Krakau abseits der Pfade - Kevin Mitrega - E-Book

Krakau abseits der Pfade E-Book

Kevin Mitrega

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Beschreibung

Im Stillen ist Krakau, einstiges Machtzentrum des polnischen Königreichs, Hauptstadt geblieben. Keine Stadt im Land wird häufiger besucht, selbst die berühmten Tauben haben sich indessen mit ihrem neuen Dasein als Minderheit arrangiert. Hier findet man die weltweit höchste Kneipendichte, randvolle Kirchen, venezianische Architektur, tausendjährige Geschichte und die besten Krapfen mit Rosenmarmelade. Kevin Mitrega zeigt Ihnen ein anderes Krakau und erzählt dabei Ungeahntes aus Geschichte und Alltag einer Stadt, die weit mehr zu bieten hat als ein feuchtfröhliches Wochenende zu günstigen Konditionen. Sie müssen nicht nach Berlin, um auf der Rollbahn eines stillgelegten Flughafens zu flanieren. Sie müssen auch nicht nach Wien, um mit einer alten Straßenbahngarnitur der Type E6 zu tingeln. In Krakau abseits der Pfade begeben Sie sich auf eine Reise, die am Ende sogar in eine Wüste führt.

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Seitenzahl: 267

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KEVIN MITREGA

Krakau

ABSEITS DER PFADE

Anicie und der Stadt, die uns zueinander geführt hat.

Inhalt

Einladung nach Krakau

Von einer verschollenen Königsstadt

Stare Miasto

Generationensprünge

Kazimierz

Der Zuckergürtel

Nowy Świat, Piasek

Verbindungen von Dauer

Kleparz

Apollos Angesicht

Wesoła, Stradom

Umkämpftes Feld

Zwierzyniec

An der Côte d’Azory

Azory

Es gibt ihn wirklich

Bronowice

Gravitation überwinden

Rakowice, Czyżyny

Eine Stadt entdeckt sich selbst

Dębkniki

Am anderen Ufer

Podgórze

Die Unvollendete

Nowa Huta

Krakau abseits des Tageslichts

In der polnischen Sahara

Adressen

Literatur

Krakauer Bezirke

I

Stare Miasto

II

Grzegórzki

III

Prądnik Czerwony

IV

Prądnik Biały

V

Krowodrza

VI

Bronowice

VII

Zwierzyniec

VIII

Dębniki

IX

Łagiewniki-Borek Fałęcki

X

Swoszowice

XI

Podgórze Duchackie

XII

Bieżanów-Prokocim

XIII

Podgórze

XIV

Czyżyny

XV

Mistrzejowice

XVI

Bieńczyce

XVII

Wzgórza Krzesławickie

XVIII

Nowa Huta

Erkundete Stadtteile

Stare Miasto

Kazimierz

Nowy Świat, Piasek

Kleparz

Wesoła, Stradom

Zwierzyniec

Azory

Bronowice

Rakowice, Czyzyny

Dębniki

Podgórze

Nowa Huta

Einladung nach Krakau

Die einstige Königsstadt heißt auf Polnisch Kraków. Ausgesprochen wird dies wie kra-kuf, dabei gebührt der ersten Silbe ein beherztes Betonen, in etwa so wie bei Krampus. Damit hätten wir auch schon das katholische Klischee abgefrühstückt. Ein Besuch in Krakau ist vergleichbar mit dem rituellen Aufsuchen einer ans Herz gewachsenen Stammkneipe. Zunächst ist es ein Akt, der sich durch Wiederholung auszeichnet – niemand, der jemals in dieser wunderschönen Stadt unterwegs war, tut dies nur ein einziges Mal. Dann ist es ein Moment der Vertrautheit, man fühlt sich auf Anhieb wohl, findet sich gut zurecht und genießt das heimelige Gefühl. Zu guter Letzt weiß Krakau – wie auch die lieb gewonnene Kneipe – stets zu überraschen, mit Begegnungen, Begebenheiten und ihren Dynamiken. Diese Stadt ist nicht nur wie eine Kneipe, sie ist schlichtweg eine einzige Kneipe, die man aus einem tiefen Bedürfnis, einer Sucht heraus wiederkehrend betritt.

Der Eindruck verstärkt sich insbesondere bei einem Spaziergang durch die historische Altstadt und den angrenzenden Stadtteil Kazimierz: eine schier endlose Aneinanderreihung von Cafés, Restaurants, kleinen Freuden und anderen Filialen des Hedonismus, die zum Verweilen laden. Sie alle geben das gleiche Versprechen ab – Behaglichkeit, wie in der angestammten Kneipe. Für Genießerinnen und Nachtschwärmer sind das prächtigste Aussichten. Als Gast überkommt einen in Krakau manchmal das Gefühl, im Schlaraffenland zu wandeln. Man sieht sich mit einer kaum zu fassenden Vielfalt an Möglichkeiten konfrontiert, welche den angenehmen Nebeneffekt mit sich bringen, dass diese Stadt trotz ihrer vergleichsweise beschaulichen Größe niemals langweilig zu werden droht.

