Selbstmitgefühl - Das Übungsbuch - Kristin Neff - E-Book

Selbstmitgefühl - Das Übungsbuch E-Book

Kristin Neff

0,0

  • Herausgeber: Arbor
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Mit gesprochenen Meditationen zum Download Das Übungsbuch für Achtsames Selbstmitgefühl Achtsames Selbstmitgefühl meint eine innere Haltung, die von Freundlichkeit, Verständnis und Fürsorge uns selbst gegenüber geprägt ist - besonders in schwierigen Momenten des Lebens. Dieses Übungsbuch vermittelt den bewährten Weg, um Selbstmitgefühl im eigenen Leben zu kultivieren. Mithilfe von Übungen, Reflexionen, Anregungen und angeleiteten Meditationen kannst du Schritt für Schritt üben: freundlich und mitfühlend mit dir selbst umzugehen, den inneren Kritiker zum Verbündeten zu machen, achtsam mit schwierigen Gefühlen wie Scham oder Wut umzugehen, die Beziehung zu dir selbst und zu anderen achtsam zu gestalten und dich selbst wertzuschätzen. "Selbstmitgefühl bedeutet, sich selbst die Freundlichkeit und Fürsorge entgegenzubringen, die wir unserem besten Freund oder unserer besten Freundin schenken." Kristin Neff

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 331

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kristin Neff & Christopher Germer

Selbstmitgefühl

– Das Übungsbuch –

Kristin Neff & Christopher Germer

Selbstmitgefühl

– Das Übungsbuch –

Ein bewährter Weg zu Selbstakzeptanz,innerer Stärke und Freundschaft mit sich selbst

Aus dem amerikanischen Englischen übersetzt vonNadine Helm und Annett Zupke

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel: The Mindful Self-Compassion Workbook. A proven way to accept yourself, build inner strength and thrive by The Guilford Press, a division of Guilford Publications, Inc., New York, USA.

Deutsche Erstausgabe

1. Auflage 2019

© 2018 der Originalausgabe by Kristin Neff and Christopher Germer

© 2019 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiburg

by arrangement with The Guilford Press

Lektorat: Ralf Lay

Fachliche Beratung: Hilde Steinhauser

Titelfoto: ©plainpicture/Westend61/Brigitte Stehle

Hergestellt von mediengenossen.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2020

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-318-1

Wichtiger Hinweis

Die Ratschläge und Übungen in diesem Buch sind von den Autoren sowie dem Verlag sorgfältig geprüft worden. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Bei Beschwerden sollten Sie auf jeden Fall ärztlichen, psychotherapeutischen oder psychologischen Rat oder den Rat eines/einer Heilpraktikerin Ihres Vertrauens einholen. Eine Haftung der Autoren oder des Verlags für Personen,- Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Inhalt

Einleitung: Der Umgang mit diesem Übungsbuch

1 Was ist Selbstmitgefühl?

2 Was Selbstmitgefühl nicht ist

3 Der Nutzen des Selbstmitgefühls

4 Physiologische Grundlagen der Selbstkritik und des Selbstmitgefühls

5 Das Yin und Yang des Selbstmitgefühls

6 Achtsamkeit

7 Widerstände loslassen

8 Backdraft

9 Liebevolle Güte entwickeln

10 Liebevolle Güte für uns selbst

11 Selbstmitfühlende Motivation

12 Selbstmitgefühl und unser Körper

13 Die Phasen des Fortschritts

14 Innig leben

15 Für andere da sein, ohne uns selbst zu verlieren

16 Der Umgang mit schwierigen Gefühlen

17 Selbstmitgefühl und Scham

18 Selbstmitgefühl in Beziehungen

19 Selbstmitgefühl für Helfende und Pflegende

20 Selbstmitgefühl und Wut in Beziehungen

21 Selbstmitgefühl und Vergebung

22 Das Gute annehmen

23 Selbstwertschätzung

24 Wie kann es weitergehen?

Zum Schluss

Anhang

Dank

Anmerkungen

Die Übungen und Meditationen

Das Audio-Begleitmaterial

Hilfreiche Webseiten

Die Autoren

Einleitung

Der Umgang mit diesem Übungsbuch

Unsere Aufgabe ist es nicht, nach Liebe zu suchen,

sondern lediglich alle Hindernisse in uns selbst aufzuspüren,

die wir der Liebe in den Weg gestellt haben.

RUMI1

Wir alle haben Hindernisse der Liebe gegenüber errichtet. Das war zuweilen nötig, um uns vor der rauen Wirklichkeit eines menschlichen Lebens zu schützen. Es gibt jedoch einen anderen Weg, sich sicher und beschützt zu fühlen. Schon wenn wir achtsam unsere Bemühungen wahrnehmen und uns selbst in schweren Zeiten Mitgefühl, Freundlichkeit und Unterstützung entgegenbringen, beginnen die Dinge sich zu ändern. Ungeachtet innerer und äußerer Unvollkommenheiten können wir lernen, uns selbst und unser Leben zu umarmen, und uns die Kraft zur Verfügung stellen, die wir benötigen, um zu gedeihen. Die Zahl der Forschungsarbeiten auf dem Gebiet des Selbstmitgefühls ist in den vergangenen zehn Jahren explosionsartig angestiegen, sie belegen seine Wirkung auf das Wohlbefinden sehr eindrücklich.2 Menschen, die selbstmitfühlender sind, zeigen die Tendenz, zufriedener und sogar glücklich zu sein, sie verfügen über eine höhere Motivation,3 haben funktionierende Beziehungen,4 eine bessere körperliche Gesundheit5 und weniger Ängste und Depressionen.6 Ebenso besitzen sie die Resilienz, derer es bedarf, um mit herausfordernden Ereignissen wie etwa einer Scheidung,7 gesundheitlichen Krisen,8 schulischem oder akademischem Versagen9 und sogar mit einem Trauma nach dem Einsatz in Kriegsgebieten10 umzugehen.

Zu lernen, dich selbst und deine Unvollkommenheit zu umarmen, schenkt dir die Resilienz, die du brauchst, um zu gedeihen.

Wenn wir innerlich ringen, leiden, versagen oder uns unzulänglich fühlen, ist es schwer, achtsam dem gegenüber zu sein, was in unserem Umfeld vor sich geht; wir schreien dann lieber und schlagen mit der Faust auf den Tisch. Es ist nicht nur so, dass wir nicht mögen, was geschieht, wir denken auch, dass irgendetwas mit uns nicht stimmt, weil es geschieht. Innerhalb eines Wimpernschlags können wir uns von »Ich mag dieses Gefühl nicht« über »Ich will dieses Gefühl nicht« und »Ich sollte das Gefühl nicht haben« zu »Irgendwas stimmt mit mir nicht, dass ich dieses Gefühl habe« oder bis hin zu »Ich bin schlecht« bewegen. Hier kommt Selbstmitgefühl ins Spiel. Manchmal müssen wir uns erst einmal Trost und Geborgenheit für die Tatsache entgegenbringen, wie schwer es ist, überhaupt ein Mensch zu sein, bevor wir achtsamer mit unserem Leben in Beziehung treten können.

