Kraftvolles Selbstmitgefühl für Frauen - Kristin Neff - E-Book

Kraftvolles Selbstmitgefühl für Frauen E-Book

Kristin Neff

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  • Herausgeber: Kailash
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

»Niemanden behandeln wir so schlecht wie uns selbst,« sagt Kristin Neff. Insbesondere Frauen neigen zu harter Selbstkritik und bedingungsloser Selbstaufgabe, wenn es um das Wohl anderer geht. Doch es genügt nicht, sich selbst eine gute Freundin zu sein. Es erfordert Mut, aufzubegehren, Nein zu sagen, um sich vor Ungerechtigkeit und Verletzungen zu schützen und den eigenen Bedürfnissen mehr Raum zu geben. Kristin Neff erforscht, wie Frauen eine gesunde Balance finden können zwischen empathischer Fürsorge und selbstbestimmter Durchsetzungskraft, um sich authentisch in Beziehungen, im Job und in der Gesellschaft zu verwirklichen. Kraftvolles weibliches Selbstmitgefühl bedeutet ein bewusstes Ausbalancieren zwischen einfühlsam und stark, sanft und radikal. Wenn wir diesen Balanceakt beherrschen und dabei bedingungslos für uns selbst einstehen, können wir Großes bewirken.

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Seitenzahl: 641

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Zum Inhalt

»Niemanden behandeln wir so schlecht wie uns selbst,« sagt Kristin Neff. Insbesondere Frauen neigen zu harscher Selbstkritik und bedingungsloser Selbstaufgabe, wenn es um das Wohl anderer geht. Doch es genügt nicht, sich selbst eine gute Freundin zu sein. Es erfordert Mut, aufzubegehren, Nein zu sagen, um sich vor Ungerechtigkeit und Verletzungen zu schützen und den eigenen Bedürfnissen mehr Raum zu geben. Kristin Neff erforscht, wie Frauen eine gesunde Balance finden können zwischen empathischer Fürsorge und selbstbestimmter Durchsetzungskraft, um sich authentisch in Beziehungen, im Job und in der Gesellschaft zu verwirklichen. Weibliches Selbstmitgefühl bedeutet ein bewusstes Ausbalancieren zwischen einfühlsam und kraftvoll, sanft und radikal. Wenn wir diesen Balanceakt beherrschen und dabei bedingungslos für uns selbst einstehen, können wir Großes bewirken.

Über die Autorin

Kristin Neff ist Professorin für Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung an der University of Texas in Austin. Durch den Buddhismus entdeckte sie das Konzept des Selbstmitgefühls und machte es vor zwanzig Jahren erstmals zum Gegenstand psychologischer Forschung. Neff hält international Vorträge und Seminare zum Thema Selbstmitgefühl.

Kristin Neff

Kraftvolles Selbstmitgefühl für Frauen

Klar für sich selbst einstehen,engagiert handeln und Erfüllung finden

Aus dem amerikanischen Englisch von Dr. Heide Lutosch

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel FIERCESELF-COMPASSION

How Women Can Harness Kindness to Speak Up, Claim Their Power, and Thrivebei Harper Wave, New York City, USA.

Deutsche Erstausgabe

© 2022 Kailash Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

© Kristin Neff 2021

published by arrangement with Harper Wave,

an imprint of Harper Collins Publishers, LLC

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

Umschlaggestaltung: ki 36, Daniela Hofner Editorial Design, München,

unter Verwendung eines Motivs von Nancy Singer

ISBN 978-3-641-28730-6V001

www.kailash-verlag.de

Für meinen geliebten Sohn Rowanund für alle Frauen auf der ganzen Welt

Inhalt

Teil I: Warum Frauen kraftvolles Selbstmitgefühlbrauchen

Einleitung: Sorgende Kraft

Kapitel 1: Die Grundlagen des Selbstmitgefühls

Kapitel 2: Was hat das alles mit Geschlecht zu tun?

Kapitel 3: Wütende Frauen

Kapitel 4: #MeToo

Teil II: Die Werkzeuge des Selbstmitgefühls

Kapitel 5: Sich selbst sanft halten

Kapitel 6: Standhaft bleiben

Kapitel 7: Den eigenen Bedürfnissen gerecht werden

Kapitel 8: Sich zum Guten verändern

Teil III: Kraftvolles Selbstmitgefühl in der Welt

Kapitel 9: Gleichgewicht und Gerechtigkeit im Arbeitsleben

Kapitel 10: Für andere sorgen, ohne sich selbst zu verlieren

Kapitel 11: Wir geben alles für die Liebe

Nachwort: Ein Schlamassel voller Mitgefühl

Danksagung

Anmerkungen

Stichwortverzeichnis

Personenverzeichnis

Teil I

Warum FrauenkraftvollesSelbstmitgefühlbrauchen

Kapitel 1

Die Grundlagen des Selbstmitgefühls

Wir brauchen Frauen, die so stark sind, dass sie sanft sein können…, so kraftvoll, dass sie mitfühlend sein können.16