Ein Wort zum Tourismus in Krakau

Es ist nicht allzu lange her, da ging es noch überhaupt nicht darum, das abseitige Krakau zu entdecken und den touristischen Ausschlachtungsökonomien gekonnt auszuweichen. Die Stadt war – und ist für manche immer noch – ein Punkt »im Osten«, einer »wilden« Himmelsrichtung, die höchstens Abenteurer anzieht, weit weg von den Orten, wo man sonst hinfahren würde. Dabei ist Krakau alles andere als weit weg, von Wien aus gesehen ist die Distanz sogar kürzer als nach Innsbruck. Auf einem Bewusstseinsatlas lag die ehemalige Hauptstadt Polens viele Jahre abseits der etablierten Reisedestinationen, zumindest für Auswärtige. Nach wie vor dominiert in Krakau ein starker Binnentourismus das Geschehen. Dazu gesellen sich einige Reisende aus den östlichen Nachbarregionen, die schon vor der Wende, wenn auch nicht so zahlreich wie heute, anzutreffen waren. »Der Westen« entdeckte Krakau erst viel später, besonders in der gegenwärtigen Dimension.

Aus Sicht des Fremdenverkehrs setzte der erste richtige Boom, welcher bis heute anhält, in den 1990er-Jahren ein. Dieser prägte sogar den Begriff »Schindlertourismus«, eine Anlehnung an das plötzlich überproportional aufkeimende Interesse an der jüdischen Kultur und Geschichte Krakaus als Folge des Films Schindlers Liste. Zudem leistete die Ernennung des historischen Stadtkerns zum Weltkulturerbe der UNESCO sowie zur Europäischen Kulturhauptstadt des Jahres 2000 einen entscheidenden Beitrag zum Siegeszug, den die Reiseindustrie in Krakau angetreten hat. Begünstigt durch den Beitritt Polens und anderer slawisch geprägter Staaten zur Europäischen Union im Jahr 2004, entwickelte sich ein gewisser Hype um den »aufstrebenden Osten«, der gerne irgendwo zwischen Tradition und Moderne verortet wird. Ein riesiger Markt wurde geschaffen, und die Besucherzahlen zeigten nur mehr in eine Richtung: steil nach oben. Jährlich wurden Allzeitrekorde gebrochen. Anfang 2020 war es wieder so weit, das Tourismusbüro der Krakauer Stadtverwaltung präsentierte den Wert von sage und schreibe 14 Millionen Besuchern im Vorjahr, davon etwa 3,3 Millionen aus dem Ausland. Für eine Stadt mit rund 800 000 Einwohnerinnen und Einwohnern sind das astronomische Größen. Mit Ausbruch der Pandemie flachte die Kurve deutlich ab, eine unvorhergesehene wie ungewünschte Nebenwirkung.

Als Wirtschaftszweig entwickelte sich der Fremdenverkehr mit all seinen Verästelungen in Kultur und Gastronomie zur wichtigsten Einnahmequelle der Stadt – eine zwiespältige Angelegenheit. Mit großem Abstand thront Krakau seit einigen Jahren konstant auf Platz eins der beliebtesten und meistbesuchten Destinationen des Landes. Darauf möchte die Regierung ungern verzichten, also ordnet sie ungebrochen alles dem Primat privater Investitionen in touristische Infrastruktur unter. Dies zeigt sich beispielsweise am unermüdlichen Bau von Hotels. Gerade in der Altstadt gibt es mittlerweile Straßenzüge, wo praktisch nur mehr Quartiere für Gäste zu finden sind. Mitunter wurde dafür in jüngster Vergangenheit eine Reihe lokaler Einrichtungen geopfert – gegen alle Widerstände und Protestaktionen seitens der Bevölkerung. Dazu zählen etwa das legendäre Konzerthaus Lizard King, das unheimlich charmante Programmkino ARS sowie der riesige Gebäudekomplex Tytano auf dem Areal der ehemaligen Tabakfabrik, in dem sich Bars, Restaurants und diverse Räume für künstlerische Aktivitäten versammelten.

Die junge Marysia, »Urheberin des Protests«, fordert mit ihrer Zeichnung: »Zerstört nicht diesen Ort!«

Es kommt aber auch einiges in Bewegung. Die Kritik, wonach Krakau zu einer Stadt für Investoren statt für ihre Einwohner geworden sei, wird lauter. Insofern empfanden manche den Besucherrückgang der vergangenen Jahre als zwischenzeitliches Aufatmen. Wie in vielen anderen Bereichen des Lebens haben sich in dieser Zeit auch hier Gegebenheiten verändert und Prioritäten verschoben.

Erzählungen und Empfehlungen

Dieses Buch möchte Lust auf Krakau machen und dazu anregen, sich nicht dem Mainstream hinzugeben, sondern sich neugierig auf den Facettenreichtum dieser Stadt einzulassen. Auf Krakau ist Verlass, hörten mich nicht wenige sagen, und ich möchte Ihnen zeigen, warum dem so ist. Wir werden unbekannte Seiten der Klassiker entdecken und dort hingehen, wo sonst niemand hinsieht. Wir werden von Persönlichkeiten erfahren, die mit der Geschichte Krakaus eng verbunden sind, und auf Menschen treffen, die diese Stadt heute prägen. Dieses Buch möchte Ihr Begleiter vor Ort sein, aber auch Ihre Vorbereitung für die anstehende Reise. Es möchte neue Einblicke geben und nicht zuletzt allen tröstlich sein, die gerade nicht in Krakau weilen können.

Unsere Erkundungen finden in der Regel innerhalb eines Bezirks statt, wobei diese sich in kleinere Viertel gliedern. Die Kapitel beziehen sich zumeist auf einen solchen Stadtteil. Da und dort kommt es zu Überlappungen. Wir starten im historischen Zentrum in Stare Miasto und bewegen uns von dort aus in einer Zirkelbewegung immer weiter stadtauswärts. Dabei begleitet uns der abseitige Tenor von Beginn an bis zum Ende. Dort erwarten uns abschließend ein Streifzug durchs Krakauer Nachtleben sowie ein Ausflug in die »polnische Sahara«.