Selbstmitgefühl tritt aus dem Herzen der Achtsamkeit empor, wenn wir dem Leiden in unserem Leben begegnen. Achtsamkeit lädt uns ein, uns dem Leiden gegenüber aus einem liebevollen, weiten Gewahrsein heraus zu öffnen. Selbstmitgefühl fügt dem hinzu: »Sei inmitten des Leidens liebevoll mit dir selbst.« Zusammen machen Achtsamkeit und Selbstmitgefühl in schwierigen Momenten unseres Lebens einen Zustand warmherziger, verbundener Präsenz aus.

Selbstmitgefühl entspringt dem Herzen der Achtsamkeit in Momenten des Leidens.

Achtsames Selbstmitgefühl

Achtsames Selbstmitgefühl (Mindfulness Self-Compassion, MSC) war das erste Übungsprogramm, das speziell entwickelt wurde, um Menschen in ihrem Selbstmitgefühl zu stärken. Achtsamkeitsbasierte Übungsprogramme, wie Stressbewältigung durch Achtsamkeit (Mindfulness-Based Stress Reduction, MBSR)11 und Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie (Mindfulness-Based Cognitive Therapy, MBCT)12 erhöhen ebenso das Selbstmitgefühl,13 dies geschieht jedoch auf eher implizite Weise als willkommener Nebeneffekt der Achtsamkeit. MSC wurde explizit dafür entwickelt, Menschen Fähigkeiten zu vermitteln, die sie brauchen, um im alltäglichen Leben selbstmitfühlend zu sein. MSC ist ein achtwöchiger Kurs, in dem ausgebildete Lehrer und Lehrerinnen eine Gruppe zwischen 8 und 25 Personen in wöchentlichen Treffen von 23/4 Stunden sowie während eines Halbtags-Meditations-Retreats durch das Programm begleiten. Forschungsergebnisse belegen, dass das Programm zu einer lang anhaltenden Zunahme von Selbstmitgefühl und Achtsamkeit sowie einer Reduktion von Ängsten und Depressionen führt,14 das allgemeine Wohlbefinden ansteigen lässt15 und sogar dazu beiträgt, den Glukosespiegel bei Menschen mit Diabetes auf einem stabilen Niveau zu halten.16

Im Jahr 2008 wurde die Idee des MSC geboren, als sich die Autorin und der Autor dieses Buches auf einem Meditations-Retreat für Wissenschaftler(innen) trafen. Kristin ist Entwicklungspsychologin und wegweisende Forscherin auf dem Gebiet des Selbstmitgefühls. Chris ist klinischer Psychologe, der seit Mitte der Neunzigerjahre in vorderster Reihe dabei ist, Achtsamkeit in die Psychotherapie zu integrieren. Wir teilten uns eine Mitfahrgelegenheit zum Flughafen am Ende des Retreats, als uns auffiel, dass wir unsere Fähigkeiten zusammenbringen könnten, um ein Programm zum Erlernen von Selbstmitgefühl zu entwickeln.

Mir, Kristin, begegnete der Gedanke des Selbstmitgefühls zum ersten Mal 1997, in meinem letzten Jahr an der Hochschule, in dem mein Leben einem totalen Chaos glich. Hinter mir lag eine furchtbare Scheidung, und an der Uni stand ich unter unglaublichen Belastungen. Ich nahm mir vor, buddhistische Meditation zu erlernen, um besser mit meinem Stress umgehen zu können. Zu meiner großen Überraschung betonte die Meditationslehrerin, wie wichtig es sei, Selbstmitgefühl zu entwickeln. Mir war sehr wohl bewusst, dass Buddhisten viel über die Bedeutsamkeit von Mitgefühl gegenüber anderen sprachen, doch hatte ich nie zuvor realisiert, dass Mitgefühl mit mir selbst ebenso wichtig sein könnte. Meine erste Reaktion darauf lautete: »Was? Heißt das, ich darf freundlich mit mir selbst umgehen? Ist das nicht selbstsüchtig?« Da ich aber so verzweifelt auf der Suche nach etwas innerem Frieden war, probierte ich es aus. Schon bald erkannte ich, wie hilfreich Selbstmitgefühl sein kann. Ich lernte, mir selbst gegenüber eine gute, unterstützende Freundin zu sein, wenn ich es schwer hatte. Als ich begann, liebevoller und weniger urteilend mit mir selbst umzugehen, wandelte sich mein ganzes Leben.

Nach meiner Promotion begann ich als Postdoktorandin, zwei Jahre lang mit einer der leitenden Forschungspersönlichkeiten zum Selbstwertgefühl zu lernen, und erkannte einige der Nachteile dieses Ansatzes. Auch wenn es dienlich ist, dass wir uns selbst gegenüber ein gutes Gefühl haben, schien das Bedürfnis danach, »besonders und überdurchschnittlich« zu sein, zu Narzissmus, kontinuierlichem Vergleichen mit anderen, einem das Ego verteidigenden Ärger, Vorurteilen und so fort zu führen.17 Eine weitere Einschränkung des Selbstwertgefühls ist, dass es bedingt zu sein scheint – es steht uns zur Verfügung, wenn wir Erfolgserlebnisse haben, lässt uns jedoch in Momenten des Versagens häufig im Stich, genau dann also, wenn wir es am nötigsten bräuchten. Mir wurde bald klar, dass Selbstmitgefühl die perfekte Alternative zum Selbstwertgefühl ist, da es ein Empfinden des eigenen Werts vermittelt, welches nicht erfordert, dass wir vollkommen sind oder besser als andere. Nachdem ich eine Stelle als Assistenzprofessorin an der Universität von Texas in Austin erhalten hatte, entschloss ich mich also, Studien auf dem Gebiet des Selbstmitgefühls zu initiieren und zu leiten. Zum damaligen Zeitpunkt hatte noch niemand Selbstmitgefühl wissenschaftlich untersucht, also versuchte ich zu definieren, was Selbstmitgefühl ist, und entwarf eine Skala, um es zu messen. Dies war der Anfang einer Lawine der Selbstmitgefühlsforschung, die wir bis zum heutigen Zeitpunkt erleben dürfen.