—Kavita Ramdas, ehemalige Leiterin des Global Fund for Women

Selbstmitgefühl ist kein höherer Zustand, den man erst nach Jahren des Meditierens erreichen kann. Zunächst einmal bedeutet es schlicht und einfach, sich selbst eine gute Freundin zu sein. Das ist auch deshalb so schön, weil wir fast alle wissen, wie das geht – jedenfalls anderen gegenüber. Mit der Zeit haben wir gelernt, was wir sagen müssen, wenn ein uns nahestehender Mensch mit Minderwertigkeitsgefühlen oder Schwierigkeiten konfrontiert ist: »Das tut mir richtig leid. Was brauchst du denn jetzt? Kann ich irgendetwas für dich tun? Vergiss bitte nicht, dass ich immer für dich da bin.« Wir haben Übung darin, in solchen Situationen die Stimme zu senken, einen warmen Ton anzuschlagen und körperlich ein wenig loszulassen. Wir sind sehr geschickt darin, durch Berührungen zu zeigen, dass wir die Sache wichtig nehmen: Vielleicht umarmen wir die Person oder halten kurz ihre Hand. Im Zweifelsfall und wenn es um die Menschen geht, die uns sehr am Herzen liegen, werden wir zudem äußerst entschlossen handeln. Wir kennen diese spezielle Mama-Bär-Energie, die in uns hochsteigt, wenn eines unserer Liebsten bedroht ist oder beschützt werden muss oder einen kleinen Tritt in den Hintern braucht, um ein Problem anzupacken. Im Laufe unseres Lebens haben wir immer besser gelernt, was in solchen Situationen angebracht ist und was nicht.

Leider behandeln wir uns selbst bei Problemen nicht annähernd so mitfühlend. Statt innezuhalten, um uns zu fragen, was die Voraussetzung dafür wäre, damit wir uns selbst trösten und unterstützen können, reagieren wir meistens mit Selbstverurteilung, oder wir gehen auf der Stelle in den Problemlösungsmodus, oder wir drehen durch. Nehmen wir an, Sie haben auf dem Weg zur Arbeit einen kleinen Autounfall, weil Ihnen der Kaffee umgekippt ist und Sie abgelenkt waren. Ein typisches Selbstgespräch könnte sich etwa so anhören: »Du bist so was von bescheuert! Sieh dir an, was du getan hast. Jetzt ruf wenigstens gleich die Versicherung an und sag auf der Arbeit Bescheid, dass du das Meeting verpasst. Die schmeißen dich garantiert raus.« Würden Sie jemals mit jemandem, der Ihnen am Herzen liegt, so sprechen? Wahrscheinlich nicht. Aber uns selbst behandeln wir ziemlich oft so und haben irgendwie das Gefühl, dass das auch angemessen ist. Wir können regelrecht gemein zu uns selbst sein, sogar noch gemeiner als zu Leuten, die wir nicht ausstehen können. Eine goldene Regel lautet: Behandle andere Menschen so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest. Ein Zusatz sollte lauten: Behandle andere NICHT wie dich selbst, sonst hast du bald keine Freunde mehr.

Ein wichtiger erster Schritt auf dem Weg zu mehr Selbstmitgefühl besteht darin zu beobachten, wie wir uns selbst behandeln, wenn es uns nicht so gut geht – im Vergleich dazu, wie wir Menschen behandeln, die uns wichtig sind. Die besten Beispiele für solche Menschen sind sehr gute Freundinnen oder Freunde – denn, seien wir ehrlich, manchmal sind wir zu unseren eigenen Kindern, zu Partnerinnen oder Partnern oder zu Familienmitgliedern nicht annähernd so mitfühlend, wie wir es gern wären: Sie sind einfach zu nah. Im Umgang mit unseren Freundinnen und Freunden haben wir häufig etwas mehr Distanz, und wir nehmen sie nicht für selbstverständlich, weil es sich hier um freiwillige Beziehungen handelt. Das heißt, unser bestes Ich kommt immer dann zum Vorschein, wenn wir mit unseren engsten Freundinnen und Freunden zusammen sind.

Wie behandle ich meine Freunde in schwierigen Situationen – und wie mich selbst?

Es kann wirklich aufschlussreich sein, sich bewusst zu machen, wie viel Mitgefühl man seinen Freunden auf der einen Seite und sich selbst auf der anderen Seite zukommen lässt. In unseren MSC-Kursen fangen wir immer mit genau dieser Erkundung an, denn sie ist eine ideale Vorbereitung für das Erlernen von Selbstmitgefühl. Es handelt sich um eine schriftliche Übung, nehmen Sie also bitte Papier und Stift zur Hand.

Anleitung

Denken Sie an unterschiedliche Situationen, in denen es einer engen Freundin auf irgendeine Weise schlecht ging: Vielleicht litt sie darunter, dass sie einen Fehler gemacht hatte, oder sie wurde auf der Arbeit gemobbt oder war völlig erschöpft von ihren Kindern, oder sie hatte Angst, etwas Schwieriges nicht hinzubekommen. Schreiben Sie bitte auf, was Sie auf die folgenden Fragen antworten würden:

Wie reagieren Sie normalerweise in einer solchen Situation auf Ihre Freunde? Was sagen Sie? In welchem Ton sprechen Sie? Wie ist Ihre Körperhaltung? Welche nonverbalen Gesten setzen Sie ein?Wie reagieren Sie normalerweise in einer vergleichbaren Situation auf sich selbst? Was sagen Sie? In welchem Ton sprechen Sie? Wie ist Ihre Körperhaltung? Welche nonverbalen Gesten setzen Sie ein?Fallen Ihnen Unterschiede zwischen dem Verhalten Ihren Freundinnen gegenüber und sich selbst gegenüber auf? (Vielleicht geraten Sie beispielsweise bei sich selbst sofort in Katastrophenstimmung, während Sie bei einer Freundin einen ganz anderen Draufblick behalten.)Was glauben Sie: Wie würde es sich anfühlen, wenn Sie anfingen, sich selbst mehr wie Ihre Freunde zu behandeln, und welche Auswirkungen könnte das insgesamt auf Ihr Leben haben?