Fürchtet nicht die fremde Zunge!

Abschließend noch eine Bemerkung zur polnischen Sprache: Ja, sie mag auf den ersten Blick etwas einschüchternd wirken, vor allem in schriftlicher Form. Angesichts der teils kühnen Kombinationen aus aneinandergefügten Konsonanten kann einem schon einmal die Zunge verkrampfen, noch bevor man es schafft, den Mund zu öffnen. Doch einmal ausgesprochen, ist das Polnische von Weichheit und Liebe getragen – mit rollendem R und reichlich Temperament. Manchmal auch in atemberaubender Geschwindigkeit und ungeahnt hohen Frequenzen. Es sind aber auch andere Sprachen, etwa Deutsch, Englisch oder Spanisch, weit verbreitet, also kein Grund zur Verzweiflung. Die Menschen in Polen wissen um die Schwierigkeit der Artikulation ihrer Landessprache. Bezüglich der Grammatik meinen sie selbstironisch, nicht einmal sie selbst würden diese richtig beherrschen, und raten scherzhaft davon ab, das Regelwerk zu erlernen. Umso mehr aber wissen die Polinnen und Polen jede Anstrengung zu schätzen, sich ihrer Sprache, Kultur und Geschichte zu nähern. Dieses Buch möchte eine Einladung dazu sein.

Bleiben Sie länger, als es der Haltebereich vorsieht. »Küssen bis zu drei Minuten erlaubt!«, steht auf diesen Schildern in Krakau geschrieben.

Von einer verschollenen Königsstadt

Stare Miasto

Krakau ist eine ausgesprochen alte Stadt. Ihre Geschichte reicht mehr als tausend Jahre zurück. Die erste schriftliche Nennung entstammt einem Reisebericht des arabisch-jüdischen Kaufmanns Ibrahim Ibn Jakub aus dem Jahr 965. Zentral in Mitteleuropa gelegen, war und ist Krakau ein Kreuzungspunkt von Menschen, Waren, Kulturen und Geschichten. Die glanzvollste Zeit erlebte die Stadt im Mittelalter, als sie das Machtzentrum der polnischen Krone bildete und zu den bedeutendsten Handelsplätzen des Kontinents zählte. Ende des 16. Jahrhunderts wurde die Hauptstadt nach Warschau verlegt, woraufhin ein schleichender Niedergang einsetzte. Krakau geriet über die folgenden Jahrhunderte in die Rolle einer Provinz an allen möglichen politischen Rändern. Diese Entwicklung hat aber mitunter ihre Schönheit bewahrt. Die Stadt repräsentiert wie keine andere Metropole in Polen die Aufnahme unterschiedlicher Einflüsse: die engen Kontakte zum italienischen Kulturraum, fränkische und burgundische Vorbilder beim Bau gotischer Kirchen, vielfältige Zeugnisse in der Sprache, welche die Zeit überdauerten, und vieles mehr.

Wie kaum eine andere Stadt lebt Krakau förmlich von seiner Geschichte. Hier gibt es keine Gegenwart ohne Vergangenheit. Durch Krakau streift man wie durch eine Bibliothek, entlang von Buchrücken, die Häuser sind und unendlichen Erzählreichtum in sich tragen. Diese Stadt verfügt über so etwas wie ein Stadtnarrativ – einen Plot, der von Mythen und Legenden durchzogen und eng mit der polnischen Historie verwoben ist. Nicht umsonst spielt sie in zahlreichen Schilderungen zur polnischen Nation eine zentrale Rolle. Vieles, was kulturgeschichtlich als »polnisch« gilt, wird in Krakau verortet und nicht etwa in der gegenwärtigen Hauptstadt Warschau. Heute besteht eine gewisse Rivalität zwischen den beiden Städten, welche unterschiedlicher nicht sein könnten. Die einzige Gemeinsamkeit könnte vielleicht die Weichsel sein. In Krakau hat man sich gut damit arrangiert, nicht mehr die stolica, wie es auf Polnisch heißt, zu sein. Mit Blick auf den Kulturpalast, der 1955 als Geschenk Stalins mitten ins Warschauer Zentrum gesetzt wurde, zeigt sich die Krakauer Bevölkerung sogar recht glücklich darüber. Die Menschen wissen ganz genau, dass ihre Stadt für immer die heimliche Hauptstadt bleiben wird – ein hierzulande bekanntes Lied, Nie przenoście nam stolicy do Krakowa (Verlegt uns die Hauptstadt nicht nach Krakau), handelt davon. Nach wie vor bildet Krakau das geistige und kulturelle Zentrum in Polen, das schmutzige Geschäft der Politik überlässt man gerne den Kollegen in Warschau.

Nur allzu gern wird der Krakauer Lebensweise ein gewisser Snobismus nachgesagt. Das hiesige Selbstverständnis wurzelt in den familiären Gefügen des alten polnischen Adels, katholisch und bürgerlich-konservativ geprägt. Die Spuren führen bis in die noble Zeit des Mittelalters, wo Standesdünkel, kaufmännischer Reichtum, kulturelle Vielfalt und die Überpräsenz des Klerus dieses besondere Lokalkolorit formten. Bis ins 19. Jahrhundert war das beschauliche Krakau durch eine Stadtmauer vom Rest der Welt abgeschottet, umgeben von kleinbäuerlichen Strukturen und viel Peripherie – man legte also größten Wert darauf, in der Stadt, also in der heutigen Altstadt (Stare Miasto) zu leben, um nicht als »Bauer« gescholten zu werden.