Der Grund jedoch, warum ich wirklich weiß, dass Selbstmitgefühl »funktioniert«, liegt darin, dass ich seine positive Wirkung in meinem Privatleben erfahren durfte. Mein Sohn Rowan erhielt 2007 die Diagnose Autismus, und dies war die herausforderndste Situation, der ich mich je gegenübergesehen hatte. Ich weiß nicht, wie ich das ohne meine Selbstmitgefühlspraxis hätte durchstehen können. Ich erinnere mich, dass ich an dem Tag, an dem ich es erfuhr, gerade auf dem Weg ins Meditations-Retreat war. Ich sagte meinem Mann, dass ich es absagen würde, damit wir dies gemeinsam verarbeiten könnten. Er erwiderte daraufhin: »Nein, geh dorthin, und mach dieses ›Selbstmitgefühlsding‹ – und dann komm wieder, und hilf mir.«

Während dieses Rückzugs aus dem Alltag durchflutete ich mich selbst mit Mitgefühl. Ich erlaubte mir zu fühlen, was immer ich gerade empfand, und zwar ohne zu urteilen – selbst Regungen, von denen ich dachte, ich »sollte« oder »dürfte« sie nicht haben. Gefühle der Enttäuschung, auch Gefühle irrationaler Scham. Wie konnte ich solche Empfindungen gegenüber der Person hegen, die ich auf der ganzen Welt am allermeisten liebte? Ich wusste jedoch, dass ich mein Herz öffnen und alles zulassen musste. Ich ließ die Traurigkeit herein, den Kummer, die Angst. Und schon bald fiel mir auf, dass mir die Stabilität innewohnte, all dies zu halten – dass mir die Ressource des Selbstmitgefühls nicht nur dabei helfen würde, das Ganze zu überstehen, sondern ebenso dabei, Rowan die beste bedingungslos liebende Mutter zu sein, die ich sein konnte. Was für ein Unterschied!

Aufgrund der intensiven sensorischen Probleme, die Kinder mit Autismus erleben, neigen sie zu heftigen Wutausbrüchen. Das Einzige, was man als Eltern dann tun kann, ist zu versuchen, für die Sicherheit des Kindes zu sorgen und zu warten, bis der Sturm vorüberzieht. Wenn mein Sohn im Supermarkt aus nicht erkennbaren Gründen wild zu schreien und um sich zu schlagen anfing und Außenstehende mir fiese Blick zuwarfen, weil sie dachten, ich würde mein Kind nicht genug disziplinieren, praktizierte ich Selbstmitgefühl. Ich schenkte mir Trost dafür, dass ich mich durcheinander fühlte, beschämt, gestresst und hilflos, und gab mir selbst die emotionale Unterstützung, die ich in diesem Moment so dringend nötig hatte. Selbstmitgefühl half mir, Wut und Selbstmitleid zu vermeiden, und erlaubte mir, geduldig und liebevoll mit Rowan zu bleiben, trotz Stress und Verzweiflung, jener Gefühle, die unvermeidlich aufkamen. Aber ich möchte damit keineswegs sagen, dass es nicht auch Momente gab, in denen mir regelrecht der Kragen geplatzt ist. Deren gab es etliche. Ich konnte mich jedoch durch die Praxis des Selbstmitgefühls von meinen »Fehltritten« schneller wieder erholen und meinen Fokus erneut darauf richten, Rowan alle Liebe zukommen zu lassen und ihn nach Kräften zu unterstützen.

Ich (Chris) habe Selbstmitgefühl auch vor allem aus persönlichen Gründen erlernt. Ich meditiere seit Ende der Siebzigerjahre, wurde klinischer Psychologe Anfang der Achtziger und schloss mich dann einer Studiengruppe zu Achtsamkeit und Psychotherapie an. Diese doppelte Leidenschaft für Achtsamkeit und Therapie führte letztendlich zur Veröffentlichung meines Buches Achtsamkeit in der Psychotherapie.18 Als Achtsamkeit an Bekanntheit zunahm, bekam ich mehr und mehr Anfragen, Vorträge zu halten. Das Problem war jedoch, dass ich unter schrecklicher Angst litt, vor einem Publikum zu sprechen. Obwohl ich eine regelmäßige Meditationspraxis über mein gesamtes Erwachsenenleben aufrechterhielt und jeden einzelnen klinischen Trick für den Umgang mit Angstzuständen aus Büchern ausprobiert hatte, raste mein Herz vor jedem öffentlichen Auftritt, meine Hände begannen zu schwitzen, und es war mir schlichtweg unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Zum Wendepunkt kam es, als ich auf einer Konferenz der Harvard Medical School sprechen sollte, die ich mitorganisiert hatte. (Ich versuchte immer noch bewusst, mich jeder möglichen Redesituation auszusetzen.) Bisher hatte ich mich als klinischer Ausbilder sicher im Schatten der Medizinischen Hochschule versteckt, nun jedoch sollte ich eine Rede halten und mein beschämendes Geheimnis all meinen geschätzten Kollegen und Kolleginnen offenbaren.

Etwa zu dieser Zeit riet mir ein sehr erfahrener Meditationslehrer, den Fokus meiner Meditation auf liebevolle Güte hin auszurichten und einfach Sätze zu sprechen wie »Möge ich sicher sein«, »Möge ich glücklich sein«, »Möge ich gesund sein« und »Möge ich mit Gelassenheit leben können«. In all den Jahren, in denen ich meditierte und als Psychologe über mein Innenleben nachsann, hatte ich nie mit mir selbst auf solch sanfte, trostspendende Art und Weise gesprochen. So gab ich der Sache eine Chance. Mir ging es auf Anhieb besser, und mein Geist wurde klarer. Die Liebevolle-Güte-Meditation (Metta-Meditation) wurde zu meiner Hauptmeditationspraxis.

Wann auch immer Angst in mir aufstieg, wenn ich an die bevorstehende Konferenz dachte, sprach ich schlichtweg die Sätze der liebevollen Güte zu mir, Tag für Tag, Woche für Woche. Ich tat dies nicht in der besonderen Absicht, mich zu beruhigen, sondern einfach, weil es nichts gab, was ich sonst hätte tun können.

Schließlich kam der Tag der Konferenz. Als ich aufs Podium gerufen wurde, um meine Rede zu halten, stieg das typische Grauen in gewohnter Art und Weise in mir auf. Diesmal jedoch war da etwas Neues – ein schwaches Hintergrundflüstern sprach: »Mögest du sicher sein. Mögest du glücklich sein …« In diesem Moment tauchte zum allerersten Mal etwas auf und trat an die Stelle der Angst – Selbstmitgefühl.

Nach weiteren Überlegungen wurde mir klar, dass ich meine Angst nicht achtsam hatte annehmen können, da diese Redeangst letztlich gar keine Angststörung war: Sie war eine »Schamstörung«, und die Scham war einfach zu überwältigend, um sie auszuhalten. Stell dir vor, wie das ist, wenn man nicht in der Lage ist, über Achtsamkeit zu sprechen – aus Angst! Ich war mir wie ein Hochstapler vorgekommen, inkompetent und ein wenig lächerlich. Was ich an diesem schicksalsreichen Tag entdeckte, war jedoch, dass wir zuweilen zuerst einmal uns selbst halten müssen, bevor wir unsere Erfahrung Augenblick für Augenblick halten können – vor allem wenn wir von intensiven Emotionen wie der Scham verschlungen werden. Ich hatte begonnen, Selbstmitgefühl zu erlernen, und erlebte seine Kraft aus allererster Hand.