Für viele ist es schockierend zu erkennen, wie unterschiedlich sie sich selbst und ihre Freunde behandeln. Dass wir uns selbst so schlecht behandeln, kann im ersten Moment richtig befremdlich wirken. Glücklicherweise haben wir ausgiebig Erfahrung darin, Mitgefühl für andere zu haben und können uns davon inspirieren lassen, wenn es um das Verhältnis zu uns selbst geht. Im Grunde können wir das Mitgefühl für andere direkt als Vorlage nutzen, was nicht heißen soll, dass es sich nicht anfangs ziemlich seltsam anfühlen kann, sich selbst genauso zu behandeln wie eine gute Freundin. Aber das liegt schlicht und einfach daran, dass wir es uns angewöhnt haben, uns selbst als Feindin zu behandeln. Mit der Zeit wird es leichter. Wir müssen uns einfach nur die Erlaubnis erteilen, unsere gut ausgebildete Fähigkeit zum Mitgefühl nach innen zu richten.

Natürlich gibt es alle möglichen Hindernisse; die Gewohnheit, sich selbst zu kritisieren, und Gefühle von Wertlosigkeit und Scham sind schwer ins Wanken zu bringen. Außerdem könnten wir befürchten, dass Selbstmitgefühl gar nicht so gut für uns ist, dass es uns in ausschweifende, faule, egoistische Loserinnen verwandelt. Ich werde mich bemühen, diese Hindernisse in den folgenden Kapiteln immer wieder anzusprechen, aber es könnte sein, dass einige von Ihnen mein Buch Selbstmitgefühl. Wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund werden oder unser zugehöriges Übungsbuch lesen wollen, um etwas genauer zu verstehen, wie sich diese Hindernisse überwinden lassen.

Trotzdem: Übung macht den Meister, beziehungsweise wie wir im Kosmos des Selbstmitgefühls sagen: Übung macht den Meister in Unvollkommenheit. Wir werden immer besser darin, unsere vollkommen menschlichen Grenzen zu akzeptieren, und gleichzeitig lernen wir, wie wir aktiv werden können, um positive Veränderungen herbeizuführen. Jack Kornfield hat es so ausgedrückt: »Es geht in der spirituellen Praxis nicht darum, sich selbst zu vervollkommnen, sondern seine Liebe zu vervollkommnen.«17 Sowohl hinter dem kraftvollen als auch hinter dem sanften Selbstmitgefühl ist die treibende Kraft die Liebe.

Die drei Elemente des Selbstmitgefühls

Selbstmitgefühl bedeutet, dass wir uns ganz selbstverständlich mit der gleichen Freundlichkeit behandeln wie eine gute Freundin. Bloße Freundlichkeit sich selbst gegenüber kann jedoch schnell egozentrische oder narzisstische Züge bekommen. Es gehört auch dazu, die eigenen Schwächen zu sehen, Fehler zuzugeben und die eigenen Erfahrungen in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Wir müssen unsere eigenen Probleme mit den Problemen anderer ins Verhältnis setzen, damit wir unser kleines Ich hinter uns lassen und unseren Platz in der Welt erkennen können.

Meinem Modell zufolge besteht Selbstmitgefühl aus drei Hauptelementen: Achtsamkeit, geteilter Menschlichkeit und Freundlichkeit.18 Diese Elemente sind verschieden, gehören aber systemisch zusammen. Damit die mitfühlende Haltung sich selbst gegenüber gesund und stabil ist, müssen sie alle drei einbezogen sein.

Achtsamkeit. Die Grundlage von Selbstmitgefühl ist die Fähigkeit, sich dem eigenen Unwohlsein achtsam zuzuwenden und es anzuerkennen. Wir unterdrücken unseren Schmerz nicht und tun nicht so, als gäbe es ihn gar nicht, aber wir laufen auch nicht vor ihm weg, indem wir ihn in eine dramatische Geschichte einbinden. Achtsamkeit erlaubt es uns, klar zu erkennen, dass wir einen Fehler gemacht haben oder mit etwas gescheitert sind. Anstatt vor den schwierigen Gefühlen wegzulaufen, die mit unseren Problemen einhergehen, wenden wir uns ihnen zu: Schmerz, Angst, Traurigkeit, Wut, Unsicherheit, Reue. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf die Erfahrung des Augenblicks, sind uns all der sich ständig im Fluss befindenden Gedanken, Gefühle und Sinneswahrnehmungen bewusst, während sie ablaufen. Achtsamkeit ist für Selbstmitgefühl wesentlich, damit wir merken, wenn es uns schlecht geht, und darauf mit Freundlichkeit reagieren können. Wenn wir unseren Schmerz ignorieren oder uns vollkommen in ihm verlieren, kann es uns nicht gelingen, einen Schritt aus uns herauszutreten, um zu sagen: »Holla, das ist jetzt wirklich anstrengend, ich glaube, ich brauche ein bisschen Unterstützung.«