Die Folge dessen war eine beispiellose Verdichtung Krakaus innerhalb der ehemaligen Begrenzung, die den kompakten Charakter der Altstadt ausmacht. Kein Wunder, dass all die Kneipen von heute in den Kellern, zu ebener Erde, in Innenhöfen, teilweise auch in oberen Geschoßen oder gar auf Dächern gemessen an der Zahl im Verhältnis zur Grundfläche des Stadtteils die weltweit höchste Dichte aufweisen. Das gesamte Leben in Krakau orientiert sich nach dem Zentrum, diese Tatsache ist so alt wie die Stadt selbst. Am Marktplatz, dem Rynek Główny, treffen sich die Menschen, machen ihre Besorgungen und geben sich den Annehmlichkeiten des Lebens hin. Auch die explosionsartige Ausbreitung der Stadt, welche in den 1950er-Jahren einsetzte und fortan wirkt, vermag es nicht, daran auch nur ansatzweise etwas zu ändern.

Vor diesem Hintergrund besteht für unsere Entdeckung der Altstadt im Folgenden zunächst einmal die Notwendigkeit, den Begriff des Abseitigen etwas zu schärfen. Im historischen Teil Krakaus abseits der Pfade zu schreiten, ist nahezu unmöglich geworden. Die gesamte Altstadt, noch so winkel- und facettenreich, hat sich zu einem einzigen touristischen Pfad entwickelt – mehrmals ist man geneigt zu sagen, sie sei dazu verkommen. In manchen Perioden, vor allem wenn es wärmer wird, überkommt einen nicht nur der Architektur wegen das Gefühl, in Venedig unterwegs zu sein. Denn es gibt leider auch hier Tage, an denen das Phänomen overtourism spürbar wird.

Seit einiger Zeit leben im historischen Kern der Altstadt so gut wie keine Einheimischen mehr. Im Zuge der groß angelegten Renovierungsarbeiten infolge der Ernennung Krakaus zum UNESCO-Weltkulturerbe wurden sukzessive ganze Häuserzeilen ausgesiedelt. Viele Bewohnerinnen und Bewohner konnten danach nicht mehr in ihr altes Zuhause zurückkehren, da man es für unverhältnismäßig erklärte, einfache Leute in den restaurierten Räumlichkeiten wohnen zu lassen. Keller und Erdgeschoß wurden dem Gewerbe zugesprochen, während Hotels, Redaktionen und andere repräsentative Einrichtungen die prunkvolle Beletage mit den aufgefrischten Deckenfresken bezogen. Es blieben also nur mehr die Obergeschoße übrig, allerdings mit deutlich weniger Wohnungen, da diese vergrößert wurden, um dem Prunk vergangener Tage gerecht zu werden. Das Zentrum rund um den Rynek mag heute zwar weitgehend unbewohnt sein, es wird aber dafür permanent von ganzen Menschenhorden bevölkert.

Trotz dieser Entwicklungen ist es dennoch möglich, eine abseitige Seite der Krakauer Altstadt zu entdecken – abseitig ganz im Sinne der Originalität, versteht sich. Wir werden uns auf einen Rundgang begeben, der zwar auch an die ganz klassischen Orte, meist Sehenswürdigkeiten genannt, führen wird, dabei jedoch Geschichten erfahren, welche für gewöhnlich nicht zum Besten gegeben werden. Manche dieser Erzählungen werden geläufiger sein, Stichwort hejnał, doch die Mehrzahl, seien Sie versichert, wird Ihnen in der gängigen Reiseliteratur nicht begegnen.

Das Durchkreuzen der Pfade

Wir beginnen unseren Streifzug durch die Krakauer Altstadt beim Eingang, dem wohl nahe liegendsten Ausgangspunkt für eine Besichtigung. Das Florianstor (Brama Floriańska) ist das letzte historische Portal, das der Stadt geblieben ist, und hält sich hartnäckig seit Beginn des 14. Jahrhunderts. Es beherbergt angesichts seiner opulenten Ausmaße einen geradezu winzigen Durchgang. Die Größe dürfte aber den königlichen Ansprüchen Genüge getan haben, denn Seine Majestät schritt auf dem Weg zur Residenz durch ebenjenes Schlupfloch, befindet es sich doch auf dem sogenannten Königsweg, der zwischen der Florianskirche außerhalb der Altstadt bis zum Herrschaftssitz auf dem Wawel verläuft.

Das Florianstor scheint etwas Listiges an sich zu haben, denn es überdauerte sämtliche Bestrebungen seiner Abtragung sowie alle seine Artgenossen inklusive der Stadtmauer. Manche historischen Nahezuabbruchaktionen waren so irrwitzig, dass man sich als Schreiberling nur dankbar darüber zeigen kann, dass diese in Überlieferungen erhalten geblieben sind. Eine dieser Geschichten schildert den buchstäblich steinigen Weg zur ersten elektrifizierten Straßenbahnlinie in Krakau anno 1901. Die Stadtplaner waren kurz davor gewesen, eine unerhörte Torheit zu begehen. Als sie die nagelneue jedynka (Einserlinie) durch das Florianstor pressen wollten, geriet plötzlich das Portal zur Stadt zum Hindernis. Wer heute durch diese Flucht schreitet, käme im Leben nicht auf die Idee, hier einen Wagen auf Schienen durchzuschicken. Dabei wollten die Ingenieure an alles gedacht haben, hatten präzise Maß genommen, die Waggons extra für die Lücke anfertigen lassen. Doch man vergaß auf die eigentliche Innovation, denn für die elektrische Oberleitung war nach dem Einschieben des Gefährts partout kein Platz mehr. Zuvor hatten noch Pferde die Waggons gezogen, somit hinkte man bereits in der Planungsphase seiner Zeit hinterher.