Im Jahr 2009 publizierte ich mein Buch Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl19 mit dem Anliegen zu teilen, was ich gelernt hatte. Ich bezog mich dabei im Besonderen darauf, wie Selbstmitgefühl den Klienten half, die mir in Ausübung meines klinischen Berufs begegneten. Im darauffolgenden Jahr veröffentlichte Kristin ihr Buch Selbstmitgefühl,20 in dem sie ihre persönliche Geschichte beschrieb, die Theorien und den Forschungsstand des Selbstmitgefühls betrachtete und vielerlei Techniken anbot, um unser Selbstmitgefühl zu stärken. Gemeinsam führten wir im Jahr 2010 das erste öffentliche MSC-Programm durch. Seit damals haben wir, zusammen mit einer weltweiten Gemeinschaft an Lehrerinnen und Übenden, sehr viel Zeit und Energie dem gewidmet, MSC weiterzuentwickeln und es zu einem sicheren, wohltuenden und effektiven Programm für möglichst viele Menschen werden zu lassen. Sein Nutzen wird durch zahlreiche Forschungsstudien untermauert, und bis zum heutigen Tag haben Zigtausende Menschen weltweit an einem MSC-Kurs teilgenommen.

Wie du dieses Buch benutzen kannst

Ein Großteil des MSC-Curriculums findet sich, auf einfache Weise dargestellt, in diesem Buch in einem Format wieder, das dich darin unterstützt, sofort mitfühlender mit dir selbst umzugehen. Einige, die dieses Buch verwenden, besuchen vielleicht gerade einen MSC-Kurs, andere wollen gegebenenfalls auffrischen, was sie vor Kurzem erfahren haben, für viele jedoch wird dieses Buch ihr erster Kontakt mit MSC sein. Es ist deshalb so angelegt, dass es auch als alleinige Anleitung auf dem Weg benutzt werden kann, die Fähigkeiten zu erlernen, die du brauchst, um im Alltag über mehr Selbstmitgefühl zu verfügen. Es folgt dem allgemeinen Ablauf des MSC-Kurses, die Kapitel sind sorgsam ausgewählt und angeordnet, und die Fähigkeiten bauen aufeinander auf. Jedes Kapitel behandelt grundlegende Informationen zu einem bestimmten Thema, denen Übungen folgen, welche dir die Erfahrung der Konzepte aus erster Hand ermöglichen. Die meisten Kapitel enthalten auch persönliche Erfahrungen von Teilnehmenden der MSC-Kurse, um aufzuzeigen, wie die Praxis und die Übungen in deinem Leben Anwendung finden können. Es sind zusammengesetzte Darstellungen, die in keinerlei Weise die Privatsphäre eines einzelnen spezifischen Teilnehmers gefährden, und die Namen sind aus ebendiesem Grund geändert. Um eine leichtere Lesbarkeit zu gewährleisten, wird meist wie üblich das männliche grammatische Geschlecht verwendet. Wir hoffen aber zutiefst, dass sich alle angesprochen und eingeschlossen fühlen werden.

Wir schlagen vor, dass du die Kapitel der Reihe nach durchgehst und dir zwischendurch Zeit nimmst, die Übungen einige Male durchzuführen. Zur groben Orientierung könnten 30 Minuten Übungszeit pro Tag angesetzt werden, und du kannst ein bis zwei Kapitel pro Woche durchgehen. Dennoch, finde dein eigenes Tempo. Wenn du spürst, dass du langsamer vorangehen möchtest oder einem bestimmten Thema mehr Zeit widmen willst, lass dich nicht davon abhalten. Mach dir das Programm zu eigen. Falls du Interesse hast, an einem MSC-Kurs mit einem ausgebildeten Lehrer teilzunehmen, findest du hier Angebote in deiner Nähe: www.msc-selbstmitgefuehl.org. Online-Trainings sind ebenso verfügbar. Fachleuten, die mehr über die Theorie, Forschungsergebnisse und die Praxis des MSC lernen möchten, empfehlen wir die Lektüre des MSC Professional Training Manual.21

Die Ansätze und Übungen in diesem Buch gründen größtenteils auf wissenschaftlichen Forschungen (siehe die Hinweise auf relevante Studien im hinteren Teil des Buchs). Darüber hinaus basieren sie auch auf unserer Erfahrung im Unterrichten Tausender Menschen darin, wie sie selbstmitfühlender sein können. Das MSC-Programm an sich bildet selbst ein organisches Ganzes, das sich mit uns und unseren Teilnehmern während unseres eigenen Lernens und Wachsens weiterentwickelt. Selbst wenn MSC keine Therapie ist, wirkt es jedoch therapeutisch – es wird dir helfen, auf die Ressource des Selbstmitgefühls zugreifen zu können, um Schwierigkeiten zu begegnen und umzuwandeln, die unweigerlich im Verlauf unseres Lebens auftreten. Dennoch kann die Übung von Selbstmitgefühl manchmal alte Wunden neu aktivieren. Wenn du ein Trauma erlebt hast oder derzeit unter seelischen Problemen leidest, empfehlen wir, dass du dieses Arbeitsbuch mit therapeutischer Begleitung durchgehst.

TIPPS ZUR PRAXIS

Wenn du dieses Arbeitsbuch durcharbeitest, ist es wichtig, einige Punkte zu berücksichtigen, um den größtmöglichen Nutzen zu erlangen:

• MSC ist ein Abenteuer, das dich auf dir unbekanntes Terrain vordringen lässt, unerwartete Erfahrungen werden auftreten. Schau, ob es dir möglich ist, dieses Arbeitsbuch als ein Experiment der Selbstentdeckung und Selbsttransformation anzusehen. Du arbeitest im Labor deines eigenen Erlebens – schau, was geschieht.

• Du lernst vielerlei Techniken und Prinzipien der Achtsamkeit und des Selbstmitgefühls kennen. Nimm dir die Freiheit, sie ganz auf dich zuzuschneiden und anzupassen. Das Ziel besteht darin, dein eigener bester Lehrer zu werden.

• Sei dir bewusst, dass schwierige Situationen auftauchen können, während du lernst, dich deinen Herausforderungen auf neue Weise zuzuwenden. Wahrscheinlich wirst du mit problematischen Emotionen oder schmerzhaften Selbsturteilen in Berührung kommen. Glücklicherweise befasst sich dieses Buch damit, die emotionalen Ressourcen, Fähigkeiten, Stärken und Kapazitäten auszubilden, um mit derartigen Schwierigkeiten umgehen zu können.