Eigentlich ist Achtsamkeit etwas ganz Einfaches, aber sie ist manchmal schwierig umzusetzen, weil sie anderen angeborenen Neigungen zuwiderläuft. Neurowissenschaftler haben eine Reihe von untereinander verbundenen, in der Mitte des Gehirns von vorne nach hinten verlaufenden Gehirnregionen identifiziert, die in ihrem Zusammenspiel »Ruhezustandsnetzwerk« genannt werden.19 Ruhezustand deshalb, weil es hier sozusagen um die Standardeinstellung des Gehirns geht, um die Momente, in denen wir uns nicht aktiv konzentrieren oder an einer bestimmten Aufgabe arbeiten. Der Ruhezustand hat drei grundlegende Funktionen: 1. Er schafft ein Selbstgefühl. 2. Er projiziert dieses »Selbst« in die Vergangenheit oder in die Zukunft. 3. Er sucht nach Problemen. Statt also unsere Aufmerksamkeit auf das zu richten, was ist, verlieren wir uns in Sorge und Reue. Von einem evolutionären Standpunkt aus ist dieses Verhalten nützlich: Wir lernen aus den Problemen der Vergangenheit, antizipieren zukünftige Bedrohungen für unser Überleben und überlegen permanent, wie wir die Dinge anders angehen könnten. Da wir aber nun einmal in der Jetztzeit leiden, ist unser Geist häufig nicht präsent genug, um überhaupt zu merken, dass wir mit etwas zu kämpfen haben. Stattdessen versuchen wir unsere Probleme mit Geschichten über die Vergangenheit oder die Zukunft zu lösen. Die bewusste Konzentration, die durch Achtsamkeit möglich wird, deaktiviert den Ruhemodus, und das bedeutet, dass wir bei unserem Schmerz sein können, während wir ihn fühlen.20

Wie ein klarer, stiller Teich, glatt und ohne Wellen, spiegelt Achtsamkeit ohne Verzerrungen das wider, was geschieht, sodass wir uns selbst und unser ganzes Leben in den Blick bekommen können. Wenn das geschieht, sind wir in der Lage, klug zu entscheiden, auf welche Weise wir uns selbst am besten helfen können. Es braucht Mut, sich seinem Schmerz zuzuwenden und ihn anzuerkennen, doch dieser Akt des Mutes ist unabdingbar, wenn wir so auf unser Leiden reagieren wollen, dass sich unser Herz öffnet. Was wir nicht fühlen, können wir auch nicht heilen. Achtsamkeit ist also die Säule, die das Selbstmitgefühl trägt.

Geteilte Menschlichkeit. Ebenso zentral für das Selbstmitgefühl ist das Erkennen unserer eigenen Menschlichkeit, unserer Verbundenheit mit anderen. Tatsächlich ist diese Verbundenheit genau das, was Selbstmitgefühl von Selbstmitleid unterscheidet. Um mit anderen zu fühlen, muss man mit ihnen verbunden sein, und wenn Mitgefühl nach innen gerichtet wird, dann bedeutet das, dass wir wirklich verstanden haben, dass alle Menschen unvollkommen sind und niemand ein perfektes Leben führt. Das mag sich banal anhören, doch oft genug lassen wir uns zu dem Glauben hinreißen, dass alles immer gut laufen muss und irgendwo ein Fehler ist, wenn es das nicht tut. Vollkommen irrationalerweise hat man das Gefühl, dass alle anderen fein raus sind und nur man selbst gestolpert ist, dabei ein Glas zerbrochen und sich an den Scherben einen Nerv im Daumen verletzt hat, woraufhin man drei Monate lang mit einer Art gigantischem pinkfarbenen Käsestück auf der hochgebundenen Hand herumlaufen musste, während das Ganze verheilte (ist mir tatsächlich passiert). Zum eigentlichen Schmerz kommt also auch noch das Gefühl der Kränkung, indem wir uns allein und von allen anderen abgeschnitten fühlen. Dieses Gefühl des Abgeschnittenseins ist für uns entsetzlich, denn (wie die Evolutionsbiologen sagen): Ein einsamer Affe ist ein toter Affe.

Wenn wir uns dagegen daran erinnern, dass Schmerz ein Teil des menschlichen Lebens ist, entkommen wir dem Abgrund des Selbstmitleids. Anstatt »Immer ich!« zu heulen, erkennen wir, dass Leiden zum Menschsein dazugehört. Natürlich sind die Umstände und das Ausmaß des Leids sehr unterschiedlich. Menschen, die von Ungerechtigkeit und Armut unterdrückt werden, die in unserem System verankert sind, leiden mehr als die, die in diesem System privilegiert sind. Dennoch gibt es kein menschliches Wesen, dem körperliche, seelische oder emotionale Not vollkommen erspart bliebe.

Mitgefühl basiert auf der Idee, dass alle selbstbewussten Wesen aus sich selbst heraus einer menschlichen Behandlung wert sind. Wenn wir uns selbst das Mitgefühl versagen, es jedoch anderen geben, oder wenn wir die Bedürfnisse einer bestimmten Gruppe wichtiger finden als die einer anderen, unterminieren wir die grundlegende Wahrheit, dass wir alle Teil eines von wechselseitiger Abhängigkeit geprägten Ganzen sind. Ihre Handlungen haben Einfluss auf meine, genau wie meine auf Ihre. Das Sprichwort »Säge nicht an dem Ast, auf dem du sitzt«, bringt diesen Gedanken gut zum Ausdruck. Wie ich mich selbst behandle, hat Einfluss auf meine Interaktionen mit allen anderen, mit denen ich in Kontakt bin, und umgekehrt beeinflusst die Art und Weise, mit der ich andere behandle, alle meine weiteren Interaktionen. Die Folgen der Ignoranz gegenüber dieser wechselseitigen Abhängigkeit sind allerorten zu besichtigen: rassistische Angriffe, religiöse und politische Spannungen, die in Gewalt münden; Migranten, die aus Ländern in die Vereinigten Staaten kommen, in denen die amerikanische Politik zur ökonomischen Verelendung beigetragen hat; und ein Planet, der sich so schnell erwärmt, dass er bald unbewohnbar sein wird. Wenn wir klug genug sind, unsere geteilte Menschlichkeit zu erkennen, können wir die größeren Zusammenhänge sehen, und uns wird klar, dass wir alle im selben Boot sitzen.