Was also tun in dieser misslichen Lage? Der erste Impuls erwies sich als wenig fortschrittlich: Anstatt die Technologie ihrer Umgebung anzupassen, wählte man zunächst den umgekehrten Weg. Also versuchten die verzweifelten Ingenieure, die städtischen Amtsträger davon zu überzeugen, das vermeintliche Übel – das alte Gemäuer, das ihr Scheitern zu verantworten hätte – zu beseitigen. Anfangs zeigten sich die Entscheidungsbefugten gar dazu geneigt, dem Antrag zuzustimmen, doch dann bekamen die Krakauer Wind davon und es regte sich Widerstand. Die Menschen konnten nicht nachvollziehen, weshalb wegen eines simplen Konstruktionsfehlers gleich ein jahrhundertealtes Bauwerk der mangelhaften Gerätschaft weichen sollte.

Schließlich kam der rettende Einfall, der an nüchternem Pragmatismus wohl kaum zu überbieten ist: wieso nicht einfach den Boden absenken? Darauf waren die Ingenieure nicht gekommen. Und so fiel das Niveau der Pflasterung durch das Florianstor extra für die Straßenbahn um einige Zentimeter – schon passte die Maßanfertigung durch die Lücke. Man muss den Geist der Moderne gespürt haben, als der Waggon durch das Portal rollte. Später verschwand die Straßenbahn aus dem Bereich innerhalb der alten Stadtmauer wieder. Heute erinnert nichts mehr an diese bahnbrechende »Unterführung«, lediglich die alten Waggons können in Kazimierz im städtischen Museum für Ingenieurwesen bewundert werden. Damals war man dank dieser Innovation dem Bau einer U-Bahn in Krakau näher denn je.

Ob sich das ausgeht?

Wir quetschen uns also ebenerdig und ohne Strom durch die Öffnung und betreten die Altstadt. Auf der ulica Floriańska, die pfeilgerade zur Marienkirche führt, begegnet uns rechter Hand ein alter Bekannter aus Österreich, Kaiser Franz Joseph I. Er blickt von der Beschilderung eines Restaurants mit dem Namen Pod Złotą Pipą, was so viel bedeutet wie Unter dem goldenen Zapfhahn. Es war aber nicht immer so gut um die Gunst der Polen gegenüber ehemaligen Okkupanten bestellt. Für kurze Zeit war Krakau, als das Land zwischen Österreichern, Preußen und Russen aufgeteilt worden war, eine »freie« Stadtrepublik – der letzte Rest von Polen auf der europäischen Landkarte. Aus dieser Periode resultieren mitunter die Stadtfarben Blau und Weiß, welche für die Weichsel sowie die Neutralität stehen. Den Habsburgern war diese kleine Insel der Freiheit naturgemäß ein Dorn im Auge, also besetzten sie in den 1840er-Jahren unter windigen Vorwänden die Stadt. Józef Piłsudski, der spätere Marschall und Staatschef des unabhängigen Polen in der Zwischenkriegszeit und nach wie vor eine zentrale historische Figur der Gegenwart, beschreibt in einer seiner Schriften die Gefühlslage ganzer Generationen: »Länger als ein Jahrhundert überhäufte man Polen unter Zuhilfenahme von Bajonetten, die seinerzeit Polen niedergeworfen hatten, mit Wohltaten fremden Lebens, das gerade deshalb oft so leidenschaftlich gehasst wurde.«

In Krakau haben sich im Laufe der Zeit zahlreiche Redewendungen herausgebildet, welche auf die österreichische Herrschaft und ihre Eigenheiten zurückgehen. Beispielsweise sei eine Person mit Doktortitel entweder Arzt oder Österreicher. Es sind meist hochironische und subtile Phrasen, zu denen ganze Bücher in polnischer Sprache vorliegen. Ein solches geflügeltes Wort lautet austriackie gadanie (österreichisches Gerede). Dies beschreibt eine Art des Sprechens, die in ihrem Wesen unklar ist, ein sinnloses Geschwafel ohne dahinterliegende Absicht, unbedeutend, weder ernst gemeint noch ernst zu nehmen, geradezu lächerlich. Ihr Ursprung soll in der Tatsache begründet liegen, dass trotz zahlreicher Versprechungen aus Wien nie nennenswerte Gelder nach Galizien, der unterentwickeltsten Provinz der Donaumonarchie, geflossen sind. Stattdessen wurde ständig vertröstet, beschwichtigt, Verbindliches in die Zukunft verlegt – jaja, das wird schon, schauen wir mal. Angesichts der jüngst öfter ausgesprochenen Drohung seitens der Europäischen Union, finanzielle Zuwendungen an Polen zu kürzen, dürften sich die aktuellen Machthaber in Warschau erneut an »österreichisches« Gerede erinnert fühlen – wohlgemerkt mit dem feinen Unterschied, dass die Konsequenzlosigkeit in diesem Fall einen Gewinn darstellt. Aber kommen wir in diesem Zusammenhang auf die eigentliche Bedeutung des Wortes pipa zurück, nämlich Pfeife, und zwar im pejorativen Sinne, wie es auch im Deutschen gebräuchlich ist. Je nach Lesart schimmert der Kaiser wie eine Medaille im Licht. Wie heißt es so schön? Es ist nicht alles Gold, was glänzt.

