieser Insel und besaßen eine Macht, wie man es auf dem Festland kaum für möglich hielt. Wer einen von ihnen schief anblickte, gar mit ihm zu feilschen versuchte oder in Zahlungsrückstand geriet, der durfte kaum darauf hoffen, noch einmal einen Handwerker zu finden. Die Bande war untereinander besser vernetzt als die Mafia. Ein Anruf, und man bekam nicht mal mehr einen Termin in der Autowerkstatt.

»Ich werde auf dein Angebot zurückkommen«, sagte Laurine lächelnd. »Sobald die Untersuchung abgeschlossen ist, werde ich mich darum kümmern.«