Freundlichkeit. Der motivationale Kern von Selbstmitgefühl ist Freundlichkeit – der Wunsch, Leid zu lindern. Dieser fürsorgliche Drang äußert sich als unmittelbarer Impuls, helfen zu wollen. Er ist die Basis der warmen, freundlichen und unterstützenden Haltung, die wir uns selbst gegenüber an den Tag legen, während wir durch den Matsch des Lebens waten. Wenn es uns schlecht geht, ist es viel wahrscheinlicher, dass wir uns selbst Vorwürfe machen, als dass wir uns einen unterstützenden Arm um die eigene Schulter legen. Selbst Menschen, die ausnahmslos freundlich zu anderen sind, behandeln sich selbst nicht selten wie den letzten Dreck. Freundlichkeit uns selbst gegenüber arbeitet dieser Tendenz entgegen, sodass wir auf authentische Weise gut zu uns selbst sein können.

Wenn wir zum Beispiel erkennen, dass wir einen Fehler gemacht haben, bedeutet Freundlichkeit uns selbst gegenüber, dass wir uns verstehen und akzeptieren und uns ermuntern, es beim nächsten Mal besser zu machen. Wenn wir eine schlechte Nachricht bekommen oder frontal von den Problemen des Lebens überwältigt werden, öffnen wir aktiv unser Herz und erlauben es uns, von unserem eigenen Schmerz emotional berührt zu werden. Wir halten inne und sagen: »Das ist jetzt wirklich schwierig. Wie kann ich in dieser Situation für mich selbst sorgen?«

Perfektion ist unmöglich. In unserem Leben wird es unweigerlich Schwierigkeiten geben. Aber wenn wir auf unseren Schmerz wohlwollend und menschlich reagieren, lösen wir Gefühle von Liebe und Fürsorge aus, die den positiven Unterschied ausmachen. Freundlichkeit uns selbst gegenüber stellt uns die Ressourcen zur Verfügung, die wir brauchen, um mit unserer Not umzugehen und sie erträglicher zu machen. Sie ist ein bereicherndes und befriedigendes Gefühl: die Süße gegen die Bitterkeit des Lebens.

Die Vorteile von Selbstmitgefühl

Der Zusammenhang zwischen Selbstmitgefühl und Wohlbefinden ist in Tausenden Studien untersucht worden. Wer über Selbstmitgefühl forscht, bedient sich typischerweise einer der drei folgenden Vorgehensweisen: Die üblichste Methode untersucht, ob ein höheres Abschneiden auf der Selbstmitgefühlsskala (SCS) mit höheren Werten bei Aspekten wie Lebensglück korreliert beziehungsweise mit niedrigeren Werten etwa bei Depressionen. Die zweite Methode zur Untersuchung von Selbstmitgefühl besteht darin, auf experimentelle Weise einen sich selbst gegenüber mitfühlenden Gemütszustand herbeizuführen, häufig, indem man die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dazu auffordert, sich selbst einen Brief zu schreiben, in dem es um ein Problem geht, mit dem sie schon ihr ganzes Leben lang kämpfen, während sie gleichzeitig Achtsamkeit, geteilte Menschlichkeit und Freundlichkeit walten lassen. Eine Kontrollgruppe schreibt über ein neutrales Thema, zum Beispiel ein Hobby, die Aufteilung auf die Gruppen erfolgt zufällig. Anschließend werden die beiden Gruppen in Bezug auf bestimmte Verhaltensweisen verglichen, zum Beispiel bezüglich ihrer Motivation, für eine Prüfung zu lernen. Eine dritte und zunehmend übliche Methode besteht darin, Menschen mithilfe von Kursen wie MSC nahezubringen, wie sie mehr Selbstmitgefühl praktizieren können, um daraufhin zu untersuchen, ob sich nach dem Kurs ihr Wohlbefinden verändert hat. Alle drei Forschungsmethoden kommen tendenziell zu gleichen Ergebnissen.21