Wertvoller hingegen ist der Besuch im Restaurant. In der Altstadt kann es Ihnen passieren, dass Sie auf offener Straße von jemandem angeworben werden, in der Hoffnung, dass Sie sich ins angepriesene Etablissement begeben. Für gewöhnlich bedeutet es ja nichts Gutes, wenn ein Lokal auf solch offensive Weise werben muss – besonders beim Essen. Meist sind es irgendwelche Clubs, die mit billigem Fusel oder Striptease zu locken versuchen. Letzteres erkennen Sie schon von Weitem an den charakteristisch roten Regenschirmen der Werbetreibenden. Dass es auch anders geht, beweist das Restaurant Pod Złotą Pipą.

Eines Abends bat mich ein ob seiner Profession viel zu elegant gekleideter Mann ins Lokal. Er sah mich die Speisekarte am Hofeingang studieren, und wir kamen ins Gespräch. Der Mann war über sechzig und trug einen dunkelblauen Regenmantel, dazu einen Hut. Seine Hände hielt er in schwarzen Lederhandschuhen warm. Ich fragte ihn, was es mit dem Namen des Restaurants auf sich habe. »Na ja, was hat es damit auf sich?«, setzte er an. »Es ist ein Spiel, eine Provokation. Vor allem ist es eine Referenz auf den Schwejk. Das Wort pipa stammt aus dem Tschechischen. Der Urheber war sich der breiten Assoziationsmöglichkeiten bewusst, er wollte die Menschen zum Nachdenken anregen.« Welch Aufregung er schon des Öfteren miterlebt habe, schilderte der Mann weiter. Es sei vorgekommen, dass sich Leute wegen der vermeintlichen Obszönität (pipa ist in etwa so doppeldeutig wie das englische pussy) auf den Schlips getreten fühlten. Dann fragte ich nach dem Kaiser, der auf dem Schild zu sehen ist. »Ja, der Kaiser. Er war eben mal hier. Und hat gegessen. Nicht alle waren glücklich über seine Uniform«, erzählte der Mann schmunzelnd.

Ob es dem Kaiser mundete ?

Das Restaurant befindet sich im gepflegten Keller des Hauses an der ulica Floriańska Nummer 30, rustikal und edel zugleich. Die Auswahl an Speisen ist vielversprechend und mit Bedacht klein gehalten. Zudem arbeitet dort ein Kellner, den man eher in Wien vermuten würde. Er meint von sich aus, er habe Angst vor Menschen und doch bediene er sie. Sein Umgang ist ungemein trocken, schlagfertig und latent unfreundlich. Ich frage mich, hat die österreichische Seele Krakau je verlassen?

Auf dem Königsweg zieht’s!

Wir schreiten voran in Richtung Marienkirche. Kurz vor dem Marktplatz ist ein laues Lüftchen zu vernehmen. Wir halten kurz inne, werfen einen Blick zurück, die Straße entlang bis zum Florianstor. Dabei kommt mir eine Anekdote zu einem weiteren Abbruchversuch des letzten Stadtportals in den Sinn, doch diesmal übergebe ich das Wort an den wohl größten polnischen Feuilletonisten der Zwischenkriegszeit, Tadeusz BoyŻeleński, der in Krakau allgegenwärtig ist. In einem Text aus dem Jahr 1931 beschreibt er auf unübertreffliche Art und Weise die nicht zu glaubende Begebenheit:

»Heute gibt es Ämter, die die Mauern vor den Menschen schützen. Aber wo bleibt der Schutz der Menschen vor den Mauern? Seit kurzem gibt es die Einrichtung der Konservatoren, und das ist gut. Doch im Unterbewusstsein drängt sich der Gedanke auf, dass viele schöne Dinge nicht entstanden wären, wenn es die Konservatoren seit Jahrhunderten gegeben hätte. Der Stolz Krakaus, die reizvolle und originelle Grünanlage Planty, wurde aus einem unbeschreiblichen Vandalismus geboren: Sie entstand an der Stelle, wo man die alten Wehrmauern der Stadt zerstörte. Man bewundert heute den Florianturm: Früher gab es in der Innenstadt an fast jedem Straßenende einen solchen Turm. Alle wurden zerstört. Beinahe auch wäre der Florianturm niedergerissen worden, und es lohnt festzuhalten, welchem Umstand er seine Rettung dankt. Der Stadtrat hatte in einer Sitzung die Abtragung des Turms bereits beschlossen (…), als einer der Ratsherren dagegen protestierte und sein Veto damit begründete, dass auf dem Platz vor der Marienkirche schreckliche Windstöße aufträten. Beim Abtragen des Florianturms würde ein nicht auszuhaltender Durchzug entstehen. Ich sehe, Sie lächeln: Welche Dummheit! Doch nein, der Einspruch war gar nicht so dumm und durchaus begründet. Wissen Sie, was es mit dem Wind an der Marienkirche auf sich hatte? In der Tat traten hier zum Ärgernis der Gläubigen, die der Kirche zuströmten, heftige Böen auf. Eine wahre Tragödie für jede gesetzte Matrone, ein ernsthaftes Problem, das ihren guten Ruf und ihre Ehre betraf. (…) Man stelle sich die Damen vor, wie sie ihre Röcke schürzten, in die der Wind wie in ein Segel hineinfuhr und zur Freude der Passanten, die dem Gotteshaus zustrebten, die Barchenthöschen enthüllte (…). Es war also die besonnene Stimme jenes Ratsherrn, die den Florianturm rettete.«