• Während die Arbeit des Selbstmitgefühls herausfordernd sein kann, liegt das Ziel jedoch darin, eine Art und Weise des Praktizierens zu finden, die angenehm und leicht ist. Idealerweise impliziert jeder Moment des Selbstmitgefühls ein Weniger an Stress, an Streben und Mühen wie auch an Arbeit und keinesfalls ein Mehr.

• Es ist gut, ein »langsam Lernender« zu sein. Einige Menschen schießen am Ziel des Selbstmitgefühls dadurch vorbei, dass sie sich zu sehr drängen, selbstmitfühlend zu werden. Geh in deinem eigenen Tempo voran.

• Das Arbeitsbuch selbst ist ein Übungsort für Selbstmitgefühl. Die Art und Weise, mit der du diesen Kurs begehst, sollte selbstmitfühlend sein. Mit anderen Worten, Mittel und Zweck entsprechen sich.

• Es ist wichtig, dass du dir während der Arbeit mit diesem Buch zugestehst, durch einen Prozess des »Öffnens« und »Schließens« zu gehen. So wie unsere Lungen sich weiten und zusammenziehen, öffnen und schließen sich unser Geist und unser Herz auf natürliche Weise. Es ist selbstmitfühlend, uns zu erlauben, dass wir uns verschließen, wenn dies vonnöten ist, und dass wir uns wieder öffnen, sobald dies ganz natürlich geschieht. Anzeichen für ein »Sichöffnen« können sein, dass man lacht, weint oder lebendigere Gedanken und Empfindungen hat. Anzeichen für das »Schließen« können darin bestehen, dass man abgelenkt oder schläfrig ist, sich ärgert, taub für etwas ist oder unbegründet Selbstkritik übt.

• Schau, ob es dir gelingt, die richtige Balance zwischen dem Öffnen

Die wesentliche Frage des Selbstmitgefühls lautet: »Was brauche ich?« Dieses Thema wird sich durch das gesamte Buch ziehen.

und dem Schließen zu finden. Genau wie wir den Wasserstrahl in der Dusche kontrollieren können, so ist es auch möglich, den Grad der Offenheit zu regulieren, den wir erleben möchten. Deine Bedürfnisse werden sich ändern: Manchmal fühlt es sich vielleicht nicht richtig an, eine bestimmte Übung durchzuführen, und in anderen Momenten ist sie genau das, was du brauchst. Bitte übernimm Verantwortung für deine eigene emotionale Sicherheit, und zwing dich nicht durch etwas durch, wenn es sich gerade im Moment nicht stimmig anfühlt. Du kannst jederzeit später darauf zurückkommen oder dich der Übung in Begleitung einer vertrauenswürdigen Person oder eines Therapeuten widmen.

DER AUFBAU DIESES ARBEITSBUCHS

Dieses Arbeitsbuch enthält verschiedene Elemente, jedes davon verfolgt ein eigenes Ziel. In aller Regel beginnen die Kapitel mit allgemeinen Informationen und Konzepten, mit denen du vertraut wirst, indem du sie einfach liest.

Darüber hinaus bietet es viele schriftliche Übungen, die vor allem so ausgelegt sind, dass man sie einmal durchgeht; dennoch kann es hilfreich sein, sie zu einem späteren Zeitpunkt zu wiederholen, um Veränderungen wahrzunehmen. Die Absicht der ebenfalls vorgeschlagenen informellen Übungen beziehungsweise Praktiken liegt darin, sie regelmäßig im Alltag durchzuführen, wann immer sie gebraucht werden – wie beispielsweise an der Kasse im Supermarkt. Einige Übungen, wie das Führen eines Tagebuchs, benötigen etwas zusätzliche Zeit. Meditationen stellen eher formellere Übungen dar, die du regelmäßig ausführen solltest, um den größten Nutzen aus ihnen zu ziehen. Wähle dazu einen Ort, an dem du frei bist von äußeren Ablenkungen.

Im Anschluss an die meisten Übungen folgt ein Abschnitt mit Reflexionen, der dir helfen wird, deine Erfahrungen aufzunehmen und zu verarbeiten. Eventuell gibt es ein paar Fragen, die du in dir bewegen kannst, und eine kurze Besprechung dessen, was dir gegebenenfalls begegnen mag. Dies schließt mögliche schwierige Reaktionen mit ein und einige Ratschläge, wie du mit deinen Reaktionen auf sinnvolle und hilfreiche Weise umgehen kannst. Manche Menschen ziehen es vor, im Geist zu reflektieren, andere haben möglicherweise lieber ein spezielles Notizbuch, um diese Überlegungen niederzuschreiben. Ein Notizbuch kann auch praktisch sein, wenn du merkst, dass du mehr Platz brauchst, als dieses Arbeitsbuch für deine Antworten bereithält, (oder falls du nicht möchtest, dass andere deine Notizen in diesem Arbeitsbuch lesen können und du lieber für alle Übungen ein privates Notizbuch verwenden willst – beziehungsweise falls du grundsätzlich nicht gern in Bücher schreibst). Am wichtigsten ist, dich daran zu erinnern, dass du die Übungen machst, die dir am meisten Freude bereiten oder persönlich am dienlichsten erscheinen, denn dies sind die Übungen, deren Effekte mit größerer Wahrscheinlichkeit auch über längere Zeit haften bleiben werden.

Während du das Arbeitsbuch durchgehst, sollte es dein Ziel sein, eine Kombination aus Meditation und informeller Praxis von circa 30 Minuten am Tag durchzuführen. Studienergebnisse zeigen, dass der Zuwachs an Selbstmitgefühl, den die Teilnehmenden während des Programmverlaufs verzeichnen, mit der Zeit zusammenhängt, die sie üben, dass aber informelle oder formelle Praxis keinen Unterschied dabei ausmachen.

ÜBUNGEN werden in aller Regel einmalig ausgeführt, auch wenn sie wiederholt werden können.

INFORMELLE PRAKTIKEN werden häufig, typischerweise im normalen Tagesablauf ausgeführt.

MEDITATIONEN sind formelle Übungen, die ungestört regelmäßig zu Zeiten ausgeführt werden, die speziell dem Zweck der Meditation gewidmet sind.

 1 

Was ist Selbstmitgefühl?