Die Forschungsliteratur über die Vorteile von Selbstmitgefühl wird in den folgenden Kapiteln immer wieder angesprochen werden, aber ich möchte Ihnen hier schon einmal einen kurzen Überblick geben22: Menschen, die mehr Mitgefühl mit sich selbst haben, sind tendenziell glücklicher, hoffnungsvoller und optimistischer.23 Sie sind zufriedener mit ihrem Leben und dankbar für das, was sie haben. Sie sind weniger ängstlich, deprimiert, gestresst und besorgt.24 Es ist weniger wahrscheinlich, dass sie über Selbstmord25 nachdenken oder in Drogen- oder Alkoholmissbrauch gefangen sind.26 Sie sind klüger und auch emotional intelligenter, und sie können ihre negativen Gefühle erfolgreicher regulieren.27 Sie haben eine positivere Körperwahrnehmung, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie Essstörungen entwickeln, ist geringer.28 Gesundheitsfördernde Verhaltensweisen wie Sport, gesunde Ernährung und regelmäßige Arztbesuche lassen sich bei ihnen mit größerer Wahrscheinlichkeit beobachten.29 Sie sind körperlich gesünder – sie schlafen besser, sind weniger erkältet und haben ein stärkeres Immunsystem.30 Außerdem sind sie motivierter31 und gewissenhafter und übernehmen mehr Verantwortung für sich selbst.32 Wenn sie mit Lebensproblemen konfrontiert sind, zeigen sie sich resilienter33, und um ihre Ziele zu erreichen, sind sie entschlossener und ausdauernder. Sie haben engere und besser funktionierende Beziehungen mit Freunden, Familienmitgliedern und Liebespartnern34 und berichten über eine größere sexuelle Zufriedenheit.35 Sie sind weniger nachtragend, einfühlsamer und besser in der Lage, sich in andere hineinzuversetzen.36 Sie sind anderen gegenüber mitfühlender und können für sie sorgen, ohne selbst auszubrennen.37 Für etwas so Einfaches, wie sich selbst genauso zu behandeln wie einen guten Freund, ist das keine schlechte Ausbeute, oder?

Menschen, die mehr Mitgefühl mit sich selbst haben, haben auch mehr Selbstachtung, aber ohne in die üblichen Fallen der Selbstverliebtheit zu tappen.38 Anders als Selbstachtung ist Selbstmitgefühl nicht an Narzissmus gekoppelt. Es führt nicht zu permanenten sozialen Vergleichen oder einer Abschottung des Ego. Das Selbstwertgefühl, das sich aus Selbstmitgefühl speist, verlangt weder, dass man besonders gut aussehend oder erfolgreich ist, noch, dass man von anderen Menschen anerkannt wird. Es ist bedingungslos. Das bedeutet, dass das auf Selbstmitgefühl basierende Wissen, wertvoll zu sein, auch auf lange Sicht sehr viel stabiler ist.

Die enormen Vorteile von Selbstmitgefühl und die Tatsache, dass es eine Verhaltensweise ist, die man erlernen kann, erklären, warum so viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler begonnen haben, sich mit diesem Gemütszustand zu beschäftigen. Meine enge Freundin und Forschungskollegin Shauna Shapiro, die das großartige Buch Good Morning, I Love You über Achtsamkeit und Selbstmitgefühl geschrieben hat, sagt oft, dass Selbstmitgefühl die geheime Zutat des Lebens ist: etwas, das alles besser macht.

Die Physiologie des Selbstmitgefühls

Wie schon erwähnt, sind die meisten Menschen sich selbst gegenüber nicht annähernd so mitfühlend wie anderen gegenüber, besonders dann nicht, wenn ihnen etwas missglückt oder sie das Gefühl haben, nicht zu genügen. Zum Teil hängt das mit den automatischen Reaktionen unseres Nervensystems zusammen. Wenn wir einen Fehler machen oder mit den Härten des Lebens konfrontiert sind, fühlen wir uns instinktiv bedroht. Es ist nicht alles gut. Auf die wahrgenommene Gefahr antworten wir mit einer »Gefahrenabwehrreaktion« (die manchmal auch als unser »Reptiliengehirn« bezeichnet wird), der schnellsten und am einfachsten auszulösenden Reflexreaktion auf Gefahr, die uns zur Verfügung steht39: Wenn unser Gehirn eine Bedrohung registriert, wird unser sympathisches Nervensystem aktiviert.40 Die Amygdala springt an, es werden Cortisol und Adrenalin ausgeschüttet, und wir machen uns bereit, zu kämpfen, zu fliehen oder zu erstarren. Als Schutz gegen körperliche Bedrohungen wie einen umfallenden Baum oder einen knurrenden Hund funktioniert dieses System bestens, kann aber problematische Züge annehmen, wenn die Bedrohung von Gedanken herrührt, zum Beispiel solchen: »Ich bin eine totale Versagerin.« »Sehe ich in diesem Kleid fett aus?«

Wenn unser Selbstbild bedroht ist, kommt die Gefahr von innen. Wir sind zugleich Angreiferin und Angegriffene. In der Hoffnung, dass wir unsere Schwächen loswerden, indem wir uns zu Veränderungen zwingen, bekämpfen wir uns selbst. Wir fliehen psychisch vor anderen, indem wir schamvoll in uns zusammensacken und uns in den Schatten der Wertlosigkeit zurückziehen. Manchmal erstarren wir auch und fangen an zu grübeln. Unsere negativen Gedanken wiederholen sich in Endlosschleife, als ob das Problem verschwinden würde, wenn wir alles zum 39. Mal durchdenken. Diese permanente Habachtstellung ist der Grund dafür, dass Härte gegen uns selbst so schlecht für unsere Gesundheit ist: Sie führt zu Stress, Angst und Depressionen.41 Es ist wichtig, dass wir uns für diese Verhaltensweisen wiederum nicht verurteilen, denn sie sind einfach auf den schlichten Wunsch nach Sicherheit zurückzuführen.