Ein Hoch auf die Prüderie! Wer weiß, vielleicht ist der alte Turm tatsächlich nur deshalb erhalten geblieben, um weiterhin potenziellen Entblößungen entgegenzuwirken. Die stille Aufforderung des Florianstors zur Bedeckung der Haut quittiere ich mit einem gleichgültigen Nicken. Setzen wir also den Rundgang fort und schreiten an der Marienkirche vorbei auf die zentral gelegenen Tuchlauben (sukiennice) zu, welche den Marktplatz mehr oder minder in zwei Hälften teilen. Eine Unzahl von Tauben leistet uns dabei Gesellschaft, sie tummeln sich in kleinen Häufchen auf dem Boden und schwärmen wild herum, wo sie Futter vermuten. Slalomartig passieren wir die Blumenverkäuferinnen. Sie stehen unter den zum Symbol des Marktplatzes gewordenen gelben Sonnenschirmen, welche die wahrscheinlich effektivste Werbemaßnahme darstellen, die jemals von einem Radiosender durchgeführt wurde.

Ein Marketing-Coup vom Feinsten

Ein Mahnmal zur Todsünde Neid

Die Tuchlauben verfügen über zwei Durchgänge: einen langen Korridor, bestehend aus zahlreichen Verkaufsständen, und einen kürzeren Durchlass, welcher den Handelsweg auf mittlerer Höhe kreuzt und dazu dient, auf direktem Weg den Rynek zu queren. Es ist der größte mittelalterliche Handelsplatz auf dem Kontinent – allein seine Dimensionen spiegeln die historische Bedeutung der Stadt wider. Vor der besagten Abkürzung halten wir kurz inne. Ein schwarzer Dolch hängt etwas unscheinbar an einer Eisenkette vom Torbogen herab. Er gilt nicht den Konstrukteuren der Krakauer Straßenbahn, nein, einer Legende nach diene die Waffe als Mahnung. Zwei Brüder, beide Baumeister, sollen einst die Marienkirche mit ihren charakteristisch unterschiedlichen Türmen errichtet haben. Im Zuge der Arbeiten geriet das Geschwisterpaar in Konkurrenz zueinander – sie fürchteten, der jeweils andere könnte einen höheren, schöneren Turm bauen. Einer der Brüder konnte seinen Bau frühzeitig vollenden. Es handelt sich um den Nordturm mit dem markanten achteckigen Aufsatz und dem gekrönten Dach. Daraufhin tötete er seinen vermeintlichen Rivalen aus neidvoller Angst, dieser könnte sein Werk übertreffen. Der Dolch, den wir gerade im Blick haben, soll die Tatwaffe gewesen sein. Weil der Bruder den Mord an seinem engsten Verwandten nicht verkraften konnte, stürzte er sich wenig später vom Südturm in den Tod. Um sicher zu gehen, rammte er sich davor noch das Messer in die Brust.

Nachdenklich mustere ich die beiden Türme der Marienkirche. Ihre Verschiedenheit verleiht der Basilika etwas Besonderes. Der höhere Nordturm diente im Mittelalter der Observation. Als Krakau noch von einer Mauer umgeben war, wurde von diesem Wachturm aus zum Öffnen und Schließen der Tore ein Hornsignal geblasen. Zudem wurde auf diese Weise im Falle eines Brands oder feindlichen Angriffs Alarm geschlagen. Die Glocke erklingt, sie schlägt zur Tagesmitte, was bedeutet, dass ganz Polen nun dem berühmten Krakauer hejnał im Rundfunk lauschen kann. Dies ist ein zu jeder vollen Stunde gespieltes Trompetensignal und eine Art lebendiges Wahrzeichen der Stadt. Menschen stehen gebannt auf dem Marktplatz und richten ihren Blick kollektiv auf den Observationsturm mit der goldenen Krone. Ein kleines Holzfenster öffnet sich, ein uniformierter Feuerwehrmann tritt an die Fensterbank, im Dunkel des Innenraums kaum zu sehen. Er setzt eine Trompete an und gibt sich damit zu erkennen. Der goldglänzende Trichter ragt aus der Öffnung. Dann ertönt das Signal, welches je einmal in alle vier Himmelsrichtungen gespielt wird. Die markante Tonfolge endet in einem Abriss, der wie so vieles in Krakau auf eine Legende zurückzuführen ist.

Der Überlieferung nach soll im Jahr 1241 der Turmwächter ein einfallendes Heer von Tataren – so werden in Polen Mongolen genannt – frühzeitig erblickt und daraufhin ins Horn geblasen haben. Dank seiner lautstarken Warnung konnte die Stadt rechtzeitig verriegelt und der Angriff abgewehrt werden. Doch der Wachmann bezahlte seinen heroischen Einsatz mit dem Leben. Er wurde von einem Pfeil der Angreifer getroffen. Das Geschoss durchbohrte ihm die Kehle, just während er das Signal gespielt hatte. Seitdem reißt der hejnał im Gedenken daran auf so abrupte Weise ab. Es ist eine alte Tradition, für deren Pflege heute die Krakauer Feuerwehr zuständig ist. In 24-Stunden-Schichten wird das Ritual alle sechzig Minuten vollzogen. Dazu zählen das händische Läuten der Glocke sowie die viermalige musikalische Darbietung. Nur eine Handvoll trompetenspielender Uniformierter gehört dieser besonderen Abteilung der Brandbekämpfung an. Der Beruf des Hejnałisten genießt hohes Ansehen, die meisten schielen insbesondere auf das günstige Verhältnis von tatsächlicher Arbeitszeit und Pausen.

Traumberuf trompetespielender Feuerwehrmann

Beim Stichwort Hejnałist werden Erinnerungen wach an die letzte Nacht, die ich in Krakau verbracht habe, bevor ich 2018 wieder nach Wien gezogen bin. Es war bitterkalt an jenem Sonntag im Februar, Minusgrade im zweistelligen Bereich, spiegelglatte Pflastersteine in der Stadt. Ich bin mit einer Freundin in der Altstadt um die Häuser gezogen, um meinen vorläufigen Abschied von der Stadt zu begießen. Um kurz vor zwei Uhr früh wurde mir plötzlich bewusst, dass ich in nächster Zukunft keinen hejnał mehr erleben würde, woraufhin ich kurzerhand den Beschluss fasste, meine Begleiterin Zuzanna hinaus in die Eiseskälte zu zerren, um mit ihr noch einmal dem abreißenden Spiel beiwohnen zu können. Weit und breit war niemand zu sehen, wir waren die Einzigen, die zitternd in der Kälte ausharrten. Schließlich erklang die Glocke, ein nahezu kathartischer Moment. Es war exakt zwei Uhr geworden, und wir reckten unsere Köpfe gen Himmel. Ich wusste genau, auf welches Fenster ich zu blicken hatte. Mir war unbeschreiblich kalt, ich schaute und schaute nach oben, mein Blick schien zu gefrieren. Ich starrte und starrte auf das verdammte Fenster – doch nichts geschah! Es bewegte sich nicht. Klemmte es? Ein plausibler Gedanke, doch gleich alle acht? Nein, das konnte kein Zufall sein, kein Irrtum, völlig ausgeschlossen! Ich nahm bereits Züge eines peniblen Arbeitsinspektors an. Mir war einfach nicht begreiflich, warum es nicht weiterging, wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt von Fortführung sprechen kann. Doch es geschah nichts mehr. Ich war maßlos enttäuscht, habe dem Trompetenspieler seinen Akt der Verweigerung übel genommen. Er hatte es definitiv wärmer als wir. Still trotzte der Feuerwehrmann der Kälte und ließ uns abgerissen zurück. Später wurde ich darüber aufgeklärt, dass kein Bläser der Welt unter diesen Umständen hätte spielen können. Das Instrument hätte sich am Mund festgefroren und dann wäre erst recht kein Ton zu hören gewesen.

Verstummte Weissagung

Zurück in der Gegenwart, setzen wir unseren Streifzug durch die Altstadt fort. Wir bleiben außerhalb der Tuchlauben und schreiten südwärts, erst am Adam-Mickiewicz-Denkmal vorbei, dann an Lenins Lieblingscafé, dem Noworolski. Am Ende des länglichen Renaissancebaus biegen wir rechts ab, den markanten Rathausturm erblickend. Wir passieren das südliche Ende der Tuchlauben und bemerken eine kleine Nische in der Außenwand der historischen Gemäuer. Sie ist mittlerweile unbesetzt. Hier befand sich kein Wachposten, auch kein Portier, sondern der ehemalige Schaffensplatz einer wahren Krakauer Kultfigur. Zdzisława Solska, Dzidiana oder auch Dzidzianna genannt, war eine legendäre Wahrsagerin (auf Polnisch wróżka). Alle kannten sie in Krakau, und sie wurde heiß geliebt. Über dreißig Jahre lang saß Dzidiana täglich an ihrem angestammten Platz und sagte den Menschen ihre Zukunft voraus. Ihr Selbstverständnis »den Rynek in Krakau hab’ ich gebucht bis ans Lebensende« fand Eingang ins kollektive Gedächtnis der Stadt.

Was bringt die Zukunft?

Seit den 1980er-Jahren prägte ihre Präsenz das Bild der Tuchlauben. Dzidianas Anblick hatte sich dauerhaft ins Stadtbild eingeschrieben, denn sie war nicht zu übersehen. Sie wirkte wie eine betagte Frauenfigur aus einer Märchenerzählung. Immerzu war sie bunt gekleidet und üppig mit Schmuck behangen. An den Fingern trug die Wahrsagerin eine Vielzahl von Ringen, die mit glänzenden Steinen besetzt waren. Die Leute ließen sich aus der Hand lesen, aus Kaffeesatz, Spielkarten und dergleichen mehr. Vor dem permanent improvisierten Stand – bestehend aus leeren Pappkartons und einem Klappstuhl – bildeten sich regelmäßig Warteschlangen. Eine Begegnung mit Dzidiana hatte sowohl etwas Spirituelles als auch etwas mehr oder minder Ernsthaftes an sich. Die Mischung aus Aberglauben und Illusionskunst begeisterte unzählige Menschen. Vor allem war sie dafür bekannt, sich kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Dzidianas direkte, manchmal auch rotzfreche Art steigerte nur ihre Sympathiewerte. Sie wurde als fröhlich und charmant beschrieben, stets zu Scherzen aufgelegt.

Über Zdzisława Solskas früheres Leben weiß man nicht allzu viel. Sie stammte aus Krakau, war in jüngeren Jahren als Schauspielerin tätig und arbeitete über zwanzig Jahre lang als Aktmodell an der Kunstakademie. Den Studentinnen und Studenten soll sie mit einem Lineal auf die Finger gehauen haben, wenn die Arbeiten ihren Vorstellungen nicht entsprachen, so die Überlieferung. Zudem soll sie in Abwesenheit der Professoren hie und da »Korrekturen« an den Werken vorgenommen haben.

Als Dzidiana am letzten Tag des Jahres 2016 plötzlich nicht mehr in ihrer Nische zu sehen war, hielten Passanten kurz inne. Etwas fehlte, das gewohnte Bild der Tuchlauben war