Selbstmitgefühl zu haben bedeutet, dass du dich selbst so behandelst, wie du mit einem Freund oder einer Freundin umgehen würdest, die gerade eine schwere Zeit durchmachen – auch wenn sie etwas vermasselt haben, sich unzulänglich fühlen oder einfach vor einer schwierigen Herausforderung im Leben stehen. Die westliche Kultur betont sehr stark, wie wichtig es ist, zu unseren Freunden, unserer Familie und unseren Nachbarn freundlich zu sein, gerade wenn diese Probleme haben, welcher Art auch immer. Keinesfalls wird diese Fürsorglichkeit aber von uns verlangt, wenn es um uns selbst geht. Durch die Praxis des Selbstmitgefühls können wir jedoch lernen, uns selbst ein guter Freund oder eine gute Freundin zu sein, und zwar in den Momenten, in denen wir es am dringendsten benötigen – und zu einem inneren Verbündeten zu werden statt zu einem Feind. Üblicherweise behandeln wir uns selbst allerdings nicht so gut, wie wir mit unseren Freunden umgehen.

Durch Selbstmitgefühl lernen wir, uns selbst ein innerer Verbündeter zu werden statt ein innerer Feind.

Die goldene Regel lautet: »Behandle andere so, wie du auch von ihnen behandelt werden möchtest.« Allerdings willst du höchstwahrscheinlich andere lieber nicht so behandeln, wie du mit dir selbst umgehst! Stell dir vor, dass deine beste Freundin dich anruft, nachdem ihr Partner gerade mit ihr Schluss gemacht hat, und die Unterhaltung läuft wie folgt ab:

»Hi«, sagst du, als du das Telefon abnimmst. »Wie geht’s dir denn so?«

»Furchtbar«, erwidert sie, die Tränen unterdrückend. »Weißt du, Michael, dieser Typ, mit dem ich einige Male ausgegangen bin? Der war der erste Mann, zu dem ich mich wirklich wieder hingezogen gefühlt habe seit meiner Scheidung. Gestern Abend hat er mir gesagt, ich würde ihn zu sehr unter Druck setzen und dass er lieber nur befreundet sein möchte. Ich bin vollkommen fertig.«

Du seufzt und sagst: »Na ja, um ehrlich zu sein, liegt es wahrscheinlich daran, dass du alt, hässlich und langweilig bist, mal ganz abgesehen davon, auch noch bedürftig und abhängig. Außerdem hast du mindestens zehn Kilo zu viel auf den Knochen. Ich würde jetzt einfach aufgeben, denn es gibt wirklich keinerlei Hoffnung, jemanden zu finden, der dich lieben könnte. Ganz offen gesagt, verdienst du das auch einfach nicht!«

Würdest du je so mit jemandem sprechen, der dir wichtig ist? Selbstverständlich nicht. Seltsamerweise sind es aber genau solche Worte, die wir in einer derartigen Situation zu uns selbst sagen – wenn nicht gar Schlimmeres. Durch Selbstmitgefühl lernen wir, stattdessen wie eine gute Freundin mit uns selbst zu sprechen. »Das tut mir so leid. Geht’s dir gut? Du musst ganz aufgewühlt sein. Denk dran, ich bin für dich da, und ich schätze dich sehr. Kann ich irgendetwas tun, um dir zu helfen?«

Sich selbst so zu behandeln, wie wir eine gute Freundin behandeln würden, ist eine einfache Art und Weise, Selbstmitgefühl zu verstehen. Eine umfassendere Definition enthält jedoch drei Kernelemente, die wir aufbringen, wenn wir Schmerzen erleben: Selbstfreundlichkeit, ein Gefühl für die gemeinsame menschliche Erfahrung und Achtsamkeit.22

SELBSTFREUNDLICHKEIT: Wenn wir einen Fehler machen oder in irgendeiner Hinsicht versagen, neigen wir eher dazu, uns selbst fertigzumachen, als uns in Gedanken einen Arm um die eigene Schulter zu legen. Denk an all die großzügigen, fürsorglichen Menschen, die du kennst, die sich selbst aber ständig mit Kritik zerfleischen (vielleicht gehörst du ja auch dazu). Selbstfreundlichkeit begegnet dieser unseligen Neigung und lässt uns mit der eigenen Person so freundlich umgehen, wie wir andere behandeln sollten. Statt mit uns selbst ins Gericht zu gehen, wenn wir persönliche Unzulänglichkeiten an uns bemerken, geben wir uns Unterstützung und sprechen uns Mut zu, bemüht, uns selbst vor Verletzungen zu beschützen. Statt uns selbst anzugreifen und dafür zu schelten, dass wir nicht gut genug sind, schenken wir uns Wärme und bedingungslose Akzeptanz. Das kommt uns vor allem auch dann zugute, wenn unsere äußeren Lebensumstände herausfordernd und schwer auszuhalten sind – wir spenden uns aktiv Trost und geben uns Geborgenheit.

Theresa war vor Freude ganz aufgeregt: »Ich hab’s geschafft. Ich kann’s selbst kaum glauben, dass es mir gelungen ist. Aber ich war auf einer Firmenfeier letzte Woche, und da rutschte mir einer Kollegin gegenüber eine etwas unpassende Bemerkung heraus. Statt mich dann, wie sonst üblich, selbst innerlich auszuschimpfen, versuchte ich in der Folge, freundlich und verständnisvoll mit mir umzugehen. Ich sagte zu mir selbst: ›Herrje, davon geht die Welt nicht unter. Ich hab’s doch gut gemeint, selbst wenn es nicht so geschickt rübergekommen ist.‹«

GEMEINSAMES MENSCHSEIN. Ein Gefühl der verbindenden Humanität, des Miteinander-verbunden-Seins aller Menschen, ist ein weiterer zentraler Aspekt des Selbstmitgefühls. Wir sitzen alle in einem Boot. Es bedeutet zu erkennen, dass niemand »perfekt« ist und wir uns alle in ständiger Entwicklung befinden, hin und wieder versagen, Fehler machen, schwierige Umstände zu durchleben haben oder gar in arge Not geraten. Selbstmitgefühl erkennt die unvermeidliche Tatsache an, dass das Leben auch Leiden bereithält, und zwar für alle, ohne Ausnahme. Dies scheint offensichtlich zu sein, dennoch verlieren wir das häufig aus den Augen. Wir unterliegen der falschen Annahme, dass die Dinge stets glattlaufen sollten und dass mit uns irgendetwas »nicht stimmt«, wenn mal wieder etwas schiefgegangen ist.

Die drei Elemente des Selbstmitgefühls

Obwohl also eine große Wahrscheinlichkeit besteht – es in der Tat sogar unvermeidlich zu sein scheint –, dass uns Fehler unterlaufen und wir regelmäßig in Schwierigkeiten geraten, neigen wir dazu, diesbezüglich keinesfalls rational zu sein. Stattdessen leiden wir nicht nur, sondern fühlen uns isoliert und allein in unserem Leid. Wenn wir uns daran erinnern, dass Schmerz ein Teil der gemeinsamen menschlichen Erfahrung ist, dann wandelt sich jeder Moment des Leidens in einen Moment der Verbindung mit anderen. Der Schmerz, den ich in schweren Zeiten spüre, ist derselbe, den du in schweren Zeiten empfindest. Die Umstände unterscheiden sich, ebenso der Stärkegrad des Schmerzes, die grundlegende Erfahrung des menschlichen Leidens jedoch ist gleich.

Theresa fuhr fort: »Dann habe ich mich daran erinnert, dass jedem mal was rausrutscht. Ich kann nicht erwarten, dass ich in jedem Moment das Richtige sage. Es ist nur natürlich, dass so etwas geschieht.«

ACHTSAMKEIT. Achtsamkeit bedeutet, sich des gegenwärtigen Erlebens von Moment zu Moment klar und ausgewogen gewahr zu sein. Sie impliziert, der Realität des aktuellen Augenblicks offen zu begegnen, sie vorurteilsfrei zu akzeptieren, alle Gedanken, Emotionen und Empfindungen in unser Gewahrsein treten zu lassen, ohne ihnen Widerstand entgegenzusetzen oder sie vermeiden zu wollen.

Warum ist Achtsamkeit die dritte Kernkomponente des Selbstmitgefühls? Weil wir in der Lage sein müssen, uns unserem Leiden zuzuwenden, anzuerkennen, wenn wir leiden, und in unserem Schmerz lange genug präsent zu sein, um ihm mit Fürsorge und Freundlichkeit begegnen zu können. Während es vielleicht so scheint, dass Leiden vollkommen offensichtlich ist, verhält es sich dennoch so, dass viele Menschen nicht anerkennen, wie viel Schmerz sie durchmachen, vor allem dann, wenn der Schmerz ihrer eigenen Selbstkritik entspringt. Oder aber sie verlieren sich im Problemlösemodus, wenn das Leben sie mit Herausforderungen konfrontiert, dass sie nicht innehalten, um zu betrachten, wie schwer es gerade für sie ist. Achtsamkeit wirkt der Tendenz entgegen, schmerzhafte Gedanken und Emotionen zu vermeiden, und erlaubt es uns, der Wahrheit unseres Erlebens zu begegnen, selbst wenn es unangenehm ist. Gleichzeitig bewahrt uns die Achtsamkeit davor, vollkommen von den negativen Gedanken und Gefühlen absorbiert zu werden und uns mit ihnen zu »überidentifizieren«, uns in unserer Ablehnungsreaktion zu verstricken und uns von dieser forttragen zu lassen. Grübeln und Wiederkäuen unserer Gedanken verengt unseren Fokus und bauscht unsere Erfahrung auf. Ich habe nicht nur versagt, sondern glaube: »Ich bin ein Versager.« Ich war nicht nur enttäuscht, sondern denke: »Mein Leben ist enttäuschend.« Wenn wir unseren Schmerz jedoch achtsam beobachten, können wir unser Leiden anerkennen, ohne es aufzublähen. Dies erlaubt uns, eine weisere und objektivere Perspektive auf uns und unser Leben einzunehmen.

Um mitfühlend mit uns selbst zu sein, bedarf es also eigentlich zunächst einmal der Achtsamkeit als ersten Schritt – wir brauchen geistige Gegenwärtigkeit, um auf neue Art und Weise zu antworten. Statt ihren Kummer mithilfe einer Tafel Schokolade zu ersticken, fasste auch Theresa gleich nach ihrem Fauxpas auf der Firmenfeier all ihren Mut zusammen, um zu betrachten, was geschehen war.

Theresa fügte hinzu: »Ich erkannte einfach an, wie schlecht ich mich in dem Moment fühlte. Ich wünschte, es wäre nicht geschehen, ist es aber. Erstaunlicherweise konnte ich einfach mit den Gefühlen der Verlegenheit sein, den rot angelaufenen Wangen, der Hitze, die mir in den Kopf stieg, ohne dass ich mich in Selbsturteilen verlor. Ich wusste, dass die Gefühle mich nicht umbringen und schließlich auch vorübergehen würden. Und genau das geschah auch. Ich redete mir selbst ein wenig gut zu und traf mich dann am nächsten Morgen mit meiner Kollegin, um mich zu entschuldigen und mich zu erklären, und alles war gut.«

Einen Zustand liebevoller, verbundener Präsenz zu kultivieren kann unsere Beziehung zu uns selbst und unserem Umfeld positiv verändern.

Die drei wesentlichen Elemente des Selbstmitgefühls können auch als liebevolle (Selbstfreundlichkeit), verbundene (gemeinsames Menschsein) Präsenz (Achtsamkeit) beschrieben werden. Befinden wir uns im Zustand liebevoller, verbundener Präsenz, wandelt sich unsere Beziehung zu uns selbst, anderen und der Welt.

ÜBUNGWie behandele ich einen Freund/eine Freundin?

• Schließ die Augen, und denk einen Moment über die folgenden Fragen nach: Ruf dir ein einen Moment in Erinnerung, in denen ein enger Freund, eine enge Freundin mit etwas zu ringen hatte – Pech, Versagen, einem Gefühl der Unzulänglichkeit –, während es dir gerade gutging und du dich mit dir selbst wohl gefühlt hast. Wie gehst du typischerweise in solchen Situationen mit deinen Freunden um? Was sagst du? Welchen Ton hat deine Stimme? Welche Körperhaltung nimmst du ein? Welche nonverbalen Gesten nutzt du?

• Schreib auf, was du entdeckt hast.

• Schließ nun erneut die Augen, und widme dich dieser Frage:

Ruf dir einen Moment in Erinnerung, in denen du selbst mit irgendetwas zu ringen hattest – Pech, Versagen, einem Gefühl der Unzulänglichkeit. Wie gehst du typischerweise in solchen Situationen mit dir selbst um? Was sagst du? Welchen Ton hat deine Stimme? Welche Körperhaltung nimmst du ein? Welche nonverbalen Gesten nutzt du?

• Schreib auf, was du entdeckt hast.

• Denk nun über die Unterschiede nach zwischen der Art, wie du nahestehende Menschen und Freunde behandelst, wenn diese etwas Schweres durchmachen, und der Art, wie du mit dir selbst in solchen Situationen umgehst. Fallen dir irgendwelche Muster auf?

REFLEXION

Was ist während dieser Übung an Empfindungen und Eindrücken in deinem Inneren aufgetaucht?

Viele Menschen sind, wenn sie diese Übung machen, erschrocken darüber, wie schlecht sie sich selbst im Vergleich zu ihren Freunden behandeln. Wenn es dir auch so geht, bist du also nicht allein. Viele Datenerhebungen weisen darauf hin, dass der Großteil der Menschen mitfühlender mit anderen umgeht als mit sich selbst. Unsere Kultur ermuntert uns nicht gerade dazu, uns selbst freundlich zu behandeln. Deswegen müssen wir ganz bewusst üben, die Beziehung zur eigenen Person zu verändern, um dieser lebenslang abträglichen Gewohnheit entgegenzuwirken.

ÜBUNGUns selbst mitfühlend behandeln

Denk an eine aktuelle Schwierigkeit, die du gerade in deinem Leben zu bewältigen hast. Sie sollte allerdings nicht allzu problematisch sein. Beispielsweise ein Streit mit deiner Partnerin, in dem du etwas gesagt hast, was du bereust; oder vielleicht hast du einen Auftrag vermasselt und hast nun Sorge, dass deine Chefin dich zu sich rufen wird, um dich zurechtzuweisen.

• Schreib die Situation nieder.

• Zuallererst schreibst du alle Gedankenszenarios auf, in denen du dich vielleicht verlierst oder die mit dir durchgehen. Denkst du ständig darüber nach, oder machst du die Sache größer, als sie ist? Hast du beispielsweise Angst, dass dir gekündigt wird, auch wenn dein Fehler verhältnismäßig geringfügig war?

• Nun schau, ob es dir möglich ist, den Schmerz in Zusammenhang mit diesem Geschehnis achtsam anzuerkennen, ohne ihn aufzubauschen oder zu dramatisieren. Schreib alle schmerzhaften oder schwierigen Gefühle auf, die du darauf bezogen hast, und versuch dabei, einen relativ objektiven und ausgewogenen Tonfall zu treffen. Erkenn die Schwierigkeit dieser Situation an, während du dich bemühst, dich nicht in der Geschichte um deine Gefühle zu verwickeln. Beispielsweise: »Ich habe wirklich Angst, dass ich nach diesem Vorfall Ärger mit meiner Chefin bekomme. Es fällt mir schwer, das jetzt zu fühlen.«

• Als Nächstes schreib alle Gedanken dazu nieder, die zum Ausdruck bringen, dass du dich in dieser Situation vielleicht allein und isoliert fühlst, denkst, es hätte nicht passieren dürfen oder dass du der Einzige bist, der je in solch einer Situation war. Denkst du beispielsweise, dass deine Arbeit immer perfekt und glattlaufen sollte und es nicht normal ist, Fehler zu machen? Dass niemandem deiner Kollegen solche Fehler unterlaufen?

• Erinnere dich jetzt an die gemeinsame menschliche Erfahrung in dieser Situation – wie normal es ist, solche Gefühle zu haben, und dass viele Menschen wahrscheinlich Gefühle erleben, die deinen ähneln. Beispielsweise: »Ich nehme an, dass es normal ist, ein flaues Gefühl zu haben, nachdem man auf der Arbeit einen Fehler gemacht hat. Jedem unterläuft hin und wieder ein Fehler, und ich bin mir sicher, dass viele andere Menschen schon in ähnlichen Situationen waren, wie ich es gerade bin.«

• Als Nächstes schreib alle Urteile über das Geschehene auf, die du vielleicht über dich hast. Beschimpfst du dich beispielsweise (»Blöder Idiot!« oder »Dumme Gans!«), oder bist du übertrieben streng mit dir (»Du vermasselst immer alles, wann wirst du je dazulernen?«)?

• Bemüh dich nun zum Schluss darum, dir selbst gegenüber ein paar freundliche Worte zu deinen schwierigen Gefühlen aufzubringen. Schreib genau die liebevollen, unterstützenden Worte nieder, die du nutzen würdest, ginge es um eine liebe Freundin, die dir am Herzen liegt. Beispielsweise: »Es tut mir sehr leid, dass du gerade Angst hast. Ich bin mir sicher, dass alles gut wird, und ich werde da sein und dich unterstützen, egal was passiert.« Oder: »Es ist vollkommen in Ordnung, Fehler zu machen, und es ist auch okay, Angst vor den Konsequenzen zu haben. Ich weiß, dass du dein Bestes gegeben hast.«

REFLEXION

Wie war diese Übung für dich? Nimm dir einen Moment, um ganz und gar zu akzeptieren, wie du dich jetzt gerade fühlst. Lass dich einfach genau so sein, wie du jetzt bist.

Einige Menschen spüren allein schon dadurch Linderung und Trost, dass sie diese Übung machen und die Worte der Achtsamkeit, der gemeinsamen menschlichen Erfahrung und der Selbstfreundlichkeit niederschreiben. Wenn es dich unterstützt hat, kannst du dir erlauben, diese Gefühle der Selbstfürsorge zu genießen?

Manch einer erlebt es jedoch als seltsam oder unangenehm, in dieser Art zu schreiben. Wenn dies auch deine Erfahrung ist beziehungsweise wenn es dir zu schnell vorkommt, kannst du dir erlauben, dich erst einmal an diese Vorgehensweise zu gewöhnen und in deinem eigenen Tempo vorzugehen, in dem Wissen, dass es Zeit bedarf, neue Gewohnheiten auszubilden.

 2 

Was Selbstmitgefühl nicht ist

Oft äußern Leute Bedenken, ob es denn eine gute Idee sei, selbstmitfühlend zu sein, oder ob wir nicht vielleicht zu einfühlsam mit uns selbst sein könnten. Ganz sicher gilt Selbstmitgefühl in der westlichen Kultur nicht als Tugend, und einige Menschen hegen ein tiefes Misstrauen gegen einen freundlichen, liebevollen Umgang mit sich selbst. Da diese Zweifel oft unsere Fähigkeit hemmen, selbstmitfühlend zu sein, ist es sinnvoll, sie einmal genauer zu betrachten.

ÜBUNGMeine Bedenken gegenüber Selbstmitgefühl

Schreib die Bedenken auf, die du persönlich gegenüber Selbstmitgefühl hegst – die Ängste oder Befürchtungen, die du in Hinblick auf seine möglichen Nachteile hast.

Manchmal ist unsere Haltung auch durch das geprägt, was andere Menschen in unserem Umfeld tatsächlich oder unserer Meinung nach über Selbstmitgefühl denken. Schreib die Zweifel oder Einwände auf, die andere oder »die Gesellschaft« zum Thema »Selbstmitgefühl« ins Feld führen (könnten).

REFLEXION

Wenn du einige der Bedenken identifiziert hast, die du gegenüber dem Selbstmitgefühl hegst, dann ist das schon mal gut. Diese Bedenken stellen Hindernisse dar, die dich in deiner Fähigkeit hindern, selbstmitfühlend zu sein. Und sich dessen gewahr zu werden ist der erste Schritt, diese Hindernisse abzubauen. Glücklicherweise gibt es immer mehr Forschungsergebnisse, die belegen, dass die häufigsten Bedenken gegenüber Selbstmitgefühl auf einem falschen Verständnis beruhen. Mit anderen Worten, diese Missverständnisse sind im Allgemeinen unbegründet.