Aber wir können lernen, uns auf andere Weise sicher zu fühlen – indem wir uns das Sorgesystem der Säugetiere zunutze machen. Der evolutionäre Vorteil von Säugetieren gegenüber Reptilien besteht darin, dass die Jungen von Säugetieren in einem sehr unreifen Stadium geboren werden und sich in einer längeren Entwicklungsphase an ihre Umwelt anpassen können. Verglichen mit anderen Säugetieren brauchen Menschen zum Heranreifen am längsten: Wegen unserer bemerkenswerten neuronalen Formbarkeit dauert es 25 bis 30 Jahre, bis der präfrontale Kortex sich voll entwickelt hat.42 Zum Schutz der verwundbaren Nachkommen während dieser langen Entwicklungsperiode hat sich die »Tend and befriend«-Reaktion (etwa: sich kümmern und Freundschaften schließen) herausgebildet, der Eltern und ihren Nachwuchs dazu veranlasst, stets auf Tuchfühlung zu bleiben und in sozialen Bindungen Sicherheit zu suchen.43 Wenn unser Sorgesystem aktiviert ist, werden Oxytocin (das Liebeshormon) und Endorphine (körpereigene Glücksgefühle auslösende Opioide) ausgeschüttet, wodurch sich wiederum das Sicherheitsgefühl verstärkt.44

Zwar wird die »Tend and befriend«-Reaktion vor allem dann automatisch aktiviert, wenn wir für andere sorgen, aber wir können auch lernen, sie nach innen zu richten. Es ist tatsächlich möglich, dass wir uns um uns selbst kümmern und Freundschaft mit uns selbst schließen, um Gefühle von Geborgenheit, Sicherheit und Wohlbefinden hervorzurufen. Wenn wir das tun, springt unser parasympathisches Nervensystem an, das unsere Herzfrequenzvariabilität steigert (sodass wir offener und entspannter sind) und die sympathische Aktivität reduziert (sodass wir weniger angespannt sind).45 Tatsächlich sind die drei Komponenten des Selbstmitgefühls – Freundlichkeit, geteilte Menschlichkeit und Achtsamkeit – die direkten Gegen-spieler der drei Komponenten der Gefahrenabwehrreaktion: Selbstverurteilung, Isolation und Grübelei. Das Resultat ist eine Verän-derung der Balance zwischen diesen beiden hochentwickelten, instinktiven Verhaltensweisen – Selbstmitgefühl und Gefahrenabwehrreaktion –, die beide die Funktion haben, unsere Sicherheit zu gewährleisten. Die eine wird gestärkt, während die andere zurückgenommen wird.

Da Selbstmitgefühl zunächst einmal ein physiologischer Vorgang ist, eignen sich körperliche Berührungen besonders gut, um zu signalisieren, dass man sich um sich selbst kümmert. Unser Körper reagiert beinahe augenblicklich auf physische Berührung46: Wir fühlen uns sofort unterstützt. Solche Berührungen funktionieren über das parasympathische Nervensystem, das uns beruhigt und zentriert. Der menschliche Körper ist besonders dafür ausgerüstet, Berührung als Signal von Fürsorge zu interpretieren. Genau wie Eltern ihrem Kleinkind in den ersten beiden Lebensjahren durch Berührungen ein Gefühl von Sicherheit und Geliebtsein vermitteln, ist es möglich, dieses Gefühl durch Berührungen in sich selbst auszulösen.

Beruhigende und unterstützende Berührung

In unseren MSC-Kursen lehren wir die beruhigende und unterstützende Berührung als grundlegende Praktik des Selbstmitgefühls. Wenn es uns nicht gut geht, sind wir manchmal zu überwältigt, um uns daran zu erinnern, freundlich mit uns selbst zu sprechen. Aus dem Kopf in den Körper zu gelangen, indem man seine Aufmerksamkeit weg von den Gedanken hin zu den körperlichen Empfindungen richtet – zum Beispiel durch eine Berührung –, kann in schwierigen Momenten unglaublich hilfreich sein.

Anleitung

Probieren Sie verschiedene Arten von Berührung aus, um herauszufinden, welches Gefühl sie Ihnen vermitteln. Verharren Sie etwa 15 Sekunden bei jeder Berührungsart und lassen Sie sich wirklich auf Ihre Empfindungen ein. Machen Sie sich bewusst, wie sich die jeweilige Berührung auf Ihren Körper auswirkt. Es wäre gut, eine Berührung zu finden, die Ihnen hilft, sich beruhigt und getröstet zu fühlen, und eine andere, die Ihnen hilft, sich stark, handlungsfähig und unterstützt zu fühlen. Die Menschen sind verschieden – Sie sollten also so lange herumprobieren, bis Sie raushaben, was für Sie selbst am besten funktioniert.

Hier einige sanfte Berührungen zur Beruhigung:

eine Hand oder beide Hände aufs Herz legendas Gesicht in den Händen wiegenvorsichtig beide Arme streichelndie Arme überkreuzen und sanft drückensich selbst umarmen und sachte hin und her schaukeln

Hier einige kraftvolle Berührungen zur Unterstützung:

eine Faust aufs Herz, die andere Hand darüberlegeneine oder zwei Hände auf den Solarplexus legen, Ihr energetisches Zentrum (das sich direkt unter Ihrem Brustkorb, etwa acht Zentimeter oberhalb Ihres Bauchnabels befindet)eine Hand aufs Herz und die andere auf den Solarplexus legendie eigene Hand drückenbeide Arme fest an die Hüften drücken

Die Idee ist, dass Sie eine Berührung finden, auf die Sie automatisch zurückgreifen können, wenn Sie sich in einer anstrengenden oder schwierigen Situation befinden. Wählen Sie erst mal zwei Berührungen aus und versuchen Sie, sie immer dann zum Einsatz zu bringen, wenn Sie sich emotional oder physisch unwohl fühlen. Manchmal ist unser Bewusstsein zu überwältigt, um klar zu denken, doch Sie können Berührungen nutzen, um an Ihren Körper Mitgefühl zu kommunizieren. Das ist eine einfache und erstaunlich effektive Weise, sich selbst Fürsorge und Unterstützung zukommen zu lassen.

Schwierigkeiten mit Selbstmitgefühl

Einige Menschen haben mehr Selbstmitgefühl als andere, was zum Teil auf die Kindheit zurückzuführen ist. Wenn unsere Eltern sich in dieser Zeit kontinuierlich, sorgfältig und liebevoll um uns gekümmert haben, sodass unser Säugetier-Fürsorgesystem sich voll ausbilden konnte, haben wir eine größere Wahrscheinlichkeit, als Erwachsene die unterstützende Haltung uns selbst gegenüber zu internalisieren.47 Wer dagegen von seinen Eltern ständig kritisiert, vernachlässigt oder missbraucht worden ist, kann es sehr viel schwieriger haben, Mitgefühl sich selbst gegenüber zu entwickeln.48

Das Ausmaß von Sicherheit, welches wir bei unseren Eltern erlebt haben, nennt man Bindungsstil.49 Menschen mit einem sicheren Bindungsstil – also die, die von ihren Eltern durchgängig warm und fürsorglich behandelt und deren Bedürfnisse gestillt wurden – haben in der Regel das Gefühl, dass sie Trost und Unterstützung verdient haben, und sie sind in der Folge als Erwachsene freundlicher zu sich selbst.50 Diejenigen, deren Eltern sich ihnen gegenüber gleichgültig oder unbeständig verhalten haben – indem sie manchmal emotional erreichbar waren und manchmal nicht –, fühlen sich mit größerer Wahrscheinlichkeit wertlos und nicht liebenswert. Solche Gefühle machen es schwieriger, Mitgefühl für sich selbst zu entwickeln. Für diejenigen, deren Eltern sich emotional, physisch oder sexuell missbräuchlich verhalten haben, können Signale der Fürsorge sogar mit Furcht vermischt sein. In diesem Fall kann es ganz real Angst machen, Mitgefühl für sich selbst zu empfinden.51

Mein Kollege Chris Germer, klinischer Psychologe und Autor des Buches Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl, hat dieses Muster immer wieder bei seinen Patientinnen und Patienten beobachtet. Er nannte dieses Phänomen »Rauchgasexplosion«.52 Wenn in einem geschlossenen oder schlecht belüfteten Raum ein Feuer ausgebrochen ist, müssen die Feuerwehrleute die Tür extrem vorsichtig öffnen, wenn sie den Brand im Innern löschen möchten. Das liegt daran, dass in dem brennenden Raum der Sauerstoff vom Feuer aufgebraucht wurde und bei einem plötzlichen Öffnen der Tür frischer Sauerstoff zugeführt wird, der das Feuer von neuem entfacht. Das kann gefährlich sein und sogar zu einer Explosion führen. Ähnliches passiert manchmal mit Selbstmitgefühl. Wenn wir die Tür unseres Herzens fest verschlossen hatten, um den Schmerz aus unserer frühen Kindheit in Schach zu halten, dann wird uns in dem Moment, in dem wir unser Herz für die »frische Luft« der Liebe öffnen, all das Leid bewusst, das darin eingeschlossen war. Dieses Leid kann manchmal auf seltsame Weise wieder ausbrechen und uns überwältigen. Es ist durchaus nicht so, dass nur Menschen, die ein Trauma erlebt haben, diese Art von Rauchgasexplosion erleben können. Alle Menschen, die sich daran gewöhnt haben, dichtzumachen und sich abzugrenzen, um mit schwierigen Gefühlen zurechtzukommen, können eine Rauchgasexplosion erleben, wenn sie anfangen, Selbstmitgefühl zu praktizieren. Im Grund ist das ein gutes Zeichen, denn es bedeutet, dass ein Heilungsprozess begonnen hat.

Eine andere, vielleicht etwas weniger furchteinflößende Metapher ist das Frieren und Taubwerden unserer Hände, wenn wir draußen Schnee schaufeln, sowie ihr schmerzhaftes Auftauen, wenn wir nach drinnen gehen, um uns aufzuwärmen. Mit unseren Herzen ist es wie mit unseren Händen: Wir möchten, dass sie auftauen. Das Auftauen ist etwas Gutes, auch wenn es weh tut. Aber wir sollten in diesem Prozess nicht zu schnell vorgehen. Feuerwehrleute tragen dafür diese seltsamen Hacken bei sich: Sie können damit Löcher in die Außenwand eines brennenden Gebäudes hacken und so dafür sorgen, dass die Luft nur langsamer einströmt. Vielleicht müssen wir auf ähnliche Weise mit uns selbst vorgehen: Das Mitgefühl muss langsam einströmen, damit es nicht zu intensiv wird. Das bedeutet nichts anderes, als dass wir Selbstmitgefühl nur praktizieren können, wenn wir dabei Mitgefühl mit uns selbst